EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen: Eine qualitative Fallstudie der Beamt*innen der Europäischen Kommission

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Zeitschrift für Soziologie 2021; 50(2): 96–113

Daniel Drewski*

EU-Osterweiterung und symbolische
Grenzziehungen: Eine qualitative Fallstudie der
Beamt*innen der Europäischen Kommission
EU Eastern Enlargement and Symbolic Boundaries:
A Qualitative Case Study of the Civil Servants of
the European Commission
https://doi.org/10.1515/zfsoz-2021-0008                             tutions and lead to a decline in the EU’s internal cohesion.
                                                                    This paper deals with the impact of the Eastern Enlarge­
Zusammenfassung: Im Zuge des europäischen Integra­
                                                                    ment on the European Commission and analyzes the ne­
tions­prozesses sind zahlreiche europäische soziale Felder
                                                                    gotiation of symbolic boundaries between civil servants
und Organisationen entstanden, in denen Akteur*innen
                                                                    from the “old/Western” and “new/Eastern” member states.
aus den unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten regelmäßig
                                                                    Based on in-depth interviews, it shows that regional origin
miteinander interagieren und kooperieren. Aktuelle Debat­
                                                                    is not an explicit boundary marker. Nevertheless, officials
ten werfen jedoch erneut die im Kontext der EU-Osterwei­
                                                                    perceive differences with regard to career opportunities,
terung diskutierte Frage auf, ob diese zu einer Erschwe­
                                                                    organizational cultures, language preferences, and profes­
rung der Zusammenarbeit innerhalb der europäischen
                                                                    sional values, all of which they interpret by drawing on
Institutionen sowie zu einer Abnahme der Kohäsion der
                                                                    regional background.
EU geführt hat. Dieser Beitrag widmet sich den Folgen der
Osterweiterung für die Europäische Kommission und un­               Keywords: Sociology of Europe; EU Eastern Enlargement;
tersucht die Aushandlung symbolischer Grenzziehungen                European Commission; Symbolic Boundaries.
zwischen Beamt*innen aus den „alten/westlichen“ und
„neuen/östlichen“ EU-Mitgliedstaaten. Auf der Grundlage
von Leitfadeninterviews wird gezeigt, dass die regionale
Herkunft kein explizites Grenzziehungskriterium darstellt.
                                                                    1 Einleitung1
Dennoch werden wahrgenommene Unterschiede in Bezug
                                                                    Der Prozess der europäischen Integration und die Grün­
auf Karrierechancen, Organisationskulturen, sprachliche
                                                                    dung der EU haben nicht nur zum Abbau innereuro­
Präferenzen und Berufsethiken durch Rückgriff auf die re­
                                                                    päischer Nationalstaatsgrenzen, zur Schaffung eines
gionale Herkunft interpretiert.
                                                                    Gemeinsamen Marktes und zum zunehmenden Transfer
Schlüsselwörter: Europasoziologie; EU-Osterweiterung;               politischer Autorität von der nationalen auf die europäi­
Europäische Kommission; symbolische Grenzziehungen.                 sche Ebene geführt. Es sind in der Folge auch eine Viel­
                                                                    zahl transnationaler bzw. europäischer sozialer Felder
                                                                    und Organisationen entstanden, innerhalb derer Ak­
Abstract: European integration has led to the emergence of          teur*innen aus den unterschiedlichen Mitgliedstaaten der
European social fields and organizations in which people            EU regelmäßig miteinander interagieren und gemeinsam
from all EU member states cooperate with each other.
Current debates raise the question already discussed
during the EU’s Eastern Enlargement, namely whether it              1 Dieser Artikel basiert auf Daten aus meiner 2019 an der „Berlin
would complicate cooperation within the European insti­             Graduate School of Social Sciences“ (BGSS) der Humboldt Univer­
                                                                    sität Berlin eingereichten Dissertation (Betreuer: Jürgen Gerhards
                                                                    und Steffen Mau). Diese erscheint in überarbeiteter Form unter dem
*Korrespondenzautor: Daniel Drewski, Freie Universität Berlin,      Titel „National and Regional Symbolic Boundaries in the European
Exzellenz­cluster „Contestations of the Liberal Script“,            Commission: Towards an Ever-Closer Union?“ bei Routledge. Ich
Edwin-Redslob-Straße 29, 14195 Berlin, Deutschland,                 danke den drei anonymen Gutachter*innen für die hilfreichen Kom­
E-Mail: daniel.drewski@fu-berlin.de, Tel: +49 30 838 57025          mentare.

  Open Access. © 2021 Drewski, publiziert von De Gruyter.        Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0
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Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen            97

handeln – beispielsweise im Rahmen des Europäischen                         Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich der vorlie-
Hochschulraums, europäischer Fachverbände und Inte-                     gende Beitrag mit den Folgen der EU-Osterweiterung für
ressensvertretungen oder der europäischen Institutionen                 die Zusammenarbeit in einer konkreten europäischen Or-
in Brüssel (Fligstein 2008; Georgakakis & Rowell 2013;                  ganisation: der Europäischen Kommission. Im institutio-
Kauppi & Madsen 2013; Büttner et al. 2015; Heidenreich                  nellen Gefüge der EU ist die Kommission die supranatio-
2019). In der Europasoziologie wird davon ausgegangen,                  nale Organisation, die die „Interessen der Union“ vertritt.
dass die dadurch stattfindende Verflechtung und Verdich-                Sie erfüllt exekutive Aufgaben, hütet über die Einhaltung
tung sozialer Interaktionen zwischen den Akteur*innen                   der EU-Verträge und besitzt das Initiativrecht im europäi-
über nationale und regionale2 Grenzen hinweg auf sub-                   schen Gesetzgebungsverfahren. Die Kommission besteht
jektiver Ebene zu einem Abbau entsprechender Grenzzie-                  aus 27 Kommissar*innen (28 vor dem „Brexit“) und rund
hungen und zur Entstehung eines europäischen Gemein-                    13.000 höheren Beamt*innen aus sämtlichen Mitglied-
schaftsgefühls führt (Favell 2008; Fligstein 2008; Mau                  staaten der EU. Im Zuge der EU-Osterweiterung sind auch
2010; Kuhn 2015).                                                       mehrere tausend Beamt*innen aus den „neuen“ Mitglied-
     Parallel zu dieser Vertiefung europäischer Integration             staaten in die Kommission rekrutiert worden. Welche
sind die Europäischen Gemeinschaften auch von einer                     Bedeutung hat mehr als ein Jahrzehnt nach der Osterwei-
Erweiterung von ursprünglich sechs auf 28 (bzw. 27 seit                 terung die Herkunft der Beamt*innen aus einem „west-
dem „Brexit“) Mitgliedstaaten geprägt. Die größte Erweite-              lichen/alten“ oder „östlichen/neuen“4 Mitgliedstaat der
rungsrunde stellte die sogenannte „Osterweiterung“ 2004                 EU für die Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen
und 2007 dar, im Zuge derer zehn mittel- und osteuropäi-                Kommission? Welche Rolle spielen dabei wahrgenom-
sche Staaten der Europäischen Union beigetreten sind                    mene sozioökonomische, politische und/oder kulturelle
(sowie Malta und Zypern). Diese Erweiterung stellte die                 Differenzen zwischen den jeweiligen Herkunftsländern
EU nicht nur aufgrund ihrer Größe vor besondere Heraus-                 der Kommissionsbeamt*innen?
forderungen, sondern auch weil sich die Beitrittsländer                     Diese Studie versteht sich als Beitrag zur Erforschung
mehrere Jahrzehnte lang auf der anderen Seite des „Eiser-               der Dynamiken europäischer Sozialintegration vor dem
nen Vorhangs“ befunden hatten und trotz eines rapiden                   Hintergrund der erweiterten EU. Die Beamtenschaft
Transformationsprozesses sozioökonomisch hinter dem                     der Europäischen Kommission wurde hierfür aus zwei
Durchschnitt der „alten“ Mitgliedstaaten zurückfielen.                  Gründen als Fallbeispiel ausgewählt. Erstens bildet die
Die Osterweiterung war deshalb von der Frage begleitet,                 Kommission so etwas wie einen „Mikrokosmos“ euro-
ob die zunehmende politische, sozioökonomische und                      päischer Integration. In ihr interagieren Beamt*innen
kulturelle Heterogenität der EU zu einer Erschwerung                    aus allen Mitgliedstaaten der EU tagtäglich miteinander,
der Zusammenarbeit innerhalb der europäischen Insti-                    handeln Formen der Zusammenarbeit aus und verstän-
tutionen sowie zu einer Abnahme der internen Kohäsion                   digen sich darüber, was es bedeutet, im „Interesse der
der EU führen würde (Heidenreich 2003; Delhey 2007;                     Union“ zu arbeiten. Zweitens kann die EU-Kommission
Gerhards 2007). Die jüngsten politischen Auseinander-                   unter den europäischen Institutionen als ein Fall gelten,
setzungen über die EU-weite Verteilung von Geflüchteten,                in dem die Beobachtung von Ost-West-Differenzierungen
die Reform der Entsendungsrichtlinie oder die Einhaltung                besonders unwahrscheinlich ist. Die Kommission ist die
rechtsstaatlicher Standards in Ungarn und Polen haben                   supranationale Organisation der EU. Sie ist intern entlang
der Sorge über eine mögliche Ost-West-Spaltung3 in der                  fachlicher Zuständigkeiten differenziert und verpflichtet
EU erneut Aufwind gegeben.                                              ihre Beamt*innen auf die Vertretung des „europäischen
                                                                        Interesses“. Wenn sich also selbst in der Kommission Ost-
                                                                        West-Differenzierungen beobachten lassen, ist es wahr-
                                                                        scheinlich, dass diese in ähnlicher Form auch innerhalb
2 Mit „regional“ sind in diesem Artikel nicht Regionen innerhalb
eines Nationalstaats, sondern europäische Makro-Regionen (wie
                                                                        anderer europäischer Organisationen (wie dem Europäi-
„Mittel- und Osteuropa“) gemeint.                                       schen Rat) und Felder ausgehandelt werden.
3 Allerdings ist zu bedenken, dass die komplexen politischen Kon-
fliktlinien, die die EU durchziehen, sich nicht umstandslos auf einen
Ost-West-Konflikt reduzieren lassen (vgl. dazu Lehne 2019). Die Re-     4 Wenn in diesem Artikel von den „neuen“ EU-Mitgliedstaaten die
gionen sind intern äußerst heterogen und die Kategorien „Ost“ und       Rede ist, sind die 2004 und 2007 beigetretenen mittel- und osteuro-
„West“ eine diskursive Konstruktion. Entsprechend geht es in diesem     päischen Staaten gemeint. Der Begriff „alte“ und „neue“ Mitglied-
Beitrag, wie weiter unten erläutert, um eine Analyse der Verwendung     staaten wird zur Vereinfachung genutzt, obwohl die mittel- und ost-
von „Ost“ und „West“ als Wahrnehmungs- und Interpretationskate-         europäischen Staaten bereits vor mehr als einem Jahrzehnt der EU
gorien.                                                                 beigetreten sind.
98       Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen

