FNF International News - www.freiheit.org - e doc
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
www.freiheit.org FNF International News AUSGABE 1 / 2011 Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld
Inhalt Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Editorial Religion und Liberalismus S. 3 Mittendrin statt nur dabei—Zum S. 5 Sehr geehrte Damen und Herren, Umgang mit dem Islam in Europa liebe Freunde der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Religion, Gesellschaft und Politik S. 8 in den Vereinigten Staaten von die Religionsfreiheit gehört zu den elementaren Amerika Grund- und Menschenrechten und ist Voraussetzung für Frieden und die freie Entfaltung des Einzelnen. In Religion, Gesellschaft und Politik S. 12 vielen Ländern dieser Erde wird dieses Freiheitsrecht im Mittelmeerraum heute jedoch nicht gewährt. Religion, Gesellschaft und Politik S. 19 Auf der anderen Seite ist eine weltweite Renaissance im Westlichen Afrika der Religion zu konstatieren, nicht nur in der islami- schen Welt wird sie immer mehr zu einem politischen Religion, Gesellschaft und Politik S. 22 und moralischen Machtfaktor und muss teilweise so- in Südost– und Ostasien gar als Deckmantel für Unterdrückung und Gewalt herhalten. In einer vernetzten und globalisierten Welt Religion, Gesellschaft und Politik S. 28 führt so die Koranverbrennung eines provinziellen in Südasien Geistlichen in den USA zu Unruhen und Toten in Af- ghanistan. Religion, Gesellschaft und Politik S. 32 in Lateinamerika In dieser 1. Ausgabe der FNF International News 2011 berichten Auslandsmitarbeiter der Stiftung für die Religion, Gesellschaft und Politik S. 43 Freiheit über die Rolle der Religion in ihren Projektre- in Südost– und Osteuropa gionen und -ländern und analysieren das damit ver- bundene Spannungsverhältnis zur jeweiligen Gesell- Ausgewählte Publikationen S. 54 schaft und Politik. Dazu wird aufgezeigt, wie das The- ma auch unsere Arbeit als politische Stiftung tangiert. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre! Ulrich Niemann www.freiheit.org Bereichsleiter Internationale Politik 2
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Religion nach liberalen Prinzipien eigentlich unkom- Religion und Liberalismus pliziert und erfordert keine gesonderte Herangehens- weise. Man muss lediglich die einzelnen Handlungen im religiösen Kontext genauso behandeln wie die Handlungen in anderen sozialen Kontexten auch. Die Meinungsfreiheit eines Pfarrers, Rabbis oder Imams ist nicht grundsätzlich anders zu bewerten als die eines Politikers, Wissenschaftlers oder jedes anderen Bür- gers auch. Wenn eine Religionsgemeinschaft ein Grundstück erwirbt und dort ein Gebäude errichten will, dann sollte dafür dasselbe Eigentums- und Nut- zungsrecht gelten wie für die Errichtung eines Miets- hauses, eines Museums oder eines Vereinshauses. Religion ist mit den Prinzipien einer liberalen Gesell- Foto: Jaden Watt/Pixelio schaft ohne weiteres vereinbar und das selbst dann, wenn die vermittelten Werte der Religionsgemein- Grundsätzlich ist es richtig, Religion nach denselben schaft einen dogmatisch-konservativen Charakter tra- Maßstäben zu beurteilen wie alle anderen sozialen gen können. Eine Religionsgemeinschaft kann gemäß Gemeinschaften und inhaltlichen Überzeugungen den Prinzipien des liberalen Clubprinzips beurteilt auch. Zu diesem Zweck müssen wir vom abstrakten werden. Jeder Club sollte selbst entscheiden dürfen, Begriff zum konkreten Gehalt kommen. Religion ist wer unter welchen Umständen in diesem Club Mit- ein abstrakter Oberbegriff für eine Vielzahl von Ein- glied werden darf, er darf aber Niemanden am Austritt stellungen und Handlungen. Diese konkreten Einstel- hindern und niemanden zum Eintritt zwingen. Nicht lungen und Handlungen müssen wir in den Blick neh- die „Modernität― einer Religionsgemeinschaft, sondern men, dann lösen sich viele Unklarheiten auf. Religion die Unterscheidung zwischen Zwang und Freiwilligkeit umfasst einen geistigen und einen materiellen Be- ist entscheidend, ob eine Religionsgemeinschaft als reich. Zum geistigen Bereich gehört die Theologie, da- Organisation angesehen werden kann, die mit libera- zu gehört der individuelle Glaube, die moralische Ein- len Prinzipien vereinbar ist, oder nicht. Dasselbe gilt stellungen usw. Zum materiellen Bereich gehört das auch für die negativen Begleiterscheinungen, mit de- Eigentum an Grund und Boden, der Bau und die Un- nen die Öffentlichkeit sich intensiv beschäftigt, wie terhaltung von Kirchen, Moscheen, Synagogen, Ver- religiös motivierte Gewalt oder der Missbrauch von waltungsgebäude, die Organisation, die juristische Schutzbefohlenen. Diese werden nicht von abstrakten Körperschaft usw. Im Grund auch alles, was mit indi- religiösen Prinzipien, sondern von konkreten Personen viduellen, sichtbaren Handlungen zu tun hat, also aus Fleisch und Blut begangen und die Schuldigen auch das öffentliche Gebet, die Zeremonie, der Got- müssen dafür entsprechend der Regelungen des Straf- tesdienst usw. gesetzbuches zur Rechenschaft gezogen werden, ge- nauso wie nichtreligiöse Täter auch. Der erste Bereich, der geistige oder spirituelle Bereich, fällt unter die Glaubens-, Gewissens- Bekenntnis- und Was theoretisch also einfach zu handhaben ist, wird Meinungsfreiheit. Der zweite Bereich, der materielle kompliziert durch die starke psychologische und poli- Bereich fällt in den Bereich der Eigentumsrechte, der tische Aufladung und durch die historisch bedingte Vertragsfreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Freizü- Überschneidung von Religion und Staat. In der Ausei- gigkeit usw. Alle diese Freiheiten finden dort ihre nandersetzung über den Stellenwert der Religion ste- Grenzen, wo die Freiheiten anderer verletzt werden. hen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber. Es Diese liberalen Freiheitsrechte sind zum größten Teil gibt diejenigen, die Religion in besonderer Form ge- direkt im Grundgesetz verankert. Im Grunde muss man genüber anderen Formen sozialer Gemeinschaften pri- nur die geltenden Prinzipien auf die konkreten Fälle vilegieren oder Privilegien aufrecht erhalten wollen anwenden. Daher ist die theoretische Behandlung der und diejenigen, die sie in besonderer Form schlechter 3
