Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

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Sonntag, 12. September 2021
                                                                     15.04 – 17.00 Uhr

                      Franz Schubert
        Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

                           Grün ist alle Utopie
                      Schubert auf Landpartie (11/21)

Das Reisen im frühen 19. Jahrhundert darf man sich nicht zu romantisch vorstellen. Eisen-
bahnen gibt es keine, noch nicht, man reist in der Pferdekutsche. Die Distanzen sind über-
schaubar, die Geschwindigkeit ist es auch. Zeitgenössische Berichte strotzen nur so von
Unfällen und Überfällen, von gebrochenen Rädern und Achsen, alkoholseligen Kutschern,
Übelkeiten, unwegsamem Gelände und zweifelhaften Reisegefährten, ja überhaupt von
einer drangvollen Enge im Kutscheninneren. Ein Vergnügen ist das nicht. Trotzdem findet
Schubert, wie er schreibt, im Unterwegssein „selige Augenblicke, die das düstere Leben
erhellen“.

Seien Sie herzlich begrüßt zur 11. Folge unserer Sendereihe: „Grün ist alle Utopie. Schubert
auf Landpartie“.

 1    ORFEO               Franz Schubert                                                  5‘12
      LC 08175            „Das Lied im Grünen“ D 917
      C 001 811 A         Margaret Price, Sopran
      Track 12            Wolfgang Sawallisch, Klavier
                          (1981)

Bei ihr versteht man vielleicht nicht alles vom Text, die Stimme aber, dieses leicht glockige
Seelentimbre macht vieles wett: die walisische Sopranistin Margaret Price mit dem „Lied im
Grünen“. Wolfgang Sawallisch war der Pianist. Ein spätes Lied vom Sommer 1827, das Schu-
berts Naturbegriff und Naturempfinden recht genau beschreibt: „O gerne im Grünen / Bin
ich schon als Knabe und Jüngling gewesen / Und habe gelernt und geschrieben, gelesen / Im
Horaz und Plato, dann Wieland und Kant, / Und glühenden Herzens mich selig genannt, / Im
Grünen, im Grünen“, so heißt es in der vorletzten Strophe. Schubert vertont das ohne grö-
ßere Eintrübungen oder Schattenwürfe, selbst am Ende, wenn der Frühling, dieser „freund-
liche, liebliche Knabe“, nicht mehr jung ist, bleibt die Musik versöhnlich. Für den Komponis-
ten ist die Natur Fluchtpunkt und Sehnsuchtsraum, von Anfang an. Raus aus der Enge der
väterlichen Schulstube, raus auch aus der Stadt, die für ihn oft so leer ist „an Herzlichkeit,
Offenheit, an wirklichen Gedanken, an vernünftigen Worten und besonders an geistreichen
Taten“, wie er aus der Ferne einmal schreibt. Das heißt auch, und das ist interessant: Für
Schubert ist die Natur nicht, wie für viele Romantiker, der eigentliche, unverfälschte, archa-
ische Lebensraum, sondern eine Sphäre, in der er sich geistig, kulturell, ja in einem weit
gefassten Sinn vielleicht sogar politisch verwirklichen kann. Lernend, schreibend, lesend,
Franz Schubert – 11. Folge            Seite 2 von 8

komponierend. Dazu gehören, einmal mehr, seine Freunde, deren Verwandte und Bekannte.
In der Natur ist Schubert nicht allein.

Rund um seine zweite Reise nach Linz und Steyr im Sommer 1823 entstehen 16 Deutsche
Tänze, die Robert Schumann in seiner hoch assoziativen Rezension als ein Gedränge von
Masken, Perückenmännern, Harlekinen, Rittern und Edeldamen beschreibt. Jeder Tanz ein
Charakterbild, wenn man so will. Und alles zusammen ergibt dann das Tableau einer von sich
selbst zu sich selbst befreiten Gesellschaft.

Es spielt Alfred Brendel.

