Forschungsdaten und Bibliotheken - Gedankenexperimente zur Covidpandemie und Einschätzungen
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BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 2021; 45(2): 273–279 Wolfram Horstmann* Forschungsdaten und Bibliotheken – Gedankenexperimente zur Covidpandemie und Einschätzungen https://doi.org/10.1515/bfp-2021-0029 Stellen wir uns vor, dass im Jahr 2070 eine neue Covid- pandemie entsteht. Die Pandemie, die sich im Jahr 2020 Zusammenfassung: Was wäre wenn eine erneute Covid- zeigte, konnte in den Folgejahren vollständig bewältigt pandemie im Jahre 2070 zeigen würde, dass eine schnelle werden. Das Thema beherrschte die Wissenschaft noch Eindämmung deshalb nicht möglich ist, weil die For- einige Jahre, wurde jedoch daraufhin vollständig von der schungsdaten aus den Jahren um 2020 nicht nachhaltig wissenschaftlichen Behandlung der Klimakatastrophe ab- gespeichert wurden. Ausgehend von dieser Frage wer- gelöst. Die Ausbreitung einer neuen Form von Coronaviren den Einschätzungen zur Rolle von Bibliotheken für For- im Jahr 2070 stellt Gesellschaft und Wissenschaft vor ähn- schungsdaten entwickelt. Grundsätzlich wird geschlossen, liche Herausforderungen wie im Jahr 2020. Es stellt sich dass Bibliotheken eine besondere Chance haben, einen die Frage, was man aus der Vergangenheit lernen kann, wichtigen Anteil an der Bewältigung der Herausforderun- um einen besseren Umgang mit der erneuten Pandemie zu gen im Kontext von Forschungsdaten zu tragen und damit ermöglichen? eine neue Identität der Bibliothek zu prägen. Überliefert ist der Korpus der Forschungsliteratur und Medienberichterstattung. Die Klimakatastrophe hat zu Schlüsselwörter: Forschungsdaten; Bibliothek; Covid; In- großen Umwälzungen in der Informationswelt geführt. Die frastruktur; Wissenschaftspraxis großen Unternehmen, die Informationen aus Wissenschaft und Medien gespeichert hatten, existieren nicht mehr. Das Research Data and Libraries-A Thought Experiment on the öffentliche System zur Informationsversorgung über Bi- Covid Pandemic and Considerations bliotheken, Archive und andere Einrichtungen wurde zu- Abstract: What if a new Covid pandemic in 2070 showed gunsten lebensrettender Maßnahmen zur Bekämpfung der that rapid containment is not possible because today’s Klimakatastrophe weitgehend abgewickelt. Eine Überfüh- research data from the years around 2020 were not sustai- rung der Datenbestände von Unternehmen und öffent- nably preserved. Based on this question, considerations of lichen Einrichtungen fand nur in reduzierter Form statt. the role of libraries for research data will be developed. It Eine Rekonstruktion der Ereignisse und Untersuchungen is concluded that libraries have a chance to play an impor- während der Covid-19-Pandemie aus dem Jahr 2020 muss tant part in overcoming the challenges in the context of also auf Basis von Texten, die überliefert worden sind, research data and thus to shape a new identity for the erfolgen. library. Dabei sind Analyseverfahren und Simulationstech- niken auf Basis künstlicher Intelligenz im Jahr 2070 so weit Keywords: Research data; library; Covid; infrastructure; vorangeschritten, dass eine Ausbreitung des neuen Coro- scientific conduct navirus durch gezielte Maßnahmen schnell einzudämmen wäre. Was fehlt sind Daten. Das Wissenschaftssystem im Dieser Beitrag nähert sich dem Thema Forschungsdaten in Jahr 2020 publizierte Forschungsergebnisse in Form von Form eines Gedankenexperimentes und eigener Einschät- Artikeln in einer fixierten Form, der sogenannten Portable zungen. Er ist damit nicht als ein wissenschaftlicher Arti- Document Format, kurz PDF. Daten waren lediglich als kel mit Bezug auf die umfassende Forschungsliteratur zu Grafiken oder in stark verkürzter