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld stellen wollen. Zu letzteren gehören etwa militante Moscheen und Minaretten schützen. Toleranz ist kei- Atheisten, die grundsätzlich den Glauben an Gott ab- ne Frage der Sympathie. Echte Toleranz beginnt sogar lehnen, weil sie diesen für naturwissenschaftlich nicht erst dann, wenn man das Existenzrecht einer Haltung begründbar und für denn allgemeinen Frieden und oder eines Lebensstils anerkennt, denen man selber Fortschritt für schädlich halten. Die Ablehnung geht innerlich mit Distanz oder Ablehnung gegenübersteht. bei einigen soweit, dass sie das Recht gläubiger Eltern, Diese Anerkennung reicht selbstverständlich nur so- ihre Kinder religiös zu erziehen, bestreiten. Zu dieser weit, als dass durch diese Haltung oder Lebensstil kei- Gruppe gehören als Sonderform auch diejenigen, die ne Grundrechte verletzt werden. vielleicht nicht in Religion allgemein, aber in be- stimmten Religionen – etwa dem Islam – eine Bedro- hung erblicken und deshalb die durch das Grundgesetz garantierten Entfaltungsmöglichkeiten – wie etwa den Bau von Gotteshäusern - ablehnen. Von den militan- ten Religionskritikern wird oft auf den 11. September, den Dschihad, die Kreuzzüge und Gewalt legitimieren- de Passagen in den heiligen Schriften verwiesen. Es ist wahr, dass Religion in der Geschichte und auch heute in der Weltpolitik immer wieder zur Rechtferti- gung extremer Gewalt verwendet wurde. Der einzelne Gläubige ist aber weder dafür verantwortlich zu ma- chen, was Jahrzehnte oder Jahrhunderte vor seiner Zeit getan wurde, noch dafür was andere heute im Namen seiner Religion tun. Auch die Nichtbelegbar- keit religiöser Überzeugungen und vermeintliche oder tatsächliche Fehlinterpretationen der religiösen Über- lieferung tangiert das Recht, ihnen anzuhängen, nicht. Die Meinungsfreiheit schützt nicht nur Meinungen, Symbole der weltweit größten Religionsgemeinschaften: die naturwissenschaftlich oder historisch belegt sind. Christentum, Judentum, Hinduismus, Islam, Buddhismus, Shinto, Selbst „falsche― Meinungen fallen unter die Mei- Sikhismus, Bahai, Jainismus (Bild: Rursus/Wikipedia) nungsfreiheit. So sind selbst fundamentalistische Glaubensüberzeugungen - soweit es sich einfach um Auf der anderen Seite dieses ideologischen Graben- eine subjektive Weltsicht und nicht um politischen kampfes wird die Besonderheit der Religion als Legiti- Extremismus handelt - nicht grundsätzlich unverein- mierung bestimmter Sonderrechte wie staatlichen Re- bar mit der Ordnung einer freien Gesellschaft. Die ent- ligionsunterricht, Kirchensteuern, politischen Konfe- scheidende Frage aus der Perspektive des liberalen renzen, Besetzung von Rundfunkräten usw. herange- Rechtsstaates ist nicht die, ob ein Gläubiger progressi- zogen. Die einen sehen dies als Vorrecht der christli- ve oder orthodoxe Ansichten vertritt oder nicht, son- chen Kirchen an, andere wollen in Zukunft auch den dern ob er sich an das Gesetz hält oder nicht. Islam in diese etablierten Sonderrechte mit einbezie- hen. Wenn Liberale darauf verweisen, dass Religion Die Medaille hat allerdings auch eine andere Seite: Privatsache sein sollte, dann wird dies von den Amts- Das Recht auf Religionskritik – auch in harscher und kirchen und vielen Gläubigen oft als Abwertung ihrer polemischer Form – ist selbstverständlich genauso Glaubensinhalte wahrgenommen. Die Religion solle durch die Meinungsfreiheit geschützt, wie der Aus- aus der Gesellschaft verdrängt werden, so der Vorwurf druck religiöser Gefühle. Zum Beispiel ist das Anferti- gegenüber dem Liberalismus. Dieser Vorwurf übersieht gen und Veröffentlichen von Karikaturen des Prophe- aber, dass für den Liberalen das „Private― alles andere ten Mohammed, wie sie etwa von dänischen Zeitun- als eine sekundäre Sphäre bezeichnet oder eine Ni- gen veröffentlicht wurden, durch dieselben Grund- schenexistenz. Vielmehr glauben Liberale daran, dass rechte gedeckt, die auch das Recht auf den Bau von private Organisationen den staatlichen in vielen Berei- 4
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld chen und in vielerlei Hinsicht überlegen sind. Da „Privatisierung― ganz allgemein von den meisten Libe- Mittendrin statt nur dabei ralen grundsätzlich positiv bewertet wird, bedeutet Zum Umgang mit dem Islam in Europa die Privatisierung des Glaubens alles andere als eine Abwertung. Die Forderung nach einer Trennung von Staat und Kir- che und nach einem säkularen Staat ist nicht iden- tisch mit dem Ziel einer säkularen, religionsfernen Ge- sellschaft. Ein säkularer Staat ist mit einer tief religiö- sen Gesellschaft durchaus vereinbar, wie das Beispiel der USA zeigt. Die USA sind eines der wenigen Länder, in dem das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche durch die Verfassung garantiert und weitgehend durchgesetzt wird. Dennoch sind die Zahl der prakti- Bild: Gerd Altmann/Pixelio.de zierenden Christen und die Bedeutung der Religion für die Gesellschaft unbestreitbar größer als etwa in der Seit den Anschlägen vom 11. September hat sich die Bundesrepublik, die diese klare Trennung nicht kennt. westliche Welt in eine hoch emotionale Islam-Debatte Beides könnte durchaus miteinander zusammenhän- gestürzt, die zunehmend undifferenziert wird. Sämtli- gen. Dass eine Kirchenorganisation, die auf privaten che Reizthemen, die in irgendeiner Form in Zusam- Spenden und Mitgliedsbeiträgen beruht und daher auf menhang mit dem Islam stehen, werden unreflektiert die Identifikation der Gläubigen mit ihrer Kirche ange- in einen Topf geworfen und umgerührt. Da ist beim wiesen ist, ein stärkeres Band zu ihren Gläubigen un- ersten Umrühren die Rede von Parallelgesellschaften terhält als eine Kirche, die von staatlichen Zuschüssen, und Ehrenmorden, beim zweiten von Terrorismus und Privilegien und Steuern abhängig ist, erscheint ohne Moscheebau, und beim dritten von der Revolution in weiteres einsichtig. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Ägypten und dem EU-Beitritt der Türkei. Das Gefühl auch in Deutschland der religiöse Pegel nach einer der Angst ist in dieser Diskussion mal unterschwellig, konsequenten Trennung von Staat und Kirche eher mal dominant, aber es schwingt stets mit. Diese Angst wieder steigen würde als sinken. wird nach Kräften geschürt von Rechtspopulisten, die vor „Islamisierung― warnen und unsere Gesellschaften durch die Infiltrierung mit „anti-westlichem― Gedan- kengut bedroht sehen. Diese Stoßrichtung gegen Mus- lime eint in Europa das Mouvement pour la France, die italienische Lega Nord und die dänische Dansk Fol- keparti. Diese rechtspopulistischen Parteien sind nicht nur im nationalen Kontext vergleichsweise erfolgreich, sie sind auch im Europäischen Parlament in Brüssel vertreten. Dort gehören sie der euroskeptischen Frak- tion an, die – im Grunde irreführend – „Europa der Freiheit und der Demokratie― heißt. Eric Gujer hat in einem kürzlich in der NZZ erschienenen Artikel auf Dr. Gérard Bökenkamp Anspruch und Wirklichkeit eines sich als pluralistisch Referent Liberales Institut verstehenden Europas hingewiesen: „Von Überfrem- gerard.boekenkamp@freiheit.org dungsängsten geplagte Europäer glauben, die Vorstel- lungen von Pluralismus seien mit anderen Kulturen inkompatibel.―1 Leider beschränkt sich das Phänomen 1 Gujer, Eric: Der Wert der Freiheit, Neue Zürcher Zeitung vom 5./6. März 2011. 5
