Euro: eine Bremse für das deutsche und europäische Wirtschaftswachstum?
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EWU Peter Bohley* Euro: eine Bremse für das deutsche und europäische Wirtschaftswachstum? In der heutigen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion wird die deutsche Wachs- tumsschwäche fast ausschließlich auf einen Reformstau und auf die Lasten aus der Wiedervereinigung zurückgeführt. Diese Erklärungsversuche sind – so Professor Peter Bohley – jedoch unvollständig und dringen nicht bis zu den entscheidenden Fragen vor, die durch die Errichtung einer europäischen Währungsunion aufgeworfen wurden. Inwiefern bremst der Euro das deutsche und das europäische Wirtschaftswachstum? S eit einer Reihe von Jahren bildet Deutschland beim Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das Schlußlicht in Europa1. Wie der Vergleich der Zahlen- In der heutigen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion wird die deutsche Wachstumsschwäche fast ausschließlich auf einen Reformstau und auf die reihen in Tabelle 1 zeigt, war das deutsche reale Wirt- Lasten aus der Wiedervereinigung zurückgeführt2. schaftswachstum im Zeitraum 1991 bis 2003 nicht nur Diese Erklärungsversuche sind jedoch unvollständig überaus schwach, es war auch schwächer als das der und dringen nicht bis zu den entscheidenden Fra- übrigen in der Tabelle beispielhaft aufgeführten Länder. gen vor, die durch die Errichtung einer europäischen Nicht viel anders verhält es sich bei einem weltweiten Währungsunion aufgeworfen wurden. Die heutige Vergleich. Die Prognosen für 2004 und für die Jahre Einseitigkeit der Ursachenforschung kontrastiert auf- danach lassen auch weiterhin einen der letzten Ränge fällig mit der wissenschaftlichen Diskussion im Vorfeld für das deutsche Wirtschaftswachstum erwarten. Die der Währungsunion, als bereits viele der immer noch Folgen des schwachen Wirtschaftswachstums für den gültigen Argumente hinsichtlich der von einer euro- Arbeitsmarkt, für den Staatshaushalt und für den sozi- päischen Währungsunion zu erwartenden Folgen alen Frieden sind gravierend. Schwaches Wirtschafts- vorgebracht wurden. Einleitend soll diese Diskussion wachstum verschärft die sozialen Spannungen. kurz rekapituliert werden, denn sie verweist auf jene zentralen Problembereiche, die für die heute notwen- Die nun bereits längere Zeit andauernde Wachs- dige Evaluation der europäischen Währungsunion tumsschwäche hat dazu geführt, daß Deutschland unverändert von Bedeutung sind3. von zahlreichen Ländern beim realen Pro-Kopf-BIP überholt wurde, wie z.B. von Frankreich, Finnland Massive Bedenken von oder Österreich. Die Wachstumsschwäche Deutsch- Wirtschaftswissenschaftlern lands ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil Das Projekt der europäischen Währungsunion war dieses Land einmal als eine der erfolgreichsten unter Fachleuten und insbesondere unter den wis- Wirtschaftsnationen angesehen wurde, zeitweilig so- senschaftlichen Ökonomen von Anfang an in einem gar als „Lokomotive“ der Weltwirtschaft! Für die Zeit hohen Maß umstritten. Die vor allem in Deutschland vor 1990, das heißt in den Jahren vor der deutschen Wiedervereinigung und vor den Beschlüssen zur Ein- * Der Aufsatz ist eine für den Druck leicht überarbeitete Fassung eines führung einer europäischen Währungsunion (EMU Vortrags vor dem Rotary Club Krefeld am 12. Mai 2004. – European Monetary Union) konnte von einer deut- 1 „Deutschland trägt in Europa die rote Laterne.“ (Hans-Werner S i n n : schen Wachstumsschwäche noch keine Rede sein. Die rote Laterne. Die Gründe für Deutschlands Wachstumsschwäche Die Wachstumsraten des deutschen Bruttoinlands- und die notwendigen Reformen. Vortrag gehalten vor der Nordrhein- Westfälischen Akademie der Wissenschaften am 13. November 2002, produkts in den 15 Jahren davor sind im Vergleich zu abgedruckt in: ifo-Schnelldienst, Nr. 23, 2002, S. 3 ff.) einigen beispielhaft ausgewählten Ländern in Tabelle 2 2 Vor allem auf ausbleibende Reformen führt z.B. auch die neueste wiedergegeben. OECD-Studie die Wachstumsschwäche im Euro-Raum zurück; OECD: Economic Survey Euro Area 2004, Paris 2004. 3 Die Errichtung einer Währungsunion wurde im Dezember 1991 in Maastricht im Vertrag über die Europäische Union (EU) als „unwi- Prof. Dr. Peter Bohley, 72, war bis zu seiner Eme- derruflich“ beschlossen. Vorausgegangen war 1989/90 der Fall der ritierung 1999 Direktor des Wirtschaftswissen- Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung. Ebenso voraus- schaftlichen Instituts der Universität Zürich und gegangen war die Verabschiedung der sogenannten „Einheitlichen Europäischen Akte“, wonach ein EU-weiter Binnenmarkt, der die Inhaber eines Lehrstuhls für Finanzwissenschaft volle Freizügigkeit für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital und Statistik. gewährleisten würde, errichtet und bis 1993 vollendet sein sollte. 568 Wirtschaftsdienst 2004 • 9
