Vom Ritter ohne Rüstung 4.4
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Kapitel 4 4.4 Vom Ritter ohne Rüstung Alexandra Brinkama Zusammenfassung Für Wolfram Thomas waren Arbeit und Leistung immer ein wichtiger Bestandteil seines Lebens. Nach mehr als 30 Jahren voller Engagement im Beruf hatte er überraschend die Kündigung bekommen und damit Orientierung und Perspektive verloren. Sollte das, was bisher für ihn als sicher gegolten hatte, nicht mehr gelten? Was bedeutete diese Erfahrung für sein weiteres Berufsleben? Welche Schlüsse sollte er zie- hen? Herr Thomas kommt mit dem Wunsch nach neuer Orientierung in Bezug auf seine weiteren beruflichen Schritte ins Coaching. Durch den Einstieg über ein Karrieregespräch gewinnt Herr Thomas mehr Klarheit über sein Kompetenzprofil und mehr Toleranz für seine Entwicklungs- bereiche – aber auch mehr Bewusstsein für seine Interessen und Wün- sche. Während des sich anschließenden Werte-Coachings entwickelt er ein tieferes Verständnis darüber, was ihn beruflich leitet. Zugleich entsteht damit eine neue, breitere Basis für seine Handlungsfähigkeit in der Zukunft. Herr Thomas kommt aus dem Prozess mit mehr Festig- keit, Klarheit und Wertschätzung für sich und seine Ressourcen. Er hat sich – in seiner Sprache – seinen ‚Profilbaum‘ erarbeitet, der ihm mehr Richtung und mehr Freiheit in der Ver-Antwortung seines weiteren beruflichen – und persönlichen – Lebens geben wird. Briefing In einem telefonischen Kennenlernen schildert Herr Thomas seine Situation nüchtern und wenig emotional in einer präzisen Sprache. Er ist Mitte fünfzig und war in den letzten Jahren Vertriebsleiter in einem internationalen Unternehmen. Vor einigen Wochen wurde ihm – für ihn völlig überraschend und nicht nachvollziehbar – gekündigt. Er hatte gerade in seinem Bereich eine weitreichende Umstrukturierung umge- setzt und in ihrem Zuge einigen seiner Mitarbeiter kündigen müssen, aber nie erwartet, dass er letztlich selbst betroffen sein könnte. In seinen mehr als 30 Berufsjahren hatte er erfolgreich für verschiedenste Unternehmen im Bereich Vertrieb und Marketing gearbeitet. Er war 262 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 262 08.11.2010 12:46:11 Uhr
Wertecoaching in der Praxis immer viel unterwegs, oft von Frau und Kindern getrennt „Die meisten von uns gelangen und dabei stets mit viel Verve und Leistungsbereitschaft nur in seltenen Augenblicken im Sinne der Unternehmen engagiert. zum vollständigen Bewusstsein der Tatsache, dass wir die Erfüllung des Herr Thomas arbeitete gerne und übernahm kontinuierlich Daseins nicht zu kosten bekommen immer neue, verantwortungsvollere Positionen. Bei seinem haben, dass unser Leben am wahren letzten Arbeitgeber fühlte er sich wohl – die Unterneh- erfüllten Dasein nicht teilhat, menskultur, die für ihn von Offenheit, Leistungsorien- dass es gleichsam am wahren Dasein tierung und vielen Entwicklungsmöglichkeiten geprägt vorbei gelebt wird. war, hatte er geschätzt. Als Führungskraft erlebte er sich Dennoch fühlen wir den Mangel gefordert und anerkannt. Die Kündigung hat ihn daher immerzu, in irgendeinem Maße grundlegend erschüttert. Er erlebt sich als antriebslos, bemühen wir uns, irgendwo das zu ohne Energie und Selbstbewusstsein, fast gleichgültig. finden, was uns fehlt. Das steht im krassen Widerspruch zu seinen bisherigen Irgendwo in irgendeinem Bezirk Erfahrungen und seinem Selbstbild. Er sagt: „Ich bin an der Welt oder des Geistes, meine Grenzen gekommen.“ nur nicht da, wo wir stehen, da, wo wir hingestellt worden sind Wolfram Thomas sucht mit dem Coaching Unterstützung – gerade da und nirgendwo anders bei seiner Neu-Orientierung. Die Kündigung hat ihn zu aber ist der Schatz zu finden.” vielen Fragen geführt: Was ist eigentlich schief gelaufen? Martin Buber Warum habe ich das nicht kommen sehen? Wie kann ich vermeiden, dass mir das wieder passiert? Wo stehe ich nun beruflich? Wie will ich die nächsten zehn Jahre meines Berufslebens nutzen? Was ist mir wichtig? Dazu möchte er sich insbesondere mit seinen Werten auseinanderset- zen: „Über meine Werte habe ich eigentlich nie richtig nachgedacht.“ Als Ziel des Coachings nennt er: „Ich weiß genauer, was ich beruflich mitbringe und kenne mein Wertesystem. Darauf baue ich meine nächsten beruflichen Schritte auf. Dann kann ich genauer sagen, was mir wichtig ist, was ich will und was ich tun werde.“ Ich erlebe Herrn Thomas als engagiert, reflektiert, zugleich verletzt, verunsichert, dabei sehr rational. Als er beschreibt, wie man ihm die Kündigung aussprach, sagt er: „Das war nicht ganz so prickelnd.“ Meine Hypothesen nach dem Gespräch A Herr Thomas sieht seine Vorstellung von Arbeit und Leistung als zentrale Bestandteile [Sinnverwirklichungspotenzial] seines Lebens in Frage gestellt. A Herr Thomas ging bisher davon aus, dass Loyalität und insbeson- dere Leistung ihm Sicherheit und Anerkennung, sprich Erfolg, bringen. Dieses Vertrauen ist grundlegend erschüttert. © managerSeminare 263 Wertecoaching_in_Krisen.indd 263 08.11.2010 12:46:11 Uhr