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Islamfeindlichkeit nicht auf den rechten Rand. In vielen EU-Staaten präsenter als noch vor einigen Jahr- Deutschland und Ungarn, Großbritannien und Polen zehnten. Sie prägen so manches Stadtbild mit und finden sich auch in der Mitte des politischen Spekt- reflektieren in der Regel ein verzerrtes Bild ihrer Her- rums Politiker, die sorgenvoll vor der „Überfremdung― kunftsgesellschaften. Die im März erschienene Studie durch Muslime warnen und pathosgeschwängert die der Friedrich-Ebert-Stiftung „Die Abwertung der An- Rückbesinnung auf christliche Wurzeln und Werte deren― stellt fest, dass in etlichen europäischen Län- fordern. So mancher Parteitag in Bayern erscheint wie dern die Tendenz besteht, Einwanderer mit Muslimen eine Fallstudie für Samuel Huntingtons Clash of Ci- nahezu gleichzusetzen und umgekehrt alle Muslime vilizations. als Einwanderer wahrzunehmen, ungeachtet ihrer Staatszugehörigkeit oder ihres Geburtsortes. Ähnlich wie Juden würden auch Muslime häufig nicht als in- Von Islamisierung kann keine Rede sein tegraler Bestandteil der einheimischen Mehrheitsge- sellschaft betrachtet, sondern als „Fremde―. Die Studie Fakt ist: Von einer Islamisierung Europas kann keine untersucht, inwiefern islamfeindliche Aussagen in Rede sein. Eine aktuelle Studie des Pew Research ausgewählten EU-Staaten auf Zustimmung stoßen Centre on Religious and Public Life2 liefert dazu einige (siehe Grafik). Die Ergebnisse lassen auf einen erschre- aufschlussreiche Zahlen. Die muslimische Bevölkerung ckend fruchtbaren Boden für Rechtspopulisten schlie- wird – global gesehen – in den nächsten Jahren wei- ßen. Die europäischen Befragten, so heißt es in der ter anwachsen. Während derzeit circa 1,6 Milliarden Auswertung, seien sich in ihrer Ablehnung von Musli- Menschen weltweit dem Islam angehören, werden es men und des Islams weitgehend einig. Die Dimension in zwei Jahrzehnten etwa 2,2 Milliarden sein. Dies islamfeindlicher Haltungen in Deutschland, Italien, scheint auf den ersten Blick ein enormer Anstieg. Die- Ungarn und Polen sei ähnlich stark ausgeprägt und ser Eindruck relativiert sich, wenn man sich vergegen- signifikant am höchsten. Nur geringfügig weniger is- wärtigt, dass auch die Weltbevölkerung als solche lamfeindlich seien die Befragten in Frankreich und weiterhin anwachsen wird. Dabei wird die Zahl der Großbritannien.3 Muslime deutlich langsamer ansteigen, als dies noch in den vergangenen Jahren der Fall war. Dies liegt vor allem an den immer niedrigeren Geburtenraten bei stetig älter werdender Bevölkerung und verbesserten Bildungschancen für Frauen. Das Christentum wird also laut den derzeit vorliegenden Prognosen auch in Zukunft die größte Religionsgemeinschaft der Welt bleiben. Auf europäischem Boden wird die Zahl der Muslime ebenfalls absolut ansteigen. Relativ gesehen bleibt aber der Anteil der Muslime in etwa gleich. Er liegt derzeit bei etwa 2,7 % der europäischen Bevöl- kerung. Ausgrenzende Rhetorik In Deutschland spiegeln sich diese Einstellungen in Islamphobie in Europa einer politischen Rhetorik, die bizarrerweise biologi- sche Bezüge bemüht. Der Islam sei nicht Teil unserer In der gesellschaftlichen Wahrnehmung nehmen Mus- „historisch-religiösen DNA―, so Matthias Matussek auf lime einen weitaus größeren Stellenwert ein. Dies hat 3 mit der medialen Aufmerksamkeit zu tun, die dem Is- Zick, Andreas u.a. 2011: Die Abwertung des Anderen. Eine eu- ropäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und lam als religiösem und politischem Phänomen zuteil Diskriminierung. Friedrich-Ebert-Stiftung, S.46f und 69 ff. wird. Darüber hinaus sind muslimische Einwanderer in 4 Matussek, Matthias 2011: Warum der Minister recht hat, er- 2 schienen auf Spiegel Online am 6.3.2011 und abrufbar über The Pew Forum on Religion and Public Life 2011. The Future of http://www.spiegel.de/politik/ the Global Muslim Population. Projections for 2010-2030. deutschland/0,1518,749307,00.html. 6
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Spiegel Online4, es ließe sich „auch aus der Historie― nirgends belegen, dass der Islam zu Deutschland ge- höre, so Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich.5 Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, ist ebenso müßig wie das Beschwören des vermeintlich jüdisch-christlichen Erbes Europas. Der Islam ist kei- neswegs ein neues, nur durch Arbeitsmigration ent- standenes Phänomen. Seit Jahrhunderten schreibt der Islam europäische Geschichte mit. Es ist schlicht nicht wegzudiskutieren, dass Muslime in Europa ihre kultu- rellen Spuren hinterlassen haben und dies auch wei- terhin tun werden. Diskursbeiträge, die dies negieren, um die Saite eines nationalen oder europäischen Wir- Verschiedene Migrationshintergründe, Brüssel im Europaviertel Gefühls zum Klingen zu bringen, sind überflüssig. Sie (Foto: Karin Madeker) schaffen Kulturkampfstimmung und schließen aus, wo es zu integrieren gilt. Leider bleibt es in Europa nicht Euro-Islam oder Europäischer Islam? bei ausgrenzender Rhetorik. Die Schweizer haben sich in einer Volksabstimmung gegen den Bau von Mina- Ob der Begriff des Euro-Islam in der Integrationsde- retten ausgesprochen. Die französische Nationalver- batte hilfreich sein wird, ist noch nicht abzusehen. Zu sammlung hat im letzten Jahr ein Gesetz beschlossen, diesem Konzept streiten derzeit der Politikwissen- das das Tragen der Burka landesweit verbietet. Die schaftler Bassam Tibi und der Islamwissenschaftler grande nation folgt damit Entscheidungen in Belgien Tariq Ramadan um die Deutungshoheit. Im Kern geht und Spanien, die die Ganzkörperverschleierung in der es um die Frage, wie ein Islam aussehen könnte, der in Öffentlichkeit untersagen. Solche Gesetzesinitiativen Europa Fuß fasst. Tibi („Europa ohne Identität. Leitkul- senden fatale Signale an die muslimische Welt. „Wir tur oder Wertebeliebigkeit?