EWU Tabelle 1 Tabelle 2 Reales jährliches BIPWachstum 1991 bis 2003 Reales jährliches BIPWachstum 1975 bis 1990 (in %) (in %) 199120021 2002 2003 197519881 1989 1990 Deutschland 1,38 0,2 0,0 Deutschland 2,4 3,2 5,1 EuroRaum 2,0 0,9 0,4 Frankreich 2,4 3,9 2,2 USA 3,2 2,4 3,1 Großbritannien 2,4 2,4 0,5 Großbritannien 2,7 1,7 2,0 Schweiz 1,8 3,1 2,3 Irland 7,6 6,9 1,6 1 In dieser Spalte: durchschnittliche jährliche Wachstumsraten. Griechenland 2,6 3,8 4,0 Q u e l l e : Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt- Finnland 2,6 2,2 1,3 schaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 1991/92, S. 287. 1 In dieser Spalte: durchschnittliche jährliche Wachstumsraten (geo- metrisches Mittel). rate.“6 Die Reihe skeptischer bis ablehnender Kom- Q u e l l e : Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt- mentare angesehener Ökonomen aus aller Welt ließe schaftlichen Entwicklung: Jahresgutachten 2003/04, S. 58 und sich beliebig fortsetzen. Die vorherrschende Meinung S. 502 f. amerikanischer Wirtschaftsexperten gab ein Über- vorhandenen Bedenken betrafen in erster Linie den sichtsartikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erwarteten Verlust der bisher von der Deutschen Bun- von Carola Kaps wieder7. desbank verfolgten Preisstabilität. Im Sommer 1992 Die überwiegend ablehnende Haltung von Wis- unterzeichneten 60 deutsche Wirtschaftsprofessoren senschaftlern nicht nur in Deutschland und Amerika ein Manifest gegen die Verwirklichung der Maastricht- gründete sich vor allem auf die Tatsache, daß die Beschlüsse. Und noch einmal, im Winter 1997/98, Länder der EU keinen optimalen Währungsraum unterschrieben 166 in der Mehrzahl deutsche wis- bildeten. Ein optimaler Währungsraum zeichnet sich senschaftliche Ökonomen einen Appell an die Bundes- unter anderem dadurch aus, daß außerhalb dieses regierung mit dem Titel „Der Euro kommt zu früh“4. Raumes stattfindende Ereignisse oder Entwicklungen Die insgesamt vorhandenen wissenschaftlichen die teilnehmenden Volkswirtschaften nicht in ganz Bedenken betrafen jedoch weit mehr als nur Inflati- unterschiedlicher Weise beeinträchtigen können. So onserwartungen, nämlich vor allem die realwirtschaft- sind beispielsweise verschiedene Volkswirtschaften je lichen Folgen einer Währungsunion und im speziellen nach ihrer Abhängigkeit von einer weltweiten Ölkrise deren Folgen für den Arbeitsmarkt. In einem Beitrag unterschiedlich betroffen. Bei einem optimalen Wäh- bezeichnete der inzwischen verstorbene Ökonom rungsraum werden solche Unterschiede durch interne Rüdiger Dornbusch, Professor am renommierten Mas- Mechanismen wie z.B. die Mobilität der Arbeitskräfte sachussets Institute of Technology (MIT), die geplante oder das übergreifende Fiskalsystem ausgeglichen. Währungsunion als schlechte Idee und resümiert: „If Man kann sagen, daß in einem optimalen Währungs- there was ever a bad idea, EMU is it.“5 Wie Dornbusch raum die Gefahr asymmetrischer Schocks für die lehnte auch der nicht weniger angesehene Harvard- dazugehörigen Regionen beziehungsweise Volkswirt- Professor Martin Feldstein, Präsident des „National schaften nicht oder nur schwach vorhanden ist8. Bureau of Economic Research“ und unter Ronald Ein politisches Projekt Reagan Vorsitzender des „Committee of economic advisors“, die geplante Währungsunion ab. Auch er Die europäische Währungsunion war allerdings pri- warnte vor den Folgen fehlender ökonomischer Vor- mär kein wirtschaftliches, sondern ein politisches Pro- aussetzungen der Maastricht-Vereinbarungen und jekt. Wie schon oft in der Vorgeschichte der EU sollten befürchtete eine Zunahme der zyklischen Instabilität mit dem Einsatz eines ökonomischen Instruments vor der europäischen Wirtschaft sowie im speziellen allem politische Ziele erreicht werden, die auf dem di- einen Anstieg der Arbeitslosigkeit. „The gains from rekten Weg als unerreichbar angesehen wurden und reduced transactions costs would be small and might auch nicht immer offen auf den Tisch gelegt werden be negative. At the same time EMU would increase 6 cyclical instability, raising the cyclical unemployment M. F e l d s t e i n : The Political Economy of the European Economic and Monetary Union. Political Sources of an Economic Liability, in: 4 Journal of Economic Perspectives, 11. Jg., Herbst 1997, S. 2342; Der Verfasser des vorliegenden Beitrags gehörte zu den Mitunter- d e r s .: Europe‘s Monetary Union. The case against EMU, in: The zeichnern und warnte schon früh vor den Folgen einer Währungs- Economist, 13. Juni 1992. union. Vgl. P. B o h l e y : Ecu-Bärendienst, in: FAZ vom 17. Dezember 7 1991. (Ursprünglich sollte nach französischen Wünschen die neue C. K a p s : Die Währungsunion ist ein Vorhaben ohne ökonomische Währung in Anlehnung an eine alte französische Münze als Ecu be- Vernunft, in: FAZ vom 18. Dezember 1996. zeichnet werden.) 8 Zum optimalen Währungsraum vgl. R. A. M u n d e l l : A Theory of 5 R. D o r n b u s c h : Euro Fantasies, in: Foreign Affairs, 75. Jg., Sept./ Optimum Currency Areas, in: American Economic Review, 51. Jg., Okt. 1996, S. 110 ff. S. 657 ff. Wirtschaftsdienst 2004 • 9 569
