DER ARBEITSMARKT IM ZEICHEN DER FINANZ- UND WIRTSCHAFTSKRISE
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DER ARBEITSMARKT IM ZEICHEN DER FINANZ- Christoph-Martin Mai ist Diplom-Volkswirt und leitete UND WIRTSCHAFTSKRISE bis Ende Februar 2020 das Referat „Erwerbstätigenrechnung (ETR)“ des Statistischen Bundesamtes mit den Christoph-Martin Mai Tätigkeitsschwerpunkten Berech- nung der Erwerbstätigkeit, der geleisteten Arbeitszeit und Arbeits- marktanalyse. Seit März 2020 führt er das Referat „Verbraucherpreise“. Schlüsselwörter: Erwerbstätigkeit – Arbeitsmarkt – Kurzarbeit – Leiharbeit – Rezession ZUSAMMENFASSUNG Eine der Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung die Folgen der aktuellen Coronakrise für den Arbeitsmarkt zu entschärfen sucht, ist der erleichterte Zugang zum Kurzarbeitergeld. Dieses Instrument wurde bereits erfolgreich bei der Bewälti- gung der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008/09 eingesetzt. Der folgende, erst- mals in der Ausgabe 3/2010 dieser Zeitschrift veröffentlichte Artikel bezieht sich auf die Auswirkungen der damaligen Krise auf den deutschen Arbeitsmarkt. Der Artikel stellt die Zusammenhänge zwischen der Wirtschaftsleistung und dem Arbeitsmarkt anhand der Ergebnisse der Erwerbstätigenrechnung des Statistischen Bundesamtes dar. Dabei geht ein Kapitel ausführlich auf die Kurzarbeit und die Motive zum Einsatz dieses Arbeitsmarktinstruments ein. Keywords: employment – labour market – short-time work – agency work – recession ABSTRACT Facilitated access to short-time work benefits is one of the measures of the Federal Government seeking to alleviate the effects of the current corona crisis on the labour market. This instrument was already used successfully in overcoming the 2008/2009 financial and economic crisis. The following article, published for the first time in issue 3/2010 of this journal, refers to the effects of that crisis on the German labour market. The article presents the relationship between economic performance and the labour market based on the results of the employment accounts of the Federal Statistical Office. A chapter goes into detail on short-time work and the motives for using this labour market instrument. 122 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise 1 2 Einleitung Vorbemerkung Im Jahr 2009 sank das reale Bruttoinlandsprodukt in Die Zusammenhänge zwischen der Wirtschaftsleistung Deutschland verglichen mit dem Vorjahr um 5,0 % | 1. und dem Arbeitsmarkt werden im Folgenden anhand Was zunächst als Finanzmarktkrise infolge von Speku- der Ergebnisse der Erwerbstätigenrechnung des Statis- lationen am Immobilienmarkt der Vereinigten Staaten tischen Bundesamtes dargestellt. Die Zahl der Erwerbs- begann, entfachte eine globale Störung der Realwirt- tätigen ist zum einen als Bezugszahl in die Volkswirt- schaft und mündete in die schwerste Wirtschaftskrise schaftlichen Gesamtrechnungen eingebunden und zum seit dem Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. anderen ein vorrangiger Indikator, um die Nachfrage Nach den vorliegenden Zahlen der amtlichen Statistik seite auf dem Arbeitsmarkt einschätzen zu können. ist festzustellen: Die Auswirkungen der Finanz- und Wirt- schaftskrise sind auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt Die Ergebnisse der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech- angekommen. Vor dem Hintergrund des dramatischen nungen und der Erwerbstätigenrechnung für das Jahr Wirtschaftseinbruchs in Deutschland sind die Reaktio- 2009 sind vorläufig, da zu diesem frühen Zeitpunkt nen des Arbeitsmarktes jedoch überraschend: Die Unter- [März 2010 – Anmerkung der Redaktion] teilweise nur nehmen haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten relativ unvollständige Ausgangsdaten vorliegen. Die in diesem flexibel reagiert, jedoch auf Entlassungen bislang weit- Aufsatz enthaltenen Daten der Volkswirtschaftlichen gehend verzichtet. Auch ein Jahr nach dem Ausbruch der Gesamtrechnungen beziehen sich – sofern im Text nicht Finanz- und Wirtschaftskrise erwies sich der deutsche gesondert vermerkt – auf den Veröffentlichungszeitpunkt Arbeitsmarkt als robust und entwickelte sich in Kenn- Februar 2010. Nur dort, wo über die Darstellungen der größen wie der Erwerbstätigkeit und der Erwerbslosigkeit Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen hinausgehen- relativ moderat. Sowohl im internationalen Vergleich als de differenzierte Arbeitsmarkt betrachtungen erforder- auch im Rückblick auf frühere Rezessionen muss diese lich sind, wird auf andere Datenquellen zurückgegriffen. Reaktion als außerordentlich registriert werden. Im Folgenden soll eine Art Zwischenbilanz der Auswir 3 kungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf den deut- schen Arbeitsmarkt im statistischen Sinne gezogen wer- Wirtschaftsleistung und Arbeitsmarkt den. Es wird dargestellt, wie sich die Erwerbstätigkeit und die Erwerbslosigkeit in Deutschland in der Phase Der Arbeitsmarkt gilt gemeinhin als nachlaufender Indika- des Wirtschaftseinbruchs entwickelt haben, und diese tor der konjunkturellen Entwicklung. Nachfrageschwan- Entwicklungen werden mit denen in anderen Volkswirt kungen schlagen sich nicht unmittelbar, sondern erst schaften verglichen. Den Arbeitsmarktinstrumen ten nach einer gewissen Anpassungszeit in den Personal- Leiharbeit und Kurzarbeit kommt dabei besondere planungen der Arbeitgeber nieder. Daneben verlängern Aufmerksamkeit zu. Im weiteren Verlauf werden die Aus- auch Kündigungsschutzregelungen und langfristige Tarif- wirkungen auf Beschäftigungsformen, Wirtschaftsbe vereinbarungen die Reaktionszeit auf eine veränderte reiche und die jeweilige Betroffenheit von Männern und Wirtschaftslage. So kann eine einsetzende Rezession Frauen dargestellt. Abschließend wird auf die Perspek zunächst unter anderem an den Daten der Auftrags- tiven für die weitere Entwicklung des Arbeitsmarktes eingänge und anschließend an denen der Produktion eingegangen, wobei relevante Frühindikatoren einbe erkannt werden. Nachfragerückgänge können kurzfristig zogen werden. durch Flexibilisierungsmaßnahmen wie das Anpassen der Arbeitszeit aufgefangen werden und Arbeitsplätze werden erst bei länger anhaltenden Nachfrageeinbrüchen zeit- 1 Stand der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen: Februar 2010; versetzt abgebaut. Umgekehrt gilt aber auch, dass sich Fachserie 18 „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen“, Reihe 1.2 „Inlandsproduktsberechnung – Vierteljahresergebnisse – 4. Viertel- zum Höhepunkt einer Arbeitsmarktkrise die Wirtschaft oft jahr 2009“. schon wieder auf einem Erholungskurs befindet. Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 123