―) spricht dabei von einer wollen Euch nicht―, lautet die schmerzliche Botschaft, Vision, die noch nicht Realität geworden ist. Sein Euro die jegliche Integrationsbemühung bereits in den An- -Islam erfordert einen Prozess der kulturellen Anpas- fängen erstickt. In Europa leben derzeit zwischen 15 sung und religiöse Reformen, um die Religion gewis- und 20 Millionen Muslime. Die Integration dieser Mit- sermaßen „kompatibel― mit den universalen Normen bürger wird eine der größten Herausforderungen der Europas zu machen. Ein Muslim könne Europäer wer- Politik bleiben. Um den oben beschriebenen islamo- den, indem er europäische Werte übernehme, dabei phoben Tendenzen entgegenzuwirken, wird es ent- könne er selbstverständlich Muslim bleiben. Das klingt scheidend sein, den gemeinsamen Wertekonsens klar vernünftig. Demgegenüber ist Ramadans Begriff des und unmissverständlich zu kommunizieren, ohne da- europäischen Islams, von dem sich Tibi ausdrücklich bei auf religiös-kulturelle Ausschlussformeln zurück- distanziert, mit Vorsicht zu genießen. In seinem Buch zugreifen. Integrationskonzepte, die sich zugunsten „To Be A European Muslim― beschreibt der Islamwis- eines Miteinanders von religiösen Begründungen lö- senschaftler die Ausgestaltung einer muslimischen sen, können alle Religionen als Bereicherung einer kulturellen Identität, die es durch Partizipation in die pluralistischen Gesellschaft willkommen heißen. Und Gesellschaft einzubringen gilt. Dabei fordert Ramadan nur dann sind Muslime mittendrin, statt nur dabei. im Grunde, dass sich Europa dem Islam anpassen soll, und nicht umgekehrt. Die Vorstellung eines säkularen Europas lehnt er ab und versteht Multikulturalismus als paralleles Existieren mehrerer Wertesysteme. Ra- madan, der übrigens der Enkel des Gründers der Mus- limbruderschaft Hassan al-Banna ist und dessen Sohn 5 Vitzthum, Thomas 2011: Innenminister – Islam gehört nicht zu das Internat von Yusuf Islam (ehemals Cat Stevens) Deutschland, erschienen auf Welt Online am 3.März 2011 und besucht, wird daher zunehmend kritisch rezipiert. abrufbar über http://www.welt.de/politik/deutschland/ article12691814/Innenminister-Islam-gehoert-nicht-zu- Necla Kelek, die letztes Jahr mit dem Freiheitspreis der Deutschland.html. Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ausge- 7
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld zeichnet wurde, beschreibt Ramadan als doppelzüngi- Aktualisierung oder Neuformulierung von nationalen gen Intellektuellen: „Ramadan versucht gleichzeitig, Integrationsleitbildern liefern die europäischen Vorga- die vom Koran und Sunna bestimmte islamische Le- ben eine hervorragende Grundlage. bensweise in den muslimischen Ländern mit den Rechten von Bürgern, einer säkularen Demokratie, die Dr. Ellen Madeker die Freiheit von Religion einschließen, als gleichbe- Leiterin Programme deutend darzustellen. Er relativiert so die universalen Dialogprogramm Brüssel (DPB) Menschenrechte gleich mit. […] Er ist, wie seine ellen.madeker@fnst.org Schriften belegen, gegen die Aufklärung und die Tren- nung von Staat und Religion. Er redet von Reform, will aber nur, dass der Westen sich dem Islam anpasst.―6 Religion, Gesellschaft und Politik in den Säkulares Europa Vereinigten Staaten von Amerika Das integrationspolitische Leitbild der Europäischen Union leitet sich aus dem seit Dezember 2009 gelten- den Vertrag von Lissabon ab. Nach zähem Ringen und gegen den Druck der Kirchen hatte man sich für eine säkulare Fassung der Präambel entschieden. Es wurde weder ein ausdrücklicher Gottesbezug, noch ein Ver- weis auf christlich-jüdische Traditionen aufgenom- men. Wörtlich heißt es in der Vertragseinleitung, die EU „schöpfe aus dem kulturellen, religiösen und hu- manistischen Erbe Europas, aus dem sich die unver- letzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechts- staatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben―. Diese integrative, liberale Formel erlaubt keine Ab- grenzung gegenüber einem sprachlich, kulturell oder Foto: Daniel Hannes/Pixelio.de religiös anders gearteten „Fremden―. Sie ist daher eine entscheidende Voraussetzung für die künftige Integra- Der transatlantische Dialog wird oftmals kompliziert tion von Glaubensgemeinschaften. Der europäische durch ein Miss- oder Unverständnis des gesellschaftli- Integrationsmodus ist ein universaler: Jeder, der sich chen Umfeldes, in dem aktuelle Politik gemacht und zum europäischen Wertesystem bekennt und dieses Wahlen entschieden werden. Einer der Unterschiede, lebt, kann Teil der Gemeinschaft werden kann, unab- die die transatlantische Diskussion verkomplizieren, hängig seiner Herkunft, Religion oder Kultur. Dabei liegt im Stellenwert der Religion in Gesellschaft und steht die EU für Religionsfreiheit und das Verbot von Politik in den USA und in Deutschland. Wie grundsätz- Diskriminierung aus religiösen Gründen. Da die In- lich verschieden diese Rolle in den beiden Ländern ist, tegration von Migranten im Allgemeinen und Musli- macht die Antwort auf die Frage „spielt Religion in men im Besonderen überwiegend in nationaler Ver- ihrem Leben eine wichtige Rolle?―, deutlich. In den antwortung liegt, wird sich künftig auf Ebene der Mit- USA geben 60% der Befragten an, dass Religion eine gliedstaaten entscheiden, wo der integrationspoliti- wichtige Rolle in ihrem Leben spielt, in Deutschland sche Kurs hinführt. Dieser ist wiederum abhängig vom sagen das nur ein Fünftel der Befragten. jeweiligen Verhältnis von Religion und Staat. Für die 6 Heutzutage ist das Verhältnis von Kirche bzw. Religion Kelek, Necla 2007: Kein Fortschritt, keine Freiheit, Essay er- schienen auf: http://www.perlentaucher.de/artikel/4360.html, und Staat zwar sowohl in Deutschland als auch in den abgerufen am 7.April 2011. USA de jure säkular, der tagtägliche Umgang mit der Religion und ihre Auslegung sind hingegen aber 8
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld grundsätzlich verschieden. Von „Amish“ bis „Zoroastrismus“ - religiöse (Meinungs-)Vielfalt in den USA Religionsfreiheit in den USA - das Vermächtnis der 85% der Bevölkerung bekennen sich zwar zum christ- „Founding Fathers“ lichen Glauben, Abspaltungen des Christentums resul- tierten jedoch in einer großen Anzahl von Kirchen, die Die größere Bedeutung es so in Europa und Deutschland nicht gibt. von Religion in den USA hat starke histori- Historisch haben die USA immer wieder Phasen der sche Wurzeln. Die ers- Diskriminierung einzelner religiöser Gruppen erlebt. ten Siedler immigrier- Hier sind vor allem die Diffamierung von Juden und ten in die Vereinigten Katholiken im letzten Jahrhundert zu erwähnen. Eine Staaten, um der religi- neue Dimension der Diskriminierung gegenüber dem ösen Intoleranz und Islam wurde durch die Terroranschläge vom 11. Sep- Verfolgung durch die tember ausgelöst. Dies spiegelt sich in den wachsen- Herrschenden in Euro- den Spannungen in der öffentlichen Debatte zur Rolle