Flamenco auf Fernreise - Norient

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Flamenco auf Fernreise | norient.com                                   26 Feb 2022 00:54:20

    Flamenco auf Fernreise
    by Katrin Wilke

    Auf ihrem Album Traveller steckt Anoushka Shankar, die
    britisch-indische Sitar-Spielerin und Tochter von Ravi
    Shankar, ihre eigene, neue Reiseroute ab zwischen
    klassischer indischer Musik und Flamenco. Ich gerate bei
    dieser Gelegenheit auch ins Grübeln über frühere
    musikalische Brückenschläge dieser Art.

    Die Chancen auf eine glückende, bestenfalls auch beglückende musikalische
    Allianz stehen an sich ganz gut, wenn sich der Flamenco nach Indien begibt.
    Also dorthin, woher, vermutlich vor allem aus dem nordwestlich gelegenen
    Punjab, die Roma einst nach Europa gelangt sein sollen, um ab dem 15.
    Jahrhundert auch in Spanien mehr schlecht als recht Fuss zu fassen. Von
    jeher leitete man von diesem historischen Nexus gerne alle nur denkbaren,
    teils gewagten, teils evidenteren Analogien zwischen der klassischen
    indischen und der originär andalusischen Musik ab. In einer frühen Begegnung
    zwischen Ravi Shankar und Paco de Lucía, den beiden wohl weltweit
    bekanntesten ihrer Zunft mit grosser gegenseitiger musikalischer
    Wertschätzung, da fragte der Spanier den Sitar-Spieler, ob er Ähnlichkeiten
    zwischen indischer und Flamenco-Musik verspürte. Dieser bejahte das nicht
    direkt, verwies aber auf einen sehr populären Morgenraga namens Bhairavi,
    an den ihn viele Flamenco-Melodien erinnerten. Auch die etwaige Nähe
    zwischen dem Kathak-Tanz und dem Baile ist bis heute nicht ausdiskutiert.

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Flamenco auf Fernreise | norient.com                                     26 Feb 2022 00:54:20

    Seit langem begeben sich auch die Instrumentalisten und Sänger aus Indien
    und Spanien auf die Suche nach möglichen, neuen und alten
    Anknüpfungspunkten. Ausgerechnet ein spanischer Rockgitarrist, Gualberto
    García Pérez, einst Kopf der Rock-Andaluz-Pionierband Smash, entdeckte –
    in den USA und nicht in Indien - die Sitar für sich und für den Flamenco. Dass
    dieses, neben den Tablas uns wohl populärste Instrument Indiens aus
    Gualbertos Sicht gewissermaßen den Cante ersetzen kann, ist u.a. auf seinem
    und Ricardo Miños Album „Con Trastes“ (1998) zu hören.

    An direkten musikalischen Annäherungen zwischen Musikern aus Spanien
    und Indien bzw. Pakistan mangelt es natürlich auch nicht in der Flamenco-
    Geschichte. Leider bleibt es dabei bisweilen eher bei Annäherungsversuchen,
    deren Resultat nach forcierter Fusion klingt. Die musikalischen Welten finden
    letztlich nicht wirklich zusammen, bleiben mit ihrem Reichtum nebeneinander
    stehen. Etwa so - um im Bild der nach Chemie klingenden «Fusion» zu
    bleiben - wie die Flüssigkeitsschichten eines mehrfarbigen Cocktails. So
    geschehen (aus Sicht der Kritikeri!) beim Qawwali-Jondo-Projekt des
    pakistanischen Sufi-Sängers Faiz Ali Faiz und dreier Lichtgestalten des
    aktuellen Flamenco, Duquende, Miguel Poveda und Chicuelo. Nicht nur rein
    optisch getrennt platzierten sich die durchweg brillanten Künstler beider
    Länder auf der Bühne. Auch musikalisch schien der jeweilige Respekt vor der
    Musik des anderen so gross, dass diese weitestgehend separat zelebriert und
    nur zaghaft durch kleine Scharniere miteinander verbunden wurde.