Christoph-Martin Mai Kreuzkorrelationsrechnungen zeigen, dass die Zahl der der Erwerbstätigkeit als auch der Anstieg der Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland auf konjunkturelle Ver- Erwerbslosen damit relativ moderat und sehr viel schwä- änderungen – gemessen an der saison- und kalender- cher aus als vielfach befürchtet. Auch die Entwicklung bereinigten Wachstumsrate des Bruttoinlandprodukts der Erwerbstätigkeit im vierten Quartal 2009 mit einer zwischen den Jahren 1991 und 2009 – mit einer Verzö- saisonbereinigten Abnahme um 15 000 Personen gerung von zwei bis drei Quartalen reagiert. Nur bei tota- (– 0,0 %) gegenüber dem Vorquartal lässt keinen gravie- ler Flexibilität des Arbeitsmarkts wäre ein Gleichlauf mit renden Einbruch der Beschäftigung erkennen. der Konjunktur möglich. Die saisonbereinigte Entwicklung des preisbereinigten Für die aktuelle Wirtschaftskrise bedeutet dies: Es ent- Bruttoinlandsprodukts und der Erwerbstätigkeit in der spricht dem üblichen Muster, dass der Arbeitsmarkt aktuellen Wirtschaftskrise ist in Grafik 1 dargestellt. nicht unmittelbar auf die Auswirkungen der Finanz- und Das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt entwickelte Wirtschaftskrise reagiert hat. Erstaunlich hingegen ist, sich schon ab dem zweiten Vierteljahr 2008 jeweils dass sich der deutsche Arbeitsmarkt auch mehr als gegenüber dem Vorquartal negativ. Die Auswirkungen ein Jahr nach dem Beginn des globalen Wirtschaftsein- der Finanz- und Wirtschaftskrise werden vor allem in der bruchs noch vergleichsweise stabil zeigt. Entwicklung des vierten Quartals 2008 und des ersten Quartals 2009 gegenüber dem jeweiligen Vorquartal Die Wirtschaftsleistung wurde im Jahresdurchschnitt sichtbar. Verzögert reagierte die Erwerbstätigkeit, deren 2009 von 40,265 Millionen Erwerbstätigen mit Arbeits- Wachstumsraten gegenüber dem jeweiligen Vorquartal ort in Deutschland erbracht. Das waren lediglich 14 000 mit Ende des Jahres 2008 abnehmen, sich aber erst Personen weniger als im Jahr zuvor. Die Zahl der Erwerbs- ab dem ersten Quartal 2009 negativ entwickeln. Der losen nach internationaler Abgrenzung | 2 stieg nach wesentliche Unterschied ist allerdings die Dynamik: vorläufigen Schätzungen auf Basis der Arbeitskräfte Während für das Bruttoinlandsprodukt in der bisherigen erhebung um 154 000 Personen auf 3,295 Millionen. Spitze der Krise saisonbereinigt eine Veränderungsrate Angesichts des im abgelaufenen Jahr sehr schwierigen von – 3,5 % gegenüber dem Vorquartal zu registrieren wirtschaftlichen Umfelds fielen sowohl der Rückgang ist (1. Vj 2009), lag die maximale Abnahme der Erwerbs- 2 Zur internationalen Definition der Erwerbslosen siehe Rengers tätigkeit während der Finanz- und Wirtschaftskrise bei (2004), hier: Seite 1373 f. – 0,2 % (2. Vj 2009). Grafik 1 Saisonbereinigte Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Erwerbstätigkeit in Deutschland Veränderung gegenüber dem Vorquartal, in % 2 Erwerbstätigkeit (Inlandskonzept) 1 0 -1 Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt (Kettenindex 2000 = 100) -2 -3 -4 1.Vj 2.Vj 3.Vj 4.Vj 1.Vj 2.Vj 3.Vj 4.Vj 1.Vj 2.Vj 3.Vj 4.Vj 1.Vj 2.Vj 3.Vj 4.Vj 2006 2007 2008 2009 2020 - 01 - 0278 124 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise Grafik 2 Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der Erwerbstätigkeit Veränderung gegenüber dem Vorjahr, in % 6 Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt 4 2 0 -2 Erwerbstätigkeit (Inlandskonzept) -4 -6 1971 75 80 85 90 95 2000 05 09 Bis einschließlich 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland. 2020 - 01 - 0279 Ein solcher Verlauf der Erwerbstätigkeit in Deutsch- ten Golfkrieges im Jahr 1990 führten im Jahr 1993 zu land ist angesichts der Wirtschaftsentwicklung auch im einer weiteren Rezession in Deutschland, bei der im Vor- längerfristigen Vergleich ungewöhnlich. In Grafik 2 jahresvergleich das Bruttoinlandsprodukt um 0,8 % und ist die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts und der die Erwerbstätigkeit um 1,3 % zurückging. Nach dem Erwerbstätigkeit seit 1970 dargestellt. Platzen der Spekulationsblase mit Aktien der Internet- und Telekommunikationsbranche und durch die Folgen Zu erkennen ist, dass in vorherigen Rezessionen die der Terroranschläge vom 11. September 2001 in den Erwerbstätigkeit wesentlich stärker abnahm als in der Vereinigten Staaten mit einer folgenden Ver teuerung aktuellen. Seit 1970 gab es in der Bundesrepublik des Ölpreises sank das Bruttoinlandsprodukt im Jahr fünf Abschwungphasen. | 3 Im Zuge des ersten Ölpreis- 2003 um 0,2 % und die Erwerbstätigkeit im gleichen schocks, welcher durch das Lieferembargo der Organi Jahr um 0,9 %. Auch vor der aktuellen Finanz- und Wirt- sation erdölexportierender Länder (OPEC) im Herbst schaftskrise war es zu massiven Erhöhungen des Ölprei- 1973 begann, schrumpfte das reale Bruttoinlandspro- ses bis zur Jahresmitte 2008 gekommen. | 4 Doch obwohl dukt 1975 im Vergleich zum Vorjahr um 0,9 % und die der konjunkturelle Einbruch – gemessen am Rückgang Erwerbstätigkeit im gleichen Jahr um 2,5 %. Während des Bruttoinlandsprodukts – bei der aktuellen Krise grö- der zweiten weltweiten Ölkrise, deren Auslöser in der ßer war als in den vorangegangenen Wirtschaftskrisen, Islamischen Revolution im Iran und im ersten Iran- waren die Folgen für den Arbeitsmarkt – gemessen am Irak-Krieg im Jahr 1980 zu sehen ist, sank das Brutto Rückgang der Zahl der Erwerbstätigen – weniger gravie- inlandsprodukt im Jahr 1982 um 0,4 % im Vorjahres rend als in den anderen Rezessionen. vergleich, die Erwerbstätigkeit dagegen um 0,8 % und im darauffolgenden Jahr 1983 um 0,9 %. Das Nach Da die Erwerbstätigkeit verhältnismäßig gemäßigt auf lassen des durch die deutsche Vereinigung ausgelösten die Finanz- und Wirtschaftskrise reagiert hat, haben folg- Wirtschaftswachstums und die Auswirkungen des zwei- lich andere Komponenten zum deutlichen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts beigetragen. Während der aktu- 3 Nach der Definition des Sachverständigenrats zur Begutachtung ellen Finanz- und Wirtschaftskrise sank im Jahr 2009 das der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung liegt ein gravierender kon- junktureller Abschwung dann vor, „wenn ein Rückgang der relativen Arbeitsvolumen, das Produkt aus Erwerbstätigenzahl Output-Lücke um mindestens zwei Drittel der jeweiligen Potenzial- wachstumsrate mit einer aktuell negativen Output-Lücke einhergeht“ 4 Zur historischen Würdigung der Rezessionen siehe Räth (2009), (Sachverständigenrat, 2008, hier: Seite 79). hier: Seite 204. Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 125