Form enthalten. Die Da- dem Thema zu verstehen, sondern soll vielmehr noch ein- ten, die den Forschungsergebnissen zugrunde lagen, wur- mal die grundsätzlichen Herausforderungen in möglichst den separat verarbeitet und gespeichert. Die Reproduzier- einfacher Form aufzeigen. barkeit der Ergebnisse sollte gewährleistet sein, indem Forschende, die Ergebnisse überprüfen wollten, sich die *Kontaktperson: Prof. Dr. Wolfram Horstmann, Daten separat besorgten. Die Daten lagen verteilt in ver- horstmann@sub.uni-goettingen.de schiedenen Umgebungen, teils bei Unternehmen, teils in Open Access. © 2021 Wolfram Horstmann, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
274 Wolfram Horstmann Forschungseinrichtungen, teils in Informationsinstitutio- men. Der Diskurs in der Wissenschaft über diesen Typus nen. Standards, die eine Überführung der Daten in nach- von Forschungsdaten geht bis ins letzte Jahrhundert zu- haltige Pflege ermöglichten, waren nicht ausreichend rück – spätestens auf das Human Genome Project, das in etabliert, um eine Rettung der Daten während der Klima- den 1990er-Jahren ein weltweites System zum Teilen von katastrophe zu ermöglichen. Die Gesellschaft im Jahr 2070 Daten entwickelte, die an vielen Stellen der Welt pro- muss neue Daten erheben während die Covidpandemie duziert wurden. erneut ihren Lauf nimmt. Auch in Bibliotheken und Rechenzentren in Deutsch- Eine Debatte über die Schuldfrage entbrennt. Die Poli- land wurde das Thema adressiert.2 Die Bedeutung des tik kritisiert die Wissenschaft, in 2020 keine ausreichend Themas Forschungsdaten in Bibliotheken ist hoch. Open gute wissenschaftliche Praxis etabliert gehabt zu haben, Access, das andere beherrschende Thema in Bibliotheken, die es erzwungen hätte, dass Forschungsdaten immer und wurde und wird zum Teil vom Thema Forschungsdaten in jedem Fall bei Veröffentlichungen mitzuführen sind, um überspielt. Langfristig können Forschungsdaten das zen- Forschung reproduzierbar zu machen. Die Wissenschaft trale Thema für die Zukunft von Bibliotheken werden. kritisiert die Politik, die Datenpflege nicht auskömmlich finanziert zu haben, und dass die Förderung der For- schung nur auf den schnellen Fortschritt unter immer mehr Wettbewerb bedacht war. Die Gesellschaft insgesamt 2 Warum Forschungsdaten in fragt sich, warum Bibliotheken, Archive und andere wis- Bibliotheken? senschaftliche Infrastrukturen zwar in der Lage waren, die Texte zu retten, aber Daten nicht? Alle kritisieren, dass die Die Gründe, warum Forschungsdaten in Bibliotheken be- Industrie jahrelang an den Daten verdient, aber keine Vor- handelt werden sollten, sind ebenso hintergründig wie sorge für die nachhaltige Bereitstellung betrieben hat – offensichtlich. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Bibliothe- und dass Wissenschaftler*innen die Daten über die indus- ken erst einmal Unverständnis entgegengebracht wird, triellen Angebote gespeichert und verarbeitet haben. wenn das Thema angesprochen wird: „Bibliotheken ma- Das Gedankenexperiment soll Fragen aufwerfen. Wa- chen doch Bücher – was haben die mit Forschungsdaten rum gibt es keine Verpflichtung für die Reproduzierbar- zu tun? Wichtiger ist doch, dass die Daten in den Rechen- keit von Forschungsergebnissen? Warum hat das For- zentren gespeichert werden. Die Forschung übernimmt schungsdatensystem keinen doppelten Boden, der verhin- doch das Management von Forschungsdaten selbst!