     Der Beitrag nähert sich der Forschungsfrage auf der        bolischer Grenzziehungen“ (2), um die Aushandlung von
Grundlage von 44 qualitativen Leitfadeninterviews, die in       Ost-West-Differenzierungen innerhalb einer konkreten
den Jahren 2016 und 2017 mit Kommissionsbeamt*innen             europäischen Organisation – der Europäischen Kommis-
im höheren Dienst aus verschiedenen alten und neuen             sion – zu untersuchen. Beide Punkte sollen im Folgenden
Mitgliedstaaten durchgeführt wurden. Im Mittelpunkt             näher erläutert werden.
der Analyse steht dabei die Wahrnehmung symbolischer
Grenzen unter den Beamt*innen. Michèle Lamont de-
finiert „symbolische Grenzen“ als „the lines that include       2.1 Europäische Sozialintegration und
and define some people, groups, and things while ex-                 EU-Osterweiterung
cluding others“ (Lamont et al. 2015: 850). Über symboli-
sche Grenzziehungen werden anhand von Kriterien wie             In der Europasoziologie wird in der Regel zwischen zwei
Sprache, Kultur, Werte, Herkunft usw. Gemeinsamkeiten           Dimensionen europäischer Integration unterschieden:
und Unterschiede zwischen Individuen markiert und               europäischer „System-“ und „Sozialintegration“ (Delhey
diese sozialen Gruppen zugeordnet. In der Regel sind sym-       2004; Gerhards & Lengfeld 2013). Europäische „System-
bolische Grenzziehungen auch mit Wertungen und/oder             integration“ bezieht sich auf das grenzüberschreitende
Erfahrungen von Nähe und Distanz verbunden. Die Fokus-          Zusammenwachsen von Institutionen und Teilbereichen
sierung auf symbolische Grenzziehungen ermöglicht es,           ehemals nationalstaatlich verfasster Gesellschaften, wie
der Frage nach der Bedeutung nationaler und regionaler          dem politischen System, dem Rechtssystem oder der Wirt-
Zugehörigkeiten induktiv und aus der Perspektive der Be-        schaft. Durch die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes,
fragten selbst nachzugehen und diese Kategorien nicht zu        eines einheitlichen Rechtsrahmens und den teilweisen
essenzialisieren (Brubaker 2004; Wimmer 2008).                  Transfer politischer Autorität von der nationalen auf die
     Im folgenden Kapitel wird zunächst der konzeptionelle      europäische Ebene lässt sich die EU als hochgradig sys-
Rahmen der Studie skizziert, Kapitel drei stellt die Euro-      temisch integriert bezeichnen. Als Konsequenz der sys-
päische Kommission als Mikrokosmos der europäischen             temischen Integration der EU sind gleichzeitig vielfältige
Integration vor und Kapitel vier umreißt die methodische        Opportunitäten für eine „soziale Integration“ entstanden.
Herangehensweise der Untersuchung. Schließlich werden           Diese bezieht sich auf die Integration von Individuen und
in Kapitel fünf die Ergebnisse der Analyse dargelegt, bevor     sozialen Gruppen über nationalstaatliche Grenzen hinweg.
im abschließenden Kapitel ein Fazit gezogen wird. Die           So haben sich zahlreiche transnationale bzw. europäische
Studie zeigt, dass die Befragten einerseits keine explizi-      soziale Felder5 und Organisationen gebildet, in denen Ak-
ten Grenzen entlang der nationalen und regionalen Zu-           teur*innen aus den unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten
gehörigkeit der Beamt*innen ziehen. Diese werden durch          miteinander interagieren und kooperieren (Fligstein 2008;
Rekurs auf das supranationale Rollenverständnis der EU-         Büttner & Mau 2010). Diese umfassen zum Beispiel die
Beamtenschaft, gemeinsame Sozialisationserfahrungen             europäischen Institutionen in Brüssel, europäische Dach-
und Selektionseffekte sowie die Ablehnung nationaler            verbände und Interessensvertretungen oder multinatio-
Stereotype hinterfragt und aufgeweicht. Dennoch zeigt           nale Unternehmen (Kauppi & Madsen 2013; Georgakakis &
sich andererseits, dass wahrgenommene Unterschiede              Rowell 2013; Heidenreich 2019). Wie weiter unten erläutert
in Bezug auf Karrierechancen, Organisationskulturen,            wird, konzentriert sich dieser Beitrag auf die supranatio-
sprachliche Präferenzen und Berufsethiken durch Rück-           nale Institution der EU: die Europäische Kommission.
griff auf die Kategorien „östliche“ und „westliche“ bzw.            Von besonderem Interesse für die Europasoziologie
„alte“ und „neue“ EU-Mitgliedstaaten plausibilisiert und        sind dabei die Identitäts- und Differenzkonstruktionen
interpretiert werden. Auf diese Weise erhalten entspre-         der Akteur*innen innerhalb solcher europäischer sozialer
chende symbolische Grenzziehungen doch eine subtile             Felder und Organisationen. In der Regel wird davon aus-
Bedeutung.                                                      gegangen, dass die darin stattfindende Verdichtung und