 2     DG                  Franz Schubert                                                  11‘05
       LC 00173            16 Deutsche Tänze D 783 op. 33
       479 5545            Alfred Brendel, Klavier
       CD 32, Track        (1987)
       21

Musik, die zweifellos reisetauglich ist, ein Flügel oder ein Klavier steht immer irgendwo
herum und Noten sind rasch eingepackt. Alfred Brendel war das mit den 16 Deutschen
Tänzen op. 33, D 783.

„Schubert auf Landpartie“, darunter fallen im strengen Sinn hauptsächlich die Ausflüge, die
er zusammen mit Kupelwieser, Schwind, Jenger, Bauernfeld, Spaun und den anderen von
Wien aus in die nähere Umgebung macht. Tagesausflüge nach Schloss Atzenbrugg zum Bei-
spiel, oft wird es dabei spät oder man muss sogar übernachten. In jedem Fall hat man es
lustig, spielt Fangen oder Blinde Kuh, tanzt, veranstaltet Pantomimen und Charaden, isst und
trinkt, mal unter freiem Himmel, mal drinnen. Gereist wird im so genannten Zeiserlwagen,
einem offenen Gefährt mit langen seitlichen Sitzbänken, das zehn bis zwölf Personen fasst
und wenig kostet. Ein Kupelwieser-Aquarell zeigt, wie man sich eine solche Droschken-Partie
vorzustellen hat, ziemlich ausgelassen und vergnügt nämlich. Die Herren stehen auf den
Trittbrettern, die Damen sitzen im Wagen, Blicke und Worte fliegen hin und her. Für einmal,
so scheint es, geht es den Freunden nicht um Kunst, sondern um Unterhaltung, um puren
Zeitvertreib. Spaß würde man heute dazu sagen oder Entspannung, Entschleunigung – was
nicht heißt, dass Schubert darüber alles Poetische vergisst.

 3     SWR                 Franz Schubert                                                    2‘54
       LC 10622            „Frühlingsglaube“ D 686
       19415               Elisabeth Grümmer, Sopran
       Track 11            Hugo Diez, Klavier
                           (1956)

Die Natur als Sinnbild der menschlichen Seele: „Frühlingsglaube“ nach Uhland, eine histori-
sche Live-Aufnahme von 1956. Es sang Elisabeth Grümmer, es spielte Hugo Diez.

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Franz Schubert – 11. Folge                  Seite 3 von 8

„Schubert auf Landpartie“, unter den Titel dieser Sendung fallen im weniger strengen Sinn
auch seine drei größeren Reisen. 1819 nach Steyr, Linz und Kremsmünster, 1823 erneut nach
Linz und nach Steyr, und 1825 schließlich – und das ist Schuberts längste, ausgiebigste
Abwesenheit von Wien – reist er über Steyr, Gmunden, Linz und Salzburg bis nach Gastein
und wieder zurück. 1827 gibt es dann noch einen etwas längeren Aufenthalt in Graz. Man
kennt das von Beethoven, der sich gerne nach Baden bei Wien begibt oder nach Karlsbad;
und man kennt es vor allem von späteren Komponisten: Brahms fährt nach Altaussee, nach
Tutzing oder nach Kärnten, um zu arbeiten, und Gustav Mahlers diverse Sommerfrischen
sind ohne eigens errichtete „Komponierhäusl“ vor Ort kaum denkbar. Bei Schubert verhält
sich das anders. Er bekleidet in Wien kein Amt, er braucht keine Feriendomizile, in denen er
ungestört komponieren kann. Er verfolgt mit seinen Reisen und längeren Aufenthalten im
Oberösterreichischen andere Ziele: Schubert will Kontakte knüpfen, er will sich bekannt
machen, Aufträge akquirieren. Seine Reisen sind gewissermaßen Handelsreisen in eigener
Sache.

