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  FNF International News
                 AUSGABE 1 / 2011

Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld
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Inhalt

                                                           Religion, Gesellschaft und Politik
                                                           im Spannungsfeld

Editorial                                                  Religion und Liberalismus            S. 3

                                                           Mittendrin statt nur dabei—Zum       S. 5
Sehr geehrte Damen und Herren,                             Umgang mit dem Islam in Europa
liebe Freunde der Friedrich-Naumann-Stiftung für
die Freiheit,                                              Religion, Gesellschaft und Politik   S. 8
                                                           in den Vereinigten Staaten von
die Religionsfreiheit gehört zu den elementaren            Amerika
Grund- und Menschenrechten und ist Voraussetzung
für Frieden und die freie Entfaltung des Einzelnen. In     Religion, Gesellschaft und Politik   S. 12
vielen Ländern dieser Erde wird dieses Freiheitsrecht      im Mittelmeerraum
heute jedoch nicht gewährt.
                                                           Religion, Gesellschaft und Politik   S. 19
Auf der anderen Seite ist eine weltweite Renaissance       im Westlichen Afrika
der Religion zu konstatieren, nicht nur in der islami-
schen Welt wird sie immer mehr zu einem politischen        Religion, Gesellschaft und Politik   S. 22
und moralischen Machtfaktor und muss teilweise so-         in Südost– und Ostasien
gar als Deckmantel für Unterdrückung und Gewalt
herhalten. In einer vernetzten und globalisierten Welt     Religion, Gesellschaft und Politik   S. 28
führt so die Koranverbrennung eines provinziellen          in Südasien
Geistlichen in den USA zu Unruhen und Toten in Af-
ghanistan.                                                 Religion, Gesellschaft und Politik   S. 32
                                                           in Lateinamerika
In dieser 1. Ausgabe der FNF International News 2011
berichten Auslandsmitarbeiter der Stiftung für die         Religion, Gesellschaft und Politik   S. 43
Freiheit über die Rolle der Religion in ihren Projektre-   in Südost– und Osteuropa
gionen und -ländern und analysieren das damit ver-
bundene Spannungsverhältnis zur jeweiligen Gesell-         Ausgewählte Publikationen            S. 54
schaft und Politik. Dazu wird aufgezeigt, wie das The-
ma auch unsere Arbeit als politische Stiftung tangiert.

Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!

Ulrich Niemann                                                             www.freiheit.org
Bereichsleiter Internationale Politik
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                                                                 Religion nach liberalen Prinzipien eigentlich unkom-
Religion und Liberalismus
                                                                 pliziert und erfordert keine gesonderte Herangehens-
                                                                 weise. Man muss lediglich die einzelnen Handlungen
                                                                 im religiösen Kontext genauso behandeln wie die
                                                                 Handlungen in anderen sozialen Kontexten auch. Die
                                                                 Meinungsfreiheit eines Pfarrers, Rabbis oder Imams ist
                                                                 nicht grundsätzlich anders zu bewerten als die eines
                                                                 Politikers, Wissenschaftlers oder jedes anderen Bür-
                                                                 gers auch. Wenn eine Religionsgemeinschaft ein
                                                                 Grundstück erwirbt und dort ein Gebäude errichten
                                                                 will, dann sollte dafür dasselbe Eigentums- und Nut-
                                                                 zungsrecht gelten wie für die Errichtung eines Miets-
                                                                 hauses, eines Museums oder eines Vereinshauses.

                                                                 Religion ist mit den Prinzipien einer liberalen Gesell-
                                  Foto: Jaden Watt/Pixelio       schaft ohne weiteres vereinbar und das selbst dann,
                                                                 wenn die vermittelten Werte der Religionsgemein-
Grundsätzlich ist es richtig, Religion nach denselben            schaft einen dogmatisch-konservativen Charakter tra-
Maßstäben zu beurteilen wie alle anderen sozialen                gen können. Eine Religionsgemeinschaft kann gemäß
Gemeinschaften und inhaltlichen Überzeugungen                    den Prinzipien des liberalen Clubprinzips beurteilt
auch. Zu diesem Zweck müssen wir vom abstrakten                  werden. Jeder Club sollte selbst entscheiden dürfen,
Begriff zum konkreten Gehalt kommen. Religion ist                wer unter welchen Umständen in diesem Club Mit-
ein abstrakter Oberbegriff für eine Vielzahl von Ein-            glied werden darf, er darf aber Niemanden am Austritt
stellungen und Handlungen. Diese konkreten Einstel-              hindern und niemanden zum Eintritt zwingen. Nicht
lungen und Handlungen müssen wir in den Blick neh-               die „Modernität― einer Religionsgemeinschaft, sondern
men, dann lösen sich viele Unklarheiten auf. Religion            die Unterscheidung zwischen Zwang und Freiwilligkeit
umfasst einen geistigen und einen materiellen Be-                ist entscheidend, ob eine Religionsgemeinschaft als
reich. Zum geistigen Bereich gehört die Theologie, da-           Organisation angesehen werden kann, die mit libera-
zu gehört der individuelle Glaube, die moralische Ein-           len Prinzipien vereinbar ist, oder nicht. Dasselbe gilt
stellungen usw. Zum materiellen Bereich gehört das               auch für die negativen Begleiterscheinungen, mit de-
Eigentum an Grund und Boden, der Bau und die Un-                 nen die Öffentlichkeit sich intensiv beschäftigt, wie
terhaltung von Kirchen, Moscheen, Synagogen, Ver-                religiös motivierte Gewalt oder der Missbrauch von
waltungsgebäude, die Organisation, die juristische               Schutzbefohlenen. Diese werden nicht von abstrakten
Körperschaft usw. Im Grund auch alles, was mit indi-             religiösen Prinzipien, sondern von konkreten Personen
viduellen, sichtbaren Handlungen zu tun hat, also                aus Fleisch und Blut begangen und die Schuldigen
auch das öffentliche Gebet, die Zeremonie, der Got-              müssen dafür entsprechend der Regelungen des Straf-
tesdienst usw.                                                   gesetzbuches zur Rechenschaft gezogen werden, ge-
                                                                 nauso wie nichtreligiöse Täter auch.
Der erste Bereich, der geistige oder spirituelle Bereich,
fällt unter die Glaubens-, Gewissens- Bekenntnis- und            Was theoretisch also einfach zu handhaben ist, wird
Meinungsfreiheit. Der zweite Bereich, der materielle             kompliziert durch die starke psychologische und poli-
Bereich fällt in den Bereich der Eigentumsrechte, der            tische Aufladung und durch die historisch bedingte
Vertragsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Freizü-          Überschneidung von Religion und Staat. In der Ausei-
gigkeit usw. Alle diese Freiheiten finden dort ihre              nandersetzung über den Stellenwert der Religion ste-
Grenzen, wo die Freiheiten anderer verletzt werden.              hen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber. Es
Diese liberalen Freiheitsrechte sind zum größten Teil            gibt diejenigen, die Religion in besonderer Form ge-
direkt im Grundgesetz verankert. Im Grunde muss man              genüber anderen Formen sozialer Gemeinschaften pri-
nur die geltenden Prinzipien auf die konkreten Fälle             vilegieren oder Privilegien aufrecht erhalten wollen
anwenden. Daher ist die theoretische Behandlung der              und diejenigen, die sie in besonderer Form schlechter

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stellen wollen. Zu letzteren gehören etwa militante            Moscheen und Minaretten schützen. Toleranz ist kei-
Atheisten, die grundsätzlich den Glauben an Gott ab-           ne Frage der Sympathie. Echte Toleranz beginnt sogar
lehnen, weil sie diesen für naturwissenschaftlich nicht        erst dann, wenn man das Existenzrecht einer Haltung
begründbar und für denn allgemeinen Frieden und                oder eines Lebensstils anerkennt, denen man selber
Fortschritt für schädlich halten. Die Ablehnung geht           innerlich mit Distanz oder Ablehnung gegenübersteht.
bei einigen soweit, dass sie das Recht gläubiger Eltern,       Diese Anerkennung reicht selbstverständlich nur so-
ihre Kinder religiös zu erziehen, bestreiten. Zu dieser        weit, als dass durch diese Haltung oder Lebensstil kei-
Gruppe gehören als Sonderform auch diejenigen, die             ne Grundrechte verletzt werden.
vielleicht nicht in Religion allgemein, aber in be-
stimmten Religionen – etwa dem Islam – eine Bedro-
hung erblicken und deshalb die durch das Grundgesetz
garantierten Entfaltungsmöglichkeiten – wie etwa den
Bau von Gotteshäusern - ablehnen. Von den militan-
ten Religionskritikern wird oft auf den 11. September,
den Dschihad, die Kreuzzüge und Gewalt legitimieren-
de Passagen in den heiligen Schriften verwiesen.