2 Konzeptioneller Rahmen                                       5 Mit dem Begriff des transnationalen bzw. europäischen sozialen
                                                                Feldes sind Arenen regelmäßiger sozialer Interaktionen zwischen In-
                                                                dividuen und sozialen Gruppen aus den unterschiedlichen Mitglied-
Der vorliegende Beitrag knüpft an die Forschungsliteratur       staaten der EU gemeint, die jenseits des Nationalstaats angesiedelt
zu europäischer Sozialintegration im Kontext der EU-Ost-        sind. Sie unterliegen gemeinsamen Spielregeln und die Akteur*in-
                                                                nen teilen ein Selbstverständnis als Teilnehmer*innen des Feldes
erweiterung an (1) und bedient sich des Konzepts „sym-
                                                                (Fligstein 2008).
Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen              99

Verstetigung grenzüberschreitender Interaktionen auf sub-        2007; Klingemann & Weldon 2013; Deutschmann et al.
jektiver Ebene zur Aufweichung wahrgenommener Trenn-             2018). Diese Vorbehalte können mit Nachwirkungen der
linien entlang von nationaler und regionaler Zugehörigkeit       Prägung durch den „Eisernen Vorhang“ sowie dem (his-
und der Entstehung eines grenzüberschreitenden Gemein-           torisch weit zurückzuverfolgenden) sozioökonomischen
schaftsgefühls führt (Delhey 2004; Fligstein 2008).6 Diese       Gefälle zwischen den west- und mittelosteuropäischen
Annahme basiert auf dem sogenannten „transaktionalisti-          Mitgliedstaaten zusammenhängen. Laut Manuela Boatcă
schen“ Ansatz, der Anleihen bei Karl W. Deutsch (Deutsch         (2015) und anderen (Wolff 1994) ist die mentale Unter-
1954; Deutsch et al. 1957) einerseits und der sozialpsycho-      scheidung zwischen „West-“ und „Osteuropa“ mit Ste-
logischen Theorie des Intergruppenkontakts (Allport 1954;        reotypen über Modernität und Rückständigkeit verbun-
Pettigrew 1998) andererseits nimmt. Demnach befördern            den.7 „Osteuropa“ nehme auf der mentalen Landkarte
alltägliche und routinemäßige Interaktionen zwischen             Europas vor allem die Position des „Nachzüglers“ ein, der
den Mitgliedern unterschiedlicher sozialer Gruppen das           die westeuropäische Moderne imitiert. Ost-West-Differen-
gegenseitige Verständnis, den Abbau von Stereotypen und          zen in der EU können auch politisiert werden, wie sich
Vorurteilen sowie die Entdeckung von Gemeinsamkeiten.            beispielsweise in den Auseinandersetzungen um rechts-
In der Tat zeigen zahlreiche Studien, dass transnationale        staatliche und demokratische Standards oder die Ver-
Interaktionen mit kosmopolitischen Einstellungen und             teilung von Finanzmitteln zeigt (Krastev & Holmes 2019).
einer Identifizierung mit Europa einhergehen (z.B. Favell             An dieser Stelle setzt der vorliegende Beitrag an und
2008; Mau 2010; Kuhn 2015).                                      fragt, welche Bedeutung mehr als ein Jahrzehnt nach der
     Allerdings wird in Bezug auf europäische Sozialinte-        EU-Osterweiterung die Herkunft aus einem westlichen/
gration auch häufig von einem trade-off zwischen einer           alten bzw. östlichen/neuen Mitgliedstaat der EU für die
„Vertiefung“ und „Erweiterung“ der EU – das heißt dem            Zusammenarbeit innerhalb einer europäischen Organisa-
Beitritt neuer Staaten und Gesellschaften – ausgegan-            tion wie der EU-Kommission hat und welche Differenzen
gen. Vor allem in Bezug auf die EU-Osterweiterung ist            dabei ausgehandelt werden. Er wendet also den Blick ab
argumentiert worden, dass der Beitritt zehn mittel- und          von der Makro-Ebene gesellschaftspolitischer Konflikt-
osteuropäischer Staaten zu einer Schwächung europäi-             linien auf die Mikro-Ebene der alltäglichen Interaktionen.
scher Sozialintegration geführt haben könnte. Zum einen          Zu diesem Zweck wird auf das im nächsten Abschnitt
argumentieren Studien (z.B. Fuchs & Klingemann 2002;             beschriebene Konzept „symbolischer Grenzziehungen“
Gerhards 2007; Gerhards et al. 2017), dass zwischen den          zurückgegriffen. Mit diesem analytischen Fokus lässt sich
Bevölkerungen der alten und neuen Mitgliedstaaten sig-           die subjektive Perspektive der Akteur*innen und deren
nifikante Unterschiede in Bezug auf deren durchschnitt-          Selbst- und Fremdzuschreibungen systematisch erfassen.
liche Einstellungen und Wertorientierungen – beispiels-
weise im Hinblick auf Demokratie, Geschlechterrollen und
Religion – sowie deren kollektive Erinnerungen bestehen.         2.2 Das Konzept symbolischer
Diese lassen sich durch das sozialistische Erbe in Mittel-            Grenzziehungen
und Osteuropa und durch das Modernisierungsgefälle
zwischen den alten und neuen Mitgliedstaaten erklären.           Um die subjektive Bedeutung der Herkunft aus einem
Darin wird eine Gefahr für den grenzüberschreitenden Zu-         alten/westlichen bzw. neuen/östlichen Mitgliedstaat der
sammenhalt und ein Potential für gesellschaftspolitische         EU für die Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen
Konflikte gesehen.
     Diese Studien zeigen jedoch nicht, inwiefern die ge-
nannten Faktoren von den Menschen auch als bedeut-               7 Es ist an dieser Stelle wichtig anzumerken, dass solche regionalen
sam und trennend wahrgenommen werden. Hier setzen                Kategorisierungen nicht geographisch präzise sind. Es werden Län-
                                                                 der und Gesellschaften unterschiedlichster Prägung in Kategorien
andere Studien an, die zeigen, dass die gegenseitige
                                                                 zusammengefasst und Gemeinsamkeiten über Kategoriengrenzen
Verbundenheit und das Vertrauen (als Maße sozialer               hinweg ausgeblendet. Sie sind auch umstritten, weil sie meist positi-
Integration) zwischen den Bevölkerungen der „alten“              ve oder negative Assoziationen hervorrufen. Während beispielsweise
und „neuen“ EU-Mitgliedstaaten deutlich geringer aus-            „Westeuropa“ meist mit positiven Attributen besetzt ist, gilt dies für
fällt als unter den alten Mitgliedstaaten (z.B. Delhey           „Osteuropa“ eher nicht. Entsprechend wird die Kategorie „Osteuro-
                                                                 pa“ als Selbstbeschreibung abgelehnt, so dass „Osteuropa […] eine
                                                                 Großregion ohne ‚Osteuropäer‘“ ist (Schenk 2013: 14). Die „östlichen“
                                                                 Mitgliedstaaten der EU verstehen sich entsprechend eher als „Ost-
6 Hinzu kommen Sozialisations- und Selektionseffekte (Herrmann   mitteleuropa“. Die Verwendung solcher Kategorien ist also immer ein
et al. 2004; Checkel 2005).                                      Mittel der Selbst- und Fremdverortung.
100       Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen

Kommission zu untersuchen, wird auf das Konzept der             kategorisieren, und aufgrund welcher Eigenschaften sie
„symbolischen Grenzziehung“ zurückgegriffen. Dieses             diese Zuordnung vornehmen.
wurde in den vergangenen Jahrzehnten zur Erforschung                Symbolische Grenzen können mehr oder weniger
unterschiedlicher Phänomene sozialer Differenzierung –          scharf gezogen werden. Die Literatur unterscheidet dies-
unter anderem entlang von Kriterien wie nationaler und          bezüglich zwischen „hellen“ (bright) und „verschwom-
ethnischer Herkunft – entwickelt (Lamont & Molnár               menen“ (blurred) Grenzziehungen (Alba 2005; Wimmer
2002; Wimmer 2008). In der Regel wird hierbei zwischen          2008). Einerseits unterscheiden helle symbolische
einer symbolischen und einer sozialen Grenzziehung un-          Grenzen klar zwischen verschiedenen sozialen Kategorien
terschieden. Unter einer „symbolischen Grenzziehung“            und den damit verbundenen Merkmalen. Wenn Grenzen
wird eine mentale Kategorisierung verstanden, über die          als hell wahrgenommen werden, ist die Gruppenzuge-
Individuen sich selbst und andere aufgrund bestimmter           hörigkeit eindeutig definiert und salient. Helle Grenzen
zugeschriebener Eigenschaften (Sprache, Kultur, Aus-            generieren exklusive soziale Identifikationen und starke
sehen, Herkunft usw.) unterscheiden und einer sozia-            Solidarität innerhalb der Gruppe. Andererseits können die
len Kategorie (soziale Klasse, Geschlecht, Nationalität         Grenzen zwischen sozialen Gruppen als verschwommen
etc.) zuordnen. Diese Konstruktion von Gemeinsamkei-            wahrgenommen werden. Wenn soziale und symbolische
ten und Unterschieden geht häufig mit Bewertungen               Grenzen verschwimmen, wird die Gruppenzugehörigkeit
und/oder Gefühlen von Fremdheit oder Nähe einher.               mehrdeutig und ist weniger salient. Stattdessen können
­Symbolische Grenzen können – müssen aber nicht – in            sich Akteur*innen mit mehreren überlappenden Mitglied-
 „soziale ­Grenzziehungen“ überführt werden, wenn sie           schaftskategorien gleichzeitig identifizieren. Verschwom-
 Assoziationsformen prägen und zur Bildung mehr oder            mene Grenzen hängen mit schwachen Identifikationen
 weniger abgeschlossener sozialer Gruppen führen. Solche        und eher losen Assoziationsformen zusammen.
 sozialen Schließungsprozesse können mit einer Mono-
 polisierung von Ressourcen für die Eigengruppe verbun-
 den sein. Im vorliegenden Beitrag stehen symbolische
 Grenzziehungen im Vordergrund, die in erster Linie mit
                                                                3 Fallbeschreibung: Die Euro-
 sozialer Identitätsbildung und Anerkennung zusammen-              päische Kommission
 hängen.
     Im Kontext der Erforschung nationaler und eth-             Als Fallbeispiel zur Untersuchung symbolischer Grenz-
 nischer Zugehörigkeiten und Differenzierungen wurde das        ziehungen im Kontext europäischer sozialer Felder und
 Konzept der symbolischen Grenzziehung aus Ablehnung            Organisationen wurde die Europäische Kommission in
 von „essentialistischen“ Ansätzen entwickelt, welche           Brüssel ausgewählt. Die Europäische Kommission ist das
 soziale Gruppen wie ethnische Gruppen oder Nationali-          supranationale Organ der EU. Sie erfüllt exekutive Auf-
 täten als gegeben annehmen und aufgrund gemeinsamer            gaben, gilt als „Motor der europäischen Integration“, weil
 (kultureller, sprachlicher etc.) Merkmale voneinander          sie das alleinige Initiativrecht innerhalb der EU besitzt,
 unterscheiden (Brubaker 2004; Wimmer 2008). Anstatt            sowie als „Hüterin der Verträge“, da sie Vertragsverlet-
 die subjektive Relevanz dieser Kategorien und die empi-        zungsverfahren gegenüber den EU-Mitgliedstaaten ein-
 rische Existenz von Gruppen schlicht vorauszusetzen,           leiten kann. Die EU-Kommission ist eine komplexe Organi-
 kann durch den analytischen Fokus auf Grenzziehungen           sation (Bach 1999; Büttner et al. 2015). Politische Führung
 induktiv untersucht werden, ob und wie Akteur*innen            wird durch ein Kolleg von 27 Kommissar*innen ausgeübt,
 sich und andere unterschiedlichen sozialen Kategorien          die von den Mitgliedstaaten der EU nominiert werden und
 zuordnen, welche Gemeinsamkeiten und Differenzen               eine Amtszeit von fünf Jahren haben. Der Beamtenapparat
 sie wahrnehmen und in welchem Maße diese Wahrneh-              der Kommission besteht aus ca. 13.000 Beamt*innen im
 mungen zu sozialer Gruppenbildung führen. Auf diese            höheren Dienst, die den Kommissar*innen zuarbeiten
 Studie angewendet bedeutet dies, dass nicht die „kul-          und die Agenda der Kommission umsetzen. Der Beamten-
 turellen Merkmale“ ost- und westeuropäischer Beamter           apparat ist entlang verschiedener „Generaldirektorate“
 miteinander verglichen werden, um Schlussfolgerungen           (vergleichbar mit Ministerien) mit unterschiedlichen
 über ihre Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zur Bildung         fachlichen Zuständigkeiten strukturiert. Die Kommis-
 eines kohäsiven öffentlichen Dienstes abzuleiten. Statt-       sion rekrutiert ihre Beamt*innen überwiegend in einem
 dessen wird induktiv untersucht, ob und unter welchen          unabhängigen Auswahlverfahren (dem Concours). Die
 Umständen sich beispielsweise italienische und polnische       einzelnen Ressorts sind meist multinational zusammen-
 Beamt*innen als „westeuropäisch“ oder „osteuropäisch“          gesetzt.
Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen            101

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Abb. 1: Zahl der Kommissionsbeamt*innen im höheren Dienst nach Nationalität (N=13.475) (Stand Januar 2017)
Quelle: European Commission 2017, eigene Berechnung

    Die Kommission wurde aus zwei Gründen als Fallbei-              vorliegende Untersuchung interessant. Die Kommission
spiel ausgewählt. Erstens lässt sich innerhalb der Kommis-          lässt sich analog zu einem „least-likely“ Fall verstehen
sion wie in kaum einer anderen Organisation beobachten,             (Eckstein 2000).8 Nationale und regionale symbolische
wie Akteur*innen aus allen Ländern und Regionen der EU              Grenzziehungen sind hier besonders unwahrscheinlich.
tagtäglich interagieren und zusammenarbeiten. Ihre ca.              Wenn sie sich dennoch beobachten lassen, dann ist es
13.000 höheren Beamt*innen kommen aus sämtlichen Mit-               wahrscheinlich, dass sie auch in anderen sozialen Feldern
gliedstaaten der EU. Mit der Osterweiterung der EU in den           und Organisationen ausgehandelt werden müssen, deren
Jahren 2004 und 2007 wurden über einen relativ kurzen               Akteur*innen in geringerem Maße europäisiert sind als
Zeitraum ca. 4.500 Beamt*innen (aller Dienstgrade) aus              Kommissionsbeamt*innen.
den neuen Mitgliedstaaten in unterschiedliche Ebenen der                 Vor dem Hintergrund ihrer multinationalen Zusam-
Kommission rekrutiert, was einer Expansion der Beamten-             mensetzung haben sich bereits frühere Studien mit der
schaft um etwa 20 % gleichkam (Ban 2013: 100–101). Wie              Bedeutung von nationaler und regionaler Herkunft in
Abbildung 1 zeigt, entsprach die Verteilung der höheren             der Kommission beschäftigt. Im Mittelpunkt steht dabei
Beamt*innen nach Nationalität zum Zeitpunkt dieser                  die Frage, inwiefern die Beamt*innen der Kommission
Studie in etwa der Bevölkerungsgröße der jeweiligen Her-            angesichts ihrer supranationalen Aufgabe mögliche Lo-
kunftsländer. Zugleich ist ihre Zusammenarbeit nicht fol-           yalitäten zu ihren jeweiligen Herkunftsstaaten aufgeben
genlos. Um gemeinsam die Agenda der EU voranzutreiben,              und eine supranationale Rollenvorstellung übernehmen
müssen die Beamt*innen der Kommission miteinander                   (zusammenfassend vgl. Egeberg 2012). Diese Studien
ihre Vorstellungen davon aushandeln, was die EU ist und             kommen zu dem Schluss, dass die Beamtenschaft der
was sie ausmachen soll – was wiederum die Aushandlung               Kommission trotz unterschiedlicher Vorstellungen über
potenzieller symbolischer Grenzziehungen erfordert.                 die Rolle der Kommission im politischen System der EU
    Zweitens ist die Beamtenschaft der Europäischen                 (Hooghe 2001, 2012) nicht als Ensemble nationalstaatli-
Kommission ein besonderer Fall, da es sich hierbei um               cher Repräsentant*innen verstanden werden kann, die
eine Organisation handelt, die in ganz besonderem Maße              primär der Agenda ihrer Heimatregierungen verpflichtet
europäisiert ist. Die Beamt*innen sind in der Regel hoch
ausgebildet, haben umfangreiche internationale Erfah-
rungen gesammelt, sprechen mehrere Sprachen und ar-
beiten überwiegend aus pro-europäischer Überzeugung                 8 Die Kommission ist jedoch kein „least-likely“ Fall im strengen
                                                                    Wortsinn. Der Begriff stammt aus der vergleichenden Politikwissen-
für die Kommission (vgl. Kassim et al. 2013). Wer sich
                                                                    schaft und bezeichnet eine Logik der Fallauswahl zur Überprüfung
für eine Karriere in der Kommission entscheidet und re-             kausaler Annahmen. In diesem Fall wird keine kausale Annahme
krutiert wird, ist also bereits in hohem Maße europäisch            überprüft, sondern lediglich die Relevanz nationaler bzw. regionaler
geprägt. Aber gerade dies macht die Kommission für die              Grenzziehungen rekonstruiert.
102         Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen

sind.9 Didier Georgakakis zeigt beispielsweise aus feld-                   Der vorliegende Beitrag knüpft an Studien an, die sich
theoretischer Perspektive und basierend auf biogra-                    mit den Auswirkungen der Osterweiterung auf die interne
fischen Analysen, wie sich die Beamtenschaft der Kom-                  Kultur der Kommission beschäftigt haben. Carolyn Ban
mission als unabhängiger Beamtenstand und legitime                     (2013) untersucht beispielsweise die Integration mittel-
Vertreterin des „europäischen Interesses“ durch einen                  osteuropäischer Beamt*innen in den Kommissiondienst
Prozess der institutionellen Autonomisierung gegenüber                 und die organisationskulturellen Folgen der Osterweite-
nationalen Machtfeldern konstituiert hat (Georgakakis                  rung. Sie kommt zu dem Schluss, dass dieser Prozess von
& Rowell 2013; Georgakakis 2017). Dabei spielt vor allem               einigen Ausnahmen abgesehen erfolgreich verlief und
der sog. „Concours“ (das strenge Auswahlverfahren der                  hebt insbesondere organisationskulturelle Veränderung
Kommission) als feldspezifische Konsekrationsinstanz                   im Bereich der Arbeitssprache (vom Französischen zum
eine bedeutende Rolle. Durch dieses Verfahren werden                   Englischen) und als Folge der demographischen Zusam-
Kommissionsbeamt*innen weitgehend unabhängig von                       mensetzung der Beamtenschaft (mehr Frauen und jüngere
nationaler Einflussnahme rekrutiert.10 Hinzu kommt die                 Beamt*innen) hervor. Zu einer kritischeren Einschätzung
Rolle von Verwaltungshochschulen wie dem Europakolleg                  gelangt Paweł Lewicki (2017), der im Rahmen einer ethno-
in Brügge (Belgien) und Natolin (Polen), deren Abschlüsse              graphischen Studie nach der Osterweiterung polnische
als „Eintrittskarte“ in die Kommission gelten und die zur              EU-Beamt*innen begleitet und argumentiert, dass diese
Herausbildung eines spezifischen „EU-Habitus“ beitragen                im Kontrast zu einem westeuropäisch kodierten „EU-Ha-
(Poehls 2009).                                                         bitus“ weiterhin als „rückständig“ und „nationalistisch“
     Ethnographische und interpretativ vorgehende Stu­                 markiert und subtil marginalisiert würden.12 Der vorlie-
dien (Abélès et al. 1993; Shore 2000; Suvarierol 2009,                 gende Beitrag baut auf diesen Erkenntnissen auf und führt
2011) zeichnen jedoch ein komplexeres Bild der internen                über das Konzept der „symbolischen Grenzziehungen“
Organisationskultur, der informellen Praktiken und der                 ein analytisches Werkzeug ein, um die Selbst- und Fremd-
Identitäts- und Differenzkonstruktionen der Kommis-                    zuschreibungen der Akteur*innen entlang unterschiedli-
sionsbeamt*innen. Sie zeigen, dass die supranationale                  cher Dimensionen systematisch erfassen zu können.
Rollenvorstellung und ein starker „esprit de corps“ durch-
aus mit kulturellen Differenzierungen und nationalen
Stereotypen koexistieren und in Spannung zueinander
treten können. Besonders markant scheint nach der EU-
                                                                       4 Methodisches Vorgehen
Süderweiterung (1981/86) eine symbolische Grenzziehung
                                                                       Diese Studie setzt in den Jahren 2016 und 2017 an. Zu
zwischen „nord-“ und „südeuropäischen“ Kulturen in der
                                                                       diesem Zeitpunkt war der Prozess der Osterweiterung auf
Kommission hervorgetreten zu sein. Diese bezieht sich
                                                                       der Personalebene der Kommission weitgehend abge-
auf organisationskulturelle und sprachliche Aspekte, bei-
                                                                       schlossen. Die Beamt*innen aus den mittel- und osteuro-
spielsweise ob die dominante Arbeitssprache der Kommis-
                                                                       päischen Mitgliedstaaten waren in etwa proportional zu
sion Englisch oder Französisch sein sollte. Ebenso zeigt
                                                                       ihrer jeweiligen Bevölkerungsgröße in der Kommission
sich, dass kommissionsinterne Netzwerke zumindest zum
                                                                       vertreten. Lediglich auf der Leitungsebene zeichnete sich
Teil von nationalen und sprachlichen Affinitäten geprägt
                                                                       noch eine leichte Asymmetrie ab, die auch in den Inter-
sind (Suvarierol 2008; Kassim et al. 2013).11
                                                                       views zur Sprache kam, wie noch beschrieben wird.
                                                                           Grundlage der Studie bilden Daten aus 44 Leitfaden-
9 Anders verhält es sich auf der Ebene der Kommissar*innen, die in
                                                                       interviews mit fest angestellten Kommissionsbeamt*innen
stärkerem Maße „national“ beeinflusst sind (z.B. Wonka 2008)
10 Dennoch scheint die Praxis der „parachutage“, wodurch Mit-
                                                                       im höheren Dienst. Die Befragten wurden über das öffent-
arbeiter*innen direkt in einflussreiche Positionen der Kommission      lich zugängliche Adressverzeichnis der Kommission per
platziert werden, sowie andere Formen des Versuchs der Einfluss-
nahme nationaler Regierungen, weiterhin fortzubestehen.
11 Natürlich beschränken sich symbolische Unterscheidungen             können im Rahmen dieses Artikels jedoch nicht näher beleuchtet
innerhalb der Kommission nicht nur auf nationale und kulturelle        werden.
Zugehörigkeiten. Ebenso können Unterscheidungen zwischen Ge-           12 Ähnliche Beobachtungen macht Kerstin Poehls (2009), die in
neraldirektoraten je nach ihrer spezifischen Organisationskultur und   ihrer ethnographischen Studie des Europakollegs in Brügge be-
ihrem Status innerhalb der Kommissionshierarchie bestehen (wel-        schreibt, wie die Studierenden zwar einen „europäischen Habitus“
cher verbunden ist mit der Kompetenz, die die Kommission in dem        herausbilden, der auf die Arbeit in den europäischen Institutionen
entsprechenden Politikbereich hat), sowie zwischen den professio-      vorbereitet. Gleichzeitig scheint jedoch dieser Habitus „westeuropä-
nellen Hintergründen der Beamt*innen (z.B. zwischen Jurist*innen       isch“ geprägt zu sein und „osteuropäische“ Erfahrungen und Wis-
und Ökonom*innen) (vgl. Georgakakis 2017). Diese Grenzziehungen        sensbestände zu marginalisieren (Poehls 2009: 229–223).
Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen   103