So lernt er während seines ersten Aufenthaltes in Steyr 1819 den Musikmäzen und Cellisten
Silvester Paumgartner kennen, bei dem er auch wohnt. Paumgartner bestellt bei Schubert
ein Werk nach dem Vorbild eines Septetts von Johann Nepomuk Hummel, das auch in einer
Quintettfassung vorliegt. An dieser orientiert sich Schubert und schreibt ein Quintett für Kla-
vier, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Das Ganze hat fünf Sätze, sehr ungewöhnlich,
aber daran ist der Auftraggeber schuld. Paumgartner nämlich wünscht sich zusätzlich einen
Variationensatz über das Lied „Die Forelle“, und so heißt auch das Quintett schließlich
„Forellenquintett“. Schubert bedankt sich für den Auftrag, indem er das Cello, Paumgartners
Instrument, wie eine Melodiestimme behandelt und singen lässt.

Der erste Satz, Allegro vivace, aus dem Klavierquintett in A-Dur D 667. Es spielen Andras
Schiff, Mitglieder des Hagen-Quartetts und der Kontrabassist Alois Posch.

 4     Decca               Franz Schubert                                                        14‘06
       LC 00161            Klavierquintett A-Dur D 667 op. 114 „Forellenquintett“
       411 975-2           1. Allegro vivace
       Track 1             Andras Schiff, Klavier
                           Mitglieder des Hagen-Quartetts
                           Alois Posch, Kontrabass
                           (1983)

Hand aufs Herz: Was ist das für eine Musik? Ein Dokument der so genannten „Krisenjahre“,
die Schubert um 1820 herum durchlebt, als freischaffender Künstler ohne materielle Basis,
im akuten Zerwürfnis mit dem Elternhaus? Oder ist das eine Musik, die vor allem Sorglosig-
keit an den Tag legt, ja vielleicht sogar eine gesteigerte „Bequemlichkeit“, was den Umgang
mit musikalischen Problemlösungsversuchen betrifft? Das hat man diesem Stück lange vor-
geworfen. Wir hörten den Kopfsatz aus Schuberts „Forellenquintett“ in einer Aufnahme mit
Andras Schiff, Clemens, Veronika und Lukas Hagen und Alois Posch, die allesamt blutjung
waren, als diese Aufnahme 1983 entstand. Die Hagens und Posch waren tatsächlich gerade
einmal Anfang 20 – in Schuberts Alter also, als er das Quintett komponiert.

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Franz Schubert – 11. Folge                  Seite 4 von 8

Der Gedanke liegt nahe: Wenn Schubert auf Reisen, im Grünen „selige Augenblicke“ erlebt,
wenn er „göttliche Berge und Seen“ sieht, dann spiegelt sich das auch in seiner Musik. Dann
ist auch sie beseelt und inspiriert und gewinnt dem Dasein leuchtendere Farben ab als
daheim, in Wien. Nun, ganz so simpel ist es natürlich nicht. Ein Komponist ist kein Sofortver-
werter, und etliche Eindrücke, die Schubert unterwegs sammelt, kommen in seiner Kunst
erst viel später zum Tragen. Als Abbilder eines besseren, leichteren Lebens, ja als eine Art
Trostgedächtnis. Das gilt aber auch umgekehrt und im Blick auf die besagten „Krisenjahre“,
in die Schubert vor allem als Komponist von Klavier- und Orchesterwerken gerät. Auf beiden
Feldern gibt es viel Experiment und viel Scheitern. Krise aber bedeutet nicht zwangsläufig,
dass, wenn denn ein Werk gelingt, auch musikalisch nichts anderes als Krise verhandelt wird.
Das ist der ambivalente Hintergrund, denke ich, vor dem man das Forellenquintett hören
sollte. Als Ausdruck eines sommerlichen Glücksempfindens; als Stolz eines jungen Kompo-
nisten über einen seiner ersten richtigen Aufträge; und auch als handwerkliche Rückversi-
cherung Schuberts bei sich selbst, dass es eben doch noch geht, das Komponieren. Mit etwas
weniger experimentellem, avantgardistischem Furor; aber nicht weniger souverän.