“ In dert, dass unkalkulierbare Risiken für die Wissenschaft der Tat ist die Herausforderung des Managements von For- entstehen? schungsdaten nur kooperativ zu bewältigen. Forschungs- daten im engeren Sinne werden von der Forschung pro- duziert und nur dort liegt auch die Expertise vor, die für das aktive Forschungsdatenmanagement benötigt wird. 1 Daten sind nicht gleich Bibliotheken und Rechenzentren sollten zudem arbeitstei- Forschungsdaten lig vorgehen, wenn es um die Speicherung und Verar- beitungskapazitäten geht – es macht wenig Sinn, dass Dabei werden Daten doch seit Jahren als Rohstoff des Doppelstrukturen entstehen und beide Einrichtungstypen 21. Jahrhunderts gesehen, wie der interessierten Öffent- sollten sich auf ihre Stärken konzentrieren. Die Stärken der lichkeit beispielsweise im Artikel von WIRED1 erklärt wur- Bibliotheken liegen in der nachhaltigen Bereitstellung. Es de. Daten sind nicht immer Forschungsdaten. Zu den Da- gibt dabei klar abgrenzbare Aufgaben: Sicherzustellen, ten, die die Industrie benötigt, gehören zum Beispiel Daten dass Metadaten und nachhaltige und eindeutige Identifi- über Menschen zu Ihrem Konsumverhalten oder ihrem All- kationsnummern vorliegen, die in internationalen Netz- tag. Diese und auch Daten aus sozialen Medien, z. B. Twit- werken verwendet und verarbeitet werden können, Kon- ter, sind nicht primär für die Forschung ‚gemacht‘, werden zepte für die langfristige Verfügbarkeit umzusetzen und aber in der wissenschaftlichen Forschung verwendet. For- Beratung zu rechtlichen und organisatorischen Aspekten schungsdaten im engeren Sinne sind solche, die aus der anzubieten. Unterscheidungskriterien für diejenigen For- Forschung, d. h. dem wissenschaftlichen Prozess, stam- schungsdaten, die in Bibliotheken gehalten werden und solche, die in der Forschung oder in Rechenzentren ver- 1 https://www.wired.com/insights/2013/02/is-big-data-the-new- black-gold. 2 https://dini.de/publikationen/dini-publikationen/.
Forschungsdaten und Bibliotheken – Gedankenexperimente zur Covidpandemie und Einschätzungen 275 bleiben, sind ebenfalls klar: Solche, die eine Bedeutung des maschinellen Lernens ist jedoch eher selten zu be- für die Wissenschaftskommunikation haben, sollten im obachten. globalen Bibliothekssystem nachgewiesen sein. Das be- Die zweite Kategorie von Bibliotheks-Forschungsda- trifft also alle Forschungsdaten, die in der Forschungslite- ten sind Metadaten. Früher als bibliografische Daten für ratur verweisen werden und zur Überprüfbarkeit der ver- Bücher als Grundlage der Bibliothekskataloge entwickelt, öffentlichten Forschungsergebnisse herangezogen werden sind Metadaten heute allgegenwärtig, wenn auch selten können müssen und diejenigen Forschungsdaten, die di- sichtbar. Sie liegen nahezu jedem Suchergebnis im Inter- rekt veröffentlicht werden. Hier wird es offensichtlich, net zugrunde, speichern Zeit und Ort des Fotos auf dem warum Bibliotheken eine Rolle spielen. Sie sind verant- Smartphone und sind eben auch für Forschungsdaten wortlich für die nachhaltige und offene Versorgung der wichtig. Bibliotheken haben bereits im 20. Jahrhundert Forschung, Lehre und Öffentlichkeit mit Literatur – und weltweit mit Metadaten für Bücher ein einmaliges öffent- die digitalen Möglichkeiten und die veränderten For- lich gestütztes System zum Suchen und Finden von Wis- schungspraktiken erweitern das Genre der wissenschaftli- sensressourcen aufgebaut, das global vernetzt ist und so- chen Literatur um die Komponente „Forschungsdaten“. Es wohl kontinental, national, regional und am Ort digi- wäre also geradezu fahrlässig, wenn Bibliotheken diese tale und physische Ressourcen zugänglich macht. Darauf Rolle nicht wahrnehmen würden. Denn dann wird die auszubauen und dies für Forschungsdaten zu entwickeln, Nachhaltigkeit der Wissenschaft eingeschränkt und es be- könnte die entscheidende Herausforderung für Biblio- steht keine Möglichkeit, Forschungsergebnisse nachvoll- theken im 21. Jahrhundert sein. Es geht dabei zum einen ziehbar in wissenschaftliches Kulturgut zu überführen. darum sicherzustellen, dass überhaupt Metadaten vor- Somit ergibt sich