Expedition zur Erde - Mensch und Natur haben sich auseinandergelebt. Wie kommen wir aus diesem Schlamassel wieder raus? Vielleicht kann ja die ...
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70 71 Mensch und Natur haben sich auseinandergelebt. Wie kommen wir aus diesem Schlamassel wieder raus? Vielleicht kann ja die Kunst helfen. Der Schweizer Julian Charriére ist davon überzeugt Expedition zur Erde
72 73 Courtesy Galerie Kunst Julian Charrière, VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Für seine Arbeit We Are All Astronauts (vorige Dop- pelseite) hat Julian Charrière Globen aus den Jahren 1890 bis 2011 mit »internationalem Sandpapier« abge- schmirgelt. Das Papier hat er selbst hergestellt: mit Sand aus allen UN-Nationen. Das 2016 entstandene Video Sycamore – First Light (oben) suggeriert Idylle, doch die weißen Flecken stammen von radioaktiv verseuchten Sandkörnern des Bikini-Atolls. Dort machten die USA in den Fünf- zigerjahren 23 Atombombentests. Auch die Kokos- nüsse für die Installation Pacific Fiction – Study for Tschudi Monument (rechts) brachte Charrière von der Insel mit – und ummantelte sie mit Blei
74 75 Courtesy Galerie Dittrich & Schlechtriem, Berlin 2016 Kunst Julian Charrière, VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Seinen jüngsten Videofilm Towards No Earthly Pole im Museum Masi Lugano inszenierte Charrière als Szenario aus erhabenen Schneeskulpturen, tosenden Wasserfällen, sirrender Eismusik und sich splitternd spiegelnden Oberflächen (links). Die Skulptur Meta- morphism XII (oben) besteht aus Tech-Utensilien von der Festplatte bis zum Chip, die in künstlicher Lava zu Gesteinskonglomerat geschmolzen wurden
76 77 Von Exotik und Exzess handelt der Film An Invitation to Disappear, den Charrière 2018 in den endlosen Palmölplantagen Indonesiens drehte. Eine Rave-Party im Dschungel mit elektronischer Musik aus 30 Laut- sprechern, jedoch ohne Menschen. Lava und Asche, Stroboskoplicht und künstlich erzeugter Nebel ver- schmelzen zur Natur-Kultur-Apokalypse
78 79 Mich interessiert, wie die Bilder entstehen, sie die Tourismusindustrie am Fließband stehen dort riesige Palmölplantagen. End- die unsere Sicht auf die Wirklichkeit prä- produziert. Ich spiele mit Klischees, zum lose Alleen von gigantischen Bäumen. Eine gen. Und zwar seit Beginn der Mensch- Beispiel von atemberaubenden Sonnenauf- für das Ökosystem desaströse Monokultur, heitsgeschichte. All diese Bilder bis hin zu und -untergängen. Doch gleichzeitig gibt für die seit Jahren wertvoller Regenwald den heutigen digitalen Social-Media-Tsu- es auf jedem Bild diese weißen Flecken. gerodet wird. Aber gleichzeitig sind diese namis prägen unser kollektives visuelles Das sind radioaktive Sandkörner. Die habe Plantagen architektonisch wunderschön Gedächtnis. Manchmal identifizieren wir ich während des Entwicklungsprozesses und irgendwie auch ultrakulturell. Der uns sogar so weit mit ihnen, dass wir glau- auf die Negative gestreut, sie damit gewis- Mensch als Welt-Gärtner kompletter Zer- ben, selbst schon vor Ort gewesen zu sein. sermaßen doppelt kontaminiert. Außer störung. Philosophisch sind wir in der west- Wie sehr wird unser Naturverständnis, dem Sand brachte ich auch nuklear ver- lichen Welt aus dem Garten Eden, der kul- unser ökologisches Bewusstsein von Bil- seuchte Kokosnüsse mit, die ich dann mit turell war, herausgekippt und auf der Erde dern manipuliert? Blei ummantelt habe, sodass sie wie Kano- gelandet. Bis heute versuchen wir, die Erde Manipulation passiert auf zwei Ebenen, nenkugeln aussehen. Es sind Fragmente, als Sinnbild des