Das Finale, Allegro giusto.

 5     Decca               Franz Schubert                                                        10‘08
       LC 00171            Klavierquintett A-Dur D 667 op. 114 „Forellenquintett“
       411 975-2           5. Finale: Allegro giusto
       Track 5             Andras Schiff, Klavier
                           Mitglieder des Hagen-Quartetts
                           Alois Posch, Kontrabass
                           (1983)

Der Schlusssatz aus Schuberts Forellenquintett, das war noch einmal die Aufnahme mit dem
Pianisten Andras Schiff, mit Mitgliedern des Hagen-Quartetts und dem Kontrabassisten Alois
Posch.

Drei größere Reisen unternimmt Franz Schubert, wie gesagt, und jedes Mal führt ihn der
Weg ins Oberösterreichische, nach Linz. Warum? Hier lebt Spauns Schwager Anton Otten-
walt und führt ein großes Haus, veranstaltet Konzerte, gibt Gesellschaften, kurz: er schafft
Situationen, eine Atmosphäre, in der Schubert – dem jedes Antichambrieren schwer fällt –
sich einigermaßen natürlich bewegen kann. Schuberts Begleitung auf allen drei Reisen ist der
Bariton Johann Michael Vogl, und auch das hat, neben der gegenseitigen Wertschätzung und
Sympathie, pragmatische Gründe. Ein Sänger ist selbst sein Instrument, er muss nichts mit-
schleppen. Zwei Monate sind die beiden 1823 unterwegs, von Mitte Juli bis Mitte Septem-
ber. Über eines ihrer Konzerte in Linz bei Ottenwalt schreibt Josef von Spaun in seinen Erin-
nerungen: „Nach dem Vortrage einiger wehmütiger Lieder geriet der weibliche Teil des
Auditoriums ins Heulen, so dass das Schluchzen das Konzert Vogls und Schuberts zu einem
vorzeitigen Ende brachte. Erst eine gute Jause und Schuberts wie Vogls Humor brachten die
Gesellschaft wieder in Ordnung. Den beiden Künstlern, die durch jene Tränen besonders
geehrt waren, blieb der Tag, der erst im Mondlicht endete, unvergesslich.“

Welche Lieder es waren, die bezeichnenderweise gerade die anwesenden Damen so gerührt
haben? Wir wissen es nicht. Vielleicht waren es Lieder aus der gerade frisch komponierten
„Schönen Müllerin“, mit der Schubert Vogl früh vertraut macht.

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 6     Onyx                    Franz Schubert                                                        7‘14
       LC 19017                „Die schöne Müllerin“ D 795
       4112                    16. Die liebe Farbe
       Tracks 16 + 17          17. Die böse Farbe
                               Florian Bösch, Bariton
                               Malcolm Martineau, Klavier
                               (2013)

„Die liebe Farbe“, „Die böse Farbe“ – zwei Lieder aus der „Schönen Müllerin“, gesungen von
Florian Bösch und begleitet von Malcolm Martineau. Die Farbe ist hier das Grün: das grüne
Lautenband, das der Müllerbursche der Müllerin schenkt, weil sie das Grün so gern hat; aber
auch Rosmarin, Tränenweiden, Zypressen und das Grün des Jägers, nach dem die treulose
Angebetete Ausschau hält. Es wird klar: Die Metaphern, die Schubert in der Natur sucht und
findet, sind keineswegs nur positiv konnotiert. Was gestern noch Versprechen war und hof-
fen ließ, steht heute für Unglück und Verderben. Die Natur, die Schubert auf seinen Ausflü-
gen und Reisen kennenlernt, ist idyllisch und bedrohlich zugleich, mit allen denkbaren Schat-
tierungen dazwischen. Und Schubert ist das sehr wohl bewusst. Anton Ottenwalt in einem
Brief an Josef von Spaun: „Wie er  von der Kunst sprach, von Poesie, von seiner
Jugend, von Freunden und anderen bedeutenden Menschen, vom Verhältnis des Ideals zum
Leben u. dgl. – ich musste immer mehr erstaunen über diesen Geist, dem man nachsagte,
seine Kunstleistung sei so unbewusst, ihm selbst oft kaum offenbar und verständlich …“

