Vom Ritter ohne Rüstung 4.4

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Kapitel 4

                                   4.4

                       Vom Ritter ohne Rüstung

                                           Alexandra Brinkama

                                           Zusammenfassung
                                           Für Wolfram Thomas waren Arbeit und Leistung immer ein wichtiger
                                           Bestandteil seines Lebens. Nach mehr als 30 Jahren voller Engagement
                                           im Beruf hatte er überraschend die Kündigung bekommen und damit
                                           Orientierung und Perspektive verloren. Sollte das, was bisher für ihn
                                           als sicher gegolten hatte, nicht mehr gelten? Was bedeutete diese
                                           Erfahrung für sein weiteres Berufsleben? Welche Schlüsse sollte er zie-
                                           hen? Herr Thomas kommt mit dem Wunsch nach neuer Orientierung in
                                           Bezug auf seine weiteren beruflichen Schritte ins Coaching. Durch den
                                           Einstieg über ein Karrieregespräch gewinnt Herr Thomas mehr Klarheit
                                           über sein Kompetenzprofil und mehr Toleranz für seine Entwicklungs-
                                           bereiche – aber auch mehr Bewusstsein für seine Interessen und Wün-
                                           sche. Während des sich anschließenden Werte-Coachings entwickelt
                                           er ein tieferes Verständnis darüber, was ihn beruflich leitet. Zugleich
                                           entsteht damit eine neue, breitere Basis für seine Handlungsfähigkeit
                                           in der Zukunft. Herr Thomas kommt aus dem Prozess mit mehr Festig-
                                           keit, Klarheit und Wertschätzung für sich und seine Ressourcen. Er hat
                                           sich – in seiner Sprache – seinen ‚Profilbaum‘ erarbeitet, der ihm mehr
                                           Richtung und mehr Freiheit in der Ver-Antwortung seines weiteren
                                           beruflichen – und persönlichen – Lebens geben wird.

                                           Briefing
                                           In einem telefonischen Kennenlernen schildert Herr Thomas seine
                                           Situation nüchtern und wenig emotional in einer präzisen Sprache. Er
                                           ist Mitte fünfzig und war in den letzten Jahren Vertriebsleiter in einem
                                           internationalen Unternehmen. Vor einigen Wochen wurde ihm – für ihn
                                           völlig überraschend und nicht nachvollziehbar – gekündigt. Er hatte
                                           gerade in seinem Bereich eine weitreichende Umstrukturierung umge-
                                           setzt und in ihrem Zuge einigen seiner Mitarbeiter kündigen müssen,
                                           aber nie erwartet, dass er letztlich selbst betroffen sein könnte. In
                                           seinen mehr als 30 Berufsjahren hatte er erfolgreich für verschiedenste
                                           Unternehmen im Bereich Vertrieb und Marketing gearbeitet. Er war

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Wertecoaching in der Praxis

          immer viel unterwegs, oft von Frau und Kindern getrennt               „Die meisten von uns gelangen
          und dabei stets mit viel Verve und Leistungsbereitschaft                nur in seltenen Augenblicken
          im Sinne der Unternehmen engagiert.                               zum vollständigen Bewusstsein der
                                                                           Tatsache, dass wir die Erfüllung des
          Herr Thomas arbeitete gerne und übernahm kontinuierlich           Daseins nicht zu kosten bekommen
          immer neue, verantwortungsvollere Positionen. Bei seinem        haben, dass unser Leben am wahren
          letzten Arbeitgeber fühlte er sich wohl – die Unterneh-                erfüllten Dasein nicht teilhat,
          menskultur, die für ihn von Offenheit, Leistungsorien-          dass es gleichsam am wahren Dasein
          tierung und vielen Entwicklungsmöglichkeiten geprägt                               vorbei gelebt wird.
          war, hatte er geschätzt. Als Führungskraft erlebte er sich           Dennoch fühlen wir den Mangel
          gefordert und anerkannt. Die Kündigung hat ihn daher                  immerzu, in irgendeinem Maße
          grundlegend erschüttert. Er erlebt sich als antriebslos,          bemühen wir uns, irgendwo das zu
          ohne Energie und Selbstbewusstsein, fast gleichgültig.                          finden, was uns fehlt.
          Das steht im krassen Widerspruch zu seinen bisherigen                Irgendwo in irgendeinem Bezirk
          Erfahrungen und seinem Selbstbild. Er sagt: „Ich bin an                    der Welt oder des Geistes,
          meine Grenzen gekommen.“                                                 nur nicht da, wo wir stehen,
                                                                            da, wo wir hingestellt worden sind
          Wolfram Thomas sucht mit dem Coaching Unterstützung               – gerade da und nirgendwo anders
          bei seiner Neu-Orientierung. Die Kündigung hat ihn zu                 aber ist der Schatz zu finden.”
          vielen Fragen geführt: Was ist eigentlich schief gelaufen?                                Martin Buber
          Warum habe ich das nicht kommen sehen? Wie kann ich
          vermeiden, dass mir das wieder passiert? Wo stehe ich nun beruflich?
          Wie will ich die nächsten zehn Jahre meines Berufslebens nutzen?
          Was ist mir wichtig?

          Dazu möchte er sich insbesondere mit seinen Werten auseinanderset-
          zen: „Über meine Werte habe ich eigentlich nie richtig nachgedacht.“
          Als Ziel des Coachings nennt er: „Ich weiß genauer, was ich beruflich
          mitbringe und kenne mein Wertesystem. Darauf baue ich meine nächsten
          beruflichen Schritte auf. Dann kann ich genauer sagen, was mir wichtig
          ist, was ich will und was ich tun werde.“

          Ich erlebe Herrn Thomas als engagiert, reflektiert, zugleich verletzt,
          verunsichert, dabei sehr rational. Als er beschreibt, wie man ihm die
          Kündigung aussprach, sagt er: „Das war nicht ganz so prickelnd.“

          Meine Hypothesen nach dem Gespräch
          A Herr Thomas sieht seine Vorstellung von Arbeit und Leistung als
            zentrale Bestandteile [Sinnverwirklichungspotenzial] seines Lebens
            in Frage gestellt.
          A Herr Thomas ging bisher davon aus, dass Loyalität und insbeson-
            dere Leistung ihm Sicherheit und Anerkennung, sprich Erfolg,
            bringen. Dieses Vertrauen ist grundlegend erschüttert.