Christoph-Martin Mai Grafik 3 Entwicklung der Erwerbstätigkeit und des Arbeitsvolumens|1 Veränderung gegenüber dem Vorjahr|2, in % 6 4 Erwerbstätigkeit (Inlandskonzept) 2 0 -2 Arbeitsvolumen|1 -4 -6 1970 75 80 85 90 95 2000 05 09 1 Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit 2 Bis einschließlich 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland. 2020 - 01 - 0280 und Arbeitszeit je Erwerbstätigen, um 2,8 % gegenüber Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde erst zum zweiten dem Vorjahr. Verglichen mit den anderen Wirtschafts- Mal seit 1970, und zwar um 2,2 % (erstmalig 2008: krisen war diese Abnahme zwar überdurchschnittlich, – 0,0 %); je Erwerbstätigen sank die Produktivität sogar allerdings fiel der Rückgang 1975 während der ersten um 4,9 % (der bisherige stärkste Rückgang war im Jahr Ölkrise mit – 4,5 % noch deutlich höher aus. Grafik 3 1980 mit – 0,3 % zu verzeichnen gewesen). Grafik 4 Bemerkenswert ist aber, wie sich die Arbeitsproduk Die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) tivitäten je Erwerbstätigen beziehungsweise je Arbeits- lässt sich als Resultat der Summe aus der Veränderung stunde im Vergleich zu früheren Rezessionen in der Erwerbstätigkeit (ET) und der Veränderung der Pro- Deutschland entwickelt haben: Im Jahr 2009 sank die duktivität je Erwerbstätigen (BIP/ET) darstellen, wobei Grafik 4 Entwicklung der Arbeitsproduktivität Veränderung gegenüber dem Vorjahr, in % 6 4 Arbeitsproduktivität je Arbeitsstunde 2 0 -2 Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen -4 -6 1970 75 80 85 90 95 2000 05 09 Bis einschließlich 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland. 2020 - 01 - 0280 126 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise sich letztere aufteilen lässt in die Summe aus der Verän- Grafik 5 derung der Produktivität je Arbeitsstunde (BIP/AV) und Bruttoinlandsprodukt und Erwerbstätigkeit im internationalen der Veränderung der durchschnittlichen Jahresarbeits- Vergleich 2009 Veränderung gegenüber dem Vorjahr, in % zeit je Erwerbstätigen (AV/ET). | 5 (1) ΔBIP (1)(1) ΔBIP = = ΔET ΔET + + Δ(BIP /ET )) Δ(BIP /ET Preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt 2 (2) Δ(BIP/ET (2)(2) Δ(BIP/ET )) = = Δ(BIP/ Δ(BIP/ AV )+ Δ( AV )+ Δ( AV AV /ET /ET )) 0 Aufgegliedert nach den Komponenten lässt sich der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2009 im Vereinigte Staaten Frankreich -2 Vergleich zum Vorjahr von 5,0 % mit nur einer margi- Europäische Union Spanien nalen Veränderung der Erwerbstätigenzahl um – 0,04 % Japan Italien -4 Deutschland und einer Reduzierung der Produktivität je Erwerbs- Vereinigtes -6 tätigen um 4,94 % erklären. Letztere ist bedingt durch Königreich einen Rückgang der Produktivität je Arbeitsstunde um -8 2,2 % und eine Veränderung der durchschnittlichen -8 -6 -4 -2 0 2 Jahres arbeitszeit um – 2,8 %, sodass sich empirisch Erwerbstätigkeit (Inlandskonzept) Gleichung 1 in Verbindung mit Gleichung 2 wie folgt darstellen lässt: Quelle: Schätzungen der EU-Kommission (Stand: 12. März 2010), außer für Deutschland (Statistisches Bundesamt) ΔBIP ( − 5,0 %) = ΔET ( − 0,0%) + Δ( BIP / AV )( − 2,2%) 2020 - 01 - 0282 + Δ( AV / ET )( − 2,8 %) Starke Zunahmen waren dagegen in Spanien und auch Nicht nur in historischer Betrachtung hat der Arbeits- in den Vereinigten Staaten festzustellen. Beachtlich markt in Deutschland in der aktuellen Finanz- und Wirt- ist auch der Anstieg der Erwerbslosenquote in Japan, schaftskrise ungewöhnlich reagiert, sondern auch im da diese von einem vergleichsweise niedrigen Niveau internationalen Vergleich: Obwohl Deutschland über- ausging. Im EU-Durchschnitt nahm die Erwerbslosen- durchschnittlich vom Rückgang der Wirtschaftsleistung quote gegenüber dem Vorjahr um 1,9 Prozentpunkte zu. betroffen wurde, blieb der Arbeitsmarkt relativ stabil. In Grafik 6 anderen großen Industrienationen ging der wirtschaft- liche Rückgang gleichsam mit deutlichen Rückgängen Grafik 6 der Erwerbstätigkeit einher. So ist zwar die Wirtschafts- Zunahme der EU-harmonisierten Erwerbslosenquote leistung in den größeren europäischen Volkswirtschaf- zwischen den Jahren 2008 und 2009 in Prozentpunkten ten ebenso wie in den Vereinigten Staaten im Jahr 2009 weniger stark eingebrochen als in Deutschland, der Spanien 6,7 Rückgang der Erwerbstätigkeit fiel jedoch jeweils größer Vereinigte Staaten aus. Im Durchschnitt der Europäischen Union sank die 3,5 Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2009 um 2,0 % gegen- Europäische Union 1,9 über dem Vorjahr. Grafik 5 Frankreich 1,6 Vergleichbar verlief die Entwicklung bei den Erwerbs Japan 1,0 losen: Die Zunahme der Erwerbslosigkeit in Deutschland Deutschland 0,2 zwischen 2008 und 2009 ist international als unter- durchschnittlich und als sehr moderat zu bezeichnen. Quelle: Schätzungen der EU-Kommission (Stand: 12. März 2010), außer für Deutschland (Statistisches Bundesamt) 2020 - 01 - 0283 5 Ausgehend von der Identitätsgleichung hätte der Einbruch des Bruttoinlandsprodukts von 5 % bei unveränderter Arbeitszeit und Stundenproduktivität zu einem Verlust von 2,7 Millionen Erwerbstä- Ausgelöst wurde die globale Finanz- und Wirtschafts- tigen führen müssen beziehungsweise bei einem Zuwachs der Stun- denproduktivität, gemäß langfristigem Trend, sogar zu 3,2 Millionen krise in den Vereinigten Staaten mit dem Platzen der Erwerbstätigen weniger (Möller/Walwei, 2009, hier: Seite 6). dortigen „Immobilienblase“. Es folgten Preiseinbrüche Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 127