Betrachten wir diese Kunstleistung einmal näher. Ende Mai 1825, kurz bevor er mit Vogl zu
seiner dritten und längsten Reise aufbricht, vollendet Schubert seine 16. Klaviersonate, die
Sonate in a-Moll D 845. Ein Jahr später veröffentlicht er sie, nennt sie „Grande Sonate“ und
widmet sie Erzherzog Rudolf, demjenigen also, dem Beethoven seine „Missa Solemnis“
zugeeignet hatte. Deutlicher geht‘s nicht. Neue Wege will Schubert beschreiten – und er
beschreitet sie mit Macht. Beethoven ist dafür nur ein Signal. Hören Sie das Scherzo aus die-
ser a-Moll Sonate, das in Konzertführern gerne als „Geniestreich“ gefeiert wird, als eine
leichtfüßige „Elfenmusik“, die Weber und Mendelssohn vorausahnen lässt. Ein Blick in die
Noten zeigt alles andere als das: Dieser Satz ist ein einziges jähes Zucken; motivisch in seinen
Jagdhornrufen, nein: Jagdhornstößen, harmonisch im Verzicht auf fast alle modulatorischen
Übergänge und dynamisch im krassen Wechsel zwischen Forte und Piano.

Es spielt Paul Badura-Skoda.

 7     Sony                    Franz Schubert                                                        7‘13
       LC 06868                Klaviersonate a-Moll D 845
       88985395492             3. Scherzo. Allegro vivace – Trio. Un poco più lento
       CD 6, Track 7           Paul Badura-Skoda, Klavier
                               (1971)

So klingt Schubert im Frühjahr 1825: zutiefst zerrissen, zerrissen zwischen dieser Zerrissen-
heit und dem Wunsch nach Harmonie. Als sträubte er sich gegen die eigene Modernität und
Fortschrittlichkeit. Das war das Scherzo, der dritte Satz aus der Klaviersonate in a-Moll D 845.
Es spielte Paul Badura-Skoda.

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Franz Schubert – 11. Folge              Seite 6 von 8

Drei Monate später ist er in Gastein, hat auf der Reise Berge, Seen, viel Natur erlebt und
schreibt wieder eine Klaviersonate, die so genannte Gasteiner Sonate in D-Dur D 850. Kann
man schon von der a-Moll Sonate sagen, dass ihr Scherzo sozusagen „draußen“ spielt, unter
freiem Himmel (gejagt wird nun einmal nicht drinnen), so wirkt das Scherzo der D-Dur
Sonate, als risse es Wolken auf und gäbe den Blick frei: auf eine heroische Landschaft, auf
die Unmöglichkeit, sich einer solchen Landschaft hinzugeben, ohne sich zu verlieren. Nicht
von ungefähr zieht im Trio ein Wiener Walzer oder Ländler vorüber. Der Rest ist eine musi-
kalische Pattsituation: zwischen besänftigendem Geschehenlassenwollen und punktiertem
Vorwärtsdrängen.

 8     Sony                    Franz Schubert                                                  7‘13
       LC 06868                Klaviersonate D-Dur D 850
       88985395492             3. Scherzo. Allegro vivace – Trio
       CD 7, Track 3           Paul Badura-Skoda, Klavier
                               (1971)

Eine Musik, die keine Entwicklung kennt, und das ist das Rätselhafte, das Bestrickende an
ihr. Paul Badura-Skoda mit dem Scherzo aus Schuberts D-Dur Klaviersonate D 850.