EWU konnten. Das politische Projekt der Währungsunion sondern auch aufgrund der bei einheitlicher Währung kam vor allem den Wünschen Frankreichs entgegen. verringerten Transaktionskosten bei Finanztrans- Die im Lauf der Jahre der D-Mark zugewachsene Rolle aktionen haben würde. Natürlich wurde diese Sicht als Ankerwährung und damit als de facto europäische auch von den meisten politischen Akteuren auf der Leitwährung war in Frankreich immer mehr zu einem europäischen Ebene geteilt. Bekanntlich soll die EU Ärgernis geworden und verletzte französisches Pres- gemäß einem Beschluß der Staats- und Regierungs- tigebedürfnis. chefs auf dem EU-Gipfel im März 2000 in Lissabon bis 2010 zur „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Als infolge der Wiedervereinigung das deutsche wissensbasierten Wirtschaftsregion der Welt“ werden. wirtschaftliche und bevölkerungsmäßige Gewicht be- trächtlich zunahm, befürchtete Frankreich zudem eine Zur Zeit sieht es allerdings nicht danach aus, daß Verschiebung der politischen Kräftebalance und ver- dieses offiziell plakatierte Ziel realisiert wird, sondern langte daher eine Art wirtschaftliche Kompensation. eher danach, daß die Erwartung Rüdiger Dornbuschs Eine diplomatische Schlüsselrolle bei der Erreichung zutrifft, die Europäische Währungsunion werde Europa dieses Ziels und im Hinblick auf die Einführung der ge- zu einem schwachen Glied der Weltwirtschaft ma- meinsamen Währung spielte im übrigen der damalige chen: „EMU will make Europe a weak link in the world französische Kommissionspräsident Jacques Delors. economy.“10 Er war der treibende Motor bei der Errichtung des Bin- Volkswirtschaftliche Erwägungen nenmarkts wie überhaupt bei der Vertiefung der Union und arbeitete damit auch konsequent auf das Ziel ei- Die Einführung des Euro bedeutete einen funda- nes europäischen Gegengewichts zu den Vereinigten mentalen Eingriff in die Wirkungsweise zahlreicher Staaten hin. volkswirtschaftlicher Funktionsmechanismen. For- mal gesehen war die Einführung der Europäischen Die deutsche Seite verfolgte demgegenüber ganz Währungsunion zwar keine Währungsreform, aber andere politische Ziele mit der Währungsunion. Bun- sie hatte Folgen, die weit über diejenigen einer klas- deskanzler Kohl, von Hause aus Historiker, der soeben sischen Währungsreform hinausgingen. In erster Linie auf bravouröse Art die deutsche Einheit bewerkstelligt zu nennen ist natürlich der Wegfall von Wechselkurs- hatte, wollte die unumkehrbare Einbindung Deutsch- schwankungen zwischen den Währungen der betei- lands in Europa. Man tut ihm sicher nicht unrecht, ligten Länder. Für die am Außenhandel teilnehmenden wenn man feststellt, Kohl habe dem wiedervereinigten Unternehmen in diesen Ländern resultierten daraus Deutschland mit seinen nach dem Zusammenbruch naturgemäß Erleichterungen des Handels über die des Sowjetimperiums zusätzlichen Entscheidungs- Landesgrenzen hinweg. Allerdings werden die Be- spielräumen auf Dauer nicht genügend politische hinderungen des internationalen Handels infolge fle- Reife als Voraussetzung für ein friedliches Nebenein- xibler beziehungsweise schwankender Wechselkurse ander der Staaten Europas zugetraut. Kohl empfand, meist weit überschätzt. Die Vorteile des Wegfalls des so schrieb in diesem Zusammenhang vor kurzem Wechselkursrisikos und der Nutzen durch erleichterte die Neue Zürcher Zeitung, „für die Wirtschaft weder Kalkulierbarkeit der eigenen Exportchancen sollten sonderliches Interesse noch großes Verständnis und nicht überschätzt werden. Dies gilt im Fall der Einfüh- besaß auch kein profiliertes Gegengewicht im Wirt- rung der Europäischen Währungsunion um so mehr, schaftsministerium, das ihm hätte Paroli bieten kön- als das vorausgehende Wechselkursregime des EMS nen“9. Kohl bezahlte den Preis der Hingabe der Deut- (European Monetary System) volkswirtschaftlich ge- schen Mark daher keineswegs widerwillig, sondern sehen durchaus positiv funktionierte und Wechselkurs- auch aus innerer Überzeugung, oder, um mit Goethe schwankungen in vernünftigen Grenzen hielt. zu sprechen, „Halb zog man ihn, halb sank er hin“. Volkswirtschaftlich gesehen bedeutsamer als der Der Euro wurde vor allem von seinen deutschen Wegfall von Wechselkursschwankungen war demge- Protagonisten aber auch als ein Schritt zu mehr genüber die mit der Einführung der Währungsunion Wachstum und Wohlstand angesehen und als die nunmehr einheitliche Geldpolitik. In der europäischen Krönung des einheitlichen Binnenmarktes hochgelobt Währungsunion gibt es nur einen einheitlichen Leit- (Stichwort: „one market, one money“). Speziell deut- zins der europäischen Zentralbank (EZB). Bei der sche Politiker und Unternehmer wurden nicht müde Bestimmung dieses Zinssatzes bzw. ihrer Geldpolitik zu betonen, welchen Nutzen Deutschland aufgrund orientiert sich die Europäische Zentralbank an einer nicht nur des Abbaus von Handelshemmnissen und durchschnittlichen Preisentwicklung im gesamten der Erschließung und Öffnung weiterer Exportmärkte, Währungsgebiet11. 9 Vgl. Made in Germany, in: Neue Zürcher Zeitung vom 10./11. April 10 2004. R. D o r n b u s c h , a.a.O., S. 124. 570 Wirtschaftsdienst 2004 • 9