pa zu entkommen. Die- des Islam in der amerikanischen Gesellschaft wieder. se Glaubensflüchtlinge Die Religiosität der Amerikaner ist, trotz Fällen von wollten in der Lage Diskriminierung gegenüber religiösen Minderheiten, sein, ihren Glauben frei schon immer ein stark verbindendes Element der In- zu wählen und ausü- tegration von neuen Zuwanderern in die amerikani- ben zu können. Deswe- sche Gesellschaft gewesen. Das „First Amendment― an der Fas- gen war es wichtig, sade des Newseums in Washing- dass ein Schutz vor ton, DC (Foto: mr._mayer/Flickr) Eingriffen des Staates in ihre Religionsausübung gewährleistet war. Dieses Recht auf freie Religionsausübung wurde in Form des 1. Verfassungszusatzes als „First Amend- ment― bereits am 15. Dezember 1791 der Verfassung von 1776 hinzugefügt: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof […]" Auf diese historischen Wurzeln lässt sich auch zurück- führen, warum die Vereinigten Staaten in religiöser Hinsicht viel pluralistischer sind als beispielsweise Deutschland. Seit der Gründung der USA existiert eine Der zweifelhafte Nachwuchs der Westboro Baptist Church Vielfalt religiöser Ansichten nebeneinander. Von An- (Foto: yskin/Flickr) beginn war klar, dass es keine „Staatsreligion― geben würde. In den USA darf keine Religion bevorzugt be- Das Verständnis von amerikanischer Religionsfreiheit handelt werden. Aus diesem Grund gibt es keine verursacht auf deutscher Seite oft Unverständnis, staatlichen Feiertage aufgrund eines religiösen Hin- denn der amerikanische Staat hat kein Recht, zwi- tergrundes nach europäischem Verständnis, noch sind schen „seriösen― und „unseriösen― Religionen zu un- Sonntage geschützt. Auch die Vorstellung einer – vom terscheiden. Aufgrund dessen genießen in den USA Staat eingezogenen – Kirchensteuer wie in Deutsch- Sekten und religiöse Gruppierungen, wie beispielswei- land wäre in den USA undenkbar. So finanzieren sich se die Scientology Kirche oder die Westboro Baptist alle Kirchen in den USA durch die Beiträge und Spen- Church, die vor allem für ihre extremen öffentlichen den ihrer Anhänger. Anti-Homosexualität-Proteste bekannt ist, den selben 9
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld rechtlichen Status wie die großen Weltreligionen. Dies bung Mitte der Siebziger Jahre durch den Obersten wird in den USA hingenommen, trifft jedoch außer- Gerichtshof katapultierte dieses Thema ins Zentrum halb des Landes oftmals auf Unverständnis. der Wahlentscheidungen von konservativen Wählern. Diese fühlten sich auch zu diesem Zeitpunkt nicht von der „Republican Party― repräsentiert und organisierten sich in der „moral majority―. Diese Initiative propa- gierte religiöse Vorstellungen in der Politik, mit dem Ziel, christliche Werte in Amerika wiederherzustellen. Die Wurzeln dieser politischen Bewegung lagen im „Bible Belt―, den süd- und südwestlich liegenden Bun- desländern, deren Kultur sehr stark vom konservativen, evangelikalen Protestantismus geprägt ist und wo die Anzahl der Kirchgänger signifikant höher ist als in an- deren Regionen der USA. Ronald Reagan gelang es im Präsidentschaftswahl- Plakatwand der Anti-Abtreibungskampagne in Rodemer, kampf 1980, diese christlich-konservativen Wähler Kentucky (Foto: Chris1051/Flickr) hinter sich zu vereinen und seitdem spielt diese Wäh- lergruppe eine wichtige und entscheidende Rolle in In Deutschland wird Religion als Privatsache gesehen, der „Republican Party―. Wie groß ihr Einfluss ist zeigt, die die Politik nicht beeinflussen sollte. Zudem dass es in absehbarer Zeit keinen Präsidentschaftskan- herrscht in Europa die Ansicht vor, dass der Staat vor didaten oder Vizepräsidentschaftskandidaten bei den der Religion geschützt werden muss. In Amerika hin- „Republicans― geben wird, der ein Abtreibungsbefür- gegen ist das säkulare Verhältnis zwischen Staat und worter ist. Ein weiteres Thema, das die religiöse Rech- Religion nicht mit einer Trennung von Religion und te gerade im letzten Jahrzehnt politisch mobilisiert öffentlichem Leben gleichzusetzen. Beispiel hierfür ist hat, ist ihre Opposition zur gleichgeschlechtlichen u.a. der Satz „in God we trust― auf allen Dollar Schei- Ehe. Dieses Thema hat mittlerweile den gleichen Stel- nen oder der morgendliche „Pledge of Allegiance― in lenwert für diese Wählergruppe wie die Abtreibungs- Schulen, mit dem sowohl Gott wie auch der Nation frage. Loyalität geschworen wird. Für jeden deutschen Besu- cher ist es befremdlich, wenn vor fast jeder politi- schen oder sportlichen Veranstaltung ein Gebet ge- sprochen wird. Diese Erfahrung machte auch der ehe- malige Bundesjustizminister Otto Schily. Bei einer ge- meinsamen Veranstaltung mit seinem amerikanischen Amtskollegen John Ashcroft rief dieser zunächst ein- mal zum Gebet auf und Schily blickte, während das Publikum brav die Köpfe senkte, etwas ungläubig John F. Kennedy, 35. Präsident der Vereinigten Staaten und Ka- drein. tholik (Bild: Chris D 2006/Flickr) Religion als Machtfaktor im politischen Alltag Kontrovers ist auch in vereinzelten Bundesländern der offensichtliche Einfluss mancher religiöser Gruppen Diese große Bedeutung von Religion im persönlichen auf die Bildungspolitik. Dort werden anstatt der Evo- Umfeld hatte in der Geschichte der USA immer auch lutionstheorie Variationen der biblischen Kreationis- einen großen Einfluss auf die Politik. Bis in die achtzi- mustheorie unterrichtet. Hier hat es aber in den letz- ger Jahre standen die polarisierenden Themen der ten Jahren eine Gegenbewegung gegeben und viele ―christlichen Konservativen― nicht im Vordergrund der dieser Entscheidungen wurden wieder rückgängig ge- politischen Debatte. Erst die Legalisierung der Abtrei- macht. 10