Diese Sonate wird gern als eine Art Reisebericht verstanden über Schuberts Fahrt von Salz-
burg nach Gastein. Die Route führt ihn über Hallein, Golling, den Pass Lueg und Werfen am
Hochkönig: über „schreckliche“, „riesenhafte“, „schwarze“ Berge und „entsetzliche“
Schluchten, so notiert Schubert. Das Hochgebirge flößt dem Komponisten Respekt ein, ja es
macht ihm Angst. Fast bang schreibt er Ende Juli, auf dieser Fahrt, an die Eltern zuhause nach
Wien, Ferdinand, dem Bruder, scheint es nicht gut zu gehen. Schubert schreibt: „Könnte er
(Ferdinand) nur einmal diese göttlichen Berge und Seen schauen, deren Anblick uns zu
erdrücken oder zu verschlingen droht, er würde das winzige Menschenleben nicht so sehr
lieben, als dass er es nicht für ein großes Glück halten sollte, der unbegreiflichen Kraft der
Erde zu neuem Leben wieder anvertraut zu werden.“

Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore mit „Das Heimweh“.

 9     DG                                Franz Schubert                                        7‘11
       LC 00173                          „Das Heimweh“ D 851b
       477 9005                          Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton
       Track 7                           Gerald Moore, Klavier
                                         (1969)

Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore 1969. „Heimweh“-Lieder von Schubert gibt es
mehrere, dieses hier folgt einem „Heldengedicht“ von Johann Ladislaus von Pyrker in zwölf
Strophen und beschreibt die Sehnsüchte eines Gebirgsmenschen in der Ebene. Balladesk,
mit grauen Tönen für die Gegenwart und in gaukelnden Erinnerungen macht Schubert, der
Flachländer, sich diese Sehnsucht zu Eigen. Er komponiert das Lied ebenfalls in Gastein, im
August 1825, und der Textdichter ist interessant. Pyrker nämlich ist Patriarch, also Erzbischof
von Venedig, ihm hat Schubert bereits 1821 ein Liederheft gewidmet, sein Opus 4. Der Hin-
tergedanke dabei: Widmungen an wohlhabende Persönlichkeiten bringen Geld. 12 Dukaten

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Franz Schubert – 11. Folge             Seite 7 von 8

lässt Pyrker damals springen, was nicht wenig ist. Woher Schubert diese Geschäftstüchtigkeit
hat? Von Vogl, seinem Sänger und späteren Reisebegleiter, der dem jungen, mittellosen Kol-
legen auf diese Weise unter die Arme zu greifen versucht. Ganz weltfremd ist Schubert also
nicht.

Auch das folgende Lied entsteht in Gastein, auf einen Text von Ernst Schulze. Über drei Mo-
nate lang sind Vogl und Schubert nun schon unterwegs, es ist Anfang September, langsam
wird es Herbst und man denkt an die Rückreise nach Wien – mit gemischten Gefühlen.

„Auf der Bruck“.

 10     Avi                Franz Schubert                                                     3‘28
        LC: 15080          „Auf der Bruck“ D 853
        8553373            Andrè Schuen, Bariton
        Track 8            Daniel Heide, Klavier
                           (2018)

Der Rhythmus galoppiert, der Reiter blickt gleichzeitig zurück und nach vorn: Andrè Schuen
und Daniel Heide mit einem Lied aus dem Reisesommer 1825, „Auf der Bruck“.