Es ist wahr, dass Religion in der Geschichte und auch
heute in der Weltpolitik immer wieder zur Rechtferti-
gung extremer Gewalt verwendet wurde. Der einzelne
Gläubige ist aber weder dafür verantwortlich zu ma-
chen, was Jahrzehnte oder Jahrhunderte vor seiner
Zeit getan wurde, noch dafür was andere heute im
Namen seiner Religion tun. Auch die Nichtbelegbar-
keit religiöser Überzeugungen und vermeintliche oder
tatsächliche Fehlinterpretationen der religiösen Über-
lieferung tangiert das Recht, ihnen anzuhängen, nicht.
Die Meinungsfreiheit schützt nicht nur Meinungen,              Symbole der weltweit größten Religionsgemeinschaften:
die naturwissenschaftlich oder historisch belegt sind.         Christentum, Judentum, Hinduismus, Islam, Buddhismus, Shinto,
Selbst „falsche― Meinungen fallen unter die Mei-               Sikhismus, Bahai, Jainismus (Bild: Rursus/Wikipedia)
nungsfreiheit. So sind selbst fundamentalistische
Glaubensüberzeugungen - soweit es sich einfach um              Auf der anderen Seite dieses ideologischen Graben-
eine subjektive Weltsicht und nicht um politischen             kampfes wird die Besonderheit der Religion als Legiti-
Extremismus handelt - nicht grundsätzlich unverein-            mierung bestimmter Sonderrechte wie staatlichen Re-
bar mit der Ordnung einer freien Gesellschaft. Die ent-        ligionsunterricht, Kirchensteuern, politischen Konfe-
scheidende Frage aus der Perspektive des liberalen             renzen, Besetzung von Rundfunkräten usw. herange-
Rechtsstaates ist nicht die, ob ein Gläubiger progressi-       zogen. Die einen sehen dies als Vorrecht der christli-
ve oder orthodoxe Ansichten vertritt oder nicht, son-          chen Kirchen an, andere wollen in Zukunft auch den
dern ob er sich an das Gesetz hält oder nicht.                 Islam in diese etablierten Sonderrechte mit einbezie-
                                                               hen. Wenn Liberale darauf verweisen, dass Religion
Die Medaille hat allerdings auch eine andere Seite:            Privatsache sein sollte, dann wird dies von den Amts-
Das Recht auf Religionskritik – auch in harscher und           kirchen und vielen Gläubigen oft als Abwertung ihrer
polemischer Form – ist selbstverständlich genauso              Glaubensinhalte wahrgenommen. Die Religion solle
durch die Meinungsfreiheit geschützt, wie der Aus-             aus der Gesellschaft verdrängt werden, so der Vorwurf
druck religiöser Gefühle. Zum Beispiel ist das Anferti-        gegenüber dem Liberalismus. Dieser Vorwurf übersieht
gen und Veröffentlichen von Karikaturen des Prophe-            aber, dass für den Liberalen das „Private― alles andere
ten Mohammed, wie sie etwa von dänischen Zeitun-               als eine sekundäre Sphäre bezeichnet oder eine Ni-
gen veröffentlicht wurden, durch dieselben Grund-              schenexistenz. Vielmehr glauben Liberale daran, dass
rechte gedeckt, die auch das Recht auf den Bau von             private Organisationen den staatlichen in vielen Berei-

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chen und in vielerlei Hinsicht überlegen sind. Da
„Privatisierung― ganz allgemein von den meisten Libe-             Mittendrin statt nur dabei
ralen grundsätzlich positiv bewertet wird, bedeutet               Zum Umgang mit dem Islam in Europa
die Privatisierung des Glaubens alles andere als eine
Abwertung.

Die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kir-
che und nach einem säkularen Staat ist nicht iden-
tisch mit dem Ziel einer säkularen, religionsfernen Ge-
sellschaft. Ein säkularer Staat ist mit einer tief religiö-
sen Gesellschaft durchaus vereinbar, wie das Beispiel
der USA zeigt. Die USA sind eines der wenigen Länder,
in dem das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche
durch die Verfassung garantiert und weitgehend
durchgesetzt wird. Dennoch sind die Zahl der prakti-                                                Bild: Gerd Altmann/Pixelio.de
zierenden Christen und die Bedeutung der Religion für
die Gesellschaft unbestreitbar größer als etwa in der             Seit den Anschlägen vom 11. September hat sich die
Bundesrepublik, die diese klare Trennung nicht kennt.             westliche Welt in eine hoch emotionale Islam-Debatte
Beides könnte durchaus miteinander zusammenhän-                   gestürzt, die zunehmend undifferenziert wird. Sämtli-
gen. Dass eine Kirchenorganisation, die auf privaten              che Reizthemen, die in irgendeiner Form in Zusam-
Spenden und Mitgliedsbeiträgen beruht und daher auf               menhang mit dem Islam stehen, werden unreflektiert
die Identifikation der Gläubigen mit ihrer Kirche ange-           in einen Topf geworfen und umgerührt. Da ist beim
wiesen ist, ein stärkeres Band zu ihren Gläubigen un-             ersten Umrühren die Rede von Parallelgesellschaften
terhält als eine Kirche, die von staatlichen Zuschüssen,          und Ehrenmorden, beim zweiten von Terrorismus und
Privilegien und Steuern abhängig ist, erscheint ohne              Moscheebau, und beim dritten von der Revolution in
weiteres einsichtig. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass          Ägypten und dem EU-Beitritt der Türkei. Das Gefühl
auch in Deutschland der religiöse Pegel nach einer                der Angst ist in dieser Diskussion mal unterschwellig,
konsequenten Trennung von Staat und Kirche eher                   mal dominant, aber es schwingt stets mit. Diese Angst
wieder steigen würde als sinken.                                  wird nach Kräften geschürt von Rechtspopulisten, die
                                                                  vor „Islamisierung― warnen und unsere Gesellschaften
                                                                  durch die Infiltrierung mit „anti-westlichem― Gedan-
                                                                  kengut bedroht sehen. Diese Stoßrichtung gegen Mus-
                                                                  lime eint in Europa das Mouvement pour la France,
                                                                  die italienische Lega Nord und die dänische Dansk Fol-
                                                                  keparti. Diese rechtspopulistischen Parteien sind nicht
                                                                  nur im nationalen Kontext vergleichsweise erfolgreich,
                                                                  sie sind auch im Europäischen Parlament in Brüssel
                                                                  vertreten. Dort gehören sie der euroskeptischen Frak-
                                                                  tion an, die – im Grunde irreführend – „Europa der
                                                                  Freiheit und der Demokratie― heißt. Eric Gujer hat in
                                                                  einem kürzlich in der NZZ erschienenen Artikel auf
Dr. Gérard Bökenkamp                                              Anspruch und Wirklichkeit eines sich als pluralistisch
Referent Liberales Institut                                       verstehenden Europas hingewiesen: „Von Überfrem-
gerard.boekenkamp@freiheit.org                                    dungsängsten geplagte Europäer glauben, die Vorstel-
                                                                  lungen von Pluralismus seien mit anderen Kulturen
                                                                  inkompatibel.―1 Leider beschränkt sich das Phänomen

                                                                  1
                                                                   Gujer, Eric: Der Wert der Freiheit, Neue Zürcher Zeitung vom
                                                                  5./6. März 2011.