EWU Im Hinblick auf eine solche Geldpolitik und dank kaum ein internationaler Handel stattfindet und da- der geld- und finanzpolitischen Vorkehrungen kam es her der durch die günstigen Investitionsbedingungen nach 1991 zu einem raschen Rückgang der Inflation beschleunigte wirtschaftliche Aufholprozeß vor allem in den meisten Ländern der EU und zu einer rapiden in den peripheren Ländern zu überdurchschnittlichen Konvergenz der europäischen Zinssätze, wobei sich Preiserhöhungen führte (sogenannter Balassa-Sa- diese Zinssätze weitgehend dem niedrigsten, d.h. muelson-Effekt). Dadurch sank dort der Realzins als dem deutschen Zinsniveau angenähert haben. Differenz von (einheitlichem) Nominalzins und Inflati- onsrate auf ein relativ niedriges Niveau. Die Konvergenz der Zinssätze und ihre Absenkung auf das traditionell relativ niedere deutsche Niveau Der Realzins als eine für Investitionsentscheidun- bedeutete, daß die Kreditaufnahme zu Investitions- gen wesentliche Größe war also jetzt in Deutschland zwecken nunmehr in allen Ländern des Euro-Raums höher als in den anderen Ländern der EU. Da die EZB gleichermaßen günstig wurde. Bisher kam der Vorteil sich bei ihrer Geldpolitik nur an der durchschnittlichen niedriger Zinsen vor allem Investitionen in Deutschland oder jedenfalls an einer einheitlichen Inflationsrate zugute. Nach der Einführung der gemeinsamen Wäh- des Euro-Raums orientiert, folgte für Deutschland als rung hat Deutschland diesen Standortvorteil verloren. Land mit der strukturell bedingt niedrigsten Inflations- In den peripheren Ländern der EU, die vorher wegen rate der höchste Realzins – und überdies ein Realzins, ihrer hohen Inflationsraten auch ein hohes Zinsniveau der zur Zeit höher ist als er es vermutlich wäre, wenn hatten, mußten von den Investoren nunmehr für die Deutschland noch eine eigene Geldpolitik betreiben Aufnahme von Krediten dieselben Zinsen bezahlt wer- könnte. den wie in Deutschland. Für die Kalkulation von Investoren spielen natürlich Hoher Realzins in Deutschland nicht nur die Zinskosten eine Rolle, sondern vor allem auch die Lohnkosten. Das hohe deutsche Lohnniveau Damit aber nicht genug, ist der deutsche Zinsvorteil einerseits und das in einigen der peripheren und we- mittlerweile sogar in sein Gegenteil umgeschlagen. niger entwickelten Ländern niedrige Lohnniveau schuf Die erwähnte Konvergenz der Inflationsraten und der einen Anreiz, statt in Deutschland zu investieren und Nominalzinsen betraf nämlich nur den Zeitraum seit zu produzieren dies nunmehr in Ländern wie Irland, den Beschlüssen von Maastricht 1991 bis zum for- Portugal oder Finnland zu tun. Diesen Anreiz hatten malen Beginn der Währungsunion am 1. Januar 1999. nicht nur deutsche Unternehmen, sondern vor allem Nach diesem Zeitraum liefen die Inflationsraten der auch diejenigen ausländischen Unternehmen, die in Mitgliedsländer wieder auseinander! In den ersten vier Europa einen Produktionsstandort suchen. Jahren der Währungsunion, als die Preise in Deutsch- land um ca. 6% stiegen, kletterten sie in Österreich Schwaches Potentialwachstum und Frankreich um rund 8%, in Spanien und den Natürlich ist es richtig, daß auch schon vor den Niederlanden um rund 15%, in Portugal um 16% und Beschlüssen von Maastricht deutsche Unternehmen in Irland um über 20%. Auch 2003 verlief die Preisent- in erheblichem Umfang Produktionen ins Ausland ver- wicklung in den Mitgliedsländern des Euro-Raums re- lagert haben. Mit der Einführung des Euro wurde diese lativ heterogen. So betrug in den ersten drei Quartalen Entwicklung aber ganz entscheidend gefördert. Vor 2003 der Preisanstieg in Irland 4,3%, in Portugal 3,5% allem ausländische Investoren machen seither einen und in Griechenland 3,6% Prozent; in Deutschland mehr oder weniger großen Bogen um Deutschland. waren es jedoch nur 1,0%12. Die fehlenden bzw. verminderten Anreize für deutsche Das Auseinanderdriften der Inflationsraten auch und vor allem auch ausländische Unternehmen, in innerhalb des gemeinsamen Währungsraums erklärt Deutschland zu investieren, finden ihren natürlichen sich daraus, daß bei vielen lokalen Dienstleistungen Niederschlag in einem verlangsamten Wachstum des und Mieten (sogenannten nicht-handelbaren Gütern) deutschen Produktionspotentials und damit letztlich auch des Wirtschaftswachstums. 11 Wie Dieter Spethmann und Otto Steiger unter Bezugnahme auf ein Das Produktionspotential entspricht dem vorhan- von Erik Lindahl entwickeltes Modell und unter Hinweis auf das US- denen sachlichen Produktionsapparat und drückt amerikanische Zentralbanksystem gezeigt haben, wäre theoretisch für den Euro-Raum zwar auch eine alternative Zentralbankstruktur aus, welche Kapazitäten für die laufende Produktion und eine differenzierende Geldpolitik vorstellbar, doch ein solchen zur Verfügung stehen. Ein wachsendes Produkti- Modell dürfte aus verschiedenen Gründen politisch nicht durchsetz- bar sein. Interessanterweise betrachten die beiden Autoren im Fall onspotential ist die Voraussetzung für ein mögliches einer Reformunfähigkeit des heutigen, mit schwerwiegenden Mängeln wirtschaftliches Wachstum des Bruttoinlandspro- behafteten Euro-EZB-Systems nur das Auseinanderbrechen der EWU als eine Lösung. Siehe D. S p e t h m a n n , O. S t e i g e r : Europas 12 Schuldenkönig und sein Realzins, in: WIRTSCHAFTSDIENST, 84. Jg. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen (2004), Heft 6, S. 365 ff. Entwicklung: Jahresgutachten 2003/2004, S. 74. Wirtschaftsdienst 2004 • 9 571
