Gedanken zu Weihnachten und Neujahr - Gastbeitrag von Mag.phil. Matthias Brüstle, Geschäftsführer Demenz Liechtenstein - Demenz ...
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Gedanken zu Weihnachten und Neujahr Gastbeitrag von Mag.phil. Matthias Brüstle, Geschäftsführer Demenz Liechtenstein Der Schweizer Bundesrat hat unlängst vorgeschlagen, Weihnachten dieses Jahr im Wald zu verbringen. Hielten sich die meisten daran, wären die Wälder wahrscheinlich sehr voll. Aber wir sind mit der aktuellen Situation ja ohnedies schon ziemlich im Wald, wie wir uns denn nun konform verhalten sollen … 6 I 60plus
Jahreszeiten Hinsichtlich eines pandemiekonformen Verhaltenskodex für Weihnachten und Neujahr ist es mehr als einen Monat vor dem eigentlichen Anlass schwierig, Prognosen aufzu- stellen. Schlussendlich wird die Regierung Liechtensteins die entsprechenden Vorgaben ausgeben; und die sind ja unmissverständlich. Und auf alle Fälle zu befolgen. Das heisst dann sicher, dass Weihnachten 2020 und der Jah- reswechsel ein auf den jeweiligen Haushalt reduziertes Programm sein soll. Wie soll und kann ich mich nun verhalten, um in dieser neuen Situation zurecht zu kommen? Vielleicht kann ein Rückblick in die eigene Kindheit dazu einen Beitrag leisten. In den meisten Familien wird damals das Fest der Geburt Christi weniger vom Konsum, als eher von heimeligen Erfahrungen geprägt gewesen sein. Sie wissen schon: Krippenschauen in der Kirche, Lametta, Ker- zenduft, Bratäpfel, selbstgemachte Krömle, wenige, aber nützliche Geschenke. Vielleicht zwei Bescherungen: ein- mal zuhause, einmal bei den Grosseltern. Der Erwartungs- Matthias Brüstle, Weihnachten 1977 druck, ob es denn wohl das eine oder andere Spielzeug vom Christkind gebe, war sicher da; aber in einem über- Weihnachten als Kind schaubaren Ausmass. Was kann nun konkret als Idee herhalten, mit diesen un- gewohnten Vorgaben umzugehen? Nun, vielleicht eben die Erinnerung an die Zeit der eige- nen Kindheit, die aus heutiger Sicht vergleichsweise grosse Die behördliche Empfehlung Entschleunigung des damaligen Zugangs bewusst wahrzu- lautet dieses Jahr auf jeden nehmen, sich wieder hinein zu fühlen in die teils mehrere Fall, nicht im grossen Stil ge- Jahrzehnte vergangene Weihnachtszeit. Vielleicht helfen Ta- gebücher oder Fotos aus der damaligen Epoche, um sich an meinsam zu feiern. bisher vergessen geglaubte Details zu erinnern. Und da kön- nen auch konkrete Fragen die Erinnerung beflügeln. Woher kam damals der Christbaum? Wer hat ihn geschmückt? Wie verbrachte ich die «unerträgliche» Zeit bis zum Erklingen Und: Ich zumindest habe die Heilige Nacht auch als Stille des Glöckleins? Was gab es traditionellerweise zu essen? Nacht in Erinnerung; obwohl damals alle Brüder zuhause Erinnere ich mich an besondere Rollen und Bräuche? Wer waren, und drei Generation gemeinsam das Fest begingen. hat denn die Weihnachtsgeschichte vorgetragen? Haben wir gesungen, hat jemand musiziert? Was waren weitere Höhe- Die behördliche Empfehlung lautet dieses Jahr auf jeden punkte in diesen Freudentagen? Gab es Neujahrsbräuche? Fall, nicht im grossen Stil gemeinsam zu feiern. Das wird vor Wie hoch lag damals der Schnee? Hatten wir damals Gäste? allem bei einigen Grosseltern dazu führen, dass sie heuer Eine ledige Tante? Die Grossmutter? Was hat der Grossva- alleine der Geburt des Herrn huldigen. ter damals über seine Kindheit erzählt? War ich ein «bra- 60plus I 7