                                                              5
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    Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

Islamfeindlichkeit nicht auf den rechten Rand. In                    vielen EU-Staaten präsenter als noch vor einigen Jahr-
Deutschland und Ungarn, Großbritannien und Polen                     zehnten. Sie prägen so manches Stadtbild mit und
finden sich auch in der Mitte des politischen Spekt-                 reflektieren in der Regel ein verzerrtes Bild ihrer Her-
rums Politiker, die sorgenvoll vor der „Überfremdung―                kunftsgesellschaften. Die im März erschienene Studie
durch Muslime warnen und pathosgeschwängert die                      der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Abwertung der An-
Rückbesinnung auf christliche Wurzeln und Werte                      deren― stellt fest, dass in etlichen europäischen Län-
fordern. So mancher Parteitag in Bayern erscheint wie                dern die Tendenz besteht, Einwanderer mit Muslimen
eine Fallstudie für Samuel Huntingtons Clash of Ci-                  nahezu gleichzusetzen und umgekehrt alle Muslime
vilizations.                                                         als Einwanderer wahrzunehmen, ungeachtet ihrer
                                                                     Staatszugehörigkeit oder ihres Geburtsortes. Ähnlich
                                                                     wie Juden würden auch Muslime häufig nicht als in-
Von Islamisierung kann keine Rede sein                               tegraler Bestandteil der einheimischen Mehrheitsge-
                                                                     sellschaft betrachtet, sondern als „Fremde―. Die Studie
Fakt ist: Von einer Islamisierung Europas kann keine                 untersucht, inwiefern islamfeindliche Aussagen in
Rede sein. Eine aktuelle Studie des Pew Research                     ausgewählten EU-Staaten auf Zustimmung stoßen
Centre on Religious and Public Life2 liefert dazu einige             (siehe Grafik). Die Ergebnisse lassen auf einen erschre-
aufschlussreiche Zahlen. Die muslimische Bevölkerung                 ckend fruchtbaren Boden für Rechtspopulisten schlie-
wird – global gesehen – in den nächsten Jahren wei-                  ßen. Die europäischen Befragten, so heißt es in der
ter anwachsen. Während derzeit circa 1,6 Milliarden                  Auswertung, seien sich in ihrer Ablehnung von Musli-
Menschen weltweit dem Islam angehören, werden es                     men und des Islams weitgehend einig. Die Dimension
in zwei Jahrzehnten etwa 2,2 Milliarden sein. Dies                   islamfeindlicher Haltungen in Deutschland, Italien,
scheint auf den ersten Blick ein enormer Anstieg. Die-               Ungarn und Polen sei ähnlich stark ausgeprägt und
ser Eindruck relativiert sich, wenn man sich vergegen-               signifikant am höchsten. Nur geringfügig weniger is-
wärtigt, dass auch die Weltbevölkerung als solche                    lamfeindlich seien die Befragten in Frankreich und
weiterhin anwachsen wird. Dabei wird die Zahl der                    Großbritannien.3
Muslime deutlich langsamer ansteigen, als dies noch
in den vergangenen Jahren der Fall war. Dies liegt vor
allem an den immer niedrigeren Geburtenraten bei
stetig älter werdender Bevölkerung und verbesserten
Bildungschancen für Frauen. Das Christentum wird
also laut den derzeit vorliegenden Prognosen auch in
Zukunft die größte Religionsgemeinschaft der Welt
bleiben. Auf europäischem Boden wird die Zahl der
Muslime ebenfalls absolut ansteigen. Relativ gesehen
bleibt aber der Anteil der Muslime in etwa gleich. Er
liegt derzeit bei etwa 2,7 % der europäischen Bevöl-
kerung.                                                              Ausgrenzende Rhetorik

                                                                     In Deutschland spiegeln sich diese Einstellungen in
Islamphobie in Europa                                                einer politischen Rhetorik, die bizarrerweise biologi-
                                                                     sche Bezüge bemüht. Der Islam sei nicht Teil unserer
In der gesellschaftlichen Wahrnehmung nehmen Mus-                    „historisch-religiösen DNA―, so Matthias Matussek auf
lime einen weitaus größeren Stellenwert ein. Dies hat                3
mit der medialen Aufmerksamkeit zu tun, die dem Is-                   Zick, Andreas u.a. 2011: Die Abwertung des Anderen. Eine eu-
                                                                     ropäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und
lam als religiösem und politischem Phänomen zuteil                   Diskriminierung. Friedrich-Ebert-Stiftung, S.46f und 69 ff.
wird. Darüber hinaus sind muslimische Einwanderer in                 4
                                                                      Matussek, Matthias 2011: Warum der Minister recht hat, er-
2                                                                    schienen auf Spiegel Online am 6.3.2011 und abrufbar über
 The Pew Forum on Religion and Public Life 2011. The Future of       http://www.spiegel.de/politik/
the Global Muslim Population. Projections for 2010-2030.             deutschland/0,1518,749307,00.html.

                                                                 6
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                                                                      Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

Spiegel Online4, es ließe sich „auch aus der Historie―
nirgends belegen, dass der Islam zu Deutschland ge-
höre, so Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich.5
Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, ist
ebenso müßig wie das Beschwören des vermeintlich
jüdisch-christlichen Erbes Europas. Der Islam ist kei-
neswegs ein neues, nur durch Arbeitsmigration ent-
standenes Phänomen. Seit Jahrhunderten schreibt der
Islam europäische Geschichte mit. Es ist schlicht nicht
wegzudiskutieren, dass Muslime in Europa ihre kultu-
rellen Spuren hinterlassen haben und dies auch wei-
terhin tun werden. Diskursbeiträge, die dies negieren,
um die Saite eines nationalen oder europäischen Wir-                Verschiedene Migrationshintergründe, Brüssel im Europaviertel
Gefühls zum Klingen zu bringen, sind überflüssig. Sie               (Foto: Karin Madeker)
schaffen Kulturkampfstimmung und schließen aus, wo
es zu integrieren gilt. Leider bleibt es in Europa nicht            Euro-Islam oder Europäischer Islam?
bei ausgrenzender Rhetorik. Die Schweizer haben sich
in einer Volksabstimmung gegen den Bau von Mina-                    Ob der Begriff des Euro-Islam in der Integrationsde-
retten ausgesprochen. Die französische Nationalver-                 batte hilfreich sein wird, ist noch nicht abzusehen. Zu
sammlung hat im letzten Jahr ein Gesetz beschlossen,                diesem Konzept streiten derzeit der Politikwissen-
das das Tragen der Burka landesweit verbietet. Die                  schaftler Bassam Tibi und der Islamwissenschaftler
grande nation folgt damit Entscheidungen in Belgien                 Tariq Ramadan um die Deutungshoheit. Im Kern geht
und Spanien, die die Ganzkörperverschleierung in der                es um die Frage, wie ein Islam aussehen könnte, der in
Öffentlichkeit untersagen. Solche Gesetzesinitiativen               Europa Fuß fasst. Tibi („Europa ohne Identität. Leitkul-
senden fatale Signale an die muslimische Welt. „Wir                 tur oder Wertebeliebigkeit?―) spricht dabei von einer
wollen Euch nicht―, lautet die schmerzliche Botschaft,              Vision, die noch nicht Realität geworden ist. Sein Euro
die jegliche Integrationsbemühung bereits in den An-                -Islam erfordert einen Prozess der kulturellen Anpas-
fängen erstickt. In Europa leben derzeit zwischen 15                sung und religiöse Reformen, um die Religion gewis-
und 20 Millionen Muslime. Die Integration dieser Mit-               sermaßen „kompatibel― mit den universalen Normen
bürger wird eine der größten Herausforderungen der                  Europas zu machen. Ein Muslim könne Europäer wer-
Politik bleiben. Um den oben beschriebenen islamo-                  den, indem er europäische Werte übernehme, dabei
phoben Tendenzen entgegenzuwirken, wird es ent-                     könne er selbstverständlich Muslim bleiben. Das klingt
scheidend sein, den gemeinsamen Wertekonsens klar                   vernünftig. Demgegenüber ist Ramadans Begriff des
und unmissverständlich zu kommunizieren, ohne da-                   europäischen Islams, von dem sich Tibi ausdrücklich
bei auf religiös-kulturelle Ausschlussformeln zurück-               distanziert, mit Vorsicht zu genießen. In seinem Buch
zugreifen. Integrationskonzepte, die sich zugunsten                 „To Be A European Muslim― beschreibt der Islamwis-
eines Miteinanders von religiösen Begründungen lö-                  senschaftler die Ausgestaltung einer muslimischen
sen, können alle Religionen als Bereicherung einer                  kulturellen Identität, die es durch Partizipation in die
pluralistischen Gesellschaft willkommen heißen. Und                 Gesellschaft einzubringen gilt. Dabei fordert Ramadan
nur dann sind Muslime mittendrin, statt nur dabei.                  im Grunde, dass sich Europa dem Islam anpassen soll,
                                                                    und nicht umgekehrt. Die Vorstellung eines säkularen
                                                                    Europas lehnt er ab und versteht Multikulturalismus
                                                                    als paralleles Existieren mehrerer Wertesysteme. Ra-
                                                                    madan, der übrigens der Enkel des Gründers der Mus-
                                                                    limbruderschaft Hassan al-Banna ist und dessen Sohn
5
 Vitzthum, Thomas 2011: Innenminister – Islam gehört nicht zu       das Internat von Yusuf Islam (ehemals Cat Stevens)
Deutschland, erschienen auf Welt Online am 3.März 2011 und
                                                                    besucht, wird daher zunehmend kritisch rezipiert.
abrufbar über http://www.welt.de/politik/deutschland/
article12691814/Innenminister-Islam-gehoert-nicht-zu-               Necla Kelek, die letztes Jahr mit dem Freiheitspreis der
Deutschland.html.                                                   Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ausge-