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Kapitel 4

                                         A Herr Thomas zieht daraus vor allem auch den Schluss, dass er zu
                                           vertrauensselig war. Er beschreibt, dass er in seinem Berufsleben
                                           immer ein ‚gesundes Misstrauen‘ an den Tag gelegt, nun aber Signa-
                                           le offensichtlich nicht wahrgenommen hat.
                                         A Herr Thomas möchte ‚Herr der Lage‘ bleiben, indem er diese Situati-
                                           on von großer persönlicher Tragweite rational bearbeitet.

                                         Bezogen auf die ‚tragische Berufstrias‘ [vgl. Fußnote, S. 82] bewegen
                                         ihn die Themen ‚Verlust‘ und ‚Trennung‘. Herr Thomas beschreibt für
                                         mich die Kennzeichen einer Krise, auch wenn er das in seiner eher
                                         nüchternen Art nicht so nennt: Eine bisher gültige und hoch relevante
                                         Zielvorstellung und die dazugehörigen ‚Umsetzungsstrategien‘ stehen
                                         in Frage. Er ist verunsichert, welche Schlüsse er daraus ziehen soll,
                                         sprich: wie die angemessene ‚Anpassungsstrategie‘ aussieht.

                                         Verknüpfen wir die Krisen-Terminologie von Ulich et al. [vgl. Kapitel
                                         1.5.2] mit der Situation von Wolfram Thomas, so heißt das:

                                         A Bruch in der Kontinuität von Erleben und Handeln, der temporär
                                           einen belastenden und ‚offenen‘ Veränderungsprozess auslöst: Herr
                                           Thomas erkennt sich nach dem Verlust seines Jobs nicht wieder
                                           und sucht nach neuer Orientierung.
                                         A Desintegration im emotionalen Bereich mit Anzeichen von Selbst-
                                           zweifeln: Herr Thomas setzt der entstandenen Situation seine
                                           Rationalität entgegen.
                                         A Bedarf zur Aktivierung von Ressourcen: Herr Thomas hat mit sei-
                                           nem formulierten Coachingziel seinen Willen zur Selbstbesinnung
                                           beschrieben.

                                         Diese Eindrücke führen mich zu den folgenden Überlegungen:

                                         A Ich halte es für wichtig, zunächst Vertrauen aufzubauen: das [neuer-
                                           liche] Vertrauen von Herrn Thomas in sich selbst und das Vertrauen
                                           im Rahmen unserer Zusammenarbeit. Dabei helfen persönliche
                                           Wertschätzung, klare Ressourcenorientierung und ein Spannungs-
                                           bogen von den ‚einfacheren‘ zu den ‚schwierigeren‘ Themen.
                                         A Dazu gehört auch, Herrn Thomas durchgängig das Gefühl zu geben,
                                           dass er weiß, was geschieht und jeweils selbst die weitere Vorge-
                                           hensweise entscheidet, d. h. Transparenz und Entscheidungsmög-
                                           lichkeit zu den Methoden, Fragen und Impulsen.
                                         A Aus diesem Grund werde ich auch in erster Linie über den Zugang
                                           ‚Denken‘ arbeiten, da dieser Herrn Thomas am nächsten zu liegen
                                           scheint und damit Sicherheit und Akzeptanz schafft. Im Sinne der

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Wertecoaching in der Praxis

               Stärkung von weiteren Ressourcen möchte ich darüber hinaus den
               Zugang ‚Gefühl‘ bewusster machen. Transaktionsanalytisch heißt
               das für mich: ‚das freie Kind‘ stimulieren und dazu in – für Herrn
               Thomas angemessenem Maße – auch ‚spielerisch-kreative‘ Methoden
               nutzen.

          Wir beginnen die Zusammenarbeit mit einem Blick auf das ‚Gewesene‘.         Berufliche
          Herr Thomas berichtet von seinem beruflichen Werdegang, seiner               Standortbestimmung:
          Entwicklung im letzten Unternehmen und den Ereignissen, die zu der          Ein ‚Profilbaum‘
          Kündigung führten. Die ‚faktenorientierte‘ Betrachtung bietet einen         entsteht
          sicheren Einstieg und die Möglichkeit zur Strukturierung und Sortie-
          rung. Durch meine Fragen und Spiegelungen stärke ich zugleich den
          Blick für die Erfolge der Vergangenheit.

          Die Reflexion führt Herrn Thomas zu folgenden Schlussfolgerungen:

          A Sein Berufsweg war gekennzeichnet von Unterschiedlichkeit: mitt-
            lere und große Unternehmen, operative und strategische Aufgaben,
            kurze und lange Zeiten der Betriebszugehörigkeit, unterschiedliche
            Standorte. Er hat neue Herausforderungen gerne angenommen und
            sich dabei beruflich immer weiterentwickelt. Dennoch, vieles da-
            von, sagt er, „… hat sich so ergeben. Ich passe mich eben schnell an
            neue Systeme an und bin dann auch sehr engagiert, auch wenn mir
            zunächst vieles nicht entspricht.“ Das galt beispielsweise auch für
            die letzte Beförderung im Unternehmen. Eigentlich hat er sich „…
            nie zu Höherem gedrängt, aber gelernt, die erste Geige zu spielen.
            Ich arbeite lieber aus der zweiten Reihe“.

          A Karriere im engeren Sinne ist ihm nicht mehr wichtig: „Ich muss
            mich nicht mehr beweisen.“ Er möchte in den verbleibenden Berufs-
            jahren etwas machen, „… was mir Sinn gibt“ und dazu heraus-
            finden, was ihm wichtig ist.