ein einfacher Dreiklang: die For- liegen, aber auch, in welchem Format und wie sie aus- schung produziert und bearbeitet Forschungsdaten aktiv, getauscht werden können. Zum anderen geht es aber auch die Rechenzentren stellen Speicher und Verarbeitungska- darum, die im Hintergrund etablierten Verfahren, wie pazitäten zur Verfügung und die Bibliotheken beschreiben die Benutzung von kontrollierten Vokabularien, Thesauri und pflegen diejenigen Forschungsdaten, die für die Wis- und Ontologien zur Vernetzung, Standardisierung, Nor- senschaftskommunikation wichtig sind. malisierung der Metadaten weiterzuentwickeln. Denn da- rüber lässt sich eines der größten Probleme für das For- schungsdaten-Management angehen: die Verknüpfung 3 Bibliotheks-Forschungsdaten unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Domänen. For- schungsdaten, die in der Wissenschaft produziert wer- Es gibt darüber hinaus die Perspektive der Bibliotheks- den, werden auch dort fachspezifisch mit Metadaten aus- Forschungsdaten. Bibliotheken haben eigene Forschungs- gezeichnet. Dadurch existieren zahllose Verfahren und, daten. Zunächst halten alle Bibliotheken Texte. Texte sind wenn überhaupt vorhanden, Spezifikationen für Metada- Forschungsdaten. Das ist so offensichtlich, dass es häufig ten. Jeden Metadatensatz intellektuell zu prüfen ist un- übersehen wird. Liegen Texte in digitalisierter Form vor, möglich, so dass automatisierte oder semi-automatisierte sind sie bereits als Bild Forschungsdaten. Digitalisate von Verfahren notwendig sind. Wie bei den Texten sind hier Handschriften etwa werden regelmäßig von der Wissen- Verfahren der Künstlichen Intelligenz und des maschinel- schaft untersucht, ob rein inhaltlich oder mit Bilderken- len Lernens notwendig. Hier haben Bibliotheken bisher nungsverfahren. Wenn dann auch noch der Text über wenig Ansätze entwickelt, die Chance zu nutzen und damit automatisierte Verfahren ausgelesen wurde, kann dieser fachübergreifende, interdisziplinäre Wissenschaft stärker bearbeitet werden, zum Beispiel um Digitale Editionen zu zu unterstützen. Die Forschung im Bereich semantischer erstellen. Viele solche Texte können einen Korpus erbrin- Netzwerke ist weit vorangeschritten, aber eine Überfüh- gen, den man mit Verfahren der Computerlinguistik unter- rung in die Praxis eines weltweiten öffentlich gestützten suchen kann. Zusätzlich gibt es in Bibliotheken große Systems steht aus. Bestände von lizenzierter Literatur, etwa Zeitschriftenar- tikel, für die sogar häufig auch Rechte für sogenanntes Text-and-Data-Mining vorliegen. Eine systematische Er- schließung dieser Möglichkeiten, Texte der Bibliotheken als Forschungsdaten zu behandeln, existiert am ehesten noch in den digitalen Geisteswissenschaften für die Erstel- lung von Digitalen Editionen. Die Nutzung dieses Daten- schatzes mit Methoden der Künstlichen Intelligenz und
276 Wolfram Horstmann 4 Forschungsdateninfrastrukturen senschaftspolitik ist hier gefordert, intelligente Angebote zu entwickeln, die es transformationsfähigen Bibliothe- und ein Appell an die ken erlauben, ihr Schicksal in den nächsten ein oder zwei Wissenschaftspolitik Jahrzehnten selbst zu gestalten und dabei erfolgreiche Kulturen der Bibliothekswelt auf ein neues Problem an- Forschungsdateninfrastrukturen sind im Prinzip nichts zuwenden. Es handelt sich hier um nicht weniger als die anderes als eine Institutionalisierung von den verschiede- Aufgabe, wissenschaftliches Kulturgut des 21. Jahrhun- nen Services, die oben genannt wurden. Bibliotheken sind derts nachhaltig zu sichern und die Identität der Biblio- zwar auf dem Radar bei deren Entwicklung, aber die Rol- thek als gesamtgesellschaftliche Institution weiterzuent- len sind noch nicht vollständig etabliert. Bibliotheken sind wickeln. in