EWU dukts, auch wenn das Potential infolge konjunktureller Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Schwankungen nicht immer maximal ausgelastet ist. durch die Verlagerung von Investitionen und Produk- In seinem Jahresgutachten 2003/2004 schreibt der tionen ins Ausland viele Arbeitsplätze in Deutschland Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- vernichtet werden. In Deutschland nimmt dadurch die wirtschaftlichen Entwicklung: „Im schwachen Poten- Arbeitslosigkeit zu. Die Folgen erhöhter Arbeitslosig- tialwachstum spiegeln sich gleichsam gebündelt die keit trägt sodann der deutsche Fiskus und letztlich der zahlreichen Problemfelder der deutschen Volkswirt- deutsche Steuerzahler. Auch für die deutschen Unter- schaft wider, die zu dem in den vergangenen Jahren nehmen bedeuten die hohen Kosten der Arbeitslosig- beobachtbaren Wachstumsrückstand gegenüber keit in Deutschland eine auch sie bedrückende Last. anderen Ländern des Euro-Raums geführt haben.“ Deutschland hat zwar trotz der Teilverlagerung ... „Die Berechnungen des Produktionspotentials für von Produktion ins Ausland immer noch eine starke Deutschland für den Zeitraum der Jahre 1970 bis 2002 Stellung als Exportnation, doch diese Stellung hat zeigen..., daß spätestens seit Mitte der neunziger Jah- sich in den 90er Jahren verschlechtert. Der deutsche re eine spürbare Abschwächung des Potentialwachs- Anteil am Exportvolumen innerhalb des Euro-Raums tums in Deutschland stattgefunden hat.“ .... „Die ging von ca. 30% 1990 auf etwa 25% im vergangenen geschätzte Wachstumsrate des Produktionspotentials Jahr zurück. Obendrein ist bei der Interpretation der im Jahr 2002 beträgt ... 1,0 v.H. Dies ist gemeinsam deutschen Exportstatistiken Zurückhaltung geboten, mit dem Wert des Jahres 2001 der geringste Wert denn das, was als deutscher Export ausgewiesen im gesamten Beobachtungszeitraum. Dabei ist das ist, enthält immer größere Wertschöpfungsanteile, die Potentialwachstum seit dem Jahr 1990 kontinuierlich vorher importiert wurden. Wie verschiedene Studien gefallen und nimmt seit dem Jahr 1996 nur noch Werte zeigen, sank der Anteil der deutschen Wertschöpfung kleiner als 2 vH. an.“13 an den deutschen Exporten in den 90er Jahren von Erosion des Heimatmarktvorteils rund 70% auf rund 60%. Verantwortlich dafür sind Noch ein weiterer Faktor als Folge eines Binnen- vor allem importierte Vorprodukte, aber ebenfalls auch marktes mit einheitlicher Währung spielte zuunguns- Fertigprodukte, die später statistisch als deutsche ten Deutschlands als Investitions- und Produktions- Exporte ausgewiesen werden. Beispielsweise werden standort eine Rolle. In Deutschland als der größten Automobile wie der Porsche Cayenne oder der VW- Volkswirtschaft profitierten früher die Unternehmen Touareg fast vollständig in der Slowakei hergestellt, er- von der Größe des deutschen Heimatmarktes. Bei scheinen aber, sofern sie anschließend in dritte Länder der Produktion für einen großen Absatzmarkt erge- exportiert werden, in der deutschen Exportstatistik. ben sich sogenannte Economies of scale, es sinken „Die Standort- und Wachstumsschwäche Deutsch- in der Regel die durchschnittlichen Stückkosten, weil lands hat bedrohliche Ausmaße erreicht“, so das auf einem großen Markt große Stückzahlen produziert Ergebnis einer fundierten Untersuchung von Hans und abgesetzt werden können. Neben dem Zinsvor- Werner Sinn14. In einem anderen Beitrag zieht derselbe teil hat Deutschland auch diesen Vorteil verloren. Alle Autor das folgende Fazit: „Vermutlich wird Deutsch- Unternehmen im Euro-Raum genießen jetzt den Vorteil land auch wegen des Euro vorläufig das europäische eines großen, nämlich europaweiten Heimatmark- Schlußlicht beim Wachstum des Bruttoinlandspro- tes. Die finnische Nokia beispielsweise hätte in Vor- dukts (BIP) bleiben. Ob dies einen absoluten oder Maastricht-Zeiten wohl kaum so rasch ihre inzwischen nur einen relativen Wachstumsnachteil bedeutet, ist erstaunliche Marktstellung erreicht. nicht klar. ... Indes könnte es passieren, daß die hohe Natürlich profitieren auch deutsche Unternehmen Kapitalnachfrage in den von den Risikoprämien be- von der Erweiterung ihres Heimatmarktes. Sie können freiten Ländern das deutsche Zinsniveau mittelfristig gewinnbringend in zusätzlichen Ländern produzieren über jenes Niveau hinaus erhöht, das sonst realisiert und gleichzeitig dort den wirtschaftlichen Aufholpro- worden wäre. Dann entstünde auch ein absoluter zeß unterstützen. Die deutschen Unternehmen und Wachstumsnachteil. Dieses Ergebnis ist sogar relativ diese Länder gehören daher sicherlich zu den Gewin- wahrscheinlich.“15 nern der Währungsunion. Teilweise argumentieren die deutschen Unternehmen übrigens auch zu recht, daß Vernachlässigte Faktoren nur durch die Teilverlagerung ihrer Produktion inländi- Die bisher angestellten volkswirtschaftlichen Er- sche Arbeitsplätze gesichert werden können. wägungen sind noch unvollständig. Die hieraus ab- 13 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen leitbaren Folgen der Europäischen Währungsunion Entwicklung: Jahresgutachten 2003/04, S. 110, 420 und 423. bedürfen der Ergänzung durch die Berücksichtigung 14 H.-W. S i n n , a.a.O., S. 31. sozialpsychologischer Faktoren. 572 Wirtschaftsdienst 2004 • 9