          A „Meine Arbeit hat immer einen großen Spagat zwischen Beruf und
            Familie verlangt. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen und dachte,
            da kommt jetzt aber deutlich was zu kurz.“

          A Durch die Kündigung sieht er Werte in Frage gestellt, die ihm
            wichtig sind. Er nennt Authentizität, Verlässlichkeit, Loyalität und
            Leistung in Form von klarer Aufgabenorientierung. Er hatte ange-
            nommen, dies seien auch die Werte, für die das Unternehmen steht
            und die den Erfolg im Unternehmen gewährleisteten. „Ich habe
            immer darauf geachtet, dass die Zahlen exzellent sind und dachte,
            darum geht es. Ich habe einfach meinen Job gemacht. Ich habe mich

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Kapitel 4

                                             immer mit viel Engagement für meine Ziele und Überzeugungen
                                             eingesetzt und stand hinter meinen Mitarbeitern. Dann wurde mir
                                             gesagt, ich hätte mich zu sehr abgegrenzt, mein Team nicht mitge-
                                             nommen, zu sehr auf die eigene Stärke vertraut. Ich habe da wohl
                                             einiges ausgeblendet. Ich bin eben stark aufgaben- und ergebnis-
                                             orientiert.“

                                         Aufgrund dieser Reflexion und des aktuell anstehenden Bewerbungs-
                                         prozesses erweitert Herr Thomas sein Anliegen: Er möchte nicht nur
                                         mehr Klarheit über seine Werte, sondern auch über sein Kompetenz-
                                         profil bekommen.

                  Karrieremosaik:        Ich schlage vor, mit dem Kompetenzprofil zu beginnen und biete dazu
                Kompetenzen und          als Instrument das Karrieremosaik22 an, das sich an den Karrieredimen-
             Entwicklungsbereiche        sionen von Richard Nelson Bolles orientiert. Das Vorgehen bietet einer-
                                         seits eine klare Struktur und kommt damit Herrn Thomas‘ Arbeitsweise
                                         entgegen, lässt sich andererseits aber auch gut mit kreativen Methoden
                                         verbinden. Herr Thomas entscheidet sich für das Vorgehen und möchte
                                         die folgenden Aspekte erarbeiten: Kompetenzen, Entwicklungsbereiche,
                                         Interessen, Arbeitsbedingungen, Menschen und Werte.

                                     Wir starten mit dem Thema Kompetenzen. Damit arbeiten wir zunächst
                                     an ‚leichteren‘ Themen [Kompetenzen, Interessen, …], bevor wir zu
                                     den grundlegenden ‚Werten‘ kommen. Es gibt uns Gelegenheit, weiter
                                     Vertrauen in der Zusammenarbeit aufzubauen, und ich erwarte, dass
                                     diese Intervention Herrn Thomas einen stärkenden Blick auf seine
                                     Ressourcen ermöglichen wird. Um einen anderen als den – ihm wohl-
                                     vertrauten – kognitiven Zugang zu wählen, schlage ich ihm die Arbeit
                                     mit Erfolgsgeschichten vor. Herr Thomas hat in der Vergangenheit im
                                     Rahmen verschiedener Prozesse bereits mehrfach Feedback zu seinen
                                     Kompetenzen erhalten und ist interessiert an einer neuen Heran-
                                     gehensweise an das Thema. Ich bitte ihn, zwei oder drei Geschichten zu
                                     schreiben, aus denen wir dann seine Kompetenzen ableiten werden.

                                     Erfolgsgeschichten sind Geschichten oder Situationen aus allen Lebens-
                                     bereichen und Lebensphasen, die besonders sind, z. B.

                                         A   für die Art, in der man Dinge tut,
                                         A   weil in ihnen das Tun leicht von der Hand ging,
                                         A   weil in ihnen man zu besonderer Form gelangte,
                                         A   weil in ihnen man besondere Ergebnisse erzielt hat, …

                                         Dabei ist es wichtig, die Situationen genau zu beschreiben, also ihre
                                         Ziele, erlebte Hindernisse, vollzogene Handlungen und Ergebnisse.23

                                   266                 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen

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Wertecoaching in der Praxis

          Für das nächste Treffen bringt Herr Thomas drei Geschichten mit. Er
          berichtet, dass er zunächst lange darüber nachgedacht hat, was Erfolg
          eigentlich für ihn bedeutet und dabei erst im beruflichen Bereich
          gesucht hat. Letztlich hat ihn das aber zu der Erkenntnis geführt, dass
          ein ganz großer Erfolg für ihn seine Familie sei. Eine der Geschichten
          ist dann auch auf sehr persönliche und berührende Weise diesem Erfolg
          gewidmet: „Ist es nicht erfolgreich, wenn man sich nach noch so hefti-
          gem Streit immer wieder zusammenrauft und nach Lösungen, Verände-
          rungen oder Kompromissen sucht? Ich definiere es für mich als Erfolg,
          wenn Liebe, Zuneigung und Vertrauen zu einem Menschen stärker sind
          als noch so heftiger Streit. Wenn man 28 Jahre gemeinsam durch Dick
          und Dünn geht – und dabei sehr viel über sich selbst erfährt, an sich
          arbeitet und verändert. Es ist für mich erfolgreich, wenn ich mich selbst
          so einbringen kann, dass die anderen sagen, wir machen weiter mit Dir
          und wir stehen zueinander.“

          Wir werten die Geschichten aus, indem wir
          Fähigkeiten assoziieren, priorisieren und zu-
          sammenfassen. Herr Thomas ist überrascht, wie
          viele Kompetenzen sich aus den Geschichten
          ableiten lassen und äußert, dass ihn die Fülle
          der Fähigkeiten verwirrt [siehe Abb. 40]. Er
          kann noch nicht erkennen, wie das zu vergan-
          genen Rückmeldungen, die er bekommen hat,
          passt.

          Mehrere Struktur- und Sortiervorgänge führen
          schließlich zu einem für Herrn Thomas nach-
          vollziehbaren Kompetenzprofil. Wir ergänzen
          Entwicklungsbereiche, und er benennt hier ins-
          besondere die Selbstbewusstheit und Empathie
          sowie deutliche Fokussierung. Nicht alles auf
          seine Schultern zu nehmen heißt für ihn, auch
          Hilfe von anderen zu erbitten oder auch einmal
          ‚Nein‘ zu sagen.