Jahreszeiten ves» Kind? Was würden meine Geschwister über die Weih- nachtsfeste von damals erzählen? Wie war das seinerzeit in der Schule? Steht das Gebäude noch? Gibt es aus der Zeit Bilder? Wen habe ich aus dem Kreis der damaligen Mitschü- ler aus den Augen verloren? Warum? Welche Perspektiven hatte ich damals – familiär und beruflich? Welcher Vorgabe musste ich folgen? Hatten die Eltern konkrete Pläne für mich? Was war mein geografischer Radius in der damaligen Zeit? Biografiearbeit Aus der Arbeit mit Menschen mit Demenz wissen wir, dass selbst, und je nach Umfang oder Qualität auch mit ande- der Erhalt des Selbst durch das Erinnern an das gelebte Le- ren. Wissenschaftliche Grundlage dafür sind u.a. Zugänge ben von immenser Bedeutung ist. Das Erinnern an die ei- aus der sogenannten Dignity Therapy [Würde-Therapie] von gene Wirksamkeit, an Gelingendes im Leben, an wichtige Harvey M. Chochinov1. Beziehungen, an Erwartungen anderer, an Vorhaben und an Erreichtes. Klarerweise macht aber auch das Erinnern an Sehr konkret gescheiterte Pläne, an Unglück, an Leid und Verlust einen Jetzt könnte man sich die Frage stellen, was denn dieser Menschen zu einem Ganzen. Umso mehr noch dann, wenn Er- Zugang überhaupt bringen soll? Der nach Chochinov ver- innern zunehmend abhanden kommt. Erinnern schafft Iden- wendete Fragenkatalog beinhaltet einerseits eine einfühl- tität, schafft Ordnung, macht den Menschen (wieder) zum same Erhebung der Ereignisse im Leben eines Menschen, Eigner seiner Lebensgeschichte. Und wir wissen, dass Erin- an die er sich besonders gern oder auch ungern erinnert, nern auch bei Menschen, deren Gedächtnis noch gut funk- an die «beste» Zeit, an Rollen und besondere Engagements; tioniert, zu wichtigen, entlastenden Gefühlen führen kann. Dinge, auf die wir besonders stolz sind und die uns be- sonders glücklich gemacht haben. Andererseits beinhal- Demenz Liechtenstein lanciert aktuell ein Projekt, das sich tet dieser Zugang Fragen nach Erkenntnissen aus dem ei- schlicht «Biografiearbeit» nennt, und dessen Ausgang er- genen Leben, die wir an andere Menschen – wie Kinder gebnisoffen angelegt ist. Die Idee dahinter ist, Menschen oder Enkelkinder – weitergeben möchten. Gibt es einen heranzuführen an bisher schlummernde Erinnerungserfah- Rat oder eine besondere Lebensweisheit? Gibt es Dinge, rungen, sie auf Papier oder Film festzuhalten und sie da- die Sie Ihrer Familie über sich mitteilen möchten? Erinne- mit zu konservieren. Wir möchten dafür offene Menschen rungen, die Ihnen besonders wichtig sind? Gibt es Dinge gewinnen, diese «neuen» oder wiedergewonnenen Erinne- oder Umstände, die noch ausgesprochen werden sollten? rungen und Erkenntnisse zu teilen. Zunächst nur mit sich Hüten Sie ein Geheimnis, das (jetzt oder später) gelüftet werden sollte? Was sind Ihre Hoffnungen und Wünsche für Ihre Angehörigen? Gibt es Empfehlungen, die Sie Angehö- rigen mitgeben möchten, um ihnen damit zu helfen, die Zukunft gut bewältigen? Sie sehen, bei diesem Zugang geht es um sehr konkrete Klarerweise macht aber auch und handfeste Fragen und Antworten. das Erinnern an gescheiterte Pläne, an Unglück, an Leid und Verlust einen Menschen 1 Vgl. Chochinov, Harvey Max: Würdezentrierte The- zu einem Ganzen. Und mehr rapie. Was bleibt – Erinnerungen des Lebens (2017) noch dann, wenn Erinnern zunehmend abhanden kommt. 8 I 60plus