EWU Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, dafür erforderlichen Voraussetzungen gemacht hat, sei zunächst festgehalten, daß völlig unbestritten die kann man vergleichen mit dem Bau eines Hauses oft und zu Recht beklagten deutschen Reformdefizite ohne vorherige Sicherung des Baugrundes. Wenn der als mitverantwortlich für die verminderte Standortat- Architekt ein Haus auf unsicherem Baugrund errichtet traktivität Deutschlands und damit auch für die daraus und dieses später einzustürzen droht, ist das nicht die resultierende Wachstumsschwäche anzusehen sind. Schuld des Baugrunds, vielmehr liegt der Fehler beim In Deutschland waren Reformen auch wegen der Glo- Architekten. balisierung längst überfällig. Notwendige Reformen Vermutlich würde es zu weit gehen, den für die wurden jedoch seit vielen Jahren verschleppt. Es gab Währungsunion mitverantwortlichen deutschen Ak- daher große Reformdefizite auch schon in den Jahren teuren aus Politik und Wirtschaft vorzuwerfen, sie vor 1991. hätten die Notwendigkeit von Reformen als einer Bemerkenswerterweise schlugen sich diese Re- Voraussetzung der Währungsunion nicht erkannt. Sie formdefizite in den Jahren vor den Maastricht-Be- glaubten jedoch, daß diese Voraussetzung unter dem schlüssen aber noch kaum oder gar nicht in vermin- Druck der Verhältnisse durch nachträgliche Entschei- derten Wachstumsraten nieder, denn Deutschland dungen geschaffen werden können. besaß – und besitzt teilweise auch immer noch – viele Vorzüge in Bereichen wie Infrastruktur, sozialer Frieden Dies ist bisher nicht gelungen, und die Chancen, oder hochqualifizierte Arbeitskräfte, wodurch die Re- daß dies im notwendigen Umfang gelingt, stehen formdefizite mehr oder weniger aufgefangen wurden. nicht gut. In Maastricht hat man Grundlegendes Der Reformstau kann daher für sich allein genommen übersehen. Deutschland ist bekanntlich ein Land mit nicht die Wachstumsschwäche seit 1991 erklären. Im einer schwach belastbaren und unsicheren Identität. übrigen muß man immer berücksichtigen, daß nicht Schon der Reichskanzler Bismarck war sich darüber nur fehlende Reformen zu schwachem Wachstum im klaren. Er schuf, um die Arbeiterschaft an das ent- führen können, sondern auch, daß schwaches Wachs- stehende Reich zu binden, das damals als revolutionär tum ein Hindernis für notwendige Strukturreformen ist. empfundene Sozialversicherungssystem. Bis heute Reformen kosten in der Regel zunächst einmal Geld, sind soziale Fortschrittlichkeit und eine hohe Bedeu- bevor sie Erträge abwerfen. tung dessen, was als soziale Gerechtigkeit angesehen wird, ganz wesentliche Bestandteile des deutschen Mit den Beschlüssen für eine Währungsunion ent- kollektiven Selbstverständnisses bzw. der deutschen stand schlagartig ein völlig neues Umfeld für unter- Identität. Das Zurückbuchstabieren bei der sozialen nehmerische Tätigkeit in Deutschland. Umfassende Sicherheit stößt zwar auch in anderen Ländern, wie Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialbereich, z.B. in Frankreich und Italien, auf gewaltige Widerstän- beim Tarif- und Kündigungsrecht hätten vor der Wäh- de. Eine Infragestellung des nationalen Selbstbewußt- rungsunion erfolgreich durchgesetzt sein müssen, um seins ist dort aber nicht zu befürchten. gute Standortbedingungen auch unter dem neuen Re- gime der Währungsunion und somit eine der notwen- Ganz anders in Deutschland. Reformen, wie sie heu- digen Voraussetzungen für ein höheres Wirtschafts- te in Deutschland notwendig wären – man denke z.B. wachstum unter den neuen Rahmenbedingungen zu an den Wegfall der Mitbestimmung, an eine wirklich schaffen. Deutschland war jedoch in keiner Weise und einschneidende Lockerung des Kündigungsschutzes schon gar nicht so rasch nach der Wiedervereinigung oder auch nur an einige Nullrunden bei den Tarifver- mit ihren großen Lasten für eine Europäische Wäh- handlungen –, würden die deutsche Befindlichkeit ins rungsunion vorbereitet. Mark treffen und könnten nicht vorhersehbare Folgen Die Abschaffung der Wechselkurse als bisher zen- für den Landfrieden haben. Reformen von einer Radi- traler Ausgleichsmechanismus für unterschiedliche kalität, wie sie in Großbritannien von Margaret That- Entwicklungen in den einzelnen Volkswirtschaften cher durchgesetzt wurden, weil dort in letzter Instanz hätten zuerst die Einrichtung anderer Ausgleichs- der Reflex des nationalen Zusammenhalts wirksam ist, mechanismen erfordert. In erster Linie wäre das ein sind in Deutschland nur schwer vorstellbar. höheres Maß an Lohnflexibilität gewesen. Reformen Die D-Mark als Stifterin nationaler Identität bei den hohen deutschen Lohnersatzleistungen und Lohnnebenkosten hätten ebenfalls vorausgehen Erschwerend hinzu kommt noch folgendes. Nach müssen. Den Fehler, den man bei der Entscheidung den fürchterlichen Niederlagen in zwei Weltkriegen für die Währungsunion unter Vernachlässigung der und der Katastrophe des Nationalsozialismus kam das deutsche Selbstbewußtsein vor allem durch wirt- 15 H.-W. S i n n : Was der Euro wirklich bedeutet, in: Ifo-Standpunkte schaftliche Erfolge wieder auf die Beine. Es war nicht 2002, Standpunkt Nr. 31 vom 30. April 2002. nur das „Wunder von Bern“, sondern vor allem das Wirtschaftsdienst 2004 • 9 573