          Das entstandene Profil gleichen wir ab mit bereits bestehenden Rück-                Abb. 40: Auszug aus
          meldungen, identifizieren Deckungen und diskutieren Diskrepanzen.                  dem Kompetenzprofil
          Für Herrn Thomas fügen sich nun Rückmeldungen aus verschiede-                        von Herrn Thomas
          nen beruflichen Phasen zu einem nachvollziehbaren und stimmigen
          Gesamtbild.

          © managerSeminare                                                           267

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Kapitel 4

                   Karrieremosaik:    Wir ergänzen das Profil mit Interessen, sowie Arbeitsbedingungen und
                        Interessen,   Menschen, in und mit denen Herr Thomas gerne arbeitet. Ich nutze da-
              Arbeitsbedingungen,     zu auch ‚spielerische‘ Fragen, wie zum Beispiel: ‚Stellen Sie sich vor, Sie
                          Menschen    wären in einem Einkaufszentrum, in dem es alle Produkte dieser Welt
                                      gäbe – in welchen Laden würden Sie gehen?‘, ‚Welche Artikel lesen Sie
                                      zuerst in der Zeitung?‘, ‚Stellen Sie sich vor, Sie würden einen Kongress
                                      organisieren, welches Thema würden Sie wählen?‘, ‚Wenn Sie einen
                                      schönen Abend mit Freunden verbracht haben, worüber haben Sie
                                      dann geredet?‘. Er hat sichtbar Freude an dieser Art, über das Thema
                                      nachzudenken und ist voller Energie.

                                      Zum Themenkreis ‚Menschen‘ frage ich: ‚Stellen sie sich vor, Sie gehen
                                      auf eine Party, bei der verschiedene Berufsgruppen in verschiedenen
                                      Teilen des Raumes zusammenkommen. Zu welcher Gruppe würden Sie
                                      sich stellen: Intellektuelle, Künstler, Menschen mit sozialen Berufen,
                                      Unternehmer, …? Was spricht Sie in den Gruppen an? Worüber reden
                                      Sie?‘ Und zu den ‚Arbeitsbedingungen‘ frage ich ressourcenorientiert
                                      unter anderem: ‚Unter welchen Bedingungen sind Sie in der Vergangen-
                                      heit zu einer Höchstform aufgelaufen?‘

            Was sich geändert hat     Herr Thomas resümiert in einer nächsten Sitzung diesen Arbeitsschritt
                                      und beschreibt Veränderungen, die er in der Folge eingeleitet hat. So
                                      hat er Stellenanzeigen kritischer analysiert und sich bei Bewerbungen
                                      klargemacht, was er ‚mitbringt‘ und wie er sich in Gesprächen ‚verkau-
                                      fen‘ kann – aber auch, was er nicht bieten kann oder möchte: „Meine
                                      Bewerbungen bekommen eine ganz andere Qualität.“… „Bisher habe
                                      ich mich auf das beworben, was da war und überlegt, was kann ich. Ich
                                      habe immer gemacht und den Baukasten genutzt, der ja auch da war.
                                      Jetzt überlege ich stärker, was will ich und was muss da sein, damit
                                      ich meine beste Leistung abrufen kann.“ Im Bewerbungsprozess fragt
                                      er nun gezielter nach und hat daraufhin die Entscheidung getroffen,
                                      einen laufenden Prozess zu beenden: „Das entsprach nicht dem, was
                                      ich mir hier erarbeitet habe. Da konnte ich schon sehr schnell sagen,
                                      da passt Du nicht hin. Früher hätte ich gesagt, na, das probier ich mal.
                                      Jetzt fühlte sich das einfach nicht gut an. … Ja, das kommt jetzt so
                                      langsam. Ich merke, dass ich da in einem Prozess der Klärung bin.“

                                         Herr Thomas spricht in zunehmender Offenheit über seine Entwick-
                                         lungsbereiche und entwickelt Toleranz und Akzeptanz dafür. Während
                                         dieses und weiterer Treffen nehmen wir uns immer wieder Zeit, seine
                                         Erfahrungen zu den durchgeführten Bewerbungen zu reflektieren.
                                         Er berichtet von Veränderungen und den Reaktionen seines Umfelds
                                         darauf. Er beschreibt auch die „Rückschläge“, und ich ermutige ihn,
                                         sich Zeit zu lassen und nachsichtig mit sich zu sein – ganz im Sinne

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Wertecoaching in der Praxis

          des Frankl‘schen Gedankens, dass man sich von sich selbst nicht alles
          gefallen lassen muss.

          Herr Thomas kommt aus diesem Teil des Prozesses gestärkter und
          selbst-bewusster. Er hat erlebt, wieder selbst entscheiden und steuern
          zu können, aber auch, sich mit Vertrauen auf andere und auf anderes
          einzulassen. Er entwickelt mehr Gefühl für seine Bedürfnisse und
          Wünsche, mehr Klarheit über seine Ressourcen und Entwicklungs-
          bereiche: „Das Bild ist für mich jetzt rund. Mir ist klarer, was bringe ich
          mit – und auch die Schwächen gehören zum Gesamtbild dazu. Es gibt
          Möglichkeiten, daran zu arbeiten!“ Zugleich beschreibt er zunehmend
          auch seine Unsicherheit: „Wie bringe ich das auf die Straße? Was mache
          ich jetzt damit? Welche Chancen habe ich noch auf dem Markt? Kann
          ich im Wettbewerb bestehen?“ Wir sprechen über die Erwartungen und
          Standards im Arbeitsmarkt [Alter, Karrierewege] und über die Risiken
          seiner beruflichen Situation. Jenseits der Gegebenheiten sprechen wir
          aber vor allem über seine Handlungs- und Haltungsalternativen.