                                                                7
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    Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

zeichnet wurde, beschreibt Ramadan als doppelzüngi-                   Aktualisierung oder Neuformulierung von nationalen
gen Intellektuellen: „Ramadan versucht gleichzeitig,                  Integrationsleitbildern liefern die europäischen Vorga-
die vom Koran und Sunna bestimmte islamische Le-                      ben eine hervorragende Grundlage.
bensweise in den muslimischen Ländern mit den
Rechten von Bürgern, einer säkularen Demokratie, die                  Dr. Ellen Madeker
die Freiheit von Religion einschließen, als gleichbe-                 Leiterin Programme
deutend darzustellen. Er relativiert so die universalen               Dialogprogramm Brüssel (DPB)
Menschenrechte gleich mit. […] Er ist, wie seine
                                                                      ellen.madeker@fnst.org
Schriften belegen, gegen die Aufklärung und die Tren-
nung von Staat und Religion. Er redet von Reform, will
aber nur, dass der Westen sich dem Islam anpasst.―6

                                                                      Religion, Gesellschaft und Politik in den
Säkulares Europa                                                      Vereinigten Staaten von Amerika
Das integrationspolitische Leitbild der Europäischen
Union leitet sich aus dem seit Dezember 2009 gelten-
den Vertrag von Lissabon ab. Nach zähem Ringen und
gegen den Druck der Kirchen hatte man sich für eine
säkulare Fassung der Präambel entschieden. Es wurde
weder ein ausdrücklicher Gottesbezug, noch ein Ver-
weis auf christlich-jüdische Traditionen aufgenom-
men. Wörtlich heißt es in der Vertragseinleitung, die
EU „schöpfe aus dem kulturellen, religiösen und hu-
manistischen Erbe Europas, aus dem sich die unver-
letzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen
sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechts-
staatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben―.
Diese integrative, liberale Formel erlaubt keine Ab-
grenzung gegenüber einem sprachlich, kulturell oder                                                Foto: Daniel Hannes/Pixelio.de
religiös anders gearteten „Fremden―. Sie ist daher eine
entscheidende Voraussetzung für die künftige Integra-                 Der transatlantische Dialog wird oftmals kompliziert
tion von Glaubensgemeinschaften. Der europäische                      durch ein Miss- oder Unverständnis des gesellschaftli-
Integrationsmodus ist ein universaler: Jeder, der sich                chen Umfeldes, in dem aktuelle Politik gemacht und
zum europäischen Wertesystem bekennt und dieses                       Wahlen entschieden werden. Einer der Unterschiede,
lebt, kann Teil der Gemeinschaft werden kann, unab-                   die die transatlantische Diskussion verkomplizieren,
hängig seiner Herkunft, Religion oder Kultur. Dabei                   liegt im Stellenwert der Religion in Gesellschaft und
steht die EU für Religionsfreiheit und das Verbot von                 Politik in den USA und in Deutschland. Wie grundsätz-
Diskriminierung aus religiösen Gründen. Da die In-                    lich verschieden diese Rolle in den beiden Ländern ist,
tegration von Migranten im Allgemeinen und Musli-                     macht die Antwort auf die Frage „spielt Religion in
men im Besonderen überwiegend in nationaler Ver-                      ihrem Leben eine wichtige Rolle?―, deutlich. In den
antwortung liegt, wird sich künftig auf Ebene der Mit-                USA geben 60% der Befragten an, dass Religion eine
gliedstaaten entscheiden, wo der integrationspoliti-                  wichtige Rolle in ihrem Leben spielt, in Deutschland
sche Kurs hinführt. Dieser ist wiederum abhängig vom                  sagen das nur ein Fünftel der Befragten.
jeweiligen Verhältnis von Religion und Staat. Für die
6                                                                     Heutzutage ist das Verhältnis von Kirche bzw. Religion
 Kelek, Necla 2007: Kein Fortschritt, keine Freiheit, Essay er-
schienen auf: http://www.perlentaucher.de/artikel/4360.html,
                                                                      und Staat zwar sowohl in Deutschland als auch in den
abgerufen am 7.April 2011.                                            USA de jure säkular, der tagtägliche Umgang mit der
                                                                      Religion und ihre Auslegung sind hingegen aber
                                                                  8
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                                                                   Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

grundsätzlich verschieden.                                       Von „Amish“ bis „Zoroastrismus“               -   religiöse
                                                                 (Meinungs-)Vielfalt in den USA

Religionsfreiheit in den USA - das Vermächtnis der               85% der Bevölkerung bekennen sich zwar zum christ-
„Founding Fathers“                                               lichen Glauben, Abspaltungen des Christentums resul-
                                                                 tierten jedoch in einer großen Anzahl von Kirchen, die
                                  Die größere Bedeutung          es so in Europa und Deutschland nicht gibt.
                                  von Religion in den
                                  USA hat starke histori-        Historisch haben die USA immer wieder Phasen der
                                  sche Wurzeln. Die ers-         Diskriminierung einzelner religiöser Gruppen erlebt.
                                  ten Siedler immigrier-         Hier sind vor allem die Diffamierung von Juden und
                                  ten in die Vereinigten         Katholiken im letzten Jahrhundert zu erwähnen. Eine
                                  Staaten, um der religi-        neue Dimension der Diskriminierung gegenüber dem
                                  ösen Intoleranz und            Islam wurde durch die Terroranschläge vom 11. Sep-
                                  Verfolgung durch die           tember ausgelöst. Dies spiegelt sich in den wachsen-
                                  Herrschenden in Euro-          den Spannungen in der öffentlichen Debatte zur Rolle
                                  pa zu entkommen. Die-          des Islam in der amerikanischen Gesellschaft wieder.
                                  se Glaubensflüchtlinge         Die Religiosität der Amerikaner ist, trotz Fällen von
                                  wollten in der Lage            Diskriminierung gegenüber religiösen Minderheiten,
                                  sein, ihren Glauben frei       schon immer ein stark verbindendes Element der In-
                                  zu wählen und ausü-            tegration von neuen Zuwanderern in die amerikani-
                                  ben zu können. Deswe-          sche Gesellschaft gewesen.
Das „First Amendment― an der Fas- gen war es wichtig,
sade des Newseums in Washing-     dass ein Schutz vor
ton, DC (Foto: mr._mayer/Flickr)
                                  Eingriffen des Staates
in ihre Religionsausübung gewährleistet war.