Kapitel 4 A Herr Thomas zieht daraus vor allem auch den Schluss, dass er zu vertrauensselig war. Er beschreibt, dass er in seinem Berufsleben immer ein ‚gesundes Misstrauen‘ an den Tag gelegt, nun aber Signa- le offensichtlich nicht wahrgenommen hat. A Herr Thomas möchte ‚Herr der Lage‘ bleiben, indem er diese Situati- on von großer persönlicher Tragweite rational bearbeitet. Bezogen auf die ‚tragische Berufstrias‘ [vgl. Fußnote, S. 82] bewegen ihn die Themen ‚Verlust‘ und ‚Trennung‘. Herr Thomas beschreibt für mich die Kennzeichen einer Krise, auch wenn er das in seiner eher nüchternen Art nicht so nennt: Eine bisher gültige und hoch relevante Zielvorstellung und die dazugehörigen ‚Umsetzungsstrategien‘ stehen in Frage. Er ist verunsichert, welche Schlüsse er daraus ziehen soll, sprich: wie die angemessene ‚Anpassungsstrategie‘ aussieht. Verknüpfen wir die Krisen-Terminologie von Ulich et al. [vgl. Kapitel 1.5.2] mit der Situation von Wolfram Thomas, so heißt das: A Bruch in der Kontinuität von Erleben und Handeln, der temporär einen belastenden und ‚offenen‘ Veränderungsprozess auslöst: Herr Thomas erkennt sich nach dem Verlust seines Jobs nicht wieder und sucht nach neuer Orientierung. A Desintegration im emotionalen Bereich mit Anzeichen von Selbst- zweifeln: Herr Thomas setzt der entstandenen Situation seine Rationalität entgegen. A Bedarf zur Aktivierung von Ressourcen: Herr Thomas hat mit sei- nem formulierten Coachingziel seinen Willen zur Selbstbesinnung beschrieben. Diese Eindrücke führen mich zu den folgenden Überlegungen: A Ich halte es für wichtig, zunächst Vertrauen aufzubauen: das [neuer- liche] Vertrauen von Herrn Thomas in sich selbst und das Vertrauen im Rahmen unserer Zusammenarbeit. Dabei helfen persönliche Wertschätzung, klare Ressourcenorientierung und ein Spannungs- bogen von den ‚einfacheren‘ zu den ‚schwierigeren‘ Themen. A Dazu gehört auch, Herrn Thomas durchgängig das Gefühl zu geben, dass er weiß, was geschieht und jeweils selbst die weitere Vorge- hensweise entscheidet, d. h. Transparenz und Entscheidungsmög- lichkeit zu den Methoden, Fragen und Impulsen. A Aus diesem Grund werde ich auch in erster Linie über den Zugang ‚Denken‘ arbeiten, da dieser Herrn Thomas am nächsten zu liegen scheint und damit Sicherheit und Akzeptanz schafft. Im Sinne der 264 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 264 08.11.2010 12:46:11 Uhr
Wertecoaching in der Praxis Stärkung von weiteren Ressourcen möchte ich darüber hinaus den Zugang ‚Gefühl‘ bewusster machen. Transaktionsanalytisch heißt das für mich: ‚das freie Kind‘ stimulieren und dazu in – für Herrn Thomas angemessenem Maße – auch ‚spielerisch-kreative‘ Methoden nutzen. Wir beginnen die Zusammenarbeit mit einem Blick auf das ‚Gewesene‘. Berufliche Herr Thomas berichtet von seinem beruflichen Werdegang, seiner Standortbestimmung: Entwicklung im letzten Unternehmen und den Ereignissen, die zu der Ein ‚Profilbaum‘ Kündigung führten. Die ‚faktenorientierte‘ Betrachtung bietet einen entsteht sicheren Einstieg und die Möglichkeit zur Strukturierung und Sortie- rung. Durch meine Fragen und Spiegelungen stärke ich zugleich den Blick für die Erfolge der Vergangenheit. Die Reflexion führt Herrn Thomas zu folgenden Schlussfolgerungen: A Sein Berufsweg war gekennzeichnet von Unterschiedlichkeit: mitt- lere und große Unternehmen, operative und strategische Aufgaben, kurze und lange Zeiten der Betriebszugehörigkeit, unterschiedliche Standorte. Er hat neue Herausforderungen gerne angenommen und sich dabei beruflich immer weiterentwickelt. Dennoch, vieles da- von, sagt er, „… hat sich so ergeben. Ich passe mich eben schnell an neue Systeme an und bin dann auch sehr engagiert, auch wenn mir zunächst vieles nicht entspricht.“ Das galt beispielsweise auch für die letzte Beförderung im Unternehmen. Eigentlich hat er sich „… nie zu Höherem gedrängt, aber gelernt, die erste Geige zu spielen. Ich arbeite lieber aus der zweiten Reihe“. A Karriere im engeren Sinne ist ihm nicht mehr wichtig: „Ich muss mich nicht mehr beweisen.“ Er möchte in den verbleibenden Berufs- jahren etwas machen, „… was mir Sinn gibt“ und dazu heraus- finden, was ihm wichtig ist. A „Meine Arbeit hat immer einen großen Spagat zwischen Beruf und Familie verlangt. Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen und dachte, da kommt jetzt aber deutlich was zu kurz.“ A Durch die Kündigung sieht er Werte in Frage gestellt, die ihm wichtig sind. Er nennt Authentizität, Verlässlichkeit, Loyalität und Leistung in Form von klarer Aufgabenorientierung. Er hatte ange- nommen, dies seien auch die Werte, für die das Unternehmen steht und die den Erfolg im Unternehmen gewährleisteten. „Ich habe immer darauf geachtet, dass die Zahlen exzellent sind und dachte, darum geht es. Ich habe einfach meinen Job gemacht. Ich habe mich © managerSeminare 265 Wertecoaching_in_Krisen.indd 265 08.11.2010 12:46:12 Uhr