          Ich stelle Herrn Thomas einige Gedanken von Viktor E. Frankl vor. Er
          fühlt sich besonders angeregt durch den Gedanken von der Trotzmacht
          des Geistes: „Die Trotzmacht des Geistes befähigt …, sich eigenen
          Charakterzügen wie auch gesellschaftlichen Umständen zu widerset-
          zen. Erforderlich ist dabei zunächst [sich selbst] zu erkennen, um sich
          daraufhin – falls erforderlich – vom Zeitgeist oder auch ein Stück weit
          von sich selbst zu distanzieren.“24                                                             Abb. 41:
                                                                                                  Der ‚Profilbaum‘
          Auch der Gedanke von den Aufgaben, die einem das Leben stellt
          und der eigenen Freiheit und Verantwortung spricht Herrn
          Thomas an. Ich beschreibe ihm meinen Eindruck, dass er sich
          auf diesem Weg der Selbstbesinnung befindet und sich im
                                                                                               Fähigkeiten
          Coaching zunehmend öffnet: „Ja, das ist eine neue Erfah-
          rung für mich. Ich war da immer sehr zugeknöpft. Alle                    ten
                                                                             schaf              Inte
          haben immer gesagt, wovor hast Du Angst. Ich lerne, mich      Eigen                       resse
                                                                                                          n
          zu reflektieren und über mich zu sprechen.“

          Herr Thomas entwickelt aus dieser Arbeit sein Bild von ei-
          nem – wie er es nennt – ‚Profilbaum‘ [siehe Abb. 41]. Der
          Baum besteht oberhalb der Erde aus seinen Kompetenzen,
          Interessen, … die Wurzeln sind die Werte, die ihn in der
          Erde, dem Arbeitsumfeld, verankern. „Mir wird klarer,
          dass der Boden wichtig für die Art des Baumes ist.                              Werte – Basis
          Wenn ich umgepflanzt werde, muss es der richtige
          Boden sein. Dazu muss ich aber erst mal den Baum                              Arbeitsumfeld
          mit seinen Wurzeln genau kennen.“

          © managerSeminare                                                             269

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Kapitel 4

                          Werteprofil     Nach der Arbeit mit dem Karrieremosaik fehlt noch der tiefere Blick in
                                         das Wertesystem von Herrn Thomas. Hierzu schlage ich ihm die Arbeit
                                         mit den LebensWerte-Karten vor [vgl. Kapitel 2.4]. Die Karten zeigen
                                         Wertebegriffe mit Anregungen für ihre inhaltliche Umschreibung. Herr
                                         Thomas ist sehr überrascht, wie viele Werte er benennt [siehe Abb. 42].

                                         Abb. 42: Auszug aus einer ersten Zusammenstellung von Werten
                                         durch Wolfram Thomas

                                         Ich bitte ihn, bei ‚verwandten‘ Werten zu überlegen, welche der Be-
                                         schreibungen und damit welcher Wert seinem inneren Bild von sich
                                         am besten trifft. Das führt ihn in intensive Überlegungen zu seinen
                                         Werten – was genau er meint und worum es ihm geht. In einem weite-
                                         ren Schritt priorisiert Herr Thomas seine Werteskala und bildet so eine
                                         Werteordnung. Und wieder ist er überrascht: sein Profil enthält Werte,
                                         die für ihn nicht positiv besetzt sind. Er nennt beispielsweise ‚Konti-
                                         nuität‘ und ‚Disziplin‘: „Das wirkt auf mich langweilig und unfroh.
                                         … Da fehlt mir die Dynamik.“ Herr Thomas bemerkt, dass ihm ein
                                         zentraler Wert fehlt: ‚Lebensfreude‘, und er ergänzt sein Werteprofil
                                         entsprechend. So ist es schon besser, aber insgesamt findet er seine
                                         Werteskala weiterhin ‚unattraktiv‘.

                      Von Werten zu      Meinen Vorschlag, seine Werte in konkretes Verhalten zu überführen
                          Verhalten      und dazu mit ‚Positivausprägungen‘ zu beginnen, begrüßt Herr Thomas.
                                         Ich wähle diese Vorgehensweise, um bei ihm eine Modulation seiner
                                         Einstellung zu seinem Wertesystem anzuregen, von dem ich spüre,

                                   270                  Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen

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Wertecoaching in der Praxis

          dass er es partiell ablehnt. Ich frage ihn: „Welche positiv besetzten
          Verhaltensweisen können Sie aus Ihren Werten ableiten?“ In dem von
          ihm zunächst so kritisch hinterfragten Wert ‚Kontinuität‘ erkennt er als
          Verhaltensaspekte: Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Unerschüt-
          terlichkeit und meint: „Andere wissen, woran sie mit mir sind. Ich gehe
          geordnet an die Dinge heran. Ich habe Kontinuität vorher sehr negativ
          als ‚Bequemlichkeit‘ gesehen und merke jetzt, dass der Wert ja auch die
          Wurzel für positives Verhalten sein kann. Es tut gut, mein Profil so zu
          konkretisieren. Ich sehe auch, warum ich die Unternehmenskultur im
          letzten Unternehmen geschätzt, aber auch warum ich mich mit manchen
          Aspekten so schwer getan habe. Da war es mal ‚Hü‘, und am nächsten
          Tag ‚Hott‘. Das hat mich manchmal verrückt gemacht.“

          Nach und nach bindet er so alle Werte an konkretes Verhalten und an
          frühere Konflikte und Erfolge, die er in der Vergangenheit erlebt hat.
          So bemerkt er, wie zentral der Wert ‚Leistung‘ für ihn ist [vgl. zur
          pyramidalen Werteordnung das Kapitel 1.6.4]. Gerade dieser ‚Leitwert‘
          ist es, den er durch seine aktuelle Situation in Frage gestellt sieht und
          der sich auf andere Werte wie beispielsweise ‚Selbstbewusstsein‘ aus-
          wirkt. Wird er wieder die Möglichkeit zur Verwirklichung von ‚Leistung‘
          haben? Kann er der im Markt erwarteten ‚Leistung‘ [noch] entsprechen?