Der österreichische Musikwissenschaftler Gernot Gruber wirft in seinem Schubert-Buch die
interessante Frage auf, was Schubert denn nun eigentlich gewesen sei: Naturschwärmer
oder – Landschaftsschwärmer? Gruber plädiert für den Landschaftsschwärmer, und wenn
man daraufhin Schuberts wenige Briefe und Reisebeschreibungen noch einmal liest, kommt
man schnell zu dem Schluss, dass Gruber Recht hat. Was den Komponisten anzieht und fas-
ziniert, ist nicht die Natur, das Grün an sich als Gegensatz zum Städtischen – sonst hätte er
sich beim Fürsten Eszterházy, auf dem platten Land, wohl nicht so schrecklich gelangweilt.
Was Schubert anzieht, ist vor allem und immer wieder das „liebliche“, „anmuti-
ge“ Voralpenland: rund um Steyr im Oberösterreichischen, in Gmunden am Traunsee und
auch von Salzburg aus. Mozart übrigens erwähnt er dort mit keinem Wort, anders als Michael
Haydn, dessen Grab er besucht. Schubert, so scheint es, braucht Landschaften, in denen sein
Blick schweifen und sich sanft brechen kann: nicht am Hochgebirge, das ist ihm zu drama-
tisch, zu furchteinflößend, sondern an Hügeln, an Bergen in gemessener Entfernung. Dann
ist er glücklich.

Rund um seine Aufenthalte in Gmunden und Gastein beginnt Schubert auch an einer Sinfonie
zu arbeiten, die die Forschung lange so genannt hat und für verschollen hielt: seine „Gmun-
den-Gasteiner“ Sinfonie. Die Vorstellung, Schubert feiere in einer emphatisch erlebten Som-
merfrische den Durchbruch in einer Gattung, um die er schon lange ringt, diese Vorstellung
war offenbar sehr verführerisch. Heute weiß man, dass es sich bei der „Gmunden-Gastei-
ner“ um die Große C-Dur Sinfonie handelt. Das Naturbildhafte, das ihre Musik prägt, das
Majestätische, Erhabene, „Große“ ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Und auch der
grundsätzliche Optimismus dieser Sinfonie nicht, ihre „himmlischen Längen“ – ein Optimis-
mus, der bei Schubert selten ist. Er nimmt sich hier Zeit und gibt uns Zeit, als eröffnete die
Natur ihm neue Räume und Dimensionen. Es gibt sie zwar auch hier, die katastrophischen
Einschübe, die Trübungen, Warnungen und zwischenzeitlichen Irritationen; anders als in der
„Unvollendeten“ aber behält Schubert hier die Fäden in der Hand. Diesmal siegt bei ihm die

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Franz Schubert – 11. Folge               Seite 8 von 8

Form. Dabei ist es nicht so leicht, diese Musik „absolut“ sinfonisch zu hören und nicht pro-
grammatisch oder episch, als einen „dicken Roman von Jean Paul in vier Bänden“, wie Robert
Schumann vorschlug.

Otto Klemperer und das Philharmonia Orchestra mit dem ersten Satz, Andante – Allegro ma
non troppo.

 11     EMI Classics                    Franz Schubert                                        14‘30
        LC 06646                        Sinfonie Nr. 9 C-Dur D 944 „Die Große“
        CDM 7638542                     1. Andante – Allegro ma non troppo
        Track 3                         Philharmonia Orchestra
                                        Ltg.: Otto Klemperer
                                        (1960)

Das Philharmonia Orchestra unter Otto Klemperer in einer Aufnahme von 1960 mit dem
Kopfsatz aus der Großen C-Dur Sinfonie D 944 – das „letzte gefüllte Stück symphonischer
Positivität“, wie Adorno schreibt.

Diese Sinfonie wird mich auch nächsten Sonntag beschäftigen, wenn es in unserer Sen-
dereihe über Franz Schubert um Schubert und Beethoven gehen soll: den Zeitgenossen, das
Vorbild, Fixstern, Nachbar, Konkurrent und Bruder im Geist zugleich. Mit keinem anderen
Komponisten hat Schubert sich zeitlebens so intensiv auseinandergesetzt. Und doch trennen
den Jüngeren vom Älteren Welten. „Grün ist alle Utopie – Schubert auf Landpartie“, das war
heute mein Thema. Ich bin Christine Lemke-Matwey und wünsche noch einen guten Sonn-
tagabend allerseits.

© rbbKultur vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                                www.rbbKultur.de
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