den Geisteswissenschaften stark vertreten. Es ist quasi das „Heimspiel“, weil die in Bibliotheken vorhandenen Textmaterialien dort am stärksten genutzt werden. In den Naturwissenschaften ist der Ruf der Bibliothek als 5 Die „institutionelle primärer Partner für wissenschaftliche Information einge- Forschungsdatenbibliothek“ als schränkt – wohl auch deswegen, weil die Bedeutung wis- senschaftlicher, digitaler Zeitschriftenartikel im Vorder- erfolgskritische Infrastruktur der grund steht und die Rolle der Bibliotheken bei deren Be- Wissenschaft reitstellung nicht so offensichtlich ist wie bei gedruckter Literatur. Die Aufgaben beginnen vor der eigenen Haustür. Die Di- Es ist eine kritische Kommunikationsaufgabe für Bi- versität von Forschungsdaten hat in der Wissenschaftspra- bliotheken, ein neues Rollenverständnis von Bibliotheken xis vor Ort zwei gegenläufige aber verbundene Effekte: Je als Akteur in einem global verteilten Netzwerk wissen- hochspezialisierter Forschende und damit die Forschungs- schaftlicher digitaler Information zu erklären. Dies hat daten sind, desto unwahrscheinlicher wird es, dass eine interne und externe Kommunikationsaspekte. Zu nahelie- einzelne Wissenschaftlerin oder ein einzelner Wissen- gend und gewohnt ist es, Bibliotheken auf Bücher und schaftler Ansprechpartner*innen im benachbarten Labor Lernraum zu reduzieren – besonders dann, wenn eine oder Büro findet. Es bilden sich global verteilte Netzwerke, neue Aufgabe der Bibliotheken als Eingriff in das eigene in denen Daten, Methoden und Ergebnisse ausgetauscht wissenschaftliche Handeln verstanden werden kann und werden. Auf der anderen Seite werden Gemeinsamkeiten erst recht, wenn es zusätzliche Finanzierungen erfordert, zwischen den Forschenden vor Ort verstärkt – und zwar die gegebenenfalls auch im eigenen Labor landen oder gar bei den Anforderungen an institutionelle Services. Es ist zu eigenen Mehrkosten oder Einsparungen führen könn- weniger das gemeinsame Labor oder der gemeinsame Kor- ten. Die Forschung kann jedoch auch als inhärent verant- ridor, der entscheidend für die Zusammenarbeit ist, son- wortungsvoll, rational oder pragmatisch gesehen werden. dern Fragen, wie Daten und Methoden in der Kommuni- Und die Botschaft, dass neue Kooperationsformen zwi- kation über das Internet und in den praktischen und recht- schen Forschung und Bibliothek entwickelt werden müs- lichen Rahmenbedingungen von virtuellen Verbünden sen, um den Herausforderungen der Forschungsdaten be- ausgetauscht werden können. Dies erfordert an Universitä- gegnen zu können, kann Gehör finden, wenn sie klar ten und Forschungseinrichtungen ein Umdenken, was gu- ausgesprochen wird. te Infrastruktur für Forschung überhaupt bedeutet? Viele Auch bibliotheksintern ist wichtig zu betonen, dass Services verlagern sich weg von der Universität oder For- die Übernahme dieser neuen Aufgabe einen massiven schungseinrichtung in Richtung virtueller Services indus- Strukturwandelprozess erfordert. Aufgaben des Personals trieller oder öffentlich gestützter Anbieter. Was aber an der verändern sich. Das bedeutet Schulung und ein langfristi- Universität verbleibt, sind Fragen der wissenschaftlichen ges Konzept zur Veränderung des Qualifikationsprofils. Qualität, Reputation und rechtlicher Verbindlichkeiten der Neue Kooperationsformen müssen institutionalisiert wer- Wissenschaft, die an einer Universität oder Forschungs- den. Das bedeutet neues Vertragswerk und die aktive einrichtung praktiziert wird. Denn der Name der Univer- Exploration neuer rechtlicher Rahmenbedingungen. Zum sität oder Forschungseinrichtung steht letztendlich bei der Teil kann dies aus der Transformation der heutigen Biblio- Veröffentlichung für immer neben dem Namen der Autorin theksaufgaben gestemmt werden, zum Teil sind aber auch oder des Autors. zusätzliche Mittel erforderlich, besonders als mittelfristige Diese Effekte führen zusammengenommen zu einer Programme für Personal und digitale Systeme. Die Wis- vielleicht überraschenden Sicht auf das, was man als