          Wir konkretisieren sein Verständnis von Leistung und Herr Thomas
          erkennt, dass er Leistung viel umfassender versteht, als er sich das
          bisher bewusst gemacht hatte. Statt allein ‚Zahlen zu liefern‘ geht es
          ihm um einen viel umfassenderen Beitrag: „… durch den persön-
          lichen Einsatz etwas bewirken, dessen Wert sowohl ökonomisch als auch
          sozial oder ökologisch gemessen werden kann.“ Damit knüpft er seinen
          Leitwert an andere [gleichrangigen] Werte und kommt zu einer stärker
          ‚parallelen‘ Werteordnung. Seine Beschreibung enthält zudem eine
          deutlichere Bezogenheit auch auf andere Menschen.

          Wir konkretisieren auch die ‚Negativausprägungen‘ von Verhalten zu
          den einzelnen Werten. Nun merkt Herr Thomas, dass ihn Werte, die
          für ihn sehr positiv besetzt sind, in der Vergangenheit zu schwierigen
          Situationen geführt haben, wie beispielsweise der Wert ‚Loyalität‘. Die
          einseitige Ausrichtung an diesem Wert spielte auch eine Rolle bei der
          Kündigung. Ich frage ihn, welche anderen Werte er demgegenüber ger-
          ne aktivieren würde und er nennt die Werte ‚Gerechtigkeit ‚, ‚Verände-
          rung‘ und ‚Offenheit‘. In diesem Moment wird ihm bewusst, dass er eine
          Reihe seiner Werte in früheren Situationen gar nicht aktiviert hat. Das
          hat zu einer stark vertikalen Werteordnung geführt und zur aktuellen
          Situation beigetragen.

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Kapitel 4

                                         In Bezug auf die Ereignisse, die zu seiner Kündigung führten, vertrat
                                         Herr Thomas bisher die Ansicht, dass sich die Dinge wohl nur dann
                                         anders entwickelt hätten, wenn er einen Teil seiner Werte preisgegeben
                                         hätte. Das jedoch war für ihn insgeheim immer ausgeschlossen, und er
                                         erinnert eine Vielzahl von Entscheidungen und Handlungen, in denen
                                         er sich nicht verbog, wenngleich er sich aus der Sicht von Dritten
                                         damit sein Leben im Unternehmen ‚unnötig erschwerte‘.

                                         Er realisiert, dass er sich jetzt die Möglichkeit eröffnet hat, sich
                                         aufgrund seiner Werte [frei nach Frankl] bewusster als bisher ‚zu einer
                                         Situation so oder so zu stellen‘. Diese Erkenntnis begeistert ihn und
                                         wirkt spontan entlastend. Mit viel Elan arbeitet Herr Thomas weiter
                                         und erlebt als nächstes die Arbeit mit dem Wert ‚Verantwortung‘. „Ich
                                         übernehme immer die Verantwortung für andere. Das ist ein Kardinal-
                                         thema bei mir und das hat man mir auch vorgeworfen. Ich setze mir den
                                         Affen immer selber auf die Schulter. Jetzt merke ich, dass ich den ande-
                                         ren damit auch ein Stück Freiheit nehme. Das wird mir jetzt gerade klar.
                                         Ich möchte ja auch Respekt für den anderen zeigen, und ich traue es
                                         ihnen ja auch zu. Eigentlich will ich andere nicht anders behandeln, als
                                         so, wie ich es für mich selbst will. Ich will Freiheit und nehme sie aber
                                         anderen durch dieses Verhalten.“ Wolfram Thomas wird hier bewusst,
                                         wie er andere seiner Werte stärker aktivieren sollte, z. B. ‚Vertrauen‘,
                                         oder ‚Selbstverantwortung‘ und merkt, welche Dynamik sich mit einem
                                         Mal durch seine Wertebetrachtung ergibt.

                        Werte und        Herr Thomas kann die Verhaltensweisen, die er aus dem Werteprofil
                   Kompetenzprofil        erarbeitet hat, nun auch mit seinem Kompetenzprofil koppeln. Er fin-
                                         det beispielsweise seine Tendenz, den ‚Dingen auf den Grund zu gehen‘
                                         [aus dem Wert ‚Intellektualität‘] in der positiven Verbindung zu seinen
                                         Analysefähigkeiten. Zugleich erkennt er seinen Entwicklungs- be-
                                         reich ‚zu starke Detail- und Sachorientierung‘ wieder. Sein ‚Profilbaum‘
                                         gewinnt Kontur und Klarheit.

                                         Andererseits findet er Stärken, die sowohl seiner eigenen Einschätzung
                                         als auch der anderer entsprechen, nur begrenzt in dem Werteprofil
                                         wieder. Er überlegt daraufhin, inwieweit er bestimmte Verhaltenswei-
                                         sen möglicherweise eher an [vermuteten] äußeren Erwartungen als an
                                         seinen eigenen Werten ausgerichtet hat.

                 Neue Orientierung       Bei einem der nächsten Treffen erzählt Herr Thomas, dass ihn die Ar-
                      durch Werte        beit mit den Werten zu vielen neuen und sehr grundsätzlichen Fragen
                                         geführt hat. „Ich schaue überhaupt nicht mit Bitterkeit zurück – nein,
                                         überhaupt nicht – aber ich merke, dass mir meine Ziele und Werte nicht
                                         klar waren – mit Ausnahme, etwas leisten zu wollen und meine Familie

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Wertecoaching in der Praxis

          abzusichern. Für mich standen Fürsorge für meine Familie, Pflicht-
          erfüllung und Arbeit immer im Vordergrund. Nun frage ich mich, will
          ich wieder in den Trott?“

          Wir sprechen über Träume und ‚ganz andere Dinge‘, die er tun könnte.
          Wir prüfen gemeinsam Chancen und Risiken von Handlungsalterna-
          tiven und überlegen, welche nächsten Schritte sinnvoll wären. Herr
          Thomas ist hin- und hergerissen, zwischen ‚Veränderung‘ auf der einen
          und ‚Kontinuität‘ und ‚Sicherheit‘ auf der anderen Seite. Ich ermutige
          ihn, seine Ideen, aber auch seine Befürchtungen – und damit die wi-
          derstrebenden Werte – ernst zu nehmen und die ‚ganz anderen Dinge‘
          zumindest einmal weiter zu denken. Er nimmt sich vor, seine Ideen zu
          konkretisieren, um sie bei unserem nächsten Treffen zu ‚be‘-werten.