Christoph-Martin Mai in Staaten wie Spanien und dem Vereinigten Königreich. Konjunkturelles Kurzarbeitergeld Verzögert, aber mit gravierenden Folgen, zeigte sich die Krise im Rückgang der Wirtschaftsleistungen export Konjunkturelles Kurzarbeitergeld wird Betrieben mit abhängiger Nationen wie Japan und Deutschland. Bei mindestens einem Arbeitnehmer vom Staat nach dem Sozialgesetzbuch III gewährt, falls folgende sozialrecht- Vorliegen flexibler Arbeitsmärkte haben die Unterneh- lichen Voraussetzungen vorliegen: men mit einem beträchtlichen Personalabbau reagiert. In Deutschland wurde dem Nachfrageausfall sehr unter- – Der Arbeitsausfall wird durch den Arbeitgeber oder die schiedlich begegnet: Die tariflichen und betriebs üb Betriebsvertretung bei der Bundesagentur für Arbeit lichen Arbeitszeiten wurden um 1,2 % reduziert, Über- angezeigt. stunden um 20,6 % abgebaut und mit einer Erhöhung – Der Arbeitsausfall ist erheblich und beruht auf wirt- des Ausfallvolumens um 745 % gegenüber dem Vorjahr schaftlichen Gründen oder einem unabwendbaren wurde das arbeitsmarktpolitische Instrument der Kurz- Ereignis. arbeit massiv genutzt. Dennoch wurden im Jahr 2009 – Der Arbeitsausfall ist nicht vermeidbar. auch in Deutschland etwa 266 000 Vollzeitstellen abge- baut, wovon im beachtlichen Maße auch Personen in Als erheblich gilt ein Arbeitsausfall, wenn mindestens Leiharbeit betroffen waren. Nur durch die erhebliche ein Drittel der Beschäftigten wegen des Arbeitsaus- Ausweitung von Teilzeitbeschäftigung um 274 000 falls ein um mehr als 10 % vermindertes Entgelt erzielt. Befristet bis zum 31. Dezember 2010 gilt ein Arbeitsaus- Stellen konnte insgesamt bei den Arbeitnehmern der fall aber auch dann als erheblich, wenn lediglich mehr Personalbestand gehalten werden. | 6 als 10 % der Beschäftigten betroffen sind (Konjunktur- paket II). Als vermeidbar gilt der Arbeitszeitausfall, wenn dieser nicht betriebs- oder branchenüblich ist, nicht 4 saisonal bedingt ist und auch nicht auf betriebsorga- nisatorischen Gründen beruht. Ferner sollte der Ausfall Kurzarbeit und die Motive zum Einsatz nicht durch bezahlten Erholungsurlaub oder zulässige Schwankungen der Arbeitszeitkonten vermieden werden dieses Arbeitsmarktinstruments können. Befristet bis zum Ende des Jahres 2010 ist durch die Maßnahmen des sogenannten Konjunkturpaketes II In Deutschland werden drei Arten von Kurzarbeit unter- die Bildung negativer Arbeitszeitkonten als Vorausset- schieden: die Saisonkurzarbeit (§ 169 Satz 2 in Ver zung ausgenommen. bindung mit § 175 SGB III), die Transferkurzarbeit Arbeitnehmer erhalten in der Förderungszeit der Kurz- (§ 216b SGB III) und die Kurzarbeit aus konjunkturellen arbeit 60 %, bei Elternschaft 67 % der Nettoentgelt Gründen (§ 170 SGB III). Das Saisonkurzarbeitergeld differenz von der Bundesagentur für Arbeit. Die Sozial- soll saisonale Arbeitsausfälle überbrücken. Die staatli- versicherungsbeiträge werden auch für die ausgefallene che Förderung der Unternehmen ist daher nur von kurzer Arbeitszeit weitergezahlt, während der Kurzarbeit führt Dauer und zielt auf wenige Wirtschaftsbereiche, insbe- der Arbeitgeber aber nur für 80 % des Bruttoeinkom- sondere die Bauwirtschaft, ab. Das Transferkurzarbeiter mens Beiträge ab. geld dient zur Begleitung von notwendigen organisato- rischen Restrukturierungsmaßnahmen von Betrieben, Jedoch gilt vom 1. Februar 2009 bis zum 31. Dezember 2010, dass in den ersten sechs Monaten der beantrag- welche ebenfalls einen maßgeblichen Arbeitsausfall ten Kurzarbeit die Hälfte der Sozialversicherungsbei- zur Folge haben. Im Zentrum der folgenden Betrach- träge von der Bundesagentur für Arbeit übernommen tung steht das konjunkturelle Kurzarbeitergeld, welches wird. Seit dem 1. Juli 2009 und ebenfalls befristet bis Unternehmen bei einem erheblichen Arbeitsausfall aus zum Ende des Jahres 2010 erstattet die Bundesagentur wirtschaftlichen Gründen beantragen können. für Arbeit die Sozialversicherungsbeiträge für ab dem 1. Januar 2009 durchgeführte Kurzarbeit ab dem siebten Monat auf Antrag vollständig. 6 Die Daten zur tariflichen und betriebsüblichen Arbeitszeit, zu Über- Die gesetzliche Förderungsdauer für das Kurzarbeiter- stunden und zur Vollzeit- und Teilzeitarbeit stammen aus der Arbeits- zeitrechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geld von lediglich sechs Monaten wurde im Zuge der (IAB) der Bundesagentur für Arbeit. gesetzlichen Änderungen zuletzt mit der dritten Ände- 128 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise rung der Kurzarbeiterregelungen am 1. Juli 2009 auf 2009, hier: Seite 10 ff.), halten Unternehmen bewusst 24 Monate verlängert. | 7 länger an gut eingearbeiteten Mitarbeitern fest. Zudem schafft die zusätzliche arbeitsfreie Zeit Raum, die Die staatliche Förderung durch konjunkturelles Kurz- Beschäftigten spezifisch weiterzuqualifizieren. arbeitergeld soll – neben dem direkten Sozialtransfer an die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, deren Problematisch wird aber die Kurzarbeiterregelung, falls Verdienstausfälle erstattet werden – Unternehmen in die Konjunkturkrise länger andauert. Aus rein betriebs- (gesamt)wirtschaftlich schwierigen Situationen derart wirtschaftlicher Sicht wird Kurzarbeit dann nicht mehr entlasten, dass diese kurzfristige Nachfrageschwankun- lohnend, wenn die Remanenzkosten die genannten gen überwinden können, ohne konjunkturbedingt Ent- Opportunitätskosten der Entlassung und Wiederein- lassungen vornehmen zu müssen. stellung einer neuen Facharbeitskraft nach dem Ende der Rezession übersteigen. Ineffektiv wäre eine staat- Allerdings ist die Inanspruchnahme der Kurzarbeiter- liche Förderung durch Kurzarbeit, falls Wirtschaftszweige regelung für die Unternehmen nicht kostenneutral und unterstützt würden, die nicht nur mit konjunkturellen, auch zeitlich begrenzt, wobei die maximale Laufzeit sondern auch mit strukturellen Schieflagen zu kämpfen infolge der aktuellen Wirtschaftskrise auf 24 Monate haben, und dadurch notwendige Strukturanpassungs- verlängert worden ist. Zwar brauchen die Unternehmen maßnahmen verzögert würden. keine Löhne und Gehälter für die entstandenen Ausfall- zeiten zu bezahlen, allerdings verbleiben noch Teile der In der aktuellen Wirtschaftskrise wurde das Arbeits- Lohnnebenkosten und eventuelle Zuschüsse aus den marktinstrument Kurzarbeitergeld sehr stark genutzt, tarifvertraglichen Regelungen, die sogenannten Rema- sodass teilweise sogar vom „Horten“ der Arbeitskräfte nenzkosten (Bach/Spitznagel, 2009), bei ihnen. gesprochen wurde (Projektgruppe Gemeinschaftsdia Die Motivation zum Erhalt der Arbeitsplätze in Krisen- gnose, 2009, hier: Seite 48 f.). Die Anzeige von Kurz- zeiten durch