Dieses Recht auf freie Religionsausübung wurde in
Form des 1. Verfassungszusatzes als „First Amend-
ment― bereits am 15. Dezember 1791 der Verfassung
von 1776 hinzugefügt: „Congress shall make no law
respecting an establishment of religion, or prohibiting
the free exercise thereof […]"

Auf diese historischen Wurzeln lässt sich auch zurück-
führen, warum die Vereinigten Staaten in religiöser
Hinsicht viel pluralistischer sind als beispielsweise
Deutschland. Seit der Gründung der USA existiert eine
                                                                 Der zweifelhafte Nachwuchs der Westboro Baptist Church
Vielfalt religiöser Ansichten nebeneinander. Von An-             (Foto: yskin/Flickr)
beginn war klar, dass es keine „Staatsreligion― geben
würde. In den USA darf keine Religion bevorzugt be-              Das Verständnis von amerikanischer Religionsfreiheit
handelt werden. Aus diesem Grund gibt es keine                   verursacht auf deutscher Seite oft Unverständnis,
staatlichen Feiertage aufgrund eines religiösen Hin-             denn der amerikanische Staat hat kein Recht, zwi-
tergrundes nach europäischem Verständnis, noch sind              schen „seriösen― und „unseriösen― Religionen zu un-
Sonntage geschützt. Auch die Vorstellung einer – vom             terscheiden. Aufgrund dessen genießen in den USA
Staat eingezogenen – Kirchensteuer wie in Deutsch-               Sekten und religiöse Gruppierungen, wie beispielswei-
land wäre in den USA undenkbar. So finanzieren sich              se die Scientology Kirche oder die Westboro Baptist
alle Kirchen in den USA durch die Beiträge und Spen-             Church, die vor allem für ihre extremen öffentlichen
den ihrer Anhänger.                                              Anti-Homosexualität-Proteste bekannt ist, den selben

                                                             9
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Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

rechtlichen Status wie die großen Weltreligionen. Dies           bung Mitte der Siebziger Jahre durch den Obersten
wird in den USA hingenommen, trifft jedoch außer-                Gerichtshof katapultierte dieses Thema ins Zentrum
halb des Landes oftmals auf Unverständnis.                       der Wahlentscheidungen von konservativen Wählern.
                                                                 Diese fühlten sich auch zu diesem Zeitpunkt nicht von
                                                                 der „Republican Party― repräsentiert und organisierten
                                                                 sich in der „moral majority―. Diese Initiative propa-
                                                                 gierte religiöse Vorstellungen in der Politik, mit dem
                                                                 Ziel, christliche Werte in Amerika wiederherzustellen.
                                                                 Die Wurzeln dieser politischen Bewegung lagen im
                                                                 „Bible Belt―, den süd- und südwestlich liegenden Bun-
                                                                 desländern, deren Kultur sehr stark vom konservativen,
                                                                 evangelikalen Protestantismus geprägt ist und wo die
                                                                 Anzahl der Kirchgänger signifikant höher ist als in an-
                                                                 deren Regionen der USA.

                                                                 Ronald Reagan gelang es im Präsidentschaftswahl-
Plakatwand der Anti-Abtreibungskampagne in Rodemer,              kampf 1980, diese christlich-konservativen Wähler
Kentucky (Foto: Chris1051/Flickr)
                                                                 hinter sich zu vereinen und seitdem spielt diese Wäh-
                                                                 lergruppe eine wichtige und entscheidende Rolle in
In Deutschland wird Religion als Privatsache gesehen,            der „Republican Party―. Wie groß ihr Einfluss ist zeigt,
die die Politik nicht beeinflussen sollte. Zudem                 dass es in absehbarer Zeit keinen Präsidentschaftskan-
herrscht in Europa die Ansicht vor, dass der Staat vor           didaten oder Vizepräsidentschaftskandidaten bei den
der Religion geschützt werden muss. In Amerika hin-              „Republicans― geben wird, der ein Abtreibungsbefür-
gegen ist das säkulare Verhältnis zwischen Staat und             worter ist. Ein weiteres Thema, das die religiöse Rech-
Religion nicht mit einer Trennung von Religion und               te gerade im letzten Jahrzehnt politisch mobilisiert
öffentlichem Leben gleichzusetzen. Beispiel hierfür ist          hat, ist ihre Opposition zur gleichgeschlechtlichen
u.a. der Satz „in God we trust― auf allen Dollar Schei-          Ehe. Dieses Thema hat mittlerweile den gleichen Stel-
nen oder der morgendliche „Pledge of Allegiance― in              lenwert für diese Wählergruppe wie die Abtreibungs-
Schulen, mit dem sowohl Gott wie auch der Nation                 frage.
Loyalität geschworen wird. Für jeden deutschen Besu-
cher ist es befremdlich, wenn vor fast jeder politi-
schen oder sportlichen Veranstaltung ein Gebet ge-
sprochen wird. Diese Erfahrung machte auch der ehe-
malige Bundesjustizminister Otto Schily. Bei einer ge-
meinsamen Veranstaltung mit seinem amerikanischen
Amtskollegen John Ashcroft rief dieser zunächst ein-
mal zum Gebet auf und Schily blickte, während das
Publikum brav die Köpfe senkte, etwas ungläubig                  John F. Kennedy, 35. Präsident der Vereinigten Staaten und Ka-
drein.                                                           tholik (Bild: Chris D 2006/Flickr)

Religion als Machtfaktor im politischen Alltag                   Kontrovers ist auch in vereinzelten Bundesländern der
                                                                 offensichtliche Einfluss mancher religiöser Gruppen
Diese große Bedeutung von Religion im persönlichen               auf die Bildungspolitik. Dort werden anstatt der Evo-
Umfeld hatte in der Geschichte der USA immer auch                lutionstheorie Variationen der biblischen Kreationis-
einen großen Einfluss auf die Politik. Bis in die achtzi-        mustheorie unterrichtet. Hier hat es aber in den letz-
ger Jahre standen die polarisierenden Themen der                 ten Jahren eine Gegenbewegung gegeben und viele
―christlichen Konservativen― nicht im Vordergrund der            dieser Entscheidungen wurden wieder rückgängig ge-
politischen Debatte. Erst die Legalisierung der Abtrei-          macht.

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Wie bereits erläutert, gibt es im Selbstverständnis der             Initiativen der Stiftung im Transatlantischen Dialog
USA keine Staatskirche, dennoch ist festzustellen, dass             der Religionen - Promoting Tolerance
die US-amerikanische Politik sehr stark von der angel-
sächsisch-christlichen Tradition beeinflusst wurde und              Seit 1992 führt das Transatlantische Dialogprogramm
immer noch wird. Dies zeigt sich auch bei der Wahl                  zusammen mit dem American Jewish Council und dem
ins höchste politische Amt der USA, denn mit der Aus-               Regionalbüro Mittel-, Südost- und Osteuropa, Süd-
nahme von John F. Kennedy, dem ersten und einzigen                  kaukasus und Zentralasien das Programm „Promoting
Katholiken im Weißen Haus, waren bisher alle Präsi-                 Tolerance― durch. Die wichtigsten Projektziele sind die
denten der USA Protestanten.                                        Förderung eines Klimas des Respekts und des Pluralis-
                                                                    mus; die Verbesserung der Rechte von religiösen und
Auch ist der politische Alltag viel stärker als in Europa           ethnischen Minderheiten; der Austausch von „best
von religiöser Rhetorik geprägt. Auffallend ist, dass die           practices― multikultureller Gesellschaften; sowie die
meisten Präsidenten der USA—Republikaner, aber                      Förderung von Toleranz durch die Stärkung der Zivil-
auch Demokraten—sich häufig religiösem Vokabular                    gesellschaft.
bedienen, um die US-Bürger hinter ihrer Außenpolitik
zu vereinen.
                                                                    Bibliographie:

                                                                    Verclas, Kirsten, Religion and it‘s Impact on Foreign
                                                                    Policy in the United States and Germany. AICGS Issue
                                                                    Brief. February 2008.