          In diesem nächsten Treffen berichtet er, dass ihm klar geworden sei,
          dass ihm ‚Kontinuität‘ und ‚Sicherheit‘ von fundamentaler Bedeutung
          sind und er sich entschieden habe, seine Kräfte auf einen derart ‚ge-
          pflasterten‘ Weg zu konzentrieren.

          In der Vergangenheit habe er sich in solchen Situationen oft verzettelt.
          Mit Blick auf seine Werteordnung fühle er sich nun besser in der Lage,
          zu entscheiden und zu fokussieren. Damit hat sich Herr Thomas neue
          Orientierung erarbeitet.

          Viele seiner Ideen sind ihm zwar weiter wichtig, und er wird sie ‚be-
          wahren‘, jetzt jedoch nicht verfolgen. „Alles andere fühlt sich für mich
          nicht gut an.“ Er berichtet auch, dass sein Umfeld zum Teil befremdet
          auf sein neues Verhalten reagiere. „Alle kennen mich immer als jeman-
          den, der alles sofort voller Energie angeht. Nun halte ich mich mehr
          zurück und das überrascht viele.“

          Wir sind während unserer insgesamt neun Treffen von jeweils 3-4 Stun-        Ritter ohne
          den von einer Karriereperspektive in einen intensiven Wertekontext           Rüstung
          gekommen. Im Prozess haben wir das Kompetenz- mit einem Wertepro-
          fil ergänzt und beides zueinander in Beziehung gesetzt [siehe Abb. 43,
          Seite 274].

          Zur Vorbereitung auf das abschließende Treffen schlage ich Herrn
          Thomas vor, seinen Entwicklungsprozess Revue passieren zu lassen und
          seine Gedanken in eine ‚Heldengeschichte‘ zu bringen. Die Methode
          bietet eine kreative Möglichkeit, Erfahrungen, Gedanken und Ideen
          spielerisch zu verdichten. Ich biete Herrn Thomas einige Hinweise zu
          den Elementen einer Geschichte und den möglichen Genres an, sowie
          einige Leitfragen: ‚Aus welcher Welt kommt der Held?‘, ‚Was ist seine

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Kapitel 4

                                               Karriere
                                                                                         Mission?‘, ‚Welche Gefährten gibt
                                                                                           es?‘, ‚Wie wird das Abenteuer
                                                 Arbeits-                                    bewältigt?‘, …25
                                               bedingungen
                                                                                               Nach anfänglichem Zögern
                               Interessen                     Menschen                          – Herr Thomas sieht sich
                                                                                                 nicht als Held – beschließt
                                                                                                 er, es zu probieren. Gerade
                      Kompetenzen und
                                                                 Werte                           wegen dieses Zögerns kann
                     Entwicklungsbereiche
                                                                                                 ich mir vorstellen, dass
                                                              Werte-                            ihn diese ‚Bilanzierung‘
                                   Haltungen
                                                             ordnung                            dazu führt, seinen Weg und
                                                Verhalten                                      seine Ressourcen stärker zu
                                                                                              würdigen. Zugleich bietet die
                                                                                            bildhafte Reflexion des Pro-
                                                                                           zesses die Möglichkeit zu einem
                                                                                         einprägsamen Abschluss.
                                                 Werte
                                                                             In der letzten Sitzung erzählt Herr Tho-
          Abb. 43: Elemente des                                mas dann die Geschichte von dem Ritter, der in vielen
          Coaching-Prozesses mit               Turnieren im Dienste verschiedenster Herren erfolgreich kämpfte, der
          Herrn Thomas                         immer weiter zog, viele Erfolge feierte und so für seine Dienstherren
                                               große Ehre errang. Nun war er allerdings so sehr auf seine Kämpfe
                                               eingestellt – und hatte sich dafür eine so undurchdringliche Rüstung
                                               zugelegt –, dass er gar nicht mehr sah, dass seine Knappen nicht mehr
                                               bei ihm waren. So ritt er eines Tages in einem sehr schweren Turnier
                                               ganz alleine und – ehe er sich versah – wurde er vom Pferd gestoßen.
                                               Er war wie gelähmt, doch dann stand er langsam auf und klopfte sich
                                               den Staub ab. Aber statt sich, wie sonst üblich, gleich wieder in den
                                               Kampf zu stürzen, betrachtete er sich zunächst einmal aufmerksam
                                               und merkte, wie viel Kraft ihn die schwere Rüstung kostete. Das ge-
                                               schlossene Visier hinderte ihn daran, sich umzuschauen oder sich mit
                                               anderen zu besprechen. So beschloss er, die Rüstung abzulegen und
                                               lebte fortan nach dem Motto: ‚Von mehr Kraft zu mehr Beweglichkeit‘.

                                               Herr Thomas beschreibt seine Entwicklung wie folgt: „Ich habe gese-
                                               hen, dass sich mein Weg durchaus sehen lassen kann. Ich weiß durch
                                               das Coaching besser, was mich leitet und was mir wichtig ist. Ich habe
                                               verstanden, warum ich manche Turniere gewonnen habe und andere
                                               nicht.
                                               Die Arbeit mit den Werten lässt mich klarer sein – über mich und in mei-
                                               ner Kommunikation. Ich bin meiner selbst bewusster geworden, ich kann
                                               besser zu mir stehen, statt etwas zu überspielen, empfinde es nicht als
                                               Makel und bin mir meiner Stärken sicherer geworden. Ich habe gelernt,