E-Mail kontaktiert und die Interviews meist in den Büros          gen aus dem Material emergieren. Stattdessen musste die
der Interviewpartner*innen durchgeführt. Das Sampling             Stoßrichtung der Interviews offengelegt werden, um die
folgte theoretischen Kriterien: Die Befragten wurden nach         Kooperation der Befragten zu sichern. Zweitens war die
unterschiedlichen Dienstgraden (von Referent*innen                Interviewsituation nicht – wie in den meisten Interviewsi-
über Referatsleiter*innen bis hin zu Direktor*innen),             tuationen üblich – durch ein Machtgefälle zwischen Inter-
Generaldirektoraten und Nationalitäten rekrutiert. Das            viewer und Befragtem geprägt. Dieses verlief aufgrund der
realisierte Sample besteht einerseits aus 32 Beamt*innen          Position des Interviewers als Doktorand eher umgekehrt.
aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritan-            Dadurch bestand eine geringere Gefahr, dass den Befrag-
nien13, Italien, Spanien und Schweden, andererseits aus           ten Vorannahmen des Interviewers „aufgedrängt“ wurden.
12 Beamt*innen aus Polen, Ungarn und Rumänien. Damit              Insgesamt gibt diese Interviewstrategie jedoch keinen
sind selbstverständlich nicht alle Mitgliedstaaten der EU         Aufschluss darüber, wie stark nationale und regionale
abgedeckt. Das Sample stellt aber eine Annäherung an              Grenzziehungen relativ zu anderen symbolischen Grenzen
die wichtigsten politischen, sozioökonomischen und kul-           (z.B. entlang fachlicher Zugehörigkeiten) ausgeprägt sind,
turellen Differenzierungslinien in der EU dar, da es große        sondern in erster Linie, welchen Sinngehalt sie haben.
und kleine, westliche und östliche, sowie nord- und süd-               Die Interviews wurden mit Ausnahme der deutsch-
europäische Mitgliedstaaten abdeckt.                              sprachigen Interviewpartner*innen auf Englisch geführt.
     Der Interviewleitfaden orientiert sich an dem von            Sie haben eine durchschnittliche Länge von 68 Minuten.
Michèle Lamont ausgearbeiteten Leitfaden zur Erfassung            Die Audioaufnahmen wurden vollständig transkribiert,
symbolischer Grenzziehungen (Lamont 1992) und er-                 anonymisiert und mit Pseudonymen versehen.
weitert diesen vor allem mit Fragen zur Rolle, die die na-             Die Transkripte wurden einer qualitativen Inhaltsana-
tionale und regionale Zugehörigkeit der Beamt*innen für           lyse mit dem Ziel der Systematisierung und Explikation
Grenzziehungen innerhalb der Europäischen Kommis-                 des Materials unterzogen (Kuckartz 2018). Dazu wurden
sion spielt (siehe Online-Anhang). Beispielsweise wurde           zunächst entlang der Fragestellung zwei Auswertungs-
erfragt, inwieweit Unterschiede zwischen Beamt*innen              dimensionen festgelegt: zum einen die subjektive Re-
unterschiedlicher Länder wahrgenommen werden und                  levanz nationaler und regionaler Grenzziehungen, zum
ob die Befragten mit Kolleg*innen bestimmter Länder               anderen die inhaltlichen Kriterien, nach denen diese
leichter zusammenarbeiten können als mit anderen. Die             gezogen werden. Zu diesen beiden Dimensionen wurden
Fragen waren dabei nicht auf Grenzziehungen zwischen              auf der Grundlage des Interviewmaterials induktiv Codes
östlichen und westlichen Herkunftsländern beschränkt,             entwickelt und in einem iterativen Prozess schrittweise
sondern auf Unterschiede entlang nationaler und re-               ergänzt und präzisiert. Das Augenmerk der folgenden
gionaler Herkunft allgemein. Die Interviews arbeiten auf          Auswertung liegt auf den Interviewpassagen, in denen die
diese Weise heraus, auf welche Kriterien die Beamt*innen          Befragten auf die Kategorien „westliche“ und „östliche“
zurückgreifen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede                bzw. „neue“ und „alte Mitgliedstaaten“ zurückgreifen,
untereinander zu konstruieren und welche Bedeutung sie            um Unterscheidungen vorzunehmen – es werden also
diesen beimessen.                                                 die Selbst- und Fremdzuschreibungen der Akteur*innen
     Zu beachten ist in Bezug auf den Interviewleitfaden,         selbst erfasst. Wie im nächsten Kapitel näher erläutert,
dass im Interview direkt nach möglichen Gemeinsam-                wurden Unterscheidungen entlang von inhaltlichen Krite-
keiten und Unterschieden zwischen Beamt*innen aus                 rien wie Karrierechancen, Organisationskulturen, Arbeits-
unterschiedlichen Ländern und Regionen gefragt und ins-           sprachen und Berufsethiken kodiert. Als Ankerbeispiele
besondere auch die Osterweiterung angesprochen wurde.             für die jeweiligen Grenzziehungen werden entsprechende
Dieses Vorgehen lässt sich dahingehend kritisieren, dass          Interviewpassagen zitiert und interpretiert.
dadurch die Grenzziehungskategorien bereits vorgegeben
und entsprechend reifiziert werden. Allerdings ist zweier-
lei zu beachten. Erstens war es angesichts der zeitlichen
Restriktionen und der spezifischen Erwartungen hoch-
                                                                  5 Ergebnisse
rangiger Beamter nicht möglich, gänzlich offene Inter-
                                                                  Welche Bedeutung hat die Herkunft aus einem alten/west-
viewfragen zu stellen und abzuwarten, bis Grenzziehun-
                                                                  lichen oder neuen/östlichen EU-Mitgliedstaat für sym-
                                                                  bolische Grenzziehungen innerhalb der Europäischen
                                                                  Kommission? Die Interviews zeichnen ein ambivalentes
13 Zum Zeitpunkt der Interviews hatte Großbritannien noch nicht
                                                                  Bild. Auf der einen Seite weisen die Befragten allgemein
den Austritt aus der EU eingeleitet.
104       Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen

die Bedeutung nationaler und regionaler Zugehörigkeit           risieren die Befragten überwiegend entsprechende sym-
als primäre und eindeutige Differenzierungskriterien in-        bolische Grenzen als „verschwommen“. Sie weisen diese
nerhalb der Kommission zurück; entsprechende Grenz-             Kategorien als primär relevante Differenzierungskriterien
ziehungen werden als „verschwommen“ charakterisiert.            und die eindeutige Zuordenbarkeit der Kolleg*innen zu
Dabei rekurrieren die Befragten erstens auf ihr Rollenver-      diesen Kategorien zurück. Dies geschieht typischerweise
ständnis als EU-Beamt*innen sowie auf kosmopolitische           durch Rekurs auf, erstens, das eigene supranationale Rol-
Normen, zweitens auf gemeinsame Sozialisationserfah-            lenverständnis der EU-Beamtenschaft und kosmopoliti-
rungen und Selektionseffekte, und drittens verweisen            sche Normen, zweitens auf gemeinsame Sozialisations-
sie auf die Unzulänglichkeit nationaler Stereotype und          erfahrungen und Selektionseffekte, sowie drittens durch
Generalisierungen zur Beschreibung von Gemeinsam-               Verweis auf die Unzulänglichkeit nationaler Stereotype
keiten und Differenzen zwischen den Beamt*innen. Diese          zur Beschreibung von Gemeinsamkeiten und Differenzen
Strategien der Grenzaufweichung werden im Folgenden in          zwischen den Beamt*innen.
Abschnitt 5.1 dargestellt.                                           Erstens wird die Bedeutung von nationaler und re-
    Auf der anderen Seite greifen die Befragten dennoch         gionaler Zugehörigkeit als primäres Differenzierungs-
auf die Kategorien „ost-“ und „westeuropäisch“ bzw.             kriterium innerhalb der Kommission durch Verweis auf
„alte“ und „neue“ EU-Mitgliedstaaten zurück, um wahr-           das Rollenverständnis europäischer Beamt*innen und
genommene Unterschiede und Konflikte in Bezug auf vier          kosmopolitische Normen zurückgewiesen. Wie bereits
Aspekte zu artikulieren und zu deuten: Karrierechancen,         dargestellt, werden die Beamt*innen der Europäischen
Organisationskulturen, Sprachpräferenzen und das Be-            Kommission nicht von den nationalen Regierungen ent-
rufsethos von Kommissionsbeamt*innen. Diese werden              sandt; sie dienen qua Beamtenstatut ausschließlich den
auf Makrounterschiede zwischen den Herkunftsregionen            „Interessen der Union“ und haben sich im Laufe der Zeit
bezogen, insbesondere auf das politische Gewicht alter          als ein von den Nationalstaaten unabhängiger europäi-
und neuer Mitgliedstaaten im Rahmen der EU, mögliche            scher Beamtenstand konstituiert (Georgakakis & Rowell
Nachwirkungen des sozialistischen Erbes in Mittel- und          2013). Ein Beamter bezeichnet das so, dass er seine natio-
Osteuropa und sozioökonomische Entwicklungsunter-               nale Identität „in a box“ verstaut, sobald er seinen Arbeits-
schiede. Auf diese Weise zeigt sich, dass die Kategorien        platz in der Kommission betritt (Interview #9, HU, Abs. 76).
„östliche“ und „westliche“ bzw. „alte“ und „neue“ Mit-          Gleichzeitig verfolgt die Kommission als multinational zu-
gliedstaaten weiterhin sinnhafte Differenzierungskrite-         sammengesetzte Organisation in ihrer Personalpolitik ein
rien bilden, auf die im Kontext der Kommission sekundär         kosmopolitisches Leitbild, nach dem Individuen nicht auf
Bezug genommen werden kann. Die entsprechenden                  ihre Herkunft reduziert werden sollten. Daraus leitet sich
Grenzziehungen werden in den Abschnitten 5.2 bis 5.5            für manche Beamt*innen die Norm ab, keine nationalen
dargestellt.                                                    Unterscheidungen zu treffen. Ein Befragter reagiert auf
    Es sei angemerkt, dass innerhalb der jeweiligen Her-        die entsprechende Nachfrage beispielsweise so: “Now you
kunftskategorien gelegentlich feinere Differenzierungen         are really driving me into an uncomfortable area [laughs].
gemacht werden. Beispielsweise wird den Beamt*innen             Because this is the kind of thing, as an official, it’s not nice
baltischer Länder (Estland, Lettland und Litauen) manch-        to talk about these things” (Interview #4, IT, Abs. 50).
mal eine kulturelle Nähe zu Skandinavier*innen nach-                 Zweitens werden gemeinsame Sozialisationserfahrun-
gesagt, Beamt*innen aus Südosteuropa (Rumänien und              gen sowie Selektionseffekte angeführt, welche mögliche
Kroatien) eine kulturelle Nähe zu anderen südeuropäi-           nationale und regionale Unterschiede zwischen Kommis-
schen Kolleg*innen. Insgesamt scheint die Unterschei-           sionsbeamt*innen zunehmend abschleifen. Diese haben
dung westlich/alt und östlich/neu dennoch die dominante         meist längere Zeit im Ausland studiert und schon vor der
Unterscheidung zu sein, so dass das Augenmerk der fol-          Kommissionslaufbahn eine international ausgerichtete
genden Analysen hierauf gelegt wird.                            Karriere verfolgt, sie haben das hochselektive Auswahl-
                                                                verfahren der Kommission bestanden und arbeiten in
                                                                multinationalen Teams. Daraus folgt für einige Befragte,
5.1 V
     erschwommene nationale und                                dass sich Kommissionbeamt*innen unabhängig von
    regionale Grenzziehungen                                    ihrer nationalen und regionalen Herkunft in Bezug auf
                                                                ihre Einstellungen und Verhaltensweisen – bzw. ihrem
Gefragt nach der Bedeutung nationaler und regionaler            „Habitus“ – ähnlicher sind als ihren jeweiligen Lands-
Herkunft für die gegenseitige Wahrnehmung und Zu-               leuten. Dies wird von der folgenden Beamtin so formuliert:
sammenarbeit der Kommissionsbeamt*innen, charakte-
Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen    105

    “That’s why I told you we are not representative of the society,        „Organisationskulturen“ werden hier unterschiedliche
    of the European society. It’s because we are all / it’s much easier     Einstellungen zur Organisation von Arbeitsabläufen,
    to have in common / I have more in common with a Greek PhD
                                                                            Interaktions- und Kommunikationsmuster sowie die Aus-
    colleague than with a citizen from my own town in [an Italian
                                                                            übung von Autorität gefasst. Schließlich bezieht sich das
    province], who is unemployed and finishes to study at the Bac.
    It’s much easier for us to communicate, because we are selected         Kriterium „Berufsethos“ auf die Wertorientierungen, die
    indeed, sociologically, we are all speaking more than three lan-        den Kommissionsdienst leiten sollen. Die folgenden Ana-
    guages, we have all studied at least a Master or maybe more, we         lysen zeigen, wie auf die Kategorien „ost-“ und „west-
    have all been travelling, we’re almost all from kind of mid-class       europäisch“ bzw. „alte“ und „neue“ EU-Mitgliedstaaten
    families, if not more. […] We are all Europ- / I mean almost all, at
                                                                            zurückgegriffen wird, um symbolische Grenzen in Bezug
    least 90 % of the people working in the Commission believe in
    Europe.” (Interview #27, IT, Abs. 14)
                                                                            auf die genannten Bereiche zu markieren und zu inter-
                                                                            pretieren.

Schließlich wird darauf verwiesen, dass eine Beschrei-
bung nationaler und regionaler Unterschiede der Repro-
                                                                            5.2 E
                                                                                 tablierte und Newcomer: Karrierebezo-
duktion von Stereotypen gleichkommt, die einerseits den
grenzüberschreitenden Gemeinsamkeiten zwischen den                              gene Grenzziehungen
Beamt*innen, andererseits der Vielfalt ihrer individuellen
                                                                            Erstens greifen die Befragten auf die Kategorien „alte“
Eigenschaften nicht gerecht wird. Häufig wird auf die
                                                                            und „neue“ EU-Mitgliedstaaten zurück, um symbolische
Ambivalenz von Stereotypen als teilweise „wahr“ und teil-
                                                                            Grenzziehungen entlang von Karrierechancen innerhalb
weise „falsch“ hingewiesen. Ein Befragter drückt dies so
                                                                            der Kommission zu artikulieren. Wie in bürokratischen
aus:
                                                                            Organisationen typisch, gelten in der Kommission vor
                                                                            allem leistungsbezogene Kriterien sowie Seniorität für
    “[T]here are a lot of differences, and you can sort of fall into car-
    icatures if you’re not careful, because / and that there is some        die organisationsinterne Beförderung (Kassim et al. 2013).
    accuracy in some of them, I think. But you can also find counter-       Doch als supranationales Organ der aus 27 Mitgliedstaaten
    examples amongst the same nationality.” (Interview #26, UK,             bestehenden EU muss die Kommission auch auf die Ein-
    Abs. 62)                                                                haltung einer angemessenen „geographischen Balance“
                                                                            in ihrer Beamtenschaft achten. Das heißt, dass auf allen
In dieser Zurückweisung nationaler Stereotype scheint                       Ebenen der Organisation eine entsprechende Anzahl von
sich die in der Sozialpsychologie entwickelte und in der                    Beamt*innen aus allen Mitgliedstaaten in etwa propor-
Europasoziologie häufig rezipierte „Kontakthypothese“                       tional zu ihrer jeweiligen Bevölkerungsgröße vertreten
zu bestätigen. Wie oben beschrieben, besagt diese, dass                     sein muss. Insbesondere auf der Ebene des höheren
gegenseitige Stereotype durch regelmäßigen und positiv                      Managements haben die nationalen Regierungen zudem
wahrgenommenen Intergruppenkontakt abgebaut                                 ein Interesse an der Besetzung von Posten mit „ihren“ Be-
werden. Die Akteur*innen betrachten sich dann nicht                         amt*innen. Vor diesem Hintergrund hat sich eine wahr-
mehr lediglich als Instanzen eines „Typs“ – als „deutsch“,                  genommene symbolische Grenze zwischen den Karriere-
„britisch“ oder „polnisch“ – sondern als Individuen mit                     chancen der „etablierten“ Beamt*innen aus den alten und
jeweils besonderen Merkmalen (Allport 1954; Pettigrew                       den „Newcomern“ aus den neuen Mitgliedstaaten heraus-
1998; Fligstein 2008).                                                      gebildet.
    Trotz dieser Zurückweisung expliziter nationaler                             Unter den alteingesessenen Beamt*innen aus den
und regionaler Grenzziehungen zeigen die Interviews                         alten Mitgliedstaaten scheint die Rekrutierungspraxis
jedoch, dass Herkunftskategorien wie „westlich/alte“                        der Kommission unmittelbar nach der EU-Osterweiterung
und „östlich/neue“ Mitgliedstaaten dennoch heran-                           für einen gewissen Unmut gesorgt zu haben. Um schnell
gezogen werden, um subtilere Grenzziehungen in Bezug                        eine geographische Balance zu erreichen, wurden in den
auf vier Aspekte zu artikulieren und zu interpretieren:                     ersten Jahren gezielt Bewerber*innen aus den neuen Mit-
Karrierechancen, Organisationskulturen, sprachliche                         gliedstaaten in alle Ebenen der Verwaltung rekrutiert (Ban
Präferenzen und Berufsethiken. Unter „Karrierechancen“                      2013). Zum einen wurden dadurch für einige Zeit die Beför-
werden hier wahrgenommene Vor- bzw. Nachteile für                           derungsmöglichkeiten in der Kommission blockiert. Zum
eine Karriere in der Kommission verstanden. „Sprach-                        anderen kam eine typische Grenzziehung von „etablierten“
präferenzen“ bezieht sich auf die Frage, ob Englisch oder                   Mitgliedern einer Organisation gegenüber Neumitgliedern
Französisch in der internen Kommunikation der Kommis-                       hinzu. Diese wird auf der Basis organisationsspezifischen
sion als Arbeitssprache verwendet werden soll. Unter                        Kapitals gezogen, welches langjährige Organisationsmit-
106          Daniel Drewski, EU-Osterweiterung und symbolische Grenzziehungen