EWU Wunder der D-Mark, das die Deutschen wieder etwas antwortlich sind, wie beispielsweise die großen Lasten aufrichtete. aufgrund der deutschen Wiedervereinigung und die hohen Nettozahlungen an die EU, ist die von der Re- Geld ist mehr als nur ein Zahlungsmittel und kollek- tive Identität ist ein Kapital, das Menschen verbindet, gierung Kohl mitgetragene Entscheidung der DMark- die es gemeinsam besitzen. Die D-Mark als Grundlage Abschaffung eine Fehlentscheidung, für die sich auch des deutschen wirtschaftlichen Erfolgs trug entschei- nachträglich nicht die Voraussetzungen schaffen dend dazu bei, die Lücken im Bereich der nationalen lassen. Die Einführung des Euro muß als eine der Identität, die es zwar immer schon gab, zu schließen größten wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen in und die im Dritten Reich entstandenen dunklen Fle- Deutschland nach 1945 angesehen werden. cken etwas aufzuhellen. Die Abschaffung der D-Mark Das politische Zusammenwachsen von Europa zerstörte einen Teil der deutschen Selbstgewißheit, und auch die Schaffung des gemeinsamen Binnen- vernichtete Vertrauen in die Zukunft, verstärkte eine marktes sind zwar hocherfreulich, doch dafür war die Stimmung der Resignation und verschlechterte bei Beseitigung der deutschen Währung keineswegs eine der verunsicherten Bevölkerung obendrein die Akzep- notwendige Bedingung. Die Wachstumsschwäche tanz einschneidender sozialer Reformen. Deutschlands dürfte längerfristig auch für das euro- Der Göttinger Althistoriker Alfred Heuß, der sich päische Wachstum eine Bremse darstellen. Dieser auch mit der deutschen Nachkriegsgeschichte be- Zusammenhang ergibt sich vor allem wegen der en- faßte, schrieb in einem Essay: „Wir stehen unter dem gen wirtschaftlichen Beziehungen der europäischen Gesetz des Identitätswissens, nämlich unter den An- Länder untereinander. Wenn die im Zentrum Europas forderungen, die es an uns stellt, damit wir von uns liegende größte Volkswirtschaft nicht floriert, hat das als ‚wir‘ sprechen können. Man kann auch sagen, daß entsprechende Auswirkungen für alle anderen Länder wir dieses Wissens bedürfen, um zu existieren, und wir Europas. können auf es nicht verzichten, es sei denn, wir geben Dadurch erklärt sich zumindest teilweise auch die unsere Existenz auf.“16 Wachstumsschwäche der Schweiz. Diese ist beson- Identität ist ein Wort, das zwar in aller Munde ist, ders eng mit der deutschen Wirtschaftsentwicklung dessen fundamentale Bedeutung auch für den wirt- verflochten und weist keinen mit dem deutschen schaftlichen Erfolg eines Kollektivs aber meistens auch nur entfernt vergleichbaren Reformstau auf. Ihr verkannt wird. Wir wissen zwar um den Wert von Cor- reales Wachstum während der vergangenen Jahre porate identity für ein Unternehmen, aber wir wissen war ebenso schwach wie das deutsche, es betrug fast gar nichts über die sozialpsychologischen Mecha- von 1991 bis 2002 durchschnittlich sogar nur 0,96% nismen, die sowohl von einer vorhandenen als auch pro Jahr. Die Schweiz hat trotz der ihr formal verblie- von einer zerrissenen nationalen Identität in Gang benen Autonomie bei der Geldpolitik nolens volens gesetzt werden und sich vor allem im Aufbau oder im ihren Zinsvorteil genauso wie Deutschland verloren, Verlust von Vertrauen niederschlagen. Identitätsindu- da ja ohne ihr Zutun alle ihre Nachbarländer nunmehr zierte Mechanismen betreffen nicht nur die privaten das niedere EU-Niveau bei den Zinsen aufweisen. Der Konsumenten- oder Unternehmensentscheidungen, Fall der Schweiz relativiert die oft aufgestellte These, sondern ebenso die nationalen wirtschaftspolitischen daß allein ein Reformstau der Grund für die deutsche Entscheidungen. Nationale Befindlichkeiten beeinflus- Wachstumsschwäche sei. sen zuerst die politische Stimmungslage und danach Die zu Beginn zitierten warnenden Stimmen aus auch die wirtschaftliche Entwicklung. Der Elan, den der Zeit vor Einführung des Euro haben durch die Deutschland im Bewußtsein seiner wirtschaftlichen Entwicklung seither überraschend schnell eine Bestä- Führungsrolle in Europa über lange Zeit hinweg hatte, tigung gefunden. Inzwischen hat ein amerikanischer ist nicht zuletzt auch durch die Abschaffung seiner er- Historiker namens John Gillingham eine gründliche folgreichen Währung verlorengegangen. und umfassende Studie der europäischen Integration Größte wirtschaftspolitische Fehlentscheidung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart vorgelegt17. Es ist höchst fraglich, ob Deutschland überhaupt Der distanziert-neutrale Beobachter Gillingham, der erfolgreich in eine Währungsunion eingebunden wer- im übrigen auch über ausgezeichnete ökonomische den kann. Die deutschen Besonderheiten stehen dem Kenntnisse verfügt, hält insbesondere die Entschei- entgegen. Obwohl für die Schwäche der deutschen dung von Maastricht zur Vertiefung der EU durch Er- Wirtschaftsentwicklung auch andere Faktoren mitver- richtung einer Währungsunion für verfehlt. In seinem abschließenden Kapitel mit dem bezeichnenden Titel 16 A. H e u ß : Versagen und Verhängnis. Vom Ruin deutscher Geschich- „Wird eine neue EU benötigt?“ resümiert Gillingham te und ihres Verständnisses, Berlin (Siedler Verlag) 1984, S.152. seine Untersuchungsergebnisse wie folgt: „Europa 574 Wirtschaftsdienst 2004 • 9