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Wertecoaching in der Praxis

          an meinen Entwicklungsbereichen zu arbeiten. Früher habe ich gedacht,
          ich müsste an mir arbeiten, um leistungsfähiger zu werden. Ich war
          getrieben von dem, was mir andere vorgehalten haben. Deshalb bin ich
          auch manche Themen nicht angegangen, weil ich es eigentlich nicht ein-
          gesehen habe. Heute möchte ich aus Verantwortung mir selbst gegenüber
          daran arbeiten. Ich habe die Entscheidung dazu selbst getroffen.
          Ich kann mein Verhalten besser reflektieren und mich bewusster zu
          Handlungen entscheiden. Ich habe gelernt, dass ich meine Wertepalette
          stärker nutzen kann und dann zu einer farbenfroheren Persönlichkeit
          komme. Einseitige Wertefokussierung schränkt ein und kann zum Sturz
          vom Pferd führen. Ich muss nicht gleich in jedes ‚Turnier‘ hetzen. Ich
          weiß, ich möchte wieder in ein Turnier, aber mehr zu meinen Bedingun-
          gen. Ich habe viele neue Gedanken entwickelt und kann mich besser
          akzeptieren – auch wenn ich mal an einem Tag nicht so gut drauf bin.
          Ich habe Selbsterkenntnis und Selbstakzeptanz gewonnen.
          Ja, ich bin auch unsicherer geworden, aber das gehört für mich zur Ent-
          wicklung dazu. Es fühlt sich nicht gut an, insbesondere da ich Struktur
          und Sicherheit brauche. Ich lerne gerade, damit umzugehen.
          Auch auf die Umwelt wirkt es irritierend, fast unangenehm. Ich trete
          nicht mehr so forsch auf, mehr reflektierend. Ich bin nicht mehr ständig
          in Bewegung. Ich kann, glaube ich, besser auf andere zugehen, ich frage
          nach Feedback, auch wenn es immer noch zu wenig ist. Ich erzähle mehr
          von mir – auch wie es mir geht. Vor dem Coaching hätte ich das gar
          nicht so ansprechen können. Ich komme selbst damit auch besser klar,
          auch wenn ich meine ‚Auf‘- und ‚Ab‘-Phasen habe.
          Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es für mich ist, mich mit anderen
          auszutauschen. Wenn ich das nicht in diesem Coaching gemacht hätte,
          wäre ich in eine negative Spirale geraten. Die Heldengeschichte ist nicht
          zu Ende, der Held ist jetzt in einem anderen Turnier. Als Ritter möchte
          ich von mehr Kraft zu mehr Eleganz kommen, lernen mit weniger Rüs-
          tung – vielleicht auch ganz ohne – wendiger zu sein. Ich möchte Ballast
          abwerfen, offener für andere und mehr im Kontakt sein.“

          Die Reflexion führt Herrn Thomas zu einem der Entwicklungsbereiche,
          den er bereits früher im Prozess benannt hatte: Empathie und Selbst-
          bewusstheit. Wir sprechen in diesem Zusammenhang über seine Gefüh-
          le dazu und er beschreibt seine Wahrnehmung, dass unkontrollierte
          Gefühle oft Beziehungen belasten. „Ich halte mich mit Gemüts-
          regungen eher zurück. Ich möchte anderen meine Gefühle eigentlich
          nicht zumuten.“„Wie empfinden Sie es, wenn jemand Ihnen seine
          Gefühle mitteilt?“ „Als Zuneigung.“ Herr Thomas ist durch das Thema
          sehr berührt: „Ich merke, dass es mich Kraft kostet, meine Gefühle zu
          kontrollieren. Ich möchte lernen, auch mal Schwäche zu zeigen und den-
          ke inzwischen, dass das ja eigentlich auch eine Stärke ist.“

          © managerSeminare                                                           275

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Kapitel 4

               Mit Viktor E. Frankl      Herr Thomas hat sich von sich selbst distanziert und damit den Ab-
                     betrachtet …        stand geschaffen, der Freiheit zur Entscheidung gibt. Er hat erfahren,
                                         dass er sich zu den Dingen ‚so oder so‘ stellen kann. Der Mensch ist
                                         frei zu einer Stellungnahme, dazu, so oder so zu den Bedingungen
                                         Stellung zu nehmen. Und dafür, wie er zu ihnen Stellung nimmt, ist
                                         er nicht nur frei, sondern auch verantwortlich.26 Seine Werte wirken in
                                         den Wahlmöglichkeiten und in der Ver-Antwortung der Aufgaben des
                                         Lebens sinnstiftend und handlungsleitend.

                                         Arbeit und Leistung sind weiterhin ‚Gründe, um zu sein‘. Seine Ziel-
                                         vorstellung bleibt bestehen, aber Herr Thomas hat sich bewusster
                                         gemacht, welche anderen Lebensbereiche ihm darüber hinaus wichtig
                                         sind. Zudem hat er erkannt, dass er in der Umsetzung seiner berufli-
                                         chen Vorstellungen Spielräume hat: seine Suche deutlicher an seinen
                                         Vorstellungen auszurichten, eine Stelle abzulehnen, über Selbständig-
                                         keit nachzudenken.

                                         Durch das Coaching hat Herr Thomas nicht nur Freiheit, sondern auch
                                         Orientierung gewonnen. Er hat sich entschieden, wie seine weiteren
                                         beruflichen Schritte aussehen sollen und woran er sie ausrichten
                                         möchte. Er setzt die Erkenntnisse in den laufenden Bewerbungspro-
                                         zessen um und verantwortet damit die aktuellen Herausforderungen
                                         seines beruflichen Lebens. Damit hat er seine Erschütterung aus dem
                                         Verlust eines seiner wichtigsten Lebensbereiche sinnvoll aufgebrochen.
                                         Im Modell von Schuchardt [vgl. Kapitel 1.5.4] hat Herr Thomas sich
                                         im Coaching von der fünften Spiralphase der ‚Depression‘ zur sechsten
                                         Phase der ‚Annahme‘ bewegt. Mit seinen Entscheidungen aktiviert er
                                         die siebte Phase. Er hat zudem mehr Wertschätzung für seinen bishe-
                                         rigen Weg entwickelt und würdigt damit die ‚vollen Scheunen der Ver-
                                         gangenheit‘ [Frankl]. Er hat für die Umsetzung seiner Zielvorstellung
                                         [neue] Ressourcen aktiviert und sich bewusst gemacht, welche Person
                                         er ist und weiter werden will.

                                   276                 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen

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