Paradieses zu erschaffen. physikalisch und im Gedankenraum, also mit denen ich versuche, Radioaktivität Weil wir so vermessen sind? durch historische und kulturelle Referen- Auch deshalb. Ich habe dort einen Film ge- Die Fotoserie zen. Die Arktis wurde von etwas Gewalt dreht: Im Video fährt die Kamera innerhalb Aomen I – Terminal tätigem zu etwas sehr Fragilem. Innerhalb von einer Stunde vom Tag in die Nacht und Beach zeigt die von einem Jahrhundert entstanden zwei wieder in den Tag. Es ist eine sich wieder- Stahlbeton-Bunker, völlig verschiedene Orte. Was wir Natur holende Schleife, und wenn die Sonne wie- die auf dem Bikini- nennen, hängt auch von unserer kulturellen der aufgeht, beginnt eine Party mit elektro- Atoll zum Schutz Prägung ab. Die Natur kann eine Projek nischer Musik aus 30 Lautsprechern, nur vor radioaktivem tionsfläche unserer Träume und Sehnsüchte ohne Menschen. Ich wollte Assoziationen Fallout gebaut sein. Je nach Erziehung, Geschichte, Tradi an Lava und Asche wecken genauso wie an wurden. Die weißen tion und Kultur sind diese Pro jek tio nen Stroboskoplicht in Clubs, Nebelmaschinen Flecken hat Char- rière mit radioakti- grundverschieden. Ein Japaner sieht einen und Techno-Trance-Beats. Zwischen Exo- vem Sand erzeugt Berg anders als ein Schweizer. Diese Bedeu- tik und Exzess. Es geht um eine Reise durch tungsunterschiede sind mein Material. Wie Julian Charrière, geboren 1987 im den Dschungel, den man damals noch als ein Geologe mache ich eine Kernbohrung schweizerischen Morges ist einer der wüsten, unbebauten Boden definierte. »Wir brauchen mehr Mitgefühl bekanntesten Künstler seiner Genera- durch die Schichten von Bedeutung. Heute sind die Palmölplantagen eine tion. Er lebt in Berlin Interessieren Sie sich für Naturphilosophie? komplett künstliche Erscheinung. Aus für unsere Natur« Gerade ist das Buch Ökologisch sein des Natur wird Kulturlandschaft. amerikanischen Philosophen Timothy sichtbar zu machen. Eine zweite Fotoserie Es gibt da eine riesige Verschiebung. Die Morton erschienen – er hat recht mit seiner zeigt die Stahlbeton-Bunker, die auf dem realen Veränderungen sind viel schneller als Auch Kunst ist Forschung: Der Künstler Julian Char- Kernthese: Ökologisches Bewusstsein ist Atoll zum Schutz des lichtempfindlichen unser Denken. Wir denken immer noch riere bricht zu Orten auf, die einen Nerv treffen nicht schwierig, sondern sehr einfach. Wir Filmmaterials gebaut wurden. Monströse wie im 19. Jahrhundert in trennenden Ka- atmen, wir essen Tiere und Pflanzen, wir Ruinen einer dunklen Energie. tegorien. Das funktioniert nicht mehr. Interview Eva Karcher sind unauflöslich mit der Natur verbunden. Warum wählen Sie derart exponierte Orte? Was wäre die Lösung? Foto Serena Aksel, 2018 E Natur heißt aber auch: Umweltkatastro- Orte mit radikaler Historie haben einen fik- Über viele Jahrhunderte hinweg haben wir r setzt sich eisiger Kälte und sen- Südpol. Locken Sie Extreme? sehr rudimentäre Ausrüstung, Zelt, Schlit- phe, Klimawandel. Sie waren auf dem Bi- tionalen Faktor, dem wir uns kaum entzie- gelernt, dass wir kein Teil der Natur sind. gender Hitze aus. Julian Char Julian Charrière: Ich suche Orte, die einen ten, Feuer, und andererseits Supertechnolo- kini-Atoll, wo die Amerikaner ihre Atom- hen können. Umso mehr, wenn wir ihre Wir wurden zu Betrachtern der Natur. Be- rière reist an Nordpol und Süd- Nerv treffen, die mit Bedeutung und Bil- gie. Für mein Team und mich war die Ex- waffen getestet haben. Geschichte nicht mehr kennen. Dann ent- trachten bedeutet aber trennen. Trennen pol, zum Bikini-Atoll im dern überfrachtet