Kapitel 4 immer mit viel Engagement für meine Ziele und Überzeugungen eingesetzt und stand hinter meinen Mitarbeitern. Dann wurde mir gesagt, ich hätte mich zu sehr abgegrenzt, mein Team nicht mitge- nommen, zu sehr auf die eigene Stärke vertraut. Ich habe da wohl einiges ausgeblendet. Ich bin eben stark aufgaben- und ergebnis- orientiert.“ Aufgrund dieser Reflexion und des aktuell anstehenden Bewerbungs- prozesses erweitert Herr Thomas sein Anliegen: Er möchte nicht nur mehr Klarheit über seine Werte, sondern auch über sein Kompetenz- profil bekommen. Karrieremosaik: Ich schlage vor, mit dem Kompetenzprofil zu beginnen und biete dazu Kompetenzen und als Instrument das Karrieremosaik22 an, das sich an den Karrieredimen- Entwicklungsbereiche sionen von Richard Nelson Bolles orientiert. Das Vorgehen bietet einer- seits eine klare Struktur und kommt damit Herrn Thomas‘ Arbeitsweise entgegen, lässt sich andererseits aber auch gut mit kreativen Methoden verbinden. Herr Thomas entscheidet sich für das Vorgehen und möchte die folgenden Aspekte erarbeiten: Kompetenzen, Entwicklungsbereiche, Interessen, Arbeitsbedingungen, Menschen und Werte. Wir starten mit dem Thema Kompetenzen. Damit arbeiten wir zunächst an ‚leichteren‘ Themen [Kompetenzen, Interessen, …], bevor wir zu den grundlegenden ‚Werten‘ kommen. Es gibt uns Gelegenheit, weiter Vertrauen in der Zusammenarbeit aufzubauen, und ich erwarte, dass diese Intervention Herrn Thomas einen stärkenden Blick auf seine Ressourcen ermöglichen wird. Um einen anderen als den – ihm wohl- vertrauten – kognitiven Zugang zu wählen, schlage ich ihm die Arbeit mit Erfolgsgeschichten vor. Herr Thomas hat in der Vergangenheit im Rahmen verschiedener Prozesse bereits mehrfach Feedback zu seinen Kompetenzen erhalten und ist interessiert an einer neuen Heran- gehensweise an das Thema. Ich bitte ihn, zwei oder drei Geschichten zu schreiben, aus denen wir dann seine Kompetenzen ableiten werden. Erfolgsgeschichten sind Geschichten oder Situationen aus allen Lebens- bereichen und Lebensphasen, die besonders sind, z. B. A für die Art, in der man Dinge tut, A weil in ihnen das Tun leicht von der Hand ging, A weil in ihnen man zu besonderer Form gelangte, A weil in ihnen man besondere Ergebnisse erzielt hat, … Dabei ist es wichtig, die Situationen genau zu beschreiben, also ihre Ziele, erlebte Hindernisse, vollzogene Handlungen und Ergebnisse.23 266 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 266 08.11.2010 12:46:12 Uhr
Wertecoaching in der Praxis Für das nächste Treffen bringt Herr Thomas drei Geschichten mit. Er berichtet, dass er zunächst lange darüber nachgedacht hat, was Erfolg eigentlich für ihn bedeutet und dabei erst im beruflichen Bereich gesucht hat. Letztlich hat ihn das aber zu der Erkenntnis geführt, dass ein ganz großer Erfolg für ihn seine Familie sei. Eine der Geschichten ist dann auch auf sehr persönliche und berührende Weise diesem Erfolg gewidmet: „Ist es nicht erfolgreich, wenn man sich nach noch so hefti- gem Streit immer wieder zusammenrauft und nach Lösungen, Verände- rungen oder Kompromissen sucht? Ich definiere es für mich als Erfolg, wenn Liebe, Zuneigung und Vertrauen zu einem Menschen stärker sind als noch so heftiger Streit. Wenn man 28 Jahre gemeinsam durch Dick und Dünn geht – und dabei sehr viel über sich selbst erfährt, an sich arbeitet und verändert. Es ist für mich erfolgreich, wenn ich mich selbst so einbringen kann, dass die anderen sagen, wir machen weiter mit Dir und wir stehen zueinander.“ Wir werten die Geschichten aus, indem wir Fähigkeiten assoziieren, priorisieren und zu- sammenfassen. Herr Thomas ist überrascht, wie viele Kompetenzen sich aus den Geschichten ableiten lassen und äußert, dass ihn die Fülle der Fähigkeiten verwirrt [siehe Abb. 40]. Er kann noch nicht erkennen, wie das zu vergan- genen Rückmeldungen, die er bekommen hat, passt. Mehrere Struktur- und Sortiervorgänge führen schließlich zu einem für Herrn Thomas nach- vollziehbaren Kompetenzprofil. Wir ergänzen Entwicklungsbereiche, und er benennt hier ins- besondere die Selbstbewusstheit und Empathie sowie deutliche Fokussierung. Nicht alles auf seine Schultern zu nehmen heißt für ihn, auch Hilfe von anderen zu erbitten oder auch einmal ‚Nein‘ zu sagen. Das entstandene Profil gleichen wir ab mit bereits bestehenden Rück- Abb. 40: Auszug aus meldungen, identifizieren Deckungen und diskutieren Diskrepanzen. dem Kompetenzprofil Für Herrn Thomas fügen sich nun Rückmeldungen aus verschiede- von Herrn Thomas nen beruflichen Phasen zu einem nachvollziehbaren und stimmigen Gesamtbild. © managerSeminare 267 Wertecoaching_in_Krisen.indd 267 08.11.2010 12:46:12 Uhr