Forschungsdaten und Bibliotheken – Gedankenexperimente zur Covidpandemie und Einschätzungen 277 Infrastruktur bezeichnen kann. Eine Infrastruktur, die ken auch selbst zu Eigen machen müssen, wenn Infra- Fragen der wissenschaftlichen Qualität, Reputation und strukturen gemeinsam entwickelt werden. rechtlicher Verbindlichkeiten der Wissenschaft adressiert, In der Göttinger eResearch Alliance3 etwa, die gemein- wird ein kritischer Erfolgsfaktor für die langfristige Ent- sam von Bibliothek und Rechenzentrum getragen wird, wicklung von Universitäten und Forschungseinrichtun- dreht sich alles um Projekte. Es beginnt bei der Planung gen. Denn Reputation ist ein zentrales Lebenselixier der des Forschungsprojektes mit der Beratung von Forschen- Wissenschaft. Also muss Infrastruktur an Universitäten den in der Antragstellung bei Forschungsförderern. Die und Forschungseinrichtungen völlig neu gedacht werden. Forschungsförderer berücksichtigen mehr und mehr For- Es geht bei der Infrastruktur nicht mehr um Gebäude, schungsdatenmanagement als wesentliches Kriterium für Wandfarben oder Kaffeeküchen und es geht auch nicht die erfolgreiche Antragstellung in den Begutachtungskri- primär um technische Geräte und Systeme. Es geht um die terien. Für die Veröffentlichungen am Ende des For- Bereitstellung eines virtuellen Raumes für die Forschen- schungsprojektes wird ein Daten-Repositorium angebo- den vor Ort, der ihnen alle Möglichkeiten gibt, gute wis- ten, in dem Metadaten und persistente Identifikations- senschaftliche Praxis auszuüben. nummern für Datensätze gespeichert werden. In einer Bezogen auf Forschungsdaten bedeutet dies, dass institutionellen Literaturdatenbank können Artikel und Universitäten und Forschungseinrichtungen Sorge dafür Forschungsdaten verknüpft werden. Im Kontext der Ver- tragen müssen, dass diese gut dokumentiert sowie dauer- öffentlichungen sind es die wissenschaftlichen Journale, haft und rechtssicher gespeichert und für spezifizierte die mehr und mehr die Anforderung haben, dass neben Nutzungsformen abrufbar bereitgestellt werden können. dem Artikel auch die Forschungsdaten veröffentlicht sein All dies sind klassische Anforderungen an Bibliotheken. müssen. Man könnte diese Infrastruktur eine „institutionelle For- Auch bei Durchführung des eigentlichen Forschungs- schungsdatenbibliothek“ nennen. projektes kann die eResearch Alliance beteiligt werden. Sie entwickelt Software, stellt Systeme bereit oder kura- tiert Daten. Darüber hinaus werden Beratungsangebote zu rechtlichen Fragen und Schulungen zu guter Forschungs- 6 Vor-Ort-Aktivitäten zu datenpraxis angeboten. Auch werden Angebote für For- Forschungsdaten in Bibliotheken schungsdaten, etwa Datenbanken, die rein aus der For- schung entstanden sind, in nachhaltige institutionelle Der Begriff der „institutionellen Forschungsdatenbiblio- Angebote überführt. thek“ suggeriert ein monistisches, in sich geschlossenes, Die gemeinsamen Projekte und die Beteiligung an For- wenn auch zugängliches Ding, das in gewisser Art und schungsprojekten sind wesentlich, um ein gemeinsames Weise unzeitgemäß und zweckfremd wirkt. Es ist anzuneh- Verständnis zu entwickeln, wie Infrastruktur in Zukunft men, dass der Begriff seitens der Forschenden und des gestaltet werden muss. Es geht letztendlich um Menschen, Managements nicht selten Stirnrunzeln hervorrufen wird. die vor Ort zusammenarbeiten um vor Ort optimale Bedin- Eingedenk der oben beschriebenen Anforderungen muss gungen für gute wissenschaftliche Praxis im virtuellen