    Kurioser Weise sind es mitunter eher unscheinbare Produktionen im
    Windschatten der grossen, bei denen man mit kreativer Courage
    interessante, gegenseitig befruchtende Verbindungen einzugehen
    vermochte: so bei Amalgama (Encuentro, 1995), einer Aufnahme diverser
    Spanier und des renommierten Karnataka College of Percussion, bei dem
    neben etlichen namhaften Flamencos auch der mit beiden
    Perkussionstraditionen vertraute Xavi Turull der Band Ojos de Brujo
    mitwirkte. Und auch die 2005 veröffentlichte Plattenproduktion „Indialucía“
    sollte an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Das gleichnamige Projekt
    unter Federführung des polnischen Flamenco-Gitarristen Miguel Czachowski
    vereint Musiker aus Spanien, Indien und Polen, die sich durchaus auf
    Augenhöhe treffen und mit Gespür und Verstand, ohne zu fremdeln in einigen
    Tracks eine recht gelungene, ausgewogene Melange erzielen. Nicht minder
    behutsam, etwas, doch auch organisch geriet die vom britisch-indischen
    Musiker Nitin Sawhney angeregte Zusammenarbeit zwischen Pepe
    Habichuela, dem Geiger Chandru und dessen Bollywood Strings (Yerbagüena,
    2001).

    Der Flamenco-Gitarrist aus Granada ist nun auch auf Traveller dabei - als
    Koautor und Mitspieler in dem Stück «Boy meets girl». Javier Limón, derzeit
    «Hans in allen Gassen» als Produzent, so auch von Anoushka Shankars
    Album, hätte ihr gerade die Akkordfolge einer Granaína gezeigt, erinnert sich
    die Sitar-Spielerin. Da begann sie, dazu wie von selbst einen Raga (Manj

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    Khamāj) zu spielen, dessen Melodieform, Tonart und Schlüssel genau zu
    jenem palo passten. «So konnten wir zwei originäre Stile kombinieren, als
    hätten sie immer schon zusammen gehört. Eine mir wichtige technische
    Erkenntnis, die aber der Zuhörer nicht wissen muss. Es geht einfach darum,
    dieser süssen Unterhaltung zwischen der Sitar mit ihrem sehr hohen,
    weiblichen Klang und der Gitarre, die quasi den männlichen Part übernimmt,
    zu lauschen. Daher auch der Titel des Tracks.»

    Diesem intimen «Mann-Frau»-Wortwechsel folgt eine Art Seguiriya mit
    einem alten Text, adaptiert und intoniert von der Cantaora Sandra Carrasco.
    Die junge, neue Hoffnung am Flamenco-Himmel, gehört wie Concha Buika
    (sie sowie Duquende sind ebenfalls auf der CD zu hören) zu den «Musen» in
    Limóns Laboratorium. Ebenfalls dort entstand das gerade veröffentlichte
    Debüt der 30-jährigen Frau aus Huelva, mit dem sie die letzten Wochen
    konzertierte, wenn sie nicht gerade mit dem Traveller-Projekt durch Europa
    tourte. Mit dabei auch der Perkussionist Israel Suárez „Piraña“ – als Cajonero
    ein zentraler Schrittmacher im jüngeren Flamenco, der insbesondere live,
    aber auch hier und da auf Shankars CD wichtige Akzente setzt. Und ebenfalls
    einer der spanischen „Travellers“, zumindest auf Tour, ist der Flamenco-
    Gitarrist (und Carrascos Ehemann) Daniel Jiménez “Melón”, der mit Enrique
    Morente arbeitete, mit Antonio Carmona, Raimundo Amador oder Niña
    Pastori.