Kapitel 4 Karrieremosaik: Wir ergänzen das Profil mit Interessen, sowie Arbeitsbedingungen und Interessen, Menschen, in und mit denen Herr Thomas gerne arbeitet. Ich nutze da- Arbeitsbedingungen, zu auch ‚spielerische‘ Fragen, wie zum Beispiel: ‚Stellen Sie sich vor, Sie Menschen wären in einem Einkaufszentrum, in dem es alle Produkte dieser Welt gäbe – in welchen Laden würden Sie gehen?‘, ‚Welche Artikel lesen Sie zuerst in der Zeitung?‘, ‚Stellen Sie sich vor, Sie würden einen Kongress organisieren, welches Thema würden Sie wählen?‘, ‚Wenn Sie einen schönen Abend mit Freunden verbracht haben, worüber haben Sie dann geredet?‘. Er hat sichtbar Freude an dieser Art, über das Thema nachzudenken und ist voller Energie. Zum Themenkreis ‚Menschen‘ frage ich: ‚Stellen sie sich vor, Sie gehen auf eine Party, bei der verschiedene Berufsgruppen in verschiedenen Teilen des Raumes zusammenkommen. Zu welcher Gruppe würden Sie sich stellen: Intellektuelle, Künstler, Menschen mit sozialen Berufen, Unternehmer, …? Was spricht Sie in den Gruppen an? Worüber reden Sie?‘ Und zu den ‚Arbeitsbedingungen‘ frage ich ressourcenorientiert unter anderem: ‚Unter welchen Bedingungen sind Sie in der Vergangen- heit zu einer Höchstform aufgelaufen?‘ Was sich geändert hat Herr Thomas resümiert in einer nächsten Sitzung diesen Arbeitsschritt und beschreibt Veränderungen, die er in der Folge eingeleitet hat. So hat er Stellenanzeigen kritischer analysiert und sich bei Bewerbungen klargemacht, was er ‚mitbringt‘ und wie er sich in Gesprächen ‚verkau- fen‘ kann – aber auch, was er nicht bieten kann oder möchte: „Meine Bewerbungen bekommen eine ganz andere Qualität.“… „Bisher habe ich mich auf das beworben, was da war und überlegt, was kann ich. Ich habe immer gemacht und den Baukasten genutzt, der ja auch da war. Jetzt überlege ich stärker, was will ich und was muss da sein, damit ich meine beste Leistung abrufen kann.“ Im Bewerbungsprozess fragt er nun gezielter nach und hat daraufhin die Entscheidung getroffen, einen laufenden Prozess zu beenden: „Das entsprach nicht dem, was ich mir hier erarbeitet habe. Da konnte ich schon sehr schnell sagen, da passt Du nicht hin. Früher hätte ich gesagt, na, das probier ich mal. Jetzt fühlte sich das einfach nicht gut an. … Ja, das kommt jetzt so langsam. Ich merke, dass ich da in einem Prozess der Klärung bin.“ Herr Thomas spricht in zunehmender Offenheit über seine Entwick- lungsbereiche und entwickelt Toleranz und Akzeptanz dafür. Während dieses und weiterer Treffen nehmen wir uns immer wieder Zeit, seine Erfahrungen zu den durchgeführten Bewerbungen zu reflektieren. Er berichtet von Veränderungen und den Reaktionen seines Umfelds darauf. Er beschreibt auch die „Rückschläge“, und ich ermutige ihn, sich Zeit zu lassen und nachsichtig mit sich zu sein – ganz im Sinne 268 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 268 08.11.2010 12:46:14 Uhr
Wertecoaching in der Praxis des Frankl‘schen Gedankens, dass man sich von sich selbst nicht alles gefallen lassen muss. Herr Thomas kommt aus diesem Teil des Prozesses gestärkter und selbst-bewusster. Er hat erlebt, wieder selbst entscheiden und steuern zu können, aber auch, sich mit Vertrauen auf andere und auf anderes einzulassen. Er entwickelt mehr Gefühl für seine Bedürfnisse und Wünsche, mehr Klarheit über seine Ressourcen und Entwicklungs- bereiche: „Das Bild ist für mich jetzt rund. Mir ist klarer, was bringe ich mit – und auch die Schwächen gehören zum Gesamtbild dazu. Es gibt Möglichkeiten, daran zu arbeiten!“ Zugleich beschreibt er zunehmend auch seine Unsicherheit: „Wie bringe ich das auf die Straße? Was mache ich jetzt damit? Welche Chancen habe ich noch auf dem Markt? Kann ich im Wettbewerb bestehen?