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Wie bereits erläutert, gibt es im Selbstverständnis der Initiativen der Stiftung im Transatlantischen Dialog USA keine Staatskirche, dennoch ist festzustellen, dass der Religionen - Promoting Tolerance die US-amerikanische Politik sehr stark von der angel- sächsisch-christlichen Tradition beeinflusst wurde und Seit 1992 führt das Transatlantische Dialogprogramm immer noch wird. Dies zeigt sich auch bei der Wahl zusammen mit dem American Jewish Council und dem ins höchste politische Amt der USA, denn mit der Aus- Regionalbüro Mittel-, Südost- und Osteuropa, Süd- nahme von John F. Kennedy, dem ersten und einzigen kaukasus und Zentralasien das Programm „Promoting Katholiken im Weißen Haus, waren bisher alle Präsi- Tolerance― durch. Die wichtigsten Projektziele sind die denten der USA Protestanten. Förderung eines Klimas des Respekts und des Pluralis- mus; die Verbesserung der Rechte von religiösen und Auch ist der politische Alltag viel stärker als in Europa ethnischen Minderheiten; der Austausch von „best von religiöser Rhetorik geprägt. Auffallend ist, dass die practices― multikultureller Gesellschaften; sowie die meisten Präsidenten der USA—Republikaner, aber Förderung von Toleranz durch die Stärkung der Zivil- auch Demokraten—sich häufig religiösem Vokabular gesellschaft. bedienen, um die US-Bürger hinter ihrer Außenpolitik zu vereinen. Bibliographie: Verclas, Kirsten, Religion and it‘s Impact on Foreign Policy in the United States and Germany. AICGS Issue Brief. February 2008. Voigt, Karsten D., Deutschland-USA: Religion und Po- litik in einer sich verändernden Partnerschaft. 2004. Wallis, Jim, God‘s Politics: Why the Right gets it wrong and the Left doesn‘t get it. A New Vision for Faith and Politics in America. Harper San Francisco. 2005. Foto: Arvind Balaraman/FreeDigitalPhotos.net Dies hat in der Vergangenheit oft zu Missverständnis- Claus Gramckow sen oder Unverständnis in der restlichen Welt geführt. Repräsentant USA und Kanada Die Begriffe wie „Evil Empire― oder „Axis of Evil― haben Transatlantisches Dialogprogramm zwar innenpolitisch Resonanz gefunden, aber die au- claus.gramckow@fnst.org ßenpolitischen Positionen der USA nicht gestärkt. Vie- le außenpolitische Entscheidungen wurden von dem Glauben geleitet, dass Amerika die „chosen nation― sei, dass die USA der Welt zum Besseren verhelfen können (Sendungsbewusstsein), und dass diese „Mission― der USA einen Kampf zwischen Gut und Bö- se darstelle. 11
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Religion, Gesellschaft und Politik im Mittelmeerraum tikel zur Religionsfreiheit; doch religiöse Minderheiten Ägypten: Neue Religionspolitik nach der – vor allem die Christen, Bahais und die kleine Gruppe Revolution? von Schiiten – klagen gemeinsam mit Menschen- rechtsgruppen über mannigfache religiöse Diskrimi- nierungen. Die Benachteiligungen haben durchaus amtlichen Charakter und reichen von einem systema- tischen Ausschluss von hohen Staats- und Regie- rungsämtern bis zu Behinderungen beim Bau von Got- teshäusern. Im Zuge einer gesellschaftlichen Islamisie- rung, die in den zurückliegenden drei Jahrzehnten das äußere Bild Ägyptens nachhaltig verändert hat, ver- schärfte sich die soziale Isolierung der Christenge- meinde. Hinzu kommt eine Zunahme der teilweise ter- roristischen Gewalt gegen Angehörige der Minderheit, deren trauriger Höhepunkt der Anschlag gegen die „Kirche der Heiligen― in Alexandrien in der Silvester- nacht war, dem 24 Menschen zum Opfer fielen. An- schläge und Überfälle gegen Kopten haben in den zu- rückliegenden Jahren zugenommen. Die Gewalt hat (Kairo) Die Revolution hat das politische Leben in die Minderheit in Angst und Schrecken versetzt, viele Ägypten auf den Kopf gestellt: Heute ist alles anders Kopten sitzen auf gepackten Koffern und wollen das als gestern: Nicht nur haben die Menschen in einem Land verlassen. beispiellosen Aufstand das verhasste Regime aus dem Amt gejagt; gleichzeitig entstanden neue Freiräume, Die Revolution hat eine neue Situation geschaffen. werden althergebrachte Tabus über Bord geworfen. Zu Obwohl die Amtskirche unter der Führung von Pabst einem solchen Tabu zählte lange die öffentliche Dis- Schenouda stets ein enger Verbündeter des Mubarak- kussion inter-religiöser Beziehungen. Religiös deter- Regimes war, haben sich viele junge Kopten der Revo- minierte Diskriminierung zu thematisieren, war eine lution angeschlossen – und einige haben ihren Mut „rote Linie―, auf deren Einhaltung die Herrscher mit mit dem Leben bezahlt. Eine neue Generation kopti- Argusaugen achteten. scher Christen verlangt nun – im Schulterschluss mit liberalen und säkularen Kräften – das Ende der Diskri- Laut Artikel 2 der Verfassung ist Ägypten ein islami- minierung und einen radikalen Wandel in der Religi- scher Staat, die Sharia Hauptquelle der Gesetzgebung. onspolitik. Im Mittelpunkt der Diskussionen, die auf Dieser illiberale Artikel wird seit jeher von Ägyptens allen Kanälen und Foren entbrannt sind, steht Artikel kopfstarker christlicher Minderheit – und allen säkular 2 der alten Verfassung. Auf der einen Seite stehen die eingestellten Menschen – als in hohem Maße diskri- säkularen Kräfte – und hier namhaft die liberalen Par- minierend empfunden. Auf sechs bis acht Millionen teien und Bürgerorganisationen sowie progressive werden Ägyptens Christen – überwiegend orthodoxe Kopten – auf der anderen Seite die Islamisten. Die Kopten – geschätzt. Sie machen rund zehn Prozent größte und bekannteste islamistische Kraft sind die der Bevölkerung des volkreichsten arabischen Landes Muslimbrüder. Im islamistischen Lager gibt es Diffe- aus und sind – absolut gesehen – die größte christli- renzierungen, eine Zersplitterung wird erkennbar: Ra- che Volksgruppe in der Region. Die koptische Kirche dikaler noch als die Muslimbrüder sind die Salafisten, geht auf den Heiligen Markus zurück und ist eine der die unter dem Einfluss der saudiarabischen Wahabiten ältesten christlichen Kirchen überhaupt. stehen und kompromisslos die Einführung und An- wendung der Sharia verlangen. Zwar enthält Ägyptens geltende Verfassung einen Ar- 12
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Religion ist für alle Ägypter ein sehr wichtiges Thema, nicht-jüdischer Religionsgemeinschaften wird mit ad- ja zentraler Lebensinhalt. Hier sind Kopten und Musli- ministrativen Mitteln unterbunden. me mehrheitlich einer Meinung. Im schlimmsten Fall werden die konfessionellen Spannungen in Ägypten zunehmen und zu neuer Gewalt führen. Im besten Fall besinnen sich die Menschen auf die viel beschwo- rene religiöse Harmonie, die über weite Strecken der Geschichte das Verhältnis zwischen den Religionsge- meinschaften am Nil geprägt hat. Israel/Palästina: Religiöse Rückbesinnung im Heiligen Land (Jerusalem) Für das ―Heilige Land‖, die Ursprungsstät- te der drei großen monotheistischen Religionen, stellt Altstadt von Jerusalem (Foto: Carsten Raum/Pixelio.de) das Phänomen der Religion und des Religiösen nicht nur aus dem Blickwinkel der Tourismuswirtschaft ei- Eines der wichtigsten Probleme innerhalb der jüdisch- nen zentralen Faktor für Politik und Gesellschaft dar. israelischen Mehrheitsgesellschaft ist der Gegensatz Dies gilt in ganz einzigartiger Weise für den Staat Is- zwischen einer (relativen) Mehrheit säkularer Juden rael, der seine Entstehung zwar primär dem Streben und den immer mehr an Bedeutung gewinnenden des jüdischen Volkes nach einer „nationalen Heim- Gruppen ultraorthodoxer und orthodoxer Juden, die