sich dahinter jedoch ein ausgeklügeltes virtuelles System Raum zu schaffen. verbergen, das Forschenden alle Freiheitsgrade gibt, sich agil in global verteilten, hochspezialisierten Netzwerken zu bewegen. Solche Infrastrukturen existieren derzeit nur in Teilen und implizit in den komplexen Netzwerken der 7 Vernetzung von Wissenschaft, die aus Menschen, Information und Tech- Forschungsdateninfrastruktur nologie bestehen. Welchen Begriff man auch immer wählt, den Anfor- Lokale Angebote der Forschungsdateninfrastruktur müs- derungen können sich Forschende und Bibliothek vor Ort sen vernetzt sein. Regional beginnt es gegebenenfalls annähern. Dazu muss eine häufig ungewohnte Kooperati- gleich vor Ort, und zwar dann, wenn institutionelle Gren- on von Bibliothek und Forschung erlernt werden. Es bietet zen überschritten werden müssen. Das ist zum Beispiel sich an, konsequent Forschungsprojekte in das Zentrum der Fall, wenn verschiedene Forschungseinrichtungen an der Aktivitäten zu stellen – nicht etwa gleich mit institu- einem Ort ansässig sind, denn Forschende, die unter- tionalisierten Services, die auf dem Reißbrett entworfen wurden, zu beginnen. Forschungsprojekte sind ein zentra- ler modus operandi der Wissenschaft, den sich Bibliothe- 3 https://www.eresearch.uni-goettingen.de/.
278 Wolfram Horstmann schiedlichen Forschungseinrichtungen angehören, wen- Wissenschaft richtet sich letztendlich nur zum Teil an den nicht immer dieselben Praktiken an, haben unter- politischen Systemen aus. Wissenschaft muss Ländergren- schiedliche Standards und unterliegen unterschiedlichen zen und geopolitische Rahmenbedingungen transzendie- rechtlichen Rahmenbedingungen. In Göttingen etwa ar- ren können. Global ist es vor allem die Research Data beitet die eResearch Alliance daher im Rahmen des „Göt- Alliance,12 die die soziale Plattform für den Diskurs zu For- tingen Campus“,4 der neben der Universität die Max- schungsdaten zwischen den komplexen wissenschaftli- Planck-Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft, die Helm- chen Netzwerken stützt und so Standardisierung antreibt. holtz Gesellschaft sowie die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen betrifft. Derselbe Ansatz kann in geeigneter Form in regionalen Netzwerken fortgesetzt werden, indem 8 Am Ende bleibt die letzte Meile bilaterale Kooperationen mit Forschungseinrichtungen ge- bildet werden – oder eben auf Ebene des Bundeslandes, Angenommen, dass alle internationalen, kontinentalen, das in Deutschland auch die politische Zuständigkeit für nationalen und regionalen Netzwerke funktionieren, Bildung und Forschung ausübt. In der Tat entwickeln bleibt immer noch die Aufgabe, diese Angebote an die mehrere Bundesländer Forschungsdaten-Initiativen.5 einzelne Wissenschaftlerin oder den einzelnen Wissen- Auf nationaler Ebene existiert in Deutschland ei- schaftler vor Ort zu bringen. Die Wissenschaft tendiert ne Bund-Länder-Vereinbarung für eine Nationale For- dazu, sich ihre eigenen pragmatischen Lösungen zu su- schungsdateninfrastruktur,6 die im Wesentlichen den chen. Was aber bleibt, ist der Mensch vor Ort und seine Empfehlungen7 des Rates für Informationsinfrastrukturen Angehörigkeit zur Institution. Sollte diese Angehörigkeit folgt und deren Förderung von der Deutschen Forschungs- auch noch so kurz sein, so ist sie doch eine nicht zu gemeinschaft betreut wird.8 Ein Verein auf nationaler Ebe- unterschätzende Konstante, weil es dabei immer um ein ne koordiniert allgemeine, fachübergreifende Entwicklun- konkretes Einzelschicksal geht, das bei wissenschaftlichen gen und stellt Anschlüsse an das Europäische System her.9 Veröffentlichungen lebenslang und darüber hinaus mit In Europa ist vor allem die European Open Science Cloud10 dem Namen der Institution verbunden