“ Wir sprechen über die Erwartungen und Standards im Arbeitsmarkt [Alter, Karrierewege] und über die Risiken seiner beruflichen Situation. Jenseits der Gegebenheiten sprechen wir aber vor allem über seine Handlungs- und Haltungsalternativen. Ich stelle Herrn Thomas einige Gedanken von Viktor E. Frankl vor. Er fühlt sich besonders angeregt durch den Gedanken von der Trotzmacht des Geistes: „Die Trotzmacht des Geistes befähigt …, sich eigenen Charakterzügen wie auch gesellschaftlichen Umständen zu widerset- zen. Erforderlich ist dabei zunächst [sich selbst] zu erkennen, um sich daraufhin – falls erforderlich – vom Zeitgeist oder auch ein Stück weit von sich selbst zu distanzieren.“24 Abb. 41: Der ‚Profilbaum‘ Auch der Gedanke von den Aufgaben, die einem das Leben stellt und der eigenen Freiheit und Verantwortung spricht Herrn Thomas an. Ich beschreibe ihm meinen Eindruck, dass er sich auf diesem Weg der Selbstbesinnung befindet und sich im Fähigkeiten Coaching zunehmend öffnet: „Ja, das ist eine neue Erfah- rung für mich. Ich war da immer sehr zugeknöpft. Alle ten schaf Inte haben immer gesagt, wovor hast Du Angst. Ich lerne, mich Eigen resse n zu reflektieren und über mich zu sprechen.“ Herr Thomas entwickelt aus dieser Arbeit sein Bild von ei- nem – wie er es nennt – ‚Profilbaum‘ [siehe Abb. 41]. Der Baum besteht oberhalb der Erde aus seinen Kompetenzen, Interessen, … die Wurzeln sind die Werte, die ihn in der Erde, dem Arbeitsumfeld, verankern. „Mir wird klarer, dass der Boden wichtig für die Art des Baumes ist. Werte – Basis Wenn ich umgepflanzt werde, muss es der richtige Boden sein. Dazu muss ich aber erst mal den Baum Arbeitsumfeld mit seinen Wurzeln genau kennen.“ © managerSeminare 269 Wertecoaching_in_Krisen.indd 269 08.11.2010 12:46:14 Uhr
Kapitel 4 Werteprofil Nach der Arbeit mit dem Karrieremosaik fehlt noch der tiefere Blick in das Wertesystem von Herrn Thomas. Hierzu schlage ich ihm die Arbeit mit den LebensWerte-Karten vor [vgl. Kapitel 2.4]. Die Karten zeigen Wertebegriffe mit Anregungen für ihre inhaltliche Umschreibung. Herr Thomas ist sehr überrascht, wie viele Werte er benennt [siehe Abb. 42]. Abb. 42: Auszug aus einer ersten Zusammenstellung von Werten durch Wolfram Thomas Ich bitte ihn, bei ‚verwandten‘ Werten zu überlegen, welche der Be- schreibungen und damit welcher Wert seinem inneren Bild von sich am besten trifft. Das führt ihn in intensive Überlegungen zu seinen Werten – was genau er meint und worum es ihm geht. In einem weite- ren Schritt priorisiert Herr Thomas seine Werteskala und bildet so eine Werteordnung. Und wieder ist er überrascht: sein Profil enthält Werte, die für ihn nicht positiv besetzt sind. Er nennt beispielsweise ‚Konti- nuität‘ und ‚Disziplin‘: „Das wirkt auf mich langweilig und unfroh. … Da fehlt mir die Dynamik.“ Herr Thomas bemerkt, dass ihm ein zentraler Wert fehlt: ‚Lebensfreude‘, und er ergänzt sein Werteprofil entsprechend. So ist es schon besser, aber insgesamt findet er seine Werteskala weiterhin ‚unattraktiv‘. Von Werten zu Meinen Vorschlag, seine Werte in konkretes Verhalten zu überführen Verhalten und dazu mit ‚Positivausprägungen‘ zu beginnen, begrüßt Herr Thomas. Ich wähle diese Vorgehensweise, um bei ihm eine Modulation seiner Einstellung zu seinem Wertesystem anzuregen, von dem ich spüre, 270 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 270 08.11.2010 12:46:15 Uhr
Wertecoaching in der Praxis dass er es partiell ablehnt. Ich frage ihn: „Welche positiv besetzten Verhaltensweisen können Sie aus Ihren Werten ableiten?“ In dem von ihm zunächst so kritisch hinterfragten Wert ‚Kontinuität‘ erkennt er als Verhaltensaspekte: Vorhersehbarkeit, Berechenbarkeit und Unerschüt- terlichkeit und meint: „Andere wissen, woran sie mit mir sind. Ich gehe geordnet an die Dinge heran. Ich habe Kontinuität vorher sehr negativ als ‚Bequemlichkeit‘ gesehen und merke jetzt, dass der Wert ja auch die Wurzel für positives Verhalten sein kann. Es tut gut, mein Profil so zu konkretisieren. Ich sehe auch, warum ich die Unternehmenskultur im letzten Unternehmen geschätzt, aber auch warum ich mich mit manchen Aspekten so schwer getan habe. Da war es mal ‚Hü‘, und am nächsten Tag ‚Hott‘. Das hat mich manchmal verrückt gemacht.“ Nach und nach bindet er so alle Werte an konkretes Verhalten und an frühere Konflikte und Erfolge, die er in der Vergangenheit erlebt hat. So bemerkt er, wie zentral der Wert ‚Leistung‘ für ihn ist [vgl. zur pyramidalen Werteordnung das Kapitel 1.6.4]. Gerade dieser ‚Leitwert‘ ist es, den er durch seine aktuelle Situation in Frage gestellt sieht und der sich auf andere Werte wie beispielsweise ‚Selbstbewusstsein‘ aus- wirkt. Wird er wieder die Möglichkeit zur Verwirklichung von ‚Leistung‘ haben? Kann er der im Markt erwarteten ‚Leistung‘ [noch] entsprechen? Wir konkretisieren sein Verständnis von Leistung und Herr Thomas erkennt, dass er Leistung viel umfassender versteht, als er sich das bisher bewusst gemacht hatte. Statt allein ‚Zahlen zu liefern‘ geht es ihm um einen viel umfassenderen Beitrag: „… durch den persön- lichen Einsatz etwas bewirken, dessen Wert sowohl ökonomisch als auch sozial oder ökologisch gemessen werden kann.