statt― im Sinne des (säkularen) europäischen Nationa- sich – expressis verbis oder defacto – zum Ziel gesetzt lismus des 19. Jahrhunderts verdankt. Aufgrund des haben, den jüdischen Staat im Sinne ihrer religiösen spezifischen Selbstverständnisses des Judentums als oder religiös-politischen Vorstellungen umzugestalten. ethnisches Volk und als religiöse Gemeinschaft aber Dabei werden nicht nur die Grundlagen des Grün- haben die jüdische Religion, ihre Werte und ihre Re- dungskonsenses von 1948, sondern tendenziell auch präsentanten von der Staatsgründung an einen weit die Grundlagen der liberalen Demokratie in Israel höheren Stellenwert, als es die Staatsdoktrin, der sä- schlechthin immer mehr ausgehöhlt. Ihre besonders kulare Zionismus in der Tradition Theodor Herzls, ei- radikale Ausprägung finden diese Unterminierungsver- gentlich vermuten lassen sollte. Am Beginn des Staa- suche im „religiösen Zionismus―, der eine zunehmend tes steht die in ihrem Geiste durchaus „bürgerlich- aggressiv gegen Andersdenkende und Andersartige liberal― zu nennende Unabhängigkeitserklärung von gerichtete Ideologie darstellt, die der Staat Israel trotz 1948, die allen Bürgern des Staates, unabhängig von seiner säkularen Grundausrichtung kaum mehr ein- deren Religion oder ethnischer Zugehörigkeit, gleiche fangen kann. Dies zeigt sich vor allem im Umgang Bürgerrechte garantiert. Diese Proklamation der Reli- mit der religiösen Siedlerbewegung, die keinerlei Ver- gionsfreiheit gilt bis in die Gegenwart im Grundsatz pflichtung zum Respekt vor dem religiös neutralen fort, auch wenn im Alltagsleben – fern vollmundiger Rechtsstaat anerkennt. Deklarationen – stets faktische Benachteiligungen für die religiösen Minderheiten (ca. 16% sunnitische Auf diesem Hintergrund ist es eine der vorrangigen Muslime, knapp 2% Christen, 1% Drusen) bestanden Aufgaben der liberalen Stiftung, politische und gesell- haben (z. B. im Bildungswesen), die sich nicht zuletzt schaftliche Partner zu gewinnen, die sich aktiv für die aus der Tatsache ergeben, dass die religiösen Minder- Bewahrung und den Ausbau der säkularen Grundlagen heiten im Regelfall der ethnischen Minderheit der ara- des Staates Israel einsetzen. An dieser „Frontlinie― – bischen Palästinenser angehören. Die freie Religions- nur vergleichbar noch mit dem Schutz der ethnischen ausübung ist in Israel weitgehend gesichert bis auf die Minderheiten im Lande – wird die Entscheidung fal- kleine Gruppe der sich als Teil des Christentums ver- len, ob Israel auch weiterhin den Ehrentitel einer stehenden „messianischen Juden―. Missionstätigkeit „liberalen Demokratie― wird beanspruchen können. 13
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Der im Werden begriffene Staat Palästina wird im Libanon: Religiöse Vielfalt zwischen Grundsatz auf säkularen Prinzipien aufgebaut, denen die die palästinensische Nationalbewegung tragenden Koexistenz und Bürgerkrieg Kräfte traditionell verbunden waren. Muslimen, Chris- ten und auch Juden wird in diesem Konzept ein (Beirut) Das kleine Mittelmeerland Libanon, vor allem gleichberechtigter Platz als Bürger eines zu schaffen- das zerklüftete Libanongebirge gelten seit Jahrhun- den palästinensischen Nationalstaates eingeräumt. derten als Zufluchtsort religiöser Minderheiten. Nicht Diesen theoretischen Grundlagen steht das Faktum weniger als achtzehn Religionsgemeinschaften wer- einer machtvollen Bewegung des politischen Islam im den in der libanesischen Republik offiziell anerkannt, Lande – wie sie sich seit den 1980er Jahren herausge- darunter zwölf christliche (ca. 35% der Bevölkerung) bildet hat – gegenüber, die vielerorts an die Stelle des und vier muslimische Konfessionen (ca. 65% der Be- weitgehend gescheiterten (säkularen) Panarabismus völkerung) sowie das Judentum. Diese Vielfalt ist seit getreten ist. Von ihr gehen im Alltagsleben der Bürger Jahrhunderten Fluch und Segen zugleich. Während sie Tendenzen und Aktionen aus, die geeignet sind, die in Zeiten der friedlichen Koexistenz dem Land den Ruf bestehende Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der ―Schweiz des Nahen Ostens― einbrachte, galt der der traditionellen Religionsgemeinschaften auszuhöh- Libanon – vor allem während des Bürgerkriegs von len. Auf dem Hintergrund des durchweg als vorrangig 1975 bis 1990 – allgemein als Musterbeispiel für das empfundenen nationalen Kampfes um die Befreiung Scheitern staatlicher Institutionen. Palästinas vom Joch der Besatzung werden Verstöße gegen den säkularen Charakter des Staates kleingere- det oder ignoriert. In ihrem Einsatz für die Pflege der Traditionen aufklä- rerischen Denkens und der Bürgergesellschaft in Pa- lästina gehört das kritische Augenmerk der Stiftung auch der wachsenden Tendenz zur faktischen Aushöh- lung des Prinzips der säkularen Ordnung des Staates. Diese wird – dies belegen vor allem die von der Stif- tung durchgeführten Meinungsforschungsuntersu- chungen zum Stellenwert liberaler Werte in der paläs- tinensischen Gesellschaft – immer mehr durch eine vermeintliche Rückbesinnung auf traditionelle islami- sche Werte unterlaufen. Eine derartige Entwicklung könnte zukünftig nicht nur den pluralistischen Grund- Uferpromenade in Beirut (Foto: Dietmar Burkhardt/Pixelio.de) zug der Gesellschaft gefährden, sondern ganz konkret die Existenzmöglichkeiten religiöser Minderheiten in einer islamischen Mehrheitsgesellschaft zunichte ma- Die konfessionelle Zugehörigkeit spielt im Libanon ei- chen. Auch in Palästina ist der Einsatz für die Siche- ne zentrale Rolle in Gesellschaft und Politik. Während rung der Religionsfreiheit in einem säkularen Staat Religions- und Glaubensfreiheit und die Gleichheit daher ein vorrangiges Arbeitsfeld für die liberale Stif- aller Bürger verfassungsrechtlich an prominenter Stel- tung. le verankert sind, postuliert die Verfassung gleichzei- tig ein komplexes Machtteilungsprinzip entlang kon- fessioneller Linien, wobei Christen und Muslime je- weils die Hälfte aller politischen Ämter bekleiden. Ent- sprechend dem ―Nationalpakt― von 1943 ist der Staatspräsident immer maronitischer (d.h. katholi- scher) Christ, der Premierminister sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident schiitischer Muslim. 14