                                                                    Voigt, Karsten D., Deutschland-USA: Religion und Po-
                                                                    litik in einer sich verändernden Partnerschaft. 2004.

                                                                    Wallis, Jim, God‘s Politics: Why the Right gets it
                                                                    wrong and the Left doesn‘t get it. A New Vision for
                                                                    Faith and Politics in America. Harper San Francisco.
                                                                    2005.
                Foto: Arvind Balaraman/FreeDigitalPhotos.net

Dies hat in der Vergangenheit oft zu Missverständnis-               Claus Gramckow
sen oder Unverständnis in der restlichen Welt geführt.              Repräsentant USA und Kanada
Die Begriffe wie „Evil Empire― oder „Axis of Evil― haben            Transatlantisches Dialogprogramm
zwar innenpolitisch Resonanz gefunden, aber die au-                 claus.gramckow@fnst.org
ßenpolitischen Positionen der USA nicht gestärkt. Vie-
le außenpolitische Entscheidungen wurden von dem
Glauben geleitet, dass Amerika die „chosen nation―
sei, dass die USA der Welt zum Besseren verhelfen
können (Sendungsbewusstsein), und dass diese
„Mission― der USA einen Kampf zwischen Gut und Bö-
se darstelle.

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Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

              Religion, Gesellschaft und Politik im Mittelmeerraum
                                                               tikel zur Religionsfreiheit; doch religiöse Minderheiten
Ägypten: Neue Religionspolitik nach der                        – vor allem die Christen, Bahais und die kleine Gruppe
Revolution?                                                    von Schiiten – klagen gemeinsam mit Menschen-
                                                               rechtsgruppen über mannigfache religiöse Diskrimi-
                                                               nierungen. Die Benachteiligungen haben durchaus
                                                               amtlichen Charakter und reichen von einem systema-
                                                               tischen Ausschluss von hohen Staats- und Regie-
                                                               rungsämtern bis zu Behinderungen beim Bau von Got-
                                                               teshäusern. Im Zuge einer gesellschaftlichen Islamisie-
                                                               rung, die in den zurückliegenden drei Jahrzehnten das
                                                               äußere Bild Ägyptens nachhaltig verändert hat, ver-
                                                               schärfte sich die soziale Isolierung der Christenge-
                                                               meinde. Hinzu kommt eine Zunahme der teilweise ter-
                                                               roristischen Gewalt gegen Angehörige der Minderheit,
                                                               deren trauriger Höhepunkt der Anschlag gegen die
                                                               „Kirche der Heiligen― in Alexandrien in der Silvester-
                                                               nacht war, dem 24 Menschen zum Opfer fielen. An-
                                                               schläge und Überfälle gegen Kopten haben in den zu-
                                                               rückliegenden Jahren zugenommen. Die Gewalt hat
(Kairo) Die Revolution hat das politische Leben in             die Minderheit in Angst und Schrecken versetzt, viele
Ägypten auf den Kopf gestellt: Heute ist alles anders          Kopten sitzen auf gepackten Koffern und wollen das
als gestern: Nicht nur haben die Menschen in einem             Land verlassen.
beispiellosen Aufstand das verhasste Regime aus dem
Amt gejagt; gleichzeitig entstanden neue Freiräume,            Die Revolution hat eine neue Situation geschaffen.
werden althergebrachte Tabus über Bord geworfen. Zu            Obwohl die Amtskirche unter der Führung von Pabst
einem solchen Tabu zählte lange die öffentliche Dis-           Schenouda stets ein enger Verbündeter des Mubarak-
kussion inter-religiöser Beziehungen. Religiös deter-          Regimes war, haben sich viele junge Kopten der Revo-
minierte Diskriminierung zu thematisieren, war eine            lution angeschlossen – und einige haben ihren Mut
„rote Linie―, auf deren Einhaltung die Herrscher mit           mit dem Leben bezahlt. Eine neue Generation kopti-
Argusaugen achteten.                                           scher Christen verlangt nun – im Schulterschluss mit
                                                               liberalen und säkularen Kräften – das Ende der Diskri-
Laut Artikel 2 der Verfassung ist Ägypten ein islami-          minierung und einen radikalen Wandel in der Religi-
scher Staat, die Sharia Hauptquelle der Gesetzgebung.          onspolitik. Im Mittelpunkt der Diskussionen, die auf
Dieser illiberale Artikel wird seit jeher von Ägyptens         allen Kanälen und Foren entbrannt sind, steht Artikel
kopfstarker christlicher Minderheit – und allen säkular        2 der alten Verfassung. Auf der einen Seite stehen die
eingestellten Menschen – als in hohem Maße diskri-             säkularen Kräfte – und hier namhaft die liberalen Par-
minierend empfunden. Auf sechs bis acht Millionen              teien und Bürgerorganisationen sowie progressive
werden Ägyptens Christen – überwiegend orthodoxe               Kopten – auf der anderen Seite die Islamisten. Die
Kopten – geschätzt. Sie machen rund zehn Prozent               größte und bekannteste islamistische Kraft sind die
der Bevölkerung des volkreichsten arabischen Landes            Muslimbrüder. Im islamistischen Lager gibt es Diffe-
aus und sind – absolut gesehen – die größte christli-          renzierungen, eine Zersplitterung wird erkennbar: Ra-
che Volksgruppe in der Region. Die koptische Kirche            dikaler noch als die Muslimbrüder sind die Salafisten,
geht auf den Heiligen Markus zurück und ist eine der           die unter dem Einfluss der saudiarabischen Wahabiten
ältesten christlichen Kirchen überhaupt.                       stehen und kompromisslos die Einführung und An-
                                                               wendung der Sharia verlangen.
Zwar enthält Ägyptens geltende Verfassung einen Ar-

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                                                                 Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

Religion ist für alle Ägypter ein sehr wichtiges Thema,        nicht-jüdischer Religionsgemeinschaften wird mit ad-
ja zentraler Lebensinhalt. Hier sind Kopten und Musli-         ministrativen Mitteln unterbunden.
me mehrheitlich einer Meinung. Im schlimmsten Fall
werden die konfessionellen Spannungen in Ägypten
zunehmen und zu neuer Gewalt führen. Im besten
Fall besinnen sich die Menschen auf die viel beschwo-
rene religiöse Harmonie, die über weite Strecken der
Geschichte das Verhältnis zwischen den Religionsge-
meinschaften am Nil geprägt hat.