“ Damit knüpft er seinen Leitwert an andere [gleichrangigen] Werte und kommt zu einer stärker ‚parallelen‘ Werteordnung. Seine Beschreibung enthält zudem eine deutlichere Bezogenheit auch auf andere Menschen. Wir konkretisieren auch die ‚Negativausprägungen‘ von Verhalten zu den einzelnen Werten. Nun merkt Herr Thomas, dass ihn Werte, die für ihn sehr positiv besetzt sind, in der Vergangenheit zu schwierigen Situationen geführt haben, wie beispielsweise der Wert ‚Loyalität‘. Die einseitige Ausrichtung an diesem Wert spielte auch eine Rolle bei der Kündigung. Ich frage ihn, welche anderen Werte er demgegenüber ger- ne aktivieren würde und er nennt die Werte ‚Gerechtigkeit ‚, ‚Verände- rung‘ und ‚Offenheit‘. In diesem Moment wird ihm bewusst, dass er eine Reihe seiner Werte in früheren Situationen gar nicht aktiviert hat. Das hat zu einer stark vertikalen Werteordnung geführt und zur aktuellen Situation beigetragen. © managerSeminare 271 Wertecoaching_in_Krisen.indd 271 08.11.2010 12:46:16 Uhr
Kapitel 4 In Bezug auf die Ereignisse, die zu seiner Kündigung führten, vertrat Herr Thomas bisher die Ansicht, dass sich die Dinge wohl nur dann anders entwickelt hätten, wenn er einen Teil seiner Werte preisgegeben hätte. Das jedoch war für ihn insgeheim immer ausgeschlossen, und er erinnert eine Vielzahl von Entscheidungen und Handlungen, in denen er sich nicht verbog, wenngleich er sich aus der Sicht von Dritten damit sein Leben im Unternehmen ‚unnötig erschwerte‘. Er realisiert, dass er sich jetzt die Möglichkeit eröffnet hat, sich aufgrund seiner Werte [frei nach Frankl] bewusster als bisher ‚zu einer Situation so oder so zu stellen‘. Diese Erkenntnis begeistert ihn und wirkt spontan entlastend. Mit viel Elan arbeitet Herr Thomas weiter und erlebt als nächstes die Arbeit mit dem Wert ‚Verantwortung‘. „Ich übernehme immer die Verantwortung für andere. Das ist ein Kardinal- thema bei mir und das hat man mir auch vorgeworfen. Ich setze mir den Affen immer selber auf die Schulter. Jetzt merke ich, dass ich den ande- ren damit auch ein Stück Freiheit nehme. Das wird mir jetzt gerade klar. Ich möchte ja auch Respekt für den anderen zeigen, und ich traue es ihnen ja auch zu. Eigentlich will ich andere nicht anders behandeln, als so, wie ich es für mich selbst will. Ich will Freiheit und nehme sie aber anderen durch dieses Verhalten.“ Wolfram Thomas wird hier bewusst, wie er andere seiner Werte stärker aktivieren sollte, z. B. ‚Vertrauen‘, oder ‚Selbstverantwortung‘ und merkt, welche Dynamik sich mit einem Mal durch seine Wertebetrachtung ergibt. Werte und Herr Thomas kann die Verhaltensweisen, die er aus dem Werteprofil Kompetenzprofil erarbeitet hat, nun auch mit seinem Kompetenzprofil koppeln. Er fin- det beispielsweise seine Tendenz, den ‚Dingen auf den Grund zu gehen‘ [aus dem Wert ‚Intellektualität‘] in der positiven Verbindung zu seinen Analysefähigkeiten. Zugleich erkennt er seinen Entwicklungs- be- reich ‚zu starke Detail- und Sachorientierung‘ wieder. Sein ‚Profilbaum‘ gewinnt Kontur und Klarheit. Andererseits findet er Stärken, die sowohl seiner eigenen Einschätzung als auch der anderer entsprechen, nur begrenzt in dem Werteprofil wieder. Er überlegt daraufhin, inwieweit er bestimmte Verhaltenswei- sen möglicherweise eher an [vermuteten] äußeren Erwartungen als an seinen eigenen Werten ausgerichtet hat. Neue Orientierung Bei einem der nächsten Treffen erzählt Herr Thomas, dass ihn die Ar- durch Werte beit mit den Werten zu vielen neuen und sehr grundsätzlichen Fragen geführt hat. „Ich schaue überhaupt nicht mit Bitterkeit zurück – nein, überhaupt nicht – aber ich merke, dass mir meine Ziele und Werte nicht klar waren – mit Ausnahme, etwas leisten zu wollen und meine Familie 272 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 272 08.11.2010 12:46:16 Uhr