die Kurzarbeiterregelung ist von allen arbeit ist Bedingung für den Erwerb der staatlichen Marktseiten aus nachvollziehbar. Auch wenn der Staat Unterstützung und damit ein erster Gradmesser für die einen Teil der Personalkosten übernimmt, entlastet künftige Nutzung. Die Anzeigen der konjunkturellen er damit zugleich die Sozialkassen, da Beitragszahler Kurzarbeit hatten im Februar 2009 mit knapp 700 000 erhalten bleiben. Gegenzurechnen wären sowohl mög- Anzeigen | 9 ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht und liche Ansprüche auf Arbeitslosengeld, die im Falle eines sind seitdem stark rückläufig (Jahresdurchschnitt 2009: Personalabbaus entstünden, als auch die Kosten mögli- 273 000 Anzeigen je Monat). Allerdings ist ein Rückgang cher höherer Sockelarbeitslosigkeit nach dem Einsetzen der Zahl der Anzeigen allein gesehen kein eindeutiges einer konjunkturellen Erholung. | 8 Zeichen für eine sich erholende Wirtschaftssituation, da die Anzeigen nur einmalig erfolgen und nicht erneu- Bei den Arbeitnehmern steht der Erhalt des Arbeitsplat- ert werden müssen. So haben 3,3 Millionen Betriebe zes im Vordergrund, auch wenn dieser mit deutlichen in Deutschland im Jahresverlauf 2009 Kurzarbeit aus finanziellen Einbußen gegenüber der Vollzeitbeschäfti- konjunkturellen Gründen angemeldet (+ 415 % gegen- gung verbunden ist. Das Einkommen bleibt aber höher über dem Vorjahr). Tatsächlich wurde Kurzarbeit aber als beim Bezug von Arbeitslosengeld und ist verbunden deutlich seltener in Anspruch genommen. So waren mit einer Fortzahlung der Sozialversicherungsbeiträge. im Dezember 2009 | 10 knapp 0,8 Millionen Personen in konjunktureller Kurzarbeit. Ihren vorläufigen Höhe- Die Unternehmen haben den Remanenzkosten der Kurz- punkt erreichte die Zahl der Kurzarbeiter im Mai 2009 arbeit gewisse Opportunitätskosten gegenzurechnen, mit 1,516 Millionen Personen. Ein zwischenzeitliches die aus Entlassungskosten und bei wieder anziehender geringfügiges Ansteigen der Kurzarbeiterzahlen im Nachfrage aus Such-, Einstellungs- sowie Einarbeitungs- Berichtsmonat September gegenüber dem Vormonat ist kosten bestehen. Bei einem drohenden oder beste- damit zu erklären, dass die Inanspruchnahme von Kurz- henden Facharbeitermangel, wie er insbesondere in den Ingenieurberufen beklagt wird (Koppel/Plünnecke, 9 Die Daten zur Kurzarbeit wurden entnommen den Angaben der Bun- desagentur für Arbeit, unter anderem im Analytikreport der Statistik, 7 Siehe hierzu Sozialgesetzbuch III sowie Sachverständigenrat (2009), Frühindikatoren für den Arbeitsmarkt, Februar 2010. Seite 264 f., und Crimmann/Wießner (2009). 10 Letzter verfügbarer Wert für die Personen in Kurzarbeit (Stand: 8 Zur Sockelarbeitslosigkeit siehe Rothe (2009). März 2010). Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 129
Christoph-Martin Mai Grafik 7 sprechende Größenordnungen nicht erreicht. Deutlich Kurzarbeit aus konjunkturellen Gründen sichtbar sind in Grafik 8 aber auch die Phasen aus- Anzeigen für Kurzarbeit und Bestand der Leistungsempfänger/-innen, Mill. geprägter Kurzarbeit in den Jahren der beiden Ölkrisen, nämlich im Jahr 1975 mit 773 000 Kurzarbeitern und im Jahr 1983 mit 785 000 Kurzarbeitern. Gemessen 1,6 an der relativen Betroffenheit der Arbeitnehmer von Kurzarbeiter/-innen Kurzarbeit sind diese Krisen daher durchaus mit der jet- zigen Situation vergleichbar. Im früheren Bundesgebiet 1,2 lag der Anteil der Kurzarbeiter/-innen im Jahr 1975 ge- messen an allen Arbeitnehmern bei 3,4 %, im Jahr 0,8 1983 bei 3,3 % und in Deutschland im Jahr 1991 bei sogar 5,0 %, während im Jahr 2009 ein Anteil von 3,2 % erreicht wurde. In der Rezession des Jahres 2003 kam 0,4 es hingegen zu keinem nennenswerten Anstieg der Anzeigen für Kurzarbeit Kurzarbeit. 0 Wie die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise und die J A J O J A J O 2008 2009 Reaktionen des Arbeitsmarktes darauf zeigen, führt die extensive Nutzung der Kurzarbeiterregelung zu einem Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2020 - 01 - 0284 erheblichen Absinken der Arbeitsproduktivität und stei- genden Lohnstückkosten | 11, was zumindest kurzfristig arbeit in den davor liegenden Monaten ferienbedingt die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen unterbrochen worden war. Grafik 7 Wirtschaft gefährdet. Ob dieser Effekt auch langfristig nachwirkt, wird davon abhängen, wie schnell die Wirt- Lediglich 1991 war die Zahl aller Kurzarbeiter (einschließ- schaftskrise überwunden wird und die Kurzarbeiter lich saisonaler Kurzarbeit und Transferkurzarbeit) in regelung nicht mehr weiter in Anspruch genommen Deutschland größer als im Jahr 2009. Damals befanden werden muss. sich im Zuge der deutschen Vereinigung 1,76 Millionen Menschen in Kurzarbeit, wobei allerdings Umstrukturie- rungsmaßnahmen, vorrangig in den neuen Ländern und 11 Lohnstückkosten werden in gesamtwirtschaftlicher Betrachtung als Relation von Lohnkosten (Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer) Berlin-Ost, im Vordergrund standen. Für das frühere Bun- zur Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigen berechnet (Brümmerhoff/ desgebiet wurden im Zeitraum von 1970 bis 1991 ent- Lützel, 2002, hier: Seite 257). Grafik 8 Entwicklung der Kurzarbeiterzahlen Mill. 2,0 1,6 1,2 0,8 0,4 0 1971 75 80 85 90 95 2000 05 09 Bis einschließlich 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1991 Deutschland. Quelle: Bundesagentur für Arbeit 2020 - 01 - 0285 130 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise 5 im Produzierenden Gewerbe (ohne Baugewerbe) von Kurzarbeit betroffen, im Baugewerbe waren es ledig- lich 1,5 % und in den Dienstleistungsbereichen 0,9 % Entwicklung der Erwerbstätigkeit (Statistik der Bundesagentur für Arbeit, 2009). nach Wirtschaftsbereichen Die unterschiedlichen Verläufe der Erwerbstätigkeit in den Wirtschaftsbereichen hatten auch Auswirkungen Während sich die gesamtwirtschaftliche Zahl der auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung der Teilzeit- Erwerbstätigen im Inland gegenüber dem Vorjahr im Jahr quoten, der Partizipationsraten nach Geschlecht und auf 2009 kaum veränderte (– 14 000 Personen oder – 0,0 %), die nachgewiesenen Stellungen im Beruf. Im Produzie- entwickelte sich die Erwerbstätigkeit nach Wirtschafts- renden Gewerbe ist der Beschäftigungsanteil von Män- bereichen sehr unterschiedlich. Im Produzierenden nern in vielen Branchen in sozialversicherungspflichtiger Gewerbe (ohne Baugewerbe) sank der Personalbestand Beschäftigung, insbesondere in Vollzeit, vergleichsweise deutlich. Kompensiert wurden die Beschäftigungsver- hoch. Überdurchschnittlich viele Frauen arbeiten dage- luste im Produzierenden Gewerbe durch Zunahmen gen in den Dienstleistungsbereichen, häufig in Teilzeit der Zahl der Erwerbstätigen in den Dienstleistungsbe- oder geringfügiger Beschäftigung. Die in der Wirtschafts- reichen, im Baugewerbe und in der Land- und Forst- krise voranschreitende Tertiarisierung führte zu einer wirtschaft. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum nahm weiteren Verlagerung hin zu mehr Teilzeitbeschäftigung, die Zahl der Erwerbstätigen in den Dienstleistungsbe- geringfügiger Beschäftigung und anderen atypischen reichen insgesamt um jahresdurchschnittlich 189 000 Beschäftigungsformen, die einen relativ hohen Frauen Personen (+ 0,6 %) zu. In der Land- und Forstwirtschaft anteil aufweisen. waren 6 000 Personen (+ 0,7 %) und im Baugewerbe 7 000 Personen (+ 0,3 %) mehr erwerbstätig. Sichtbar Der längerfristige Strukturwandel, der die Entwicklung wurde der globale Einbruch der Wirtschaftsleistung ins- der Erwerbstätigkeit in Deutschland seit der deutschen besondere in den stärker exportorientierten Bereichen Vereinigung begleitet, setzte sich somit auch im Krisen- des Produzierenden Gewerbes (ohne Baugewerbe). Die jahr 2009 – und zwar verstärkt – fort. Fast drei Viertel dort im Durchschnitt des Jahres 2009 gegenüber dem aller Erwerbstätigen hatten im Jahr 2009 ihren Arbeits- Vorjahr zu verzeichnenden Beschäftigungsverluste von platz in den Dienstleistungsbereichen (Handel, Gast- 216 000 Personen (– 2,7 %) erreichten eine Größen- gewerbe, Verkehr, Finanzierung, Vermietung, Unterneh- ordnung, die die Beschäftigungsgewinne der beiden mensdienstleister, öffentliche und private Dienstleister). vorhergegangenen Jahre per saldo wieder aufzehrten. Der Anteil des tertiären Sektors an der Gesamtzahl der Würden die Beschäftigungsverluste der Leiharbeit, die Erwerbstätigen erhöhte sich von 59,5 % im Jahr 1991 traditionell vorwiegend im Produzierenden Gewerbe vor- auf 73,0 % im Jahr 2009. Dagegen hat sich der Erwerbs- zufinden ist, nicht statistisch dem Verleihunternehmen tätigenanteil des primären und sekundären Sektors kon- im Dienstleistungsgewerbe, sondern der Entleihfirma, tinuierlich verringert. Waren in der Land- und Forstwirt- das heißt überwiegend dem Produzierenden Gewerbe, schaft 1991 noch 3,9 % aller Erwerbstätigen beschäftigt, zugeordnet, hätte sich diese divergierende Entwicklung lag der Anteil im Jahr 2009 nur noch bei 2,1 %. Allerdings der Wirtschaftsbereiche im Zuge der Finanz- und Wirt- hat sich der Erwerbstätigenanteil der Landwirtschaft in schaftskrise noch verstärkt. den vergangenen vier Jahren stabilisiert und ist nicht weiter zurückgegangen. Der Erwerbstätigenanteil des Kurzarbeit zur Stützung der Belegschaft hatte ebenfalls Baugewerbes war im Jahr 2009 erstmals seit seinem ihren Schwerpunkt im Produzierenden Gewerbe: Nach höchsten Stand seit der deutschen Vereinigung im Jahr Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im Dezem- 1995 (8,6 % der Erwerbstätigen) wieder leicht gestiegen, ber 2009 von der konjunkturellen Kurzarbeit Betroffene und zwar um 0,1 Prozentpunkte auf 5,5 %. Er lag damit zu 79,5 % im Produzierenden Gewerbe (ohne Bauwirt- 2009 um 1,8 Prozentpunkte unter dem Stand des Jahres schaft) beschäftigt, davon allein 20,8 % im Maschinen- 1991. Im Produzierenden Gewerbe (ohne Baugewerbe) bau, 18,1 % in der Metallerzeugung und -bearbeitung ist der Anteil an allen Erwerbstätigen seit dem Jahr 1991 und 14,4 % im Fahrzeugbau. Insgesamt waren damit um fast zehn Prozentpunkte gesunken, und zwar von 7,4 % aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 29,3 % (1991) auf 19,4 % (2009). Allein im vergangenen Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 131
Christoph-Martin Mai Jahr hat sich der Anteil aufgrund der konjunkturbeding- der Leiharbeit nur sehr eingeschränkt möglich ist, kann ten Beschäftigungsverluste um 0,5 Prozentpunkte ver- die Zeitreihe der Arbeitnehmerüberlassungen als ein ringert. Grafik 9 guter Frühindikator für den weiteren wirtschaft lichen Konjunkturverlauf bezeichnet werden. In Zeiten sich Grafik 9 erholender Konjunktur (wie in den Jahren 2005 bis Strukturwandel in Deutschland: 2007) nahm die Leiharbeit frühzeitig und sehr dyna- Sektorale Entwicklung der Erwerbstätigkeit misch zu. In schwächeren Konjunkturphasen sank die Anteile an der Erwerbstätigkeit insgesamt, in % Inanspruchnahme der Leiharbeit und entwickelte sich teilweise auch negativ gegenüber dem Vorjahr (wie 73,0 insbesondere im Zuge der Finanzkrise); sie reagierte 59,5 damit zeitlich vor anderen Kennzahlen des Arbeitsmark- tes. Nach Ergebnissen der Arbeitnehmerüberlassungs statistik der Bundesagentur für Arbeit wurde der vorläu- 29,3 fige Höhepunkt der Leiharbeit im Juli 2008 mit 823 101 19,4 Personen erreicht. Danach sank die Zahl der Leiharbeit- 7,3 5,5 3,9 2,1 nehmer aber in erheblichem Umfang, bis zum Frühjahr Land- und Produzierendes Baugewerbe Dienst- 2009 um knapp ein Viertel. Damit ging die Zahl der Leih Forst- Gewerbe ohne leistungen arbeiterinnen und Leiharbeiter auf einen Wert zurück, wirtschaft Baugewerbe welcher zuletzt im Frühjahr 2006 ausgewiesen worden 1991 2009 2020 - 01 - 0286 war. Grafik 10 Vorläufige Daten der Beschäftigungsstatistik der Bun- 6 desagentur für Arbeit | 13, die bis zum Ende des Jahres 2009 reichen, weisen saisonbereinigt seit Juni 2009 Leiharbeit wieder ein Ansteigen der Zeitarbeit aus (Bundesagentur für Arbeit, 2010, hier: Seite 15). Auch die Ergebnisse des In Deutschland ist die Leiharbeit mittlerweile verbreitet IW-Zeitarbeitsindex zeigen, dass seit dem Frühjahr 2009 (Mai, 2008). Leiharbeit liegt vor, wenn ein Arbeitgeber die Leiharbeit saisonbereinigt wieder zunimmt und zwi- einen bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer an einen schen Mai und Oktober 2009 bereits 80 000 neue Leih- Dritten zur Arbeitsleistung überlässt. Dieser Dritte setzt arbeitsstellen geschaffen worden sind (Bundesverband die geliehene Arbeitskraft nach seinen betrieblichen Zeitarbeit, 2010). Das ist als überdurchschnittlich zu Bedürfnissen ein. Während der Anteil der Leiharbeitneh- bewerten, da die mittlere jährliche Zunahme zwischen mer an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten den Jahren 2004 und 2007 knapp 67 500 Stellen betrug. im Jahr 2000 lediglich 1,2 % betrug, erhöhte sich dieser Die aktuelle Zunahme der Zeitarbeit kann unterschied- Anteil bis zum Jahr 2008 auf 2,8 %. Insbesondere seit lich interpretiert werden: Möglicherweise reagieren die Inkrafttreten der sogenannten Hartz-I-Gesetze, durch die Unternehmen auf teilweise ansteigende Auftragsein- die Arbeitnehmerüberlassung gesetzlich neu geregelt und bestehende Vorschriften gelockert wurden, stieg die Zahl der Leiharbeitnehmer bis zum Jahr 2008 stark an. 13 Da aus der Arbeitnehmerüberlassungsstatistik keine Daten über den Zwischen den Jahren 2004 und 2008 wuchs die Gesamt- weiteren Verlauf der Leiharbeit am aktuellen Rand vorliegen, müssen für Aussagen über die weitere Entwicklung andere vergleichbare zahl an Leiharbeitnehmern im Durchschnitt jährlich um Quellen herangezogen werden. Hierfür bieten sich unter anderem 24,4 %. | 12 die Daten der Beschäftigtenstatistik der Bundesagentur für Arbeit und der IW-Zeitarbeitsindex an. Unterschiede zwischen diesen Auch wenn in längerfristiger Betrachtung ein Vergleich Indikatoren: Bei der Beschäftigtenstatistik zählt auch die Stamm- belegschaft der Verleihunternehmen zur Zeitarbeit, jedoch werden aufgrund zahlreicher Gesetzesänderungen im Rahmen ausschließlich Betriebe mit dem wirtschaftlichen Schwerpunkt Arbeitnehmerüberlassung berücksichtigt. Der IW-Zeitarbeitsindex ist eine Verbandsumfrage im Auftrag des Bundesverbands Zeitarbeit, 12 Quelle für die Leiharbeitsdaten (sofern nicht anders dargestellt): durchgeführt durch das Institut der Deutschen Wirtschaft, welche Bundesagentur für Arbeit, Arbeitnehmerüberlassungsstatistik die letzten Werte der Arbeitnehmerüberlassungsstatistik mittels der (Stand: 18. März 2010). Umfrageergebnisse fortschreibt. 132 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise Grafik 10 Entwicklung der Zahl der Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer Mill. 1 000 800 600 400 200 0 J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A J O J A 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Quelle: Bundesagentur für Arbeit (Arbeitnehmerüberlassungsstatistik) 2020 - 01 - 0287 gänge, indem sie die vorherige Kurzarbeit einstellen und 7 beginnende personelle Engpässe mit Zeitarbeitnehmern von Entleihfirmen zu überbrücken versuchen. Erst mit einem steigenden Vertrauen in die Nachhaltigkeit einer Insolvenzen positiven Auftragslage sind wieder eher Festeinstellun- und Selbstständigkeit gen beim Entleihunternehmen zu erwarten. So könnte die Zunahme der Leiharbeit als ein Indiz für eine ein- Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist im Jahr 2009 setzende konjunkturelle Erholung verstanden werden. im Vorjahresvergleich gestiegen. 39 320 Insolvenzen Andererseits kann aber auch die größere Inanspruch- von Unternehmen verzeichneten die deutschen Amtsge- nahme der Leiharbeit bedeuten, dass die Stammbeleg- richte nach den Ergebnissen der amtlichen Statistik | 14 schaft durch Leiharbeitnehmer substituiert wird. Hierfür im Verlaufe des Jahres 2009. Im entsprechenden Vor- spricht, dass – während die Zahl an Leiharbeitern wie- jahreszeitraum waren es noch 11,6 % weniger gewesen. der zunimmt – zeitgleich die Beschäftigung im Produzie- Damit lag die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im Jahr renden Gewerbe, dem traditionellen Beschäftigungsfeld 2009 erstmals seit 2003 wieder höher als im Vorjahr. der Leiharbeit, abgebaut wird. Ob eine solche Substitu- Trotz schwieriger wirtschaftlicher Situation werden wei- tionsbeziehung vorliegt, darüber dürften die nächsten terhin auch Unternehmen gegründet. Der Saldo der Neu- Ergebnisse der Arbeitnehmerüberlassungsstatistik im gründungen gegenüber den Abmeldungen ist sowohl Juli 2010 Aufschluss geben. bei Betrieben mit größerer wirtschaftlicher Bedeutung, als auch bei Kleinunternehmen und bei Betrieben zum Nebenerwerb jeweils positiv, das heißt es fanden im Jahr 2009 (Stand März 2010) in der Summe mehr Gewerbe anmeldungen als Gewerbeabmeldungen statt. | 15 14 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 2 „Unternehmen und Arbeitsstätten“, Reihe 4.1 „Insolvenzverfahren“. 15 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 2 „Unternehmen und Arbeitsstätten“, Reihe 5 „Gewerbeanzeigen“. Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 133
Christoph-Martin Mai Andere Quellen mit Angaben zur Entwicklung der Selbst- auf eine Reduzierung des Personals hin, jedoch in einem ständigkeit wie der Mikrozensus bestätigen diesen erheblich geringeren Umfang, als dies noch im Frühjahr Trend. Die entsprechende Zeitreihe steigt gegenüber und im Sommer des letzten Jahres erwartet wurde. dem Vorjahr leicht an. Damit kann von einem Einbruch infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise bei den Selbst- Auch der Verlauf der gemeldeten offenen Stellen der ständigen und mithelfenden Familienangehörigen Bundesagentur für Arbeit, vor allem der gemeldeten gesamtwirtschaftlich bislang nicht gesprochen werden. ungeförderten Stellen für „normale“ sozialversiche- rungspflichtige Beschäftigung, weist in der Regel einen Untersuchungen der Mikrozensusergebnisse (Kelleter, engen Bezug zur Erwerbstätigkeit auf, wobei die Reihe 2009) der letzten Jahre haben ergeben, dass die Zahlen der gemeldeten offenen Stellen als Frühindikator fun- der Selbstständigen, insbesondere die der Selbststän- giert. | 16 Dieser enge Zusammenhang bestand während digen ohne abhängig Beschäftigte (sogenannte Solo- der Finanz- und Wirtschaftskrise jedoch zunächst nicht Selbstständige), sogar in Zeiten wirtschaftlicher Krisen mehr. Während die Erwerbstätigkeit relativ stabil verlief, zunehmen können. Denn in Zeiten steigender Arbeits war die Zahl der gemeldeten ungeförderten Stellen im losigkeit stieg im letzten Jahrzehnt der Anteil an staat- Juli 2009 um 30,8 % geringer als im Vorjahr. Allerdings licher Förderung zur Aufnahme von selbstständiger kam der saisonbereinigte Rückgang bei den gemelde- Tätigkeit, sodass im Jahr 2009 bereits eine Selbststän- ten ungeförderten Stellen zum Stillstand. Seit August digenquote von 11 % erreicht wurde (zum Vergleich: im 2009 steigt dieser Indikator der Arbeitskräftenachfrage Jahr 2000 betrug die Selbstständigenquote noch 10 % wieder an. und im Jahr 1991 erst 9 %). Dagegen entwickeln sich die Auftragseingänge der Allerdings stieg im