Israel/Palästina: Religiöse Rückbesinnung im
Heiligen Land

(Jerusalem) Für das ―Heilige Land‖, die Ursprungsstät-
te der drei großen monotheistischen Religionen, stellt         Altstadt von Jerusalem (Foto: Carsten Raum/Pixelio.de)
das Phänomen der Religion und des Religiösen nicht
nur aus dem Blickwinkel der Tourismuswirtschaft ei-            Eines der wichtigsten Probleme innerhalb der jüdisch-
nen zentralen Faktor für Politik und Gesellschaft dar.         israelischen Mehrheitsgesellschaft ist der Gegensatz
Dies gilt in ganz einzigartiger Weise für den Staat Is-        zwischen einer (relativen) Mehrheit säkularer Juden
rael, der seine Entstehung zwar primär dem Streben             und den immer mehr an Bedeutung gewinnenden
des jüdischen Volkes nach einer „nationalen Heim-              Gruppen ultraorthodoxer und orthodoxer Juden, die
statt― im Sinne des (säkularen) europäischen Nationa-          sich – expressis verbis oder defacto – zum Ziel gesetzt
lismus des 19. Jahrhunderts verdankt. Aufgrund des             haben, den jüdischen Staat im Sinne ihrer religiösen
spezifischen Selbstverständnisses des Judentums als            oder religiös-politischen Vorstellungen umzugestalten.
ethnisches Volk und als religiöse Gemeinschaft aber            Dabei werden nicht nur die Grundlagen des Grün-
haben die jüdische Religion, ihre Werte und ihre Re-           dungskonsenses von 1948, sondern tendenziell auch
präsentanten von der Staatsgründung an einen weit              die Grundlagen der liberalen Demokratie in Israel
höheren Stellenwert, als es die Staatsdoktrin, der sä-         schlechthin immer mehr ausgehöhlt. Ihre besonders
kulare Zionismus in der Tradition Theodor Herzls, ei-          radikale Ausprägung finden diese Unterminierungsver-
gentlich vermuten lassen sollte. Am Beginn des Staa-           suche im „religiösen Zionismus―, der eine zunehmend
tes steht die in ihrem Geiste durchaus „bürgerlich-            aggressiv gegen Andersdenkende und Andersartige
liberal― zu nennende Unabhängigkeitserklärung von              gerichtete Ideologie darstellt, die der Staat Israel trotz
1948, die allen Bürgern des Staates, unabhängig von            seiner säkularen Grundausrichtung kaum mehr ein-
deren Religion oder ethnischer Zugehörigkeit, gleiche          fangen kann. Dies zeigt sich vor allem im Umgang
Bürgerrechte garantiert. Diese Proklamation der Reli-          mit der religiösen Siedlerbewegung, die keinerlei Ver-
gionsfreiheit gilt bis in die Gegenwart im Grundsatz           pflichtung zum Respekt vor dem religiös neutralen
fort, auch wenn im Alltagsleben – fern vollmundiger            Rechtsstaat anerkennt.
Deklarationen – stets faktische Benachteiligungen für
die religiösen Minderheiten (ca. 16% sunnitische               Auf diesem Hintergrund ist es eine der vorrangigen
Muslime, knapp 2% Christen, 1% Drusen) bestanden               Aufgaben der liberalen Stiftung, politische und gesell-
haben (z. B. im Bildungswesen), die sich nicht zuletzt         schaftliche Partner zu gewinnen, die sich aktiv für die
aus der Tatsache ergeben, dass die religiösen Minder-          Bewahrung und den Ausbau der säkularen Grundlagen
heiten im Regelfall der ethnischen Minderheit der ara-         des Staates Israel einsetzen. An dieser „Frontlinie― –
bischen Palästinenser angehören. Die freie Religions-          nur vergleichbar noch mit dem Schutz der ethnischen
ausübung ist in Israel weitgehend gesichert bis auf die        Minderheiten im Lande – wird die Entscheidung fal-
kleine Gruppe der sich als Teil des Christentums ver-          len, ob Israel auch weiterhin den Ehrentitel einer
stehenden „messianischen Juden―. Missionstätigkeit             „liberalen Demokratie― wird beanspruchen können.

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 Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

Der im Werden begriffene Staat Palästina wird im
                                                                Libanon: Religiöse Vielfalt zwischen
Grundsatz auf säkularen Prinzipien aufgebaut, denen
die die palästinensische Nationalbewegung tragenden             Koexistenz und Bürgerkrieg
Kräfte traditionell verbunden waren. Muslimen, Chris-
ten und auch Juden wird in diesem Konzept ein                   (Beirut) Das kleine Mittelmeerland Libanon, vor allem
gleichberechtigter Platz als Bürger eines zu schaffen-          das zerklüftete Libanongebirge gelten seit Jahrhun-
den palästinensischen Nationalstaates eingeräumt.               derten als Zufluchtsort religiöser Minderheiten. Nicht
Diesen theoretischen Grundlagen steht das Faktum                weniger als achtzehn Religionsgemeinschaften wer-
einer machtvollen Bewegung des politischen Islam im             den in der libanesischen Republik offiziell anerkannt,
Lande – wie sie sich seit den 1980er Jahren herausge-           darunter zwölf christliche (ca. 35% der Bevölkerung)
bildet hat – gegenüber, die vielerorts an die Stelle des        und vier muslimische Konfessionen (ca. 65% der Be-
weitgehend gescheiterten (säkularen) Panarabismus               völkerung) sowie das Judentum. Diese Vielfalt ist seit
getreten ist. Von ihr gehen im Alltagsleben der Bürger          Jahrhunderten Fluch und Segen zugleich. Während sie
Tendenzen und Aktionen aus, die geeignet sind, die              in Zeiten der friedlichen Koexistenz dem Land den Ruf
bestehende Religionsfreiheit und Gleichberechtigung             der ―Schweiz des Nahen Ostens― einbrachte, galt der
der traditionellen Religionsgemeinschaften auszuhöh-            Libanon – vor allem während des Bürgerkriegs von
len. Auf dem Hintergrund des durchweg als vorrangig             1975 bis 1990 – allgemein als Musterbeispiel für das
empfundenen nationalen Kampfes um die Befreiung                 Scheitern staatlicher Institutionen.
Palästinas vom Joch der Besatzung werden Verstöße
gegen den säkularen Charakter des Staates kleingere-
det oder ignoriert.

In ihrem Einsatz für die Pflege der Traditionen aufklä-
rerischen Denkens und der Bürgergesellschaft in Pa-
lästina gehört das kritische Augenmerk der Stiftung
auch der wachsenden Tendenz zur faktischen Aushöh-
lung des Prinzips der säkularen Ordnung des Staates.
Diese wird – dies belegen vor allem die von der Stif-
tung durchgeführten Meinungsforschungsuntersu-
chungen zum Stellenwert liberaler Werte in der paläs-
tinensischen Gesellschaft – immer mehr durch eine
vermeintliche Rückbesinnung auf traditionelle islami-
sche Werte unterlaufen. Eine derartige Entwicklung
könnte zukünftig nicht nur den pluralistischen Grund-           Uferpromenade in Beirut (Foto: Dietmar Burkhardt/Pixelio.de)
zug der Gesellschaft gefährden, sondern ganz konkret
die Existenzmöglichkeiten religiöser Minderheiten in
einer islamischen Mehrheitsgesellschaft zunichte ma-            Die konfessionelle Zugehörigkeit spielt im Libanon ei-
chen. Auch in Palästina ist der Einsatz für die Siche-          ne zentrale Rolle in Gesellschaft und Politik. Während
rung der Religionsfreiheit in einem säkularen Staat             Religions- und Glaubensfreiheit und die Gleichheit
daher ein vorrangiges Arbeitsfeld für die liberale Stif-        aller Bürger verfassungsrechtlich an prominenter Stel-
tung.                                                           le verankert sind, postuliert die Verfassung gleichzei-
                                                                tig ein komplexes Machtteilungsprinzip entlang kon-
                                                                fessioneller Linien, wobei Christen und Muslime je-
                                                                weils die Hälfte aller politischen Ämter bekleiden. Ent-
                                                                sprechend dem ―Nationalpakt― von 1943 ist der
                                                                Staatspräsident immer maronitischer (d.h. katholi-
                                                                scher) Christ, der Premierminister sunnitischer Muslim
                                                                und der Parlamentspräsident schiitischer Muslim.