Wertecoaching in der Praxis abzusichern. Für mich standen Fürsorge für meine Familie, Pflicht- erfüllung und Arbeit immer im Vordergrund. Nun frage ich mich, will ich wieder in den Trott?“ Wir sprechen über Träume und ‚ganz andere Dinge‘, die er tun könnte. Wir prüfen gemeinsam Chancen und Risiken von Handlungsalterna- tiven und überlegen, welche nächsten Schritte sinnvoll wären. Herr Thomas ist hin- und hergerissen, zwischen ‚Veränderung‘ auf der einen und ‚Kontinuität‘ und ‚Sicherheit‘ auf der anderen Seite. Ich ermutige ihn, seine Ideen, aber auch seine Befürchtungen – und damit die wi- derstrebenden Werte – ernst zu nehmen und die ‚ganz anderen Dinge‘ zumindest einmal weiter zu denken. Er nimmt sich vor, seine Ideen zu konkretisieren, um sie bei unserem nächsten Treffen zu ‚be‘-werten. In diesem nächsten Treffen berichtet er, dass ihm klar geworden sei, dass ihm ‚Kontinuität‘ und ‚Sicherheit‘ von fundamentaler Bedeutung sind und er sich entschieden habe, seine Kräfte auf einen derart ‚ge- pflasterten‘ Weg zu konzentrieren. In der Vergangenheit habe er sich in solchen Situationen oft verzettelt. Mit Blick auf seine Werteordnung fühle er sich nun besser in der Lage, zu entscheiden und zu fokussieren. Damit hat sich Herr Thomas neue Orientierung erarbeitet. Viele seiner Ideen sind ihm zwar weiter wichtig, und er wird sie ‚be- wahren‘, jetzt jedoch nicht verfolgen. „Alles andere fühlt sich für mich nicht gut an.“ Er berichtet auch, dass sein Umfeld zum Teil befremdet auf sein neues Verhalten reagiere. „Alle kennen mich immer als jeman- den, der alles sofort voller Energie angeht. Nun halte ich mich mehr zurück und das überrascht viele.“ Wir sind während unserer insgesamt neun Treffen von jeweils 3-4 Stun- Ritter ohne den von einer Karriereperspektive in einen intensiven Wertekontext Rüstung gekommen. Im Prozess haben wir das Kompetenz- mit einem Wertepro- fil ergänzt und beides zueinander in Beziehung gesetzt [siehe Abb. 43, Seite 274]. Zur Vorbereitung auf das abschließende Treffen schlage ich Herrn Thomas vor, seinen Entwicklungsprozess Revue passieren zu lassen und seine Gedanken in eine ‚Heldengeschichte‘ zu bringen. Die Methode bietet eine kreative Möglichkeit, Erfahrungen, Gedanken und Ideen spielerisch zu verdichten. Ich biete Herrn Thomas einige Hinweise zu den Elementen einer Geschichte und den möglichen Genres an, sowie einige Leitfragen: ‚Aus welcher Welt kommt der Held?‘, ‚Was ist seine © managerSeminare 273 Wertecoaching_in_Krisen.indd 273 08.11.2010 12:46:16 Uhr
Kapitel 4 Karriere Mission?‘, ‚Welche Gefährten gibt es?‘, ‚Wie wird das Abenteuer Arbeits- bewältigt?‘, …25 bedingungen Nach anfänglichem Zögern Interessen Menschen – Herr Thomas sieht sich nicht als Held – beschließt er, es zu probieren. Gerade Kompetenzen und Werte wegen dieses Zögerns kann Entwicklungsbereiche ich mir vorstellen, dass Werte- ihn diese ‚Bilanzierung‘ Haltungen ordnung dazu führt, seinen Weg und Verhalten seine Ressourcen stärker zu würdigen. Zugleich bietet die bildhafte Reflexion des Pro- zesses die Möglichkeit zu einem einprägsamen Abschluss. Werte In der letzten Sitzung erzählt Herr Tho- Abb. 43: Elemente des mas dann die Geschichte von dem Ritter, der in vielen Coaching-Prozesses mit Turnieren im Dienste verschiedenster Herren erfolgreich kämpfte, der Herrn Thomas immer weiter zog, viele Erfolge feierte und so für seine Dienstherren große Ehre errang. Nun war er allerdings so sehr auf seine Kämpfe eingestellt – und hatte sich dafür eine so undurchdringliche Rüstung zugelegt –, dass er gar nicht mehr sah, dass seine Knappen nicht mehr bei ihm waren. So ritt er eines Tages in einem sehr schweren Turnier ganz alleine und – ehe er sich versah – wurde er vom Pferd gestoßen. Er war wie gelähmt, doch dann stand er langsam auf und klopfte sich den Staub ab. Aber statt sich, wie sonst üblich, gleich wieder in den Kampf zu stürzen, betrachtete er sich zunächst einmal aufmerksam und merkte, wie viel Kraft ihn die schwere Rüstung kostete. Das ge- schlossene Visier hinderte ihn daran, sich umzuschauen oder sich mit anderen zu besprechen. So beschloss er, die Rüstung abzulegen und lebte fortan nach dem Motto: ‚Von mehr Kraft zu mehr Beweglichkeit‘. Herr Thomas beschreibt seine Entwicklung wie folgt: „Ich habe gese- hen, dass sich mein Weg durchaus sehen lassen kann. Ich weiß durch das Coaching besser, was mich leitet und was mir wichtig ist. Ich habe verstanden, warum ich manche Turniere gewonnen habe und andere nicht. Die Arbeit mit den Werten lässt mich klarer sein – über mich und in mei- ner Kommunikation. Ich bin meiner selbst bewusster geworden, ich kann besser zu mir stehen, statt etwas zu überspielen, empfinde es nicht als Makel und bin mir meiner Stärken sicherer geworden. Ich habe gelernt, 274 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 274 08.11.2010 12:46:17 Uhr