Jahreszeiten Wem nützt Biografiearbeit? Jedem Menschen selbst! Erfahrungen zeigen, dass es Sinn Mehr Infos zum Projekt «Biografie-Arbeit» unter www.demenz.li macht, sich mit seiner biografischen Herkunft zu beschäfti- gen, darüber zu reflektieren, möglicherweise Verdrängtem bewusst zu begegnen und offene Dinge auch abzuschlies- sen. Übrigens: Manche Menschen meinen, dass ihr Leben eigentlich nichts Besonderes beinhalte und sie in Vielem Und jetzt sind wir wieder am Anfang dieser Gedanken: In gescheitert seien. Doch das stimmt nicht: Jedes Leben ist vielen früheren Weihnachtsstuben ist wahrscheinlich genau besonders und in jedem Leben begegnet man grossen He- das passiert. Am Ende des Jahres schloss sich der Kreis; rausforderungen, die es zu bewältigen gilt. Und die Tatsa- man zog Bilanz, dankte und gab weiter, was es weiterzu- che, dass man jetzt noch hier ist und lebt, zeigt, dass doch geben gab. In der frohen Hoffnung, dass sich nach Silvester Vieles bewältigt wurde und das zeichnet ihn oder sie aus. Schlechtes nicht neuerlich ereigne und Gutes sich wieder- hole. Die Alten erzählten, die Jungen hörten zu. Die Biografiearbeit kann auch anderen in der Familie die- nen, z.B. der nachfolgenden Generation, und deren Nach- Günstige Gelegenheit folgern. Weil sie dadurch neue Einblicke und Verständnis Wann – wenn nicht jetzt – eröffnet sich ein Zeitfenster, um dafür erhalten, warum sich Dinge so und nicht anders er- sich von der verordneten Entschleunigung nicht knechten geben haben und so quasi auch ein Vermächtnis der eige- zu lassen, sondern sie sogar als willkommene Gelegenheit nen Familiengeschichte erhalten – und im besten Fall auch zu betrachten, um sich mit dem in der Regel grösseren, einen Segen für die Zukunft. Und nebenbei kann das Wis- bereits vergangenen Teil unseres eigenen Lebens zu be- sen über eine Biografie den «Jungen» in der Familie dabei schäftigen? Vielleicht möchten Sie bei einem der eingangs helfen, bei Auftreten einer allfälligen dementiellen Erkran- erwähnten Waldspaziergänge über Weihnachten einmal kung des Erzählenden profunde Werkzeuge zum Erhalt von darüber nachdenken, ob Sie sich für dieses Engagement dessen oder deren Identität zur Verfügung zu haben. erwärmen könnten? Die Biografiearbeit dient vielleicht einer «neuen» gesell- Sollten Sie Interesse an konkreter Biografie-Arbeit mit unse- schaftlichen Entwicklung, einer neuen Tradition, also uns rer Beteiligung oder unter Anleitung verspüren, dann kom- allen: Innehalten und die eigene Geschichte(n) beleuchten, men Sie gerne auf mich zu; dann unterhalten wir uns –per- (vorläufiges) Formulieren dessen, was uns ausmacht, was sönlich und coronakonform – unter vier Augen weiter. Ich uns wichtig ist. bin gespannt … Kurzbiographie Matthias Brüstle, Jahrgang 1967; Nachzügler in einer Reihe von vier Söhnen. Klinischer und Gesundheitspsychologe. Arbeitspsychologe, CAS in Dementia Care. Matura 1986 am PG Mehrerau. Studium der Psychologe in Innsbruck. Diverse Postgraduate-Ausbildungen in Wien, Frankfurt, St. Gallen. 1994 bis 2008 tätig beim Verein für Betreutes Wohnen. Seit 2008 selbstständig in eigener Praxis (www.psycon.li). Seit 2012 Koordinator der Freiwilligen Sozialen Jahrs Liechten- stein (www.fsj.li). Seit 2011 mit Altersthemen befasst, ab 2015 für Demenz Liech- tenstein (www.demenz.li) 60plus I 9
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