Fallvorstellung - Psychiatrie St.Gallen Nord
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19.03.2019 Fallvorstellung assistierter Suizid Uli Hemmeter, Wil, 15. März 2019 Symposium assistierter Suizid Pat. A.M. 87 Jahre – biographische Angaben - Geboren am 8. Juli 1931, aufgewachsen in Muolen/SG - 2t jüngster von 9 Kindern (8 Buben, 1 Mädchen), - Schule in St. Gallen, KV-Lehre - 38 Jahre bei der SUVA im oberen Kader Eltern: - Vater Posthalter, mit 78 Jahren an MS gestorben - Mutter, Hausfrau, mit 94 Jahren an Krebs gestorben - keine psychiatrischen Erkrankungen in der Familie bekannt - 2 Töchter - Ehefrau nach ca. 30jähriger Ehe mit 54 Jahren an Krebs gestorben (Patient war damals 63 Jahre) - Pension – 65 Jahre, war noch sehr aktiv, ehrenamtlich tätig - seit 10 Jahren mit jetziger Lebenspartnerin (84 Jahre) zusammen (nach Bypass OP) 1
19.03.2019 Krankheitsanamnese Körperliche Erkrankungen: - 1935 Appendektomie - 1949 Meniskus OP re. Knie - 1980 Beginn rez. Kolonpolypen - wiederholt - 1982 Inguinalhernien OP links (1999 Re-Operation) - 1987 Herpes Zoster lumbal rechts - 1987 Sturz, Polytrauma mit Rippenserienfrakturen, Claviculafraktur re., Hämopneumothorax und Subduralhämatom - 1994 Radikale Prostataektomie bei Prostata CA in der Folge Urininkontinenz - 2005 tiefe Beinvenenthrombose links - 2008 4facher AC-Bypass-OP vor 10 Jahren - 2008 Cholezystektomie - 2012 supraventrikuläre Tachycardie - 2014 Katarakt OP beidseits - 2017 Herpes Zoster L2 rechts - 2018 AV-Reentry Tachykardie, Ablation 3 Krankheitsanamnese II Psychische Erkrankungen - 1989 Angststörung nach Unfall – ambulant behandelt - Teilremission - 1994 nach Krebsoperation, Tod der Gattin – mit folgender Depression – ambulant behandelt - Vollremission - 2008 / 2009 ängstlich-depressives Syndrom mit somatischen Symptomen – ambulant behandelt Vollremission Behandlung: mit Cipralex und Remeron + Psychotherapie - 2018 erneut ängstlich-depressives Syndrom mit Entwicklung einer schweren Depression 4 2
19.03.2019 Krankheitsanamnese III Aktuelle Krankheitsentwicklung seit 2018 - Februar 2018 – während Aufenthalt in Davos Atemnot und Schwindel, Druckgefühl in der Brust, Engegefühl, dazu Angst, Panik – Vorstellung im Notfall - nach Rückkehr weitere ähnliche Situationen, z.B. im Solebad in Abtwil - Abklärung durch Hausarzt und Kardiologen - Herzrhythmusstörungen, instabile RR-Werte - Hz-Katheder-Ablatio - Fortbestehen der Symptomatik (s.o.), Beginn der Behandlung mit Cipralex (Escitalopram) (März 2018) schnell aufdosiert/ Xanax (Aprazolam)/ Temesta (Lorazepam) durch HA und Arzt in der Familie - keine Verbesserung - erste ambulante Konsultation psychiatrisch 16.04.2018 5 Situation bei erster Konsultation und ambulante Behandlung im Frühjahr 2018 - I - sehr gepflegter, grauhaariger, freundlich zugewandter aber deutlich leidend wirkender Patient, gross gewachsen, hager - unruhig, besorgt, ängstlich, angespannt, berichtet von Druck in der Brust, Engegefühl, bis zur Entwicklung Schmerzen in der Brust, im Rücken in den Beinen, v.a. auch Kopfschmerzen, dazu Konzentrationsstörungen, leichte Gedächtnisstörungen, Einengung der Gedanken auf die somatische Problematik, Interesselosigkeit, Schlaf- und Appetitstörungen, verminderter Lebensmut - Diagnose: Mittelgradig depressives Syndrom mit somatischen Symptomen - Besondere Belastung: Ferien (in Seefeld) mit der Lebenspartnerin geplant 3 Wochen, Pat. stark unter Druck (wegen Lebensgefährtin), Absage der Ferien 6 3