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                                                                  Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

Ein Paradox: Während die Libanesen für ihren ausge-             tionell friedliche Koexistenz von Muslimen und Chris-
prägten Nationalstolz bekannt sind, hat sich in der             ten. Von den 6,3 Millionen Jordaniern sind ca. 95 Pro-
libanesischen Gesellschaft nur in begrenztem Maße               zent sunnitische Muslime, 3 Prozent Christen und 2
ein selbstbewusstes Staatsbürgertum entwickeln kön-             Prozent Drusen, Schiiten und Bahais.
nen. Selbst bei durch und durch säkularen Libanesen
spielt die nominelle konfessionelle Zugehörigkeit häu-          Die Verfassung garantiert das Recht auf die freie Reli-
fig die zentrale identitätsstiftende Rolle.                     gionsausübung, soweit öffentlicher Anstand und Mo-
                                                                ral nicht verletzt werden. Verankert ist ebenfalls das
Während das konfessionelle Proporzsystem sicher-                Diskriminierungsverbot von Staatsangehörigen auf-
stellt, dass alle anerkannten Religionsgemeinschaften           grund von Religion. Während das christlich-
an der Macht beteiligt werden, schließt es implizit all         muslimische Verhältnis als gut gilt, gibt es Beschwer-
diejenigen von der Ausübung politischer Ämter aus,              den der kleinen Minderheit der Bahais, die offiziell
die formal zu einer nicht offiziell anerkannten Religi-         nicht anerkannt werden.
onsgemeinschaft (z.B. Hinduismus, Buddhismus) kon-
vertieren bzw. darauf bestehen, überhaupt keine reli-           Christen sind aufgrund eines großzügigen Quotensys-
giöse Zugehörigkeit zu registrieren.                            tems im Parlament im Vergleich zu ihrem Bevölke-
                                                                rungsanteil überrepräsentiert und stellen neun von
                                                                insgesamt 120 Abgeordneten. Der König beruft regel-
                                                                mäßig Christen in Ministerposten sowie in den er-
Jordanien: Religiöse Harmonie im                                nannten Senat. Auch in der Privatwirtschaft sind
                                                                Christen auffällig erfolgreich.
Haschemitenreich
                                                                Nicht vereinbar mit einer westlich-säkularen Bürger-
(Amman) Im Königreich Jordanien ist der Islam laut              tumstradition ist das Fehlen eines zivilen Familien-
Artikel 2 der Verfassung Staatsreligion. Die Legitimität        rechts und das damit in Verbindung stehende Verbot
des haschemitischen Königshauses begründet sich                 von Austritten aus dem Islam - eine Folge islamischer
auch mit der Abstammung von Hachim Ibn Abd Man-                 Rechtssprechung. Die jordanische Gesellschaft ist
af, dem Urgroßvater des Propheten Mohammed. Nach                nicht immun gegenüber radikalen Elementen des poli-
ihm sind die Haschemiten benannt.                               tischen Islam, wobei die Regierung mit eiserner Hand
                                                                gegen diese Gruppierungen vorgeht. Als wenig klug
                                                                wird von Analysten der von weiten Teilen der Bevölke-
                                                                rung als repressiv empfundene Umgang des Staates
                                                                mit der Muslimbruderschaft gewertet, da dieser zu
                                                                einer Stärkung der Gruppierung beitrage.

Felsenstadt Petra, Jordanien (Foto: eckwe/Pixelio.de)

Das Königreich Jordanien, in dessen Grenzen sich
wichtige alt- und neutestamentarische Orte wie der
Berg Nebo und die Taufstelle Jesu befinden, verweist
stolz auf seine religiösen Minderheiten und die tradi-

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    Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld

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Türkei: Schleichende Islamisierung im                                   den zwar geduldet, sind jedoch zahlreichen Diskrimi-
säkularen Staat                                                         nierungen ausgesetzt, die vom Verbot zum Grundbe-
                                                                        sitzerwerb bis zur Schließung des Priesterseminars der
                                                                        orthodoxen Kirche reichen. Auch Aleviten und Schii-
                                                                        ten leiden unter Benachteiligungen.

                                                                        Trotz des formal- bzw. verfassungsrechtlich veranker-
                                                                        ten Säkularismus erfolgte im Zuge der Regierungs-
                                                                        übernahme der AKP eine Trendwende in der türki-
                                                                        schen Gesellschaft hin zu einer stärkeren Rolle des
                                                                        Islam und islamisch-konservativer Wertvorstellungen.
                                                                        Auch nach dem 2008 abgeschmetterten AKP-
                                                                        Verbotsverfahren versucht die Regierungspartei er-
                                                                        neut, das Kopftuchverbot—diesmal ohne rechtliche
                                                                        und verfassungsrechtliche Änderungen—zu kippen
Süleymaniye-Moschee in Istanbul (Foto: Bildpixel/Pixelio.de)            bzw. zu unterlaufen, indem sie die Leitungsposten der
                                                                        öffentlichen Schulen und Universitäten mit ihren Ge-
(Istanbul) Die Türkei ist in der Region Mittelmeerlän-                  folgsleuten besetzt. In öffentlichen Äußerungen wird
der das einzige Land mit muslimischer Bevölkerung,                      das Tragen des Kopftuches vom türkischen Minister-
das über eine säkulare Verfassung verfügt. Der Säkula-                  präsidenten Erdogan als „conditio sine qua non― ver-
rismus, die Trennung von Staat und Religion, ist in der                 kündet und lässt von der Parteirhetorik her gesehen,
türkischen Verfassung als unabänderbares Prinzip ver-                   Alternativen nicht zu. Darüber hinaus wird seitens der
ankert. Dieses Prinzip geht auf die Zeit der Staats-                    Regierungspartei ebenfalls die traditionelle Rolle der
gründung 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk zurück,                       Frau als Mutter und Hüterin der Familie in den Vor-
der auch das bis dahin bestehende Kalifat und das                       dergrund gestellt. In einer Studie der Bahcesehir Uni-
islamische Recht abschaffte. In der Geschichte der                      versität von 2009 gaben 62% der befragten Frauen
Türkei hat es immer wieder islamistische Parteien ge-                   an, dass Religion oberste Lebenspriorität habe, nur
geben, die, nachdem sie in Wahlen signifikante Ergeb-                   13% plädierten für „Demokratie―, und 17% für Laizis-
nisse oder Abgeordnetenmandate erzielen konnten,                        mus. 20% der Frauen hielten die Erlaubnis des Ehe-
durch Gerichtsbeschluss verfassungsgemäß, d.h. mit                      manns zur Arbeitsaufnahme für „unbedingt erforder-
Verweis auf das schon erwähnte Verfassungsprinzip,                      lich―, 64% für „erforderlich―.2
verboten und geschlossen wurden. Jüngstes Beispiel
ist in diesem Zusammenhang die seit 2002 mit abso-                      In diesem Zusammenhang sind auch die neuen Alko-
luter Mehrheit regierende AKP, die nur knapp einem                      holverordnungen zu sehen, die teilweise den Alkohol-
Verbotsverfahren entgehen konnte, weil sie das Kopf-                    konsum in öffentlichen Einrichtungen verbieten und
tuchverbot an Schulen, Universitäten und öffentlichen                   selbst den Verkauf an Autobahnraststätten untersa-
Einrichtungen aufheben wollte.1                                         gen. Die Polizei geht mit Kontrollen gegen Alkohol-
                                                                        konsum in der Öffentlichkeit vor; „Alkoholsünder―
Über die Trennung von Staat und Religion—oder bes-                      werden angehalten und mit einem Bußgeldbescheid
ser die Kontrolle der Religion—wacht das „Amt für Re-                   belegt, selbst wenn der Blutalkoholgehalt weit unter-
ligionsangelegenheiten― (DYANET), bei dem sämtliche                     halb der erlaubten Promillegrenze liegt. Alkohollizen-
Freitagspredigten vorab eingereicht und genehmigt                       sen von Restaurants und Bars werden restriktiv verge-
werden müssen. Insofern hat der Staat die Kontrolle                     ben oder mit sehr hohen finanziellen Schankauflagen
                                                                        versehen.
1
  Das Verfassungsericht befand die AKP islamistischer Umtriebe
für schuldig, jedoch gab es im Richtergremium nicht die erfor-          Journalisten, die kritisch über diese Sachverhalte be-
derliche Mehrheit zur Schließung der AKP. Das Urteil beschränkte
sich auf die Entziehung der öffentlichen Zuwendungen für ein            2
                                                                         Mehr Details zu dieser Studie sind dem Türkeibulletin 10/09 zu
Jahr.                                                                   entnehmen.

                                                                   16
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