    Kaum Zeit zum Verschnaufen nach einer langen Bustour aus London,
    Anoushka Shankars Geburtsstadt, nach Berlin, geht es für die drei mit ihren
    indischen Kollegen schon wieder auf die grosse Bühne im Berliner Haus der
    Kulturen. Zwischen Tür und Angel versichern sie mir – übermüdet lachend –
    dass ihnen diese musikalisch wie menschlich natürliche, angenehme
    Erfahrung gut bekommen ist. Die Klangwelt sei schon recht besonders, meint
    Sandra Carrasco und fügt hinzu, dass sie keine Zweifel hätte, dass die
    Wurzeln des Flamenco auch dort, in Indien lägen. Aber klar müsse man diese
    Verbindung nicht überstrapazieren, jede Musik hätte schliesslich ihre eigene
    Ausprägung. Der Flamenco ist eine weite, alte Disziplin, deren Ursprünge, ja
    auch die arabischen, man nicht recht ausmachen könne. Ganz ähnlich klingt
    es beim Mastermind dieses Projekts. Man müsse in dieser Musik – der
    indischen Tradition wie im Flamenco – nichts verwässern oder konzentrieren
    oder verändern, so Shankar, beide trügen ja schon alles in sich. Als relative
    Flamenco-Anfängerin wollte sie diese sehr liebgewonnene Musik mit
    demselben Respekt behandeln wie ihre eigene und beide auf dem Album in
    ihrem eigenen natürlichen Rhythmus atmen lassen.

    Was sich so schön und leicht sagt, gelang der traditionsbewussten wie
    zeitgenössischen Sitar-Virtuosin, die von Kindheit an die Lust am
    musikalischen Reisen von ihrem Vater lernte, letztlich auch. Die zwölf Stücke,
    teils allein oder mit Javier Limón komponiert, sind gut ausbalanciert, geben
    genügend Raum und Möglichkeiten zu einem tieferen musikalischen
    Austausch, bei dem am Ende doch stets das Charisma und die Vitalität der

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    beiden musikalisierten Lebenskulturen zu spüren ist. Die Grenzen
    verschwimmen, ohne das Ergebnis nebulös erscheinen zu lassen. Selbst im
    markanten Spiel von Anoushka, das ihr Madrider Arbeitsgefährte so
    beschreibt: «Wenn sie ihre eigene indische Musik spielt, klingt das in unseren
    Ohren wie Flamenco. Wir alle, auch Paco, sagten öfters schon zu ihr, dass das
    doch wirklich Flamenco und sehr gut sei, was sie da spiele. Und sie
    entgegnete dann stets, dass das nichts als indische Musik gewesen sei.» Und
    von der ihr vertrauten Tradition aus begibt sich die Anglo-Inderin kreativ und
    verständnisvoll gen Tanguillos, in «Inside me», dem CD-Opener, der auch ihre
    erste Schwangerschaft reflektiert (ihr Sohn wurde in der Endphase des
    Mixens geboren).

    Auch Bulerías gestaltet sie von flotter Hand, etwa die «Bulería con Ricardo»
    im Verbund mit Pedro Ricardo Miño. Der Pianist, den Anoushka Shankar als
    einen ihrer ersten und wichtigsten Flamenco-Mentoren schätzt, machte
    bereits auf ihrem Album Rise (2005) mit in dem faszinierenden Track
    «Soleá» und zuvor auch gemeinsame Sache mit Vater Ravi. Eine weitere
    Bulería auf Traveller liegt dann gestalterisch wiederum stärker in den Händen
    der exzellenten indischen Mitmusiker. Ein Sänger interpretiert eine 500 Jahre
    alte Sufi-Poesie, abgelöst von der Sitar, die einer Flamenco-Gitarre gleich zur
    ungebändigten, zweiten Solostimme wird. Sie spiele ihr Instrument, dass es
    manchmal eher nach (weiblichem) Cante klänge als nach Toque. Die
    Gitarristen können noch viel von ihr lernen, so Limón, dessen
    Musikverständnis sich nach eigener Aussage wohl auch stark verändert hat
    durch diese Arbeit.

    Und – last but not least – hat Spanien jetzt eine junge Cantaora, der man
    ruhig auch mal eine Tanpura in den Schoss legen kann. Dieses indische
    Saiteninstrument, das den anderen Spielern eine Art Bordun-Grundton legt,
    zupfte Sandra Carrasco nämlich hier und da im Konzert ein wenig. Ein
    Harmonielehre-Kurs der anderen Art, aus dem sie, wie sie bekundete, mit ein
    paar neuen Inspirationen für die eigene harmonische Arbeit hervorgeht.

    Dieser Artikel wurde uns von ANDA, der Zeitschrift für Flamenco zur Verfügung
    gestellt.

    → Published on March 28, 2012

    → Last updated on October 08, 2020

    → Topics

                 Dance
                Migration
                Tradition

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