19.03.2019 Situation bei erster Konsultation und ambulante Behandlung im Frühjahr 2018 -II Procedere: - Reduktion Cipralex, Beginn mit Remeron (Mirtazapin) unter EKG-Kontrolle - + fixe Temestagabe 4x0.25mg (anstelle der unkontrollierten Temesta- und Xanax-(Selbst-)Behandlung - + Verhaltensplan, Selbstkontrolltechniken, Entspannungsübungen, Stressreduktion - + Absage der geplanten Ferien - vorübergehende Besserung (ca. 2 Wochen), aber keine Stabilisierung, v.a. Persistenz der körperlichen Problematik - ab Mitte Mai (2018) zunehmende Verschlechterung mit Schwindel, Schmerzattacken, Panikzuständen zu Hause, am Wochenende – Insuffizienzgefühle, Zukunftsängste, Lebensüberdruss - erste Besprechung einer möglichen stationären Behandlung - Pat. kann sich einen stationären Aufenthalt nicht vorstellen - Klinikeinweisung am 10.06.2016 – Privatstation, Einzelzimmer 7 Stationärer Aufenthalt ab 10.06.2018 - Depressives Syndrom kam noch klarer zum Vorschein: - v.a. Insuffizienzgefühle, Zukunftsängste bei empfundener deutlicher körperlicher Einschränkung, Gedankenkreisen, depressive Stimmung mit Morgentief, reduzierter Antrieb sowie Druckgefühl in der Brust und Schmerzen, lebensüberdrüssige Gedanken, keine akute Suizidalität - weitere somatische Abklärung und Kontrollen wurden durchgeführt - somatische Befunde bei Eintritt: Normozytäre Anämie, yGT-erhöht (259 U/l), Niereninsuffizienz, Vit B12 leicht reduziert Therapieverlauf: - Umstellung der Medikation Duloxetin (anstelle von Cipralex) + zusätzlich Olanzapin - Psychotherapeutischer Fokus: Akzeptanz der körperlichen Eingeschränktheit mit gleichzeitiger Förderung der Aktivität und Symptomkontrolle, Stärkung der Autonomie - Häufiger Abbruch von Therapien wegen Schwäche und der körperlichen Symptome - trotz der Attribuierung der Beschwerden auf die Depression wurden weitere körperliche Abklärung unternommen Generelle Frage: somatische Ursachen als Erklärung der Symptomatik 8 4
19.03.2019 Stationärer Aufenthalt ab 10.06.2018 – weitere somatische Abklärungen 21.06.2018 MRI Abdomen - deutlich aufgestaute intrahepatische Gallenwege, V.a. Gallengangkarzinom + V.a. Nierenkarzinom + V.a. Hiatushernie - mögliche Erklärungen für die thorakalen Schmerzen / Druckgefühle - weitere Vorstellungen und Abklärungen bei den Spezialisten u.a. am KSSG 2.7.2018 Mitteilung der Diagnose an den Patienten und der Behandlungsmöglichkeiten eine ausgedehnte kurative OP wurde von den konsultierten Ärzten aufgrund der Begleiterkrankungen als sehr kritisch beurteilt palliativ chirurgische Massnahmen wären möglich - Pat. wünscht keine weiteren diagnostischen Massnahmen und keine weitere Therapie diesbezüglich (u.a. Operation – Entlastung der Gallenwege) - Pat. äussert den Wunsch nach Freitod durch Exit, nimmt während des stationären Aufenthalts Kontakt zu Exit auf. - er wolle nicht so leiden wie seine verstorbene Ehefrau und dieses Leid auch niemanden zumuten - 9 Verlauf stationärer Aufenthalt Kontakt mit Exit - Pat. tritt Exit bei, hat telefonischen Kontakt mit einer Kontaktperson von Exit - Psychiatrisches Gutachten wurde erstellt (innerhalb kürzester Zeit) – durch externen Psychiater - Pat. plant telefonisch mit Exit den Freitod, drängt auf schnellen Vollzug - wollte auch keine Medikamente mehr, da er glaubte dadurch urteilsunfähig zu werden und keinen Freitod mehr durchführen zu können - Suizidversuch durch den Patienten (ca. eine Woche nach dem Entschluss zu Exit), Schnitt in Pulsadern, wird gefunden und versorgt - Pat. gibt als Grund an (später), in der Kommunikation mit Exit habe er das Gefühl bekommen, dass es mit dem Freitod nicht klappe, es seien immer wieder Hürden aufgetaucht, viele Gespräche (Telefonate), die ihn verunsicherten (überforderten) (z.B. Klärung wo er aus dem Leben scheiden könne), zudem Druck von den Angehörigen – grosse Ambivalenz 10 5