EWU wies in den 90er Jahren aufgrund der in Maastricht Aussage zwar etwas relativiert werden, doch eine begangenen Fehler schwache Wirtschaftsleistungen „neue“ DMark würde nicht automatisch die Rolle der auf. Diese Fehler sind vor allem der DelorsAgenda, „alten“ DMark übernehmen. Mit der Auflösung der die das Ziel einer „Vertiefung“ der Gemeinschaft ver- Währungsunion könnten die Wechselkurse wieder ihre folgte, zuzuschreiben. ... Die deflationäre Wirtschafts- Hauptfunktion als Ausgleichsmechanismen überneh- politik verlangsamte das Wachstum, behinderte men und die Geldpolitik könnte wieder auf die spe- den Strukturwandel, vertiefte die soziale Spaltung, zifischen Bedürfnisse der jeweiligen Volkswirtschaft verschlechterte die politische Atmosphäre und ließ ausgerichtet werden. Einen Stabilitätspakt bräuchte Ressentiments in der Öffentlichkeit um sich greifen. man nicht mehr. Auf die Dauer läßt sich die untaugli- ... Die Gemeinschaft reformierte nicht die ungerechte che Verwendung eines ökonomischen Instruments zur und verschwenderische Politik wie beispielsweise die Erreichung politischer Ziele nicht durchhalten, wenn GAP („Gemeinsame Agrarpolitik“) und hatte einen un- diese Verwendung in gravierender Weise gegen ökono- guten Einfluß auf die Regionalpolitik. ... Brüssel blieb mische Vernunft verstößt. Irgendwann wird diese selbstgefällig, hatte eine Selbstbedienungsmentalität Einsicht sich durchsetzen und eine Umkehr möglich und war nicht in der Lage, die Tagesprobleme zu machen. bewältigen. ... Die Probleme der 90er Jahre waren In der FAZ erschien vor kurzem der Beitrag eines auf die Verfolgung einer schon lange überholten Idee Praktikers aus den Reihen der Finanzwelt, in welchem zurückzuführen. ... Westeuropa war seit mehr als einer dargelegt wird, daß die technischen und praktischen Generation stabil, friedlich und prosperierend. Der Hürden für die Wiedereinführung einer neuen nationa- Öffentlichkeit in Europa kann zugetraut werden zu ent- len Währung relativ niedrig seien. Der Beitrag stammt scheiden, was in ihrem eigenen Interesse ist, und sie von Joachim Fels, einem bekannten Finanzanalysten sollte die Chance erhalten, diese Entscheidung auch der Investment-Bank Morgan Stanley19. Natürlich ist zu treffen. Sie braucht keine sich selbst bedienenden dies nur eine einzelne Stimme. Die meisten von denen, Eurokraten, um zu wissen, was zu tun ist. Die Nationen die sich noch vor kurzem stark für die Währungsuni- und Völker in Europa gehen sich nicht mehr gegensei- on engagiert haben, dürften vorläufig noch vor einer tig an die Gurgel.“18 Kehrtwende zurückschrecken. Aber selbst die Unter- Folgerungen nehmer, die bisher in erster Linie von den Segnungen Politische Fehlentscheidungen sollten korrigiert des gemeinsamen Binnenmarktes profitiert haben, werden. Der aus den vorangegangenen Darlegungen werden noch erkennen müssen, daß ohne eine Wäh- hervorgehende Befund, daß die Maastricht-Entschei- rungsunion ein höheres Wirtschaftswachstum in der dung einer europäischen Währungsunion ein grund- EU erreicht werden kann und dies letztlich auch ihnen legender Fehler war und das deutsche sowie das eu- zum Vorteil gereicht. ropäische Wirtschaftswachstum voraussichtlich noch Natürlich bedeutete eine Abkehr von der Wäh- auf viele Jahre hinaus schwächen wird, impliziert aller- rungsunion für viele Deutsche, daß sie von ihrem eher dings nicht die Aufforderung, den europäischen Bin- romantischen Ideal einer immer weiter vorangetriebe- nenmarkt wieder abzuschaffen oder den Austritt aus nen Vertiefung der EU bis hin zu einem europäischen der EU in Erwägung zu ziehen. Gleichwohl ist es unter Superstaat und einer europäischen Identität Abschied Fachleuten mittlerweile unbestritten, daß es eine Rei- nehmen müßten. Eine europäische Identität, die mehr he von Politikbereichen gibt, wie z.B. die Agrar- oder ist als ein Wunschtraum oder ein oberflächliches Lip- Regionalpolitik, die von der Europa-Ebene wieder in penbekenntnis und als Grundlage für einen europäi- die Kompetenz der einzelnen Staaten zurückverlagert schen Superstaat tragfähig wäre, wird es kaum jemals werden sollten, weil ihre Europäisierung mit enormen geben. Dafür sorgt allein schon die Sprachenvielfalt wirtschaftlichen Lasten und Effizienzverlusten ver- Europas, gar nicht zu sprechen von der Geschichte. bunden ist. In den Bereichen der Agrar- und Regional- Kein Land ist bereit, seine nationale Identität gegen politik werden keine europaweiten öffentlichen Güter eine europäische Identität einzutauschen. Nur einige geschaffen. Es liegen nicht die Bedingungen vor, die Deutsche meinen, sie könnten ihre Identität wechseln, aus ökonomischer Sicht eine Verlagerung dieser Poli- aber in Wirklichkeit können wir alle nicht aus unserer tikbereiche auf die europäische Entscheidungsebene Haut schlüpfen. Identität ist nicht „machbar“, sie ist rechtfertigen. politischem Gestaltungswillen entzogen. Daneben sollte aber auch das Geld wieder in die 17 J. G i l l i n g h a m : European Integration 1950-2003. Superstate or Obhut der einzelnen Staaten gegeben werden, denn Market Economy?, Cambridge (Cambridge University Press) 2003. eine nationale Währung ist im allgemeinen ebenfalls 18 Ebenda, S. 480 ff. (Übers. des Verfassers). kein europaweites öffentliches Gut. Bezüglich einer 19 J. F e l s : Es gibt auch einen Weg aus der Währungsunion, in: FAZ Leitwährung wie der früheren DMark muß diese vom 15. März 2004. Wirtschaftsdienst 2004 • 9 575
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