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld Ein Paradox: Während die Libanesen für ihren ausge- tionell friedliche Koexistenz von Muslimen und Chris- prägten Nationalstolz bekannt sind, hat sich in der ten. Von den 6,3 Millionen Jordaniern sind ca. 95 Pro- libanesischen Gesellschaft nur in begrenztem Maße zent sunnitische Muslime, 3 Prozent Christen und 2 ein selbstbewusstes Staatsbürgertum entwickeln kön- Prozent Drusen, Schiiten und Bahais. nen. Selbst bei durch und durch säkularen Libanesen spielt die nominelle konfessionelle Zugehörigkeit häu- Die Verfassung garantiert das Recht auf die freie Reli- fig die zentrale identitätsstiftende Rolle. gionsausübung, soweit öffentlicher Anstand und Mo- ral nicht verletzt werden. Verankert ist ebenfalls das Während das konfessionelle Proporzsystem sicher- Diskriminierungsverbot von Staatsangehörigen auf- stellt, dass alle anerkannten Religionsgemeinschaften grund von Religion. Während das christlich- an der Macht beteiligt werden, schließt es implizit all muslimische Verhältnis als gut gilt, gibt es Beschwer- diejenigen von der Ausübung politischer Ämter aus, den der kleinen Minderheit der Bahais, die offiziell die formal zu einer nicht offiziell anerkannten Religi- nicht anerkannt werden. onsgemeinschaft (z.B. Hinduismus, Buddhismus) kon- vertieren bzw. darauf bestehen, überhaupt keine reli- Christen sind aufgrund eines großzügigen Quotensys- giöse Zugehörigkeit zu registrieren. tems im Parlament im Vergleich zu ihrem Bevölke- rungsanteil überrepräsentiert und stellen neun von insgesamt 120 Abgeordneten. Der König beruft regel- mäßig Christen in Ministerposten sowie in den er- Jordanien: Religiöse Harmonie im nannten Senat. Auch in der Privatwirtschaft sind Christen auffällig erfolgreich. Haschemitenreich Nicht vereinbar mit einer westlich-säkularen Bürger- (Amman) Im Königreich Jordanien ist der Islam laut tumstradition ist das Fehlen eines zivilen Familien- Artikel 2 der Verfassung Staatsreligion. Die Legitimität rechts und das damit in Verbindung stehende Verbot des haschemitischen Königshauses begründet sich von Austritten aus dem Islam - eine Folge islamischer auch mit der Abstammung von Hachim Ibn Abd Man- Rechtssprechung. Die jordanische Gesellschaft ist af, dem Urgroßvater des Propheten Mohammed. Nach nicht immun gegenüber radikalen Elementen des poli- ihm sind die Haschemiten benannt. tischen Islam, wobei die Regierung mit eiserner Hand gegen diese Gruppierungen vorgeht. Als wenig klug wird von Analysten der von weiten Teilen der Bevölke- rung als repressiv empfundene Umgang des Staates mit der Muslimbruderschaft gewertet, da dieser zu einer Stärkung der Gruppierung beitrage. Felsenstadt Petra, Jordanien (Foto: eckwe/Pixelio.de) Das Königreich Jordanien, in dessen Grenzen sich wichtige alt- und neutestamentarische Orte wie der Berg Nebo und die Taufstelle Jesu befinden, verweist stolz auf seine religiösen Minderheiten und die tradi- 15
FNF International News Religion, Gesellschaft und Politik im Spannungsfeld über die verkündeten Inhalte. Andere Religionen wer- Türkei: Schleichende Islamisierung im den zwar geduldet, sind jedoch zahlreichen Diskrimi- säkularen Staat nierungen ausgesetzt, die vom Verbot zum Grundbe- sitzerwerb bis zur Schließung des Priesterseminars der orthodoxen Kirche reichen. Auch Aleviten und Schii- ten leiden unter Benachteiligungen. Trotz des formal- bzw. verfassungsrechtlich veranker- ten Säkularismus erfolgte im Zuge der Regierungs- übernahme der AKP eine Trendwende in der türki- schen Gesellschaft hin zu einer stärkeren Rolle des Islam und islamisch-konservativer Wertvorstellungen. Auch nach dem 2008 abgeschmetterten AKP- Verbotsverfahren versucht die Regierungspartei er- neut, das Kopftuchverbot—diesmal ohne rechtliche und verfassungsrechtliche Änderungen—zu kippen Süleymaniye-Moschee in Istanbul (Foto: Bildpixel/Pixelio.de) bzw. zu unterlaufen, indem sie die Leitungsposten der öffentlichen Schulen und Universitäten mit ihren Ge- (Istanbul) Die Türkei ist in der Region Mittelmeerlän- folgsleuten besetzt. In öffentlichen Äußerungen wird der das einzige Land mit muslimischer Bevölkerung, das Tragen des Kopftuches vom türkischen Minister- das über eine säkulare Verfassung verfügt. Der Säkula- präsidenten Erdogan als „conditio sine qua non― ver- rismus, die Trennung von Staat und Religion, ist in der kündet und lässt von der Parteirhetorik her gesehen, türkischen Verfassung als unabänderbares Prinzip ver- Alternativen nicht zu. Darüber hinaus wird seitens der ankert. Dieses Prinzip geht auf die Zeit der Staats- Regierungspartei ebenfalls die traditionelle Rolle der gründung 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk zurück, Frau als Mutter und Hüterin der Familie in den Vor- der auch das bis dahin bestehende Kalifat und das dergrund gestellt. In einer Studie der Bahcesehir Uni- islamische Recht abschaffte. In der Geschichte der versität von 2009 gaben 62% der befragten Frauen Türkei hat es immer wieder islamistische Parteien ge- an, dass Religion oberste Lebenspriorität habe, nur geben, die, nachdem sie in Wahlen signifikante Ergeb- 13% plädierten für „Demokratie―, und 17% für Laizis- nisse oder Abgeordnetenmandate erzielen konnten, mus. 20% der Frauen hielten die Erlaubnis des Ehe- durch Gerichtsbeschluss verfassungsgemäß, d.h. mit manns zur Arbeitsaufnahme für „unbedingt erforder- Verweis auf das schon erwähnte Verfassungsprinzip, lich―, 64% für „erforderlich―.2 verboten und geschlossen wurden. Jüngstes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die seit 2002 mit abso- In diesem Zusammenhang sind auch die neuen Alko- luter Mehrheit regierende AKP, die nur knapp einem holverordnungen zu sehen, die teilweise den Alkohol- Verbotsverfahren entgehen konnte, weil sie das Kopf- konsum in öffentlichen Einrichtungen verbieten und tuchverbot an Schulen, Universitäten und öffentlichen selbst den Verkauf an Autobahnraststätten untersa- Einrichtungen aufheben wollte.1 gen. Die Polizei geht mit Kontrollen gegen Alkohol- konsum in der Öffentlichkeit vor; „Alkoholsünder― Über die Trennung von Staat und Religion—oder bes- werden angehalten und mit einem Bußgeldbescheid ser die Kontrolle der Religion—wacht das „Amt für Re- belegt, selbst wenn der Blutalkoholgehalt weit unter- ligionsangelegenheiten― (DYANET), bei dem sämtliche halb der erlaubten Promillegrenze liegt. Alkohollizen- Freitagspredigten vorab eingereicht und genehmigt sen von Restaurants und Bars werden restriktiv verge- werden müssen. Insofern hat der Staat die Kontrolle ben oder mit sehr hohen finanziellen Schankauflagen versehen. 1 Das Verfassungsericht befand die AKP islamistischer Umtriebe für schuldig, jedoch gab es im Richtergremium nicht die erfor- Journalisten, die kritisch über diese Sachverhalte be- derliche Mehrheit zur Schließung der AKP. Das Urteil beschränkte sich auf die Entziehung der öffentlichen Zuwendungen für ein 2 Mehr Details zu dieser Studie sind dem Türkeibulletin 10/09 zu Jahr. entnehmen. 16
Sie können auch lesen