19.03.2019 Verlauf stationärer Aufenthalt Angehörige Verhalten/Reaktion der Angehörigen: - Lebenspartnerin, Schwester und eine Tochter waren «geschockt», konnten den Entscheid des Patienten nicht akzeptieren, die 2te Tochter war eher zurückhaltend, überliess dem Pat. die Entscheidung - Pat. gerät dadurch zunehmende unter Druck - Angehörige nehmen intensiv Kontakt mit den Behandlern auf - bedrängen dann den Patienten - Partnergespräch zur Klärung der Positionen mit dem Ziel Verständnis für die jeweils andere Position zu erreichen, z.B. Akzeptanz des Sterbewunsches des Pat. bei der Lebenspartnerin und Akzeptanz bzw. Verständnis für die Wünsche der Angehörigen beim Pat.en, - Grundanliegen – Beziehung halten 11 Verlauf stationärer Aufenthalt - Pat. nur noch auf den Freitod fixiert, litt unter den Ansprüchen der Angehörigen - In der ganzen Diskussion um Exit und den schnellen Freitod, sowie nach dem Suizidversuch besserte sich die körperlichen Beschwerden des Patienten (standen nicht mehr im Fokus) - in Gesprächen konnte erreicht werden, dass - der Patient die Medikamente weiter nimmt und an den Therapien teilnimmt, - die Angehörigen dem Pat. den Freitod als Option zugestehen, der Patient dafür noch etwas Aufschub gibt, um sich «geordnet» von den Angehörigen verabschieden. - Pat. wollte dann plötzlich sofort austreten, er wolle jetzt zu seiner Lebenspartnerin, – es gelang, dass er noch eine Woche blieb, die Medikamente angepasst wurden, ein Verhaltensprogamm für den Patienten (und die Lebenspartnerin) besprochen und die engmaschigen Nachbetreuung organisiert wurde - Austritt am 24.08.2019 12 6
19.03.2019 Ambulante Weiterbehandlung I - Pat. kam wöchentlich mit der Lebenspartnerin - Stimmung besser, betont, dass er durch die Möglichkeit jederzeit Exit in Anspruch zu nehmen, wenn es ihm sehr schlecht gehe, sehr entlastet ist - Zunehmende Stabilisierung, Fokussierung auf den Alltag in Abhängigkeit von der Belastbarkeit, Aufnahme verschiedener Aktivitäten - Nach 6 Wochen Beginn der Reduktion der Medikamente, zunächst Temesta (Lorazepam), dann Olanzapin (über jetzt 5 Monate) Schwimmen, Jassen, Zeitung lesen, Spaziergänge, Interesse für Sport, Besuch von Sportveranstaltungen, Besuch bei der Tochter in Fribourg - Kontinuierliche Stabilisierung, psychopathologisch Vollremission, Druckgefühl in der Brust, «Unruhe» im Bauch noch vorhanden, Wechsel Obstipation, Diarrhoe, körperliche Schwäche (besser aber noch vorhanden), keine Kopfschmerzen 13 Ambulante Weiterbehandlung II Reflexion Exit: - 6 Wochen nach dem Austritt ist Exit kein Thema mehr - Pat. kann sich nicht mehr vorstellen, wie er damals so denken konnte, diese Zeit liege wie im Nebel vor ihm - Er sei damals ein anderer Mensch gewesen, das Leben sei leer gewesen, es habe ihm nichts mehr gesagt, auf Leute, von denen er heute weiss, dass sie es gut mit ihm meinen, habe er nicht hören können, diese seien ganz weit weg gewesen. - Heute sage ihm das Leben wieder etwas, - Exit sei kein Thema mehr, er sei froh wie es ihm jetzt gehe und er habe die Einstellung, dass er –solange er noch könne- die Situationen nutzen und geniessen möchte - Nächste Woche hat er einen Termin beim Hausarzt – wegen Fahrtauglichkeit - Für Juni ist die Ferienreise nach Seefeld wieder geplant 14 7
19.03.2019 Fazit: Es bleiben offene Fragen: 1. Autonomie des Patienten vs. krankheitsbedingte Veränderung der Wahrnehmung und der Kognition/Gedankengänge – Fürsorge - Urteilsfähigkeit 2. Suizidalität als Krankheitssymptom oder Pathologisierung des Sterbewunsches 3. was ist krankheitsbedingt (am Verhalten/den Entscheidungen), was somatisch – unveränderbar, was psychisch – ggf. reversibel 4. Subjektivität vs. (vermeintliche) Objektivität (Realität) der Gedanken 5. Belastung der Angehörigen, , aber auch Aufträge 6. Verantwortung der Therapeuten gegenüber dem Patienten (Autonomie vs. Fürsorge) und den Angehörigen (Unterstützung wie ?, Cave Instrumentalisierung) 7. Eigene Haltung des Therapeuten zum Freitod (Einfluss auf 1 und 2 ?) - Weiteres zu diesen Themen in den Workshops 15 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Psychiatrische Klinik Wil, Lehrspital der Universitätsklinik Zürich Kantonale Psychiatrische Dienste St. Gallen – Sektor Nord St. Gallen Psychiatrisches Zentrum 16 8
19.03.2019 Fragen ? 9
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