Wertecoaching in der Praxis an meinen Entwicklungsbereichen zu arbeiten. Früher habe ich gedacht, ich müsste an mir arbeiten, um leistungsfähiger zu werden. Ich war getrieben von dem, was mir andere vorgehalten haben. Deshalb bin ich auch manche Themen nicht angegangen, weil ich es eigentlich nicht ein- gesehen habe. Heute möchte ich aus Verantwortung mir selbst gegenüber daran arbeiten. Ich habe die Entscheidung dazu selbst getroffen. Ich kann mein Verhalten besser reflektieren und mich bewusster zu Handlungen entscheiden. Ich habe gelernt, dass ich meine Wertepalette stärker nutzen kann und dann zu einer farbenfroheren Persönlichkeit komme. Einseitige Wertefokussierung schränkt ein und kann zum Sturz vom Pferd führen. Ich muss nicht gleich in jedes ‚Turnier‘ hetzen. Ich weiß, ich möchte wieder in ein Turnier, aber mehr zu meinen Bedingun- gen. Ich habe viele neue Gedanken entwickelt und kann mich besser akzeptieren – auch wenn ich mal an einem Tag nicht so gut drauf bin. Ich habe Selbsterkenntnis und Selbstakzeptanz gewonnen. Ja, ich bin auch unsicherer geworden, aber das gehört für mich zur Ent- wicklung dazu. Es fühlt sich nicht gut an, insbesondere da ich Struktur und Sicherheit brauche. Ich lerne gerade, damit umzugehen. Auch auf die Umwelt wirkt es irritierend, fast unangenehm. Ich trete nicht mehr so forsch auf, mehr reflektierend. Ich bin nicht mehr ständig in Bewegung. Ich kann, glaube ich, besser auf andere zugehen, ich frage nach Feedback, auch wenn es immer noch zu wenig ist. Ich erzähle mehr von mir – auch wie es mir geht. Vor dem Coaching hätte ich das gar nicht so ansprechen können. Ich komme selbst damit auch besser klar, auch wenn ich meine ‚Auf‘- und ‚Ab‘-Phasen habe. Mir ist bewusst geworden, wie wichtig es für mich ist, mich mit anderen auszutauschen. Wenn ich das nicht in diesem Coaching gemacht hätte, wäre ich in eine negative Spirale geraten. Die Heldengeschichte ist nicht zu Ende, der Held ist jetzt in einem anderen Turnier. Als Ritter möchte ich von mehr Kraft zu mehr Eleganz kommen, lernen mit weniger Rüs- tung – vielleicht auch ganz ohne – wendiger zu sein. Ich möchte Ballast abwerfen, offener für andere und mehr im Kontakt sein.“ Die Reflexion führt Herrn Thomas zu einem der Entwicklungsbereiche, den er bereits früher im Prozess benannt hatte: Empathie und Selbst- bewusstheit. Wir sprechen in diesem Zusammenhang über seine Gefüh- le dazu und er beschreibt seine Wahrnehmung, dass unkontrollierte Gefühle oft Beziehungen belasten. „Ich halte mich mit Gemüts- regungen eher zurück. Ich möchte anderen meine Gefühle eigentlich nicht zumuten.“„Wie empfinden Sie es, wenn jemand Ihnen seine Gefühle mitteilt?“ „Als Zuneigung.“ Herr Thomas ist durch das Thema sehr berührt: „Ich merke, dass es mich Kraft kostet, meine Gefühle zu kontrollieren. Ich möchte lernen, auch mal Schwäche zu zeigen und den- ke inzwischen, dass das ja eigentlich auch eine Stärke ist.“ © managerSeminare 275 Wertecoaching_in_Krisen.indd 275 08.11.2010 12:46:18 Uhr
Kapitel 4 Mit Viktor E. Frankl Herr Thomas hat sich von sich selbst distanziert und damit den Ab- betrachtet … stand geschaffen, der Freiheit zur Entscheidung gibt. Er hat erfahren, dass er sich zu den Dingen ‚so oder so‘ stellen kann. Der Mensch ist frei zu einer Stellungnahme, dazu, so oder so zu den Bedingungen Stellung zu nehmen. Und dafür, wie er zu ihnen Stellung nimmt, ist er nicht nur frei, sondern auch verantwortlich.26 Seine Werte wirken in den Wahlmöglichkeiten und in der Ver-Antwortung der Aufgaben des Lebens sinnstiftend und handlungsleitend. Arbeit und Leistung sind weiterhin ‚Gründe, um zu sein‘. Seine Ziel- vorstellung bleibt bestehen, aber Herr Thomas hat sich bewusster gemacht, welche anderen Lebensbereiche ihm darüber hinaus wichtig sind. Zudem hat er erkannt, dass er in der Umsetzung seiner berufli- chen Vorstellungen Spielräume hat: seine Suche deutlicher an seinen Vorstellungen auszurichten, eine Stelle abzulehnen, über Selbständig- keit nachzudenken. Durch das Coaching hat Herr Thomas nicht nur Freiheit, sondern auch Orientierung gewonnen. Er hat sich entschieden, wie seine weiteren beruflichen Schritte aussehen sollen und woran er sie ausrichten möchte. Er setzt die Erkenntnisse in den laufenden Bewerbungspro- zessen um und verantwortet damit die aktuellen Herausforderungen seines beruflichen Lebens. Damit hat er seine Erschütterung aus dem Verlust eines seiner wichtigsten Lebensbereiche sinnvoll aufgebrochen. Im Modell von Schuchardt [vgl. Kapitel 1.5.4] hat Herr Thomas sich im Coaching von der fünften Spiralphase der ‚Depression‘ zur sechsten Phase der ‚Annahme‘ bewegt. Mit seinen Entscheidungen aktiviert er die siebte Phase. Er hat zudem mehr Wertschätzung für seinen bishe- rigen Weg entwickelt und würdigt damit die ‚vollen Scheunen der Ver- gangenheit‘ [Frankl]. Er hat für die Umsetzung seiner Zielvorstellung [neue] Ressourcen aktiviert und sich bewusst gemacht, welche Person er ist und weiter werden will. 276 Ralph Schlieper-Damrich, Netzwerk CoachPro: Wertecoaching in Krisen Wertecoaching_in_Krisen.indd 276 08.11.2010 12:46:18 Uhr
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