glieder akkumuliert haben. Daran erinnert die folgende                      bei der Besetzung höherer Managementpositionen in der
Befragte:                                                                   Kommission wahr. Hier sei noch eine Unterrepräsentation
                                                                            festzustellen, die vor allem mit dem Status und dem poli-
      “So, some people that had a similar grade, they had to accept         tischen Gewicht der neuen Mitgliedstaaten im politischen
      that these people [officials from the new member states] would        System der EU zusammenhänge. Die folgende Befragte
      arrive and receive the head of unit or director post. They were
                                                                            beschreibt die entsprechende symbolische Grenze folgen-
      very reluctant. Because they considered themselves to have the
      experience. You have been working 20 years for the DG and then        dermaßen:
      [comes] a newcomer with no experience in the House / because
      that’s the main thing, no experience in the bureaucracy / because         “And then, of course, you have the EU 15, the original circle –
      actually you can have experiences of course, in the Ministry or           nucleus, let’s say. They just spent more time here. And in this
      something, but it’s true that the Commission is a House of its            environment, like in any public administration, seniority is a
      own.” (Interview #44, ES, Abs. 63)                                        factor. So, having been around for a longer time… you just have
                                                                                this kind of / how is it called in Formula 1? Pole position. Yeah,
                                                                                you left from pole position, so you have a natural advantage
Mehr als ein Jahrzehnt nach der Osterweiterung finden
                                                                                somebody who joined in 2007 will never have, because we just
sich in meinem Sample jedoch keine Befragten aus den                            started much later. So, it’s probably a mix between seniority,
alten Mitgliedstaaten mehr, die sich in Bezug auf ihre Kar-                     personal relations and political backup from the ones who ac-
rierechancen gegenüber den Kolleg*innen aus den neuen                           tually founded this, so they will tend to have a / ‘it belongs to
Mitgliedstaaten im Nachteil sehen.                                              me more than it belongs to you,’ kind of.” (Interview #42, RO,
     Ganz anders nehmen im Gegenzug die Beamt*innen                             Abs. 50)

aus den neuen Mitgliedstaaten ihre Karrierechancen in der
Kommission wahr. Einerseits beurteilen sie im Rückblick                     In diesem Zitat äußert sich das auch in anderen Interviews
ihre strukturelle Integration in den Kommissionsdienst                      artikulierte Gefühl, weiterhin als Newcomer in der EU zu
tendenziell positiv, wenn auch mit einigen Schwierig-                       gelten und ihrer Peripherie anzugehören, mit der Folge,
keiten behaftet.14 Diese spiegeln die eben beschriebenen                    dass einem der Zugang zum inneren Machtzirkel der Kom-
Grenzziehungen der alteingesessenen Beamt*innen auf                         mission verwehrt bleibe.15 Dies zeige sich nicht zuletzt im
der Grundlage organisationsspezifischen Kapitals wider,                     weiterhin verwendeten Begriff der „neuen“ Mitgliedstaa-
wie im folgenden Zitat deutlich wird:                                       ten (Interview #36, HU, Abs. 74). Hierin drücken sich auch
                                                                            mehr als zehn Jahre nach der Osterweiterung symbolische
      “Well, there were hiccups here and there. We felt sometimes the       Grenzen zwischen dem Status der Etablierten und der
      distrust and sometimes probably some fear that they took posi-
                                                                            Newcomer aus.
      tions too fast and they did not climb the ladder as the traditional
      officials did. They tend to forget about the fact that this ladder
      in the national administration has been there. And many of us
      already passed these conditions, sometimes even in more com-          5.3 F ranzösisch oder Englisch: Sprachliche
      plicated ways than it is done here. So, at the beginning some-
                                                                                 Grenzziehungen
      times I felt this careful watching, distrust.” (Interview #36, HU,
      Abs. 74)
                                                                            Die zweite symbolische Grenzziehung bezieht sich auf die
                                                                            internen „Arbeitssprachen“ der Kommission. Während
Folgt man den Befragten, bestehen ähnliche Vorbehalte
                                                                            die EU alle 24 Amtssprachen ihrer Mitgliedsstaaten auch
mehr als ein Jahrzehnt nach der Osterweiterung aber nicht
                                                                            als offizielle Sprachen der EU anerkennt, verwendet die
mehr, da sich die mittel- und osteuropäischen Beamt*in-
                                                                            Kommission in der internen Kommunikation nur Eng-
nen mittlerweile in der Kommission bewiesen hätten.
                                                                            lisch, Französisch und Deutsch als Arbeitssprachen. Bis
    Andererseits nehmen die Beamt*innen aus den
                                                                            in die 1990er Jahre hinein war Französisch die dominante
neuen Mitgliedstaaten weiterhin symbolische Grenzen

                                                                            15 Erschwerend kommt ein weiterer Faktor hinzu, der von einer un-
14 Die Erweiterung wurde von einer Reform der Personalstruktur be-          garischen Beamtin angesprochen wird. Gerade einige mittel- und ost-
gleitet, was zur Folge hatte, dass die neu rekrutierten Beamt*innen         europäische Beamt*innen können bei ihrer Beförderung kaum auf
niedriger eingestuft wurden und weniger verdienten, was seiner-             die Lobbyarbeit ihrer heimischen Regierungen vertrauen, da diese
seits Gefühle der Benachteiligung auf Seiten der Neuankömmlinge             z. T. kein gutes Ansehen in Brüssel genießen. Die Unterstützung
hervorrief. In meinen Interviews wurde dies jedoch nicht als spe-           durch eine Regierung wie der Viktor Orbáns wäre möglicherweise gar
zifisches Problem der Beamt*innen aus den neuen Mitgliedstaaten             kontraproduktiv; dessen euroskeptische Haltung könne auf einen
interpretiert, da es alle Bewerber*innen seit der Osterweiterung            selbst abfärben. Das Leben sei eben „komplizierter“, wenn man nicht
gleichermaßen betrifft.                                                     aus einem „decent country“ komme (Interview #28, HU, Abs. 148).
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