bleiben wird. zu nennen, die allgemeine, fachübergreifende Entwicklun- Es ist eben dieser Hintergrund, warum die lokale Ver- gen koordiniert und ebenfalls als Rechtsform etabliert netzung hier ausführlicher behandelt wird als die weiteren wurde. Wie in Deutschland mit der Bund-Länder-Verein- Vernetzungen. Der Anschluss des hinter einer Forschungs- barung soll auch in Europa politisch verbindlich zwischen leistung stehenden Menschen an Forschungsdateninfra- europäischen Staaten im Rahmen einer sogenannten ‚Part- struktur geht notwendigerweise immer von einem Ort aus. nership‘ agiert werden. Auch wenn Forschende mobil sind und nicht zwingend Auf nationaler und internationaler Ebene erfolgt der lokale Infrastruktur verwenden müssen, verbleibt eine An- Aufbau der Infrastrukturen fachbezogen. In der Natio- gehörigkeit, die sich in einer alltäglichen Lebensumwelt nalen Forschungsdateninfrastruktur werden zurzeit aus- samt ihrer digitalen Endgeräte niederschlägt. Bibliotheken schließlich fachbezogene Konsortien gefördert und in Eu- befinden sich aufgrund ihrer etablierten Systeme, ihrer ropa existiert ein fachlich organisierter Prozess, der sich Kultur und ihrer Erfahrung in einer besonders geeigneten an der „European Strategy Roadmap for Research Infra- Position, diese Angehörigkeit eines Forschenden zur Insti- structures“11 orientiert. tution mit Leben zu füllen und lokale Dateninfrastruktur gemeinsam mit den Forschenden zu modellieren. In der Telekommunikation ist der Begriff der „letzten Meile“ geprägt worden. Einfach ausgedrückt ist die Über- 4 https://goettingen-campus.de/de/. brückung der letzten Meile das Problem, dass es einfacher 5 https://www.forschungsdaten.info/fdm-im-deutschsprachigen- ist, dicke Kabel für viele Anschlüsse zu verlegen als dünne raum/. Kabel für einzelne Anschlüsse. Bibliotheken könnten in 6 https://www.gwk-bonn.de/fileadmin/Redaktion/Dokumente/Pap ers/NFDI.pdf. der Forschungsdateninfrastruktur diese schwierige He- 7 https://www.rfii.de/download/rfii-empfehlungen-2016/. rausforderung bewältigen und dabei eine neue Identität 8 https://www.dfg.de/foerderung/programme/nfdi/. der Bibliothek als gesamtgesellschaftliche Institution er- 9 https://www.nfdi.de/verein. 10 https://ec.europa.eu/info/research-and-innovation/strategy/ goals-research-and-innovation-policy/open-science/european-open- science-cloud-eosc_en. 20Strategy%20Forum%20on,also%20includes%20a%20Commission 11 https://ec.europa.eu/info/research-and-innovation/strategy/eur %20representative. opean-research-infrastructures/esfri_en#:~:text=The%20European% 12 https://rd-alliance.org/.
Forschungsdaten und Bibliotheken – Gedankenexperimente zur Covidpandemie und Einschätzungen 279 schließen. Es kann derzeit wohl nicht abschließend vor- Prof. Dr. Wolfram Horstmann hergesagt werden, ob ein dystopisches oder eine uto- Georg-August-Universität Göttingen pisches Szenario wahrscheinlicher ist. Das dystopische SUB Göttingen Szenario ist im Rahmen des Gedankenexperiments ein- Platz der Göttinger Sieben 1 gangs ausführlich geschildert worden. Das utopische Sze- D-37073 Göttingen nario ist so kurz, dass es trivial erscheint: Stellen wir uns horstmann@sub.uni-goettingen.de vor, dass im Jahr 2070 eine neue Covidpandemie entsteht. Die Pandemie, die sich im Jahr 2020 zeigte, konnte in den Folgejahren vollständig bewältigt werden. Das Thema be- herrschte die Wissenschaft noch einige Jahre und wurde sowohl in der Forschungsliteratur als auch in den For- schungsdatenbibliotheken gut dokumentiert. Durch Simu- lationen der Virus-Ausbreitung und rasche Impfstoff-Ent- wicklung hatte die Politik im Jahr 2070 leichtes Spiel, Maßnahmen zu ergreifen, um die Pandemie binnen Wo- chen einzudämmen und zu beenden.
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