wurden. Für das Projekt kursion die bisher extremste Zeit unseres Dort entstand meine Fotoserie First Light. steht eine immer größere Verschiebung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Pazifischen Ozean, zum Vulkan durchquerten wir im November 2018 an Lebens. Wir konnten nicht mit Hunden 1946 bis 1958 fanden auf den Inseln 23 zwischen der ursprünglichen Bedeutung Innen- und Außenwelt. Diese perspektivi- Tambora auf der Insel Sumba- Bord eines russischen Forschungsschiffs die fahren, weil der Schnee noch nicht hart ge- Atombombenversuche statt. Hier erlebt eines Ortes und seiner Erscheinung. Hier sche Haltung ist eine willkürliche Kon Kunst Julian Charrière, VG Bild-Kunst, Bonn 2020 wa. Zur Vorbereitung seiner Expeditionen be- Drake-Passage zwischen Kap Hoorn und nug war, sondern mussten die Schlitten man hautnah, dass Idylle und Hölle eins hat unter anderem die ökologische Krise struktion, genau wie unsere Zeitskala. Es schäftigt er sich mit Physik, Archäologie, Ge- den Südlichen Shetlandinseln. Das Meer ist selbst ziehen. Es war kalt, minus 30 statt sein können. Ein anderes Beispiel: das Co- ihre Wurzel. Es existiert keine emotionale gibt so viele Zeitlichkeiten in der Natur, schichte, Philosophie. Doch Charrière ist kein dort brutal, mit oft zehn Meter hohen Wel- wie üblich minus 15 Grad. Unser Zelt ver- ronavirus. Wie ein Erdbeben erschüttert es Verbindung mehr zum realen Raum und zu zum Beispiel die der Geologie. Wir müssen Forscher, er ist Künstler. Seine Werke zeigen, len. Damals hatte ich die Idee, den Film bei eiste durch unseren Atem. die Fundamente unserer Existenz. Ich sehe seiner Geschichte, sondern nur noch zu solche Zeitlichkeiten unbedingt einbezie- wie wir Menschen die Natur verehren, aber Nacht mit einer Drohne zu drehen. Ich Warum machen Sie solche Exkursionen? es als Chance, unsere Haltung und Hand- seinen Abbildungen, seinen Bildern. hen! Denn eigentlich und ursprünglich auch ausbeuten und zerstören. wollte eine neue Technologie einsetzen, die Gute Kunst ist für mich auch Forschung. lungen grundsätzlich zu hinterfragen, um Handelt hiervon auch Ihre Arbeit »An sind wir in Symbiose. Die Idee der Sym- dazu beiträgt, unsere Wahrnehmung der Historisch wurden Expeditionen immer ab sofort eine bessere Zukunft zu gestalten. Invitation to Disappear«? biose muss der Motor der Veränderung Herr Charrière, Ihre Ausstellung »Towards Welt fundamental zu verändern. von Künstlern begleitet. Sie haben sie do- Gegensätze wie Gut und Böse, Leben und Ich wollte den Vulkan Tambora auf der In- sein. Es gibt keine Alternative. Symbiose ist No Earthly P ole« zeigt einen Film über die Die Drohne und das Eis. Hightech und kumentiert und dabei gleichzeitig interpre- Tod bedingen einander? sel Sumbawa in Indonesien besteigen, der ein anderes Wort für Empathie. Wir brau- schmelzenden Gletscher im ganz und gar Urzeitlichkeit prallen aufeinander? tiert. Maler und Zeichner fiktionalisierten Ja, Yin und Yang. Das beschäftigt mich 1815 ausgebrochen war. Damals war sein chen mehr Mitgefühl für unsere Natur. Sie nicht mehr ewigen Eis von Arktis und Genau diesen Technologie-Clash fand ich diese Forscherreisen. Sie haben Mythen ge- immer wieder. Die Arbeit zeigt Kokospal- Ausbruch für die schlimmste Hungersnot ist auch unsere Kultur. Also brauchen wir Antarktis. Dafür reisten Sie extra zum spannend! Einerseits benutzten wir eine schaffen, die dann oft zu Klischees wurden. men, Wasser, Strände und Horizonte, wie des 19. Jahrhunderts verantwortlich. Heute auch mehr gegenseitige Empathie. —
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