Frau Justitia in Verlegenheit

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Frau Justitia in Verlegenheit

Seht, da steht das Ungeheuer
Namens Jakob Niedermeyer!
Der, nachdem er anfangs Schreiber,
Später Mörder ward und Räuber.

                                     Als dies aber aufgekommen,
                                     Hat man ihn in Haft genommen;
                                     Und man faßte den Beschluß,
                                     Daß man Jakob köpfen muß.

Man vergaß jedoch hierbei,
Daß der Jakob bucklig sei;
Und sieh da, am Hochgericht –
Ach herrje! – da ging es nicht.

                                                 WILHELM BUSCH
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Das Lied einer Juristin                           4
Deutsche Sprüche des Professors aus Heidelberg    9
Mehrheitsmoralapostel                            13
Sicherheit versus Freiheit                       17
Willenlos                                        22
Lebenslügen                                      26
Die dunkle Seite der Staatsbürgerschaft          32
Staatsbürgerrechtliches Addendum                 40
Homo homini ~                                    42

                                                 45

Gleichbehandlung und Familienstand               46
Prof. Savigny                                    51
Mein 1968                                        53
1968                                             61
FS Festschrift                                   64
Überlebende und überlebte Vergangenheiten        67

                                                 78

                                                 79
Das Lied einer Juristin *

     Von wohl jeder auf ein Fach bezogenen Literatur gibt es, bei einiger
     Kultur, zwei Arten: Die meisten Erzeugnisse, seien es Bücher, Auf-
     sätze oder Rezensionen, sollen für die tägliche Arbeit eine Hilfe lei-
     sten, und manche sind für den Feierabend. Für jene ist, um mit
     Horaz zu reden, allein das prodesse und für diese nur das delectare
     das leitende Prinzip. Das hier bekannt zu machende Büchlein (es ist
     seines materiellen Gewichts wegen so zu nennen) scheint zu der
     zweiten Art zu gehören. Schon der Titel lässt daran kaum einen
     Zweifel: Ein Lied ist ein Stück Musik – und die ist für den Juristen
     doch gewiss für den Feierabend. Niemand wird auch in Hinsicht auf
     das Gesetz das Wort »Lied«, wie es sich bei den anderen literarischen
     Erzeugnissen gehört, so richtig ernst nehmen. Die Grundlage eines
     Liedes sind – Mendelssohns »Lieder ohne Worte« in allen Ehren –
     Worte und Noten. Ein Gesetz, zu dem Noten gehören, gibt es nicht
     und hat es wohl, außer vielleicht bei den alten Griechen, auch noch
     nie gegeben. Der Autorin (im Folgenden: Verf.) ist der Einfall, in Hin-
     sicht auf das Gesetz als juristisches Phänomen von einem Lied zu
     sprechen, durch Cicero (den als Advokat, Politiker und der Philoso-
     phie ergebenen Schriftsteller namhaften alten Römer) gekommen.
     Dieser hat de legibus: eben über die Gesetze ein Buch geschrieben.
     Darin kommt auch das uralte XII-Tafel-Gesetz vor, das die Römer
     später offenbar für die Quelle all ihres öffentlichen und privaten
     Rechts gehalten haben: fons omnis publici privatique iuris hat Livius,
     der Geschichtsschreiber, es genannt. Und von diesem Gesetz1 sagt
     Cicero, er habe es (wie Verf. seine Worte wiedergibt) »einst als Schul-
     junge auswendig gelernt, und zwar als ein carmen necessarium – als
     ›unentbehrliches Lied‹«.
        Verf. fragt (S. 54 in dem Abschnitt, der des Büchleins Mitte ist)
     mit vollem Recht, ob Cicero damit etwa habe sagen wollen, dass er
     die Worte dieses Gesetzes in der Schule »gesungen« habe. Sie kennt
     Ciceros Opera recht gut und zeigt sich sehr beeindruckt von dem,

4    HORST HEINRICH JAKOBS                                      myops 4 /2008
was an diesem Mann allen Juristen, die mehr den ›legal point of
view‹ haben, namentlich Theodor Mommsen,2 anstößig gewesen ist:
dass dieser Cicero ein Rhetor war und es mit der Wahrheit, wie es
Rhetorenart ist, nicht so genau nahm. War’s ihm nützlich: pro domo
sua, vermochte er selbst (wie Verf. meint) einen XII-Tafel-Satz zu er-
finden (und er wird, wie hinzugesetzt werden darf, bei seiner Erfin-
dung spekuliert haben auf die Erinnerungslücken seiner doch wohl
auch bei Gericht in der einen oder anderen Weise tätigen Mit-
schüler). Das XII-Tafel-Gesetz – so deutet Verf. hier mehr an, als dass
sie dies, wie schon anderweit geschehen,3 ausführt – ist überhaupt
eine Erfindung. Es ist eine Erfindung von sozusagen jesuitischer Art:
Sie diente dem guten Zweck, »das Chaos zu vermeiden«. Des Ge-
schichtsschreibers Livius fons omnis etc. also ist bloße Einbildung
gewesen; es waren »trügerische Gesetze«, die der »pfiffige Sänger
des carmen der römischen und romanistischen Welt … schenkte«
(S. 131).
   Wer nach Feierabend das Feuilleton seiner Zeitung beiseite gelegt
hat und noch Spaß daran findet, sich in historisch-philologischer Art
etwas vormachen zu lassen, wird von Verf. gerade auch auf diesem
von ihr sogenannten »dürren Land der Quellenkritik« auf das Beste
bedient. Es geschieht das umso besser für den, der das alles nicht so
recht ernst zu nehmen versteht, weil ihm bewusst ist: Es wird doch,
wem das Rhetorische gefällt, sich wohl auch selbst darin versuchen.
Der Satz bei Cicero, aus dem Verf. den Einfall hat, in Hinsicht auf
das Gesetz von »Lied« zu sprechen und darüber dann dieses Büch-
lein zu schreiben, lautet: Discebamus enim pueri [leges/m] XII [tabu-
larum] ut carmen necessarium, quas iam nemo discit. Der Leser hat es
bei der Verf. mit einer versierten Lateinerin zu tun. Das zeigt sie hier
und hat sie auch schon in ihren früheren Arbeiten zu einigen The-
men der antiken römischen Geschichte unter Beweis gestellt.4 Sie
weiß daher durchaus, dass carmen nicht notwendig mit ›Lied‹ zu
übersetzen ist. cantus ist sicher ›Lied‹, aber carmen kann auch ›Vers‹
heißen (zumal versus nicht unser Vers, sondern linea ist): carmen ne-
cessarium bei Cicero wird also, wie in unserer Übersetzungsliteratur
auch zu finden ist, eher heißen: ›Merkvers eines Lehrers‹. Und so re-
det dann Verf., die das, da sie selbst es anführt, auch weiß, rhetorisch
geschickt so, als sei Vers und Lied dasselbe, lässt selbst Nachtigallen
›Lieder‹ singen, was zu sagen – siehe Mendelssohn – ja auch nicht so
ganz bodenlos, vielmehr die Freiheit ist, die auch dem Dichter zu-
steht. Derart mit der zweifachen Bedeutung eines Wortes zu spielen,

myops 4 /2008                                                 Buchtipp     5
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