Jahr 2009 nicht nur die Zahl an Solo- Industrie und der Produktionsindex im Produzierenden Selbstständigen und die Zahl derjenigen, die staatliche Gewerbe | 17 uneinheitlich. Zwar ließen beide Indikatoren Förderung zur Aufnahme von Selbstständigkeit nutz- saisonbereinigt seit Frühjahr 2009 wieder eine leichte ten, sondern – wie die Zahl der Gewerbeanmeldungen Aufwärtsbewegung erkennen, welche aber im vierten zeigte – nahm auch die Zahl der Betriebe mit (sozial Quartal 2009 ins Stocken geraten ist; dies zeigt sich versicherungspflichtig) Beschäftigten und größerer im Besonderen durch eine abnehmende Nachfrage im wirtschaftlicher Bedeutung zu, sodass während der Fahrzeugbau. Erste vorläufige Daten zum Jahresbeginn aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht von einer 2010 deuten aber wieder auf ein sich aufhellendes wesentlichen Verschiebung der Struktur innerhalb der Wirtschaftsgeschehen hin. Gruppe der Selbstständigen und mithelfenden Familien angehörigen zugunsten der Kleinst- und Solo-Selbst- Für ein stark exportabhängiges Land wie Deutschland ständigen gesprochen werden kann. sind aber nicht nur nationale Gegebenheiten für die Entwicklung des Arbeitsmarktes von Bedeutung, son- dern auch internationale. In vielen Ländern deuten sich 8 derzeit Signale in Richtung wirtschaftlicher Erholung an, so unter anderem in den Vereinigten Staaten, Japan und Ausblick auf das Jahr 2010 16 Unter „nicht normalen“ sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- Einige der für den Arbeitsmarkt relevanten Frühindika gungsverhältnissen werden von der Bundesagentur für Arbeit unter toren deuten auf ein sich aufhellendes Umfeld hin. anderem geförderte Beschäftigungsverhältnisse auf dem zweiten Arbeitsmarkt (wie beispielsweise Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Arbeitsgelegenheiten) und auch geringfügige Beschäftigungs- Der ifo-Geschäftsklimaindex und das ifo-Beschäftigungs tätigkeiten verstanden. Der Anteil der ungeförderten Stellen für barometer für die gewerbliche Wirtschaft Deutschlands, normale sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen an allen welche in der Vergangenheit die konjunkturelle Entwick- gemeldeten Stellen bei der Bundesagentur für Arbeit liegt derzeit bei 56 % und der Einschaltungsgrad bei 28 %. Datenquelle: Statistik lung am Arbeitsmarkt mit einem kurzen Vorlauf anzeig- der Bundesagentur für Arbeit, Frühindikatoren für den Arbeitsmarkt, ten (Abberger, 2008), weisen saisonbereinigt seit dem Nürnberg, Januar 2010. 17 Beide Datenreihen sind auf der Internetseite des Statistischen Frühjahr 2009 wieder ansteigende Indexwerte aus. Zwar Bundesamtes in der Datenbank GENESIS-Online aktuell und deuten die Beschäftigungspläne der Unternehmen noch kostenfrei abrufbar (Stand: März 2010). 134 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020
Rückblende Der Arbeitsmarkt im Zeichen der Finanz- und Wirtschaftskrise einigen europäischen Ländern. | 18 Zunehmende Bedeu- Als Folge des Erhaltes des Beschäftigungsniveaus bei tung für Deutschland hat die industrielle Produktion vermindertem Arbeitseinsatz sank die Arbeitsproduk- Brasiliens, der Russischen Föderation, Indiens und der tivität im Jahr 2009 in einem für Deutschland bisher Volksrepublik China, der sogenannten BRIC-Staaten. nicht gekannten Maße. Durch die sich daraus ergebende Von hier kommen bereits positive Zeichen, seit Mitte Erhöhung der Lohnstückkosten ist die internationale des Jahres 2009 liegt das Produktionsniveau in diesen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft damit Staaten – mit Ausnahme der Russischen Föderation – zumindest kurzfristig gefährdet. über den Vorjahreswerten. Nach Wirtschaftsbereichen entwickelte sich die Erwerbs- Arbeitsmarktexperten sagen dennoch für das Jahr tätigkeit im Jahr 2009 sehr unterschiedlich. Beschäfti- 2010 in Deutschland eine rückläufige Entwicklung der gungsgewinnen vorrangig im Dienstleistungsgewerbe, Erwerbstätigkeit und eine steigende Erwerbslosenzahl aber auch in der Land- und Forstwirtschaft und in der voraus. Die wirtschaftliche Rezession träfe demnach Bauwirtschaft, standen deutliche Arbeitsplatzverluste den deutschen Arbeitsmarkt erst mit eineinhalb bis in der Industrie gegenüber. Die Finanz- und Wirtschafts- zwei Jahren Verzögerung. Über die Heftigkeit des Rück- krise hatte auch deutliche Auswirkungen auf die Leih gangs besteht jedoch Uneinigkeit. So gehen die führen- arbeit, deren Bestand sich im Verlauf des Jahres 2009 bis den deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrer zu einem Viertel verminderte. Gemeinschaftsdiagnose vom Oktober 2009 von einem Rückgang der Erwerbstätigkeit im Jahr 2010 um 2,0 % Die Zahl der Selbstständigen blieb dagegen im Krisen gegenüber dem Vorjahr aus. Aktuellere Prognosen, jahr 2009 recht stabil. Damit setzt sich der allgemeine welche um den Jahreswechsel 2009/2010 veröffent- Trend zu einer höheren Selbstständigenquote in licht worden sind, wie vom ifo-Institut für Wirtschafts Deutschland weiter fort, insbesondere auch durch eine forschung, verfolgen inzwischen einen weniger pessi Zunahme der Solo-Selbstständigkeit. mistischen Ansatz und gehen für das Jahr 2010 von Einige der Frühindikatoren deuten auf ein sich aufhel- einem Rückgang der Erwerbstätigkeit um nur 0,7 % lendes Bild hin. Allerdings ist damit zu rechnen, dass gegenüber dem Vorjahr aus. die Finanz- und Wirtschaftskrise den Arbeitsmarkt erst im Jahr 2010 im vollen Umfang treffen wird. 9 Fazit Die Finanz- und Wirtschaftskrise traf Deutschland im Jahr 2009 in einem außergewöhnlichen Maße. Aber trotz des dramatischen Rückgangs der Wirtschaftsleistung blieb die Zahl der Erwerbstätigen bisher relativ stabil. Diese Entwicklung war historisch und international gesehen außergewöhnlich. Durch Anpassungen der Arbeitszeit und den massiven Einsatz von Kurzarbeit konnte das Niveau der Beschäftigung gehalten werden. Von staat- licher Seite wurden verschiedene befristete Regelungen getroffen, um die Remanenzkosten der Kurzarbeit zu senken, sodass die Brückenfunktion der Kurzarbeit über einen längeren Zeitraum genutzt werden kann. 18 Zu den Aussagen über die wirtschaftlichen Verläufe siehe die Anga- ben der Datenbank der Organisation für wirtschaftliche Zusammen arbeit und Entwicklung OECD.Stat Extracts (Stand: 18. März 2010). Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2020 135
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