Gemeinschaftsprojekt Pflege-WG - Der Aufbau einer von Angehörigen selbstorganisierten Pflege-Wohngemeinschaft in Potsdam

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Gemeinschaftsprojekt Pflege-WG - Der Aufbau einer von Angehörigen selbstorganisierten Pflege-Wohngemeinschaft in Potsdam
VII.3                                                                                       Praxisbeispiele

                                                                                                                        Leben wie ich bin e. V. / Birgitta Neumann
Ausreichend Platz für Pflege und Besuch: Die Potsdamer Pflege-WG bietet nach dem Umbau genug Raum für die
pflegerische Versorgung und für die Besuche der Angehörigen.

Gemeinschaftsprojekt
­Pflege-WG
Der Aufbau einer von Angehörigen
selbstorganisierten Pflege-Wohngemeinschaft
in Potsdam

D
           ie Pflege-WG ist eine echte Alternative             beschreibt Birgitta Neumann ihre ersten Überle-
           für die ambulante Versorgung Pflegebe-              gungen. „Uns ging es darum, die Lebendigkeit und
           dürftiger. Das Projekt sollte jedoch gut            Persönlichkeit gerade von Demenzerkrankten zu
           vorbereitet und verantwortungsvoll                  bewahren, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen
weitergeführt werden. Wie das geht, zeigt ein                  und zu gestalten.“
Beispiel aus Potsdam.
                                                               Ein Leitfaden der Alzheimer Gesellschaft Bran-
Im Jahr 2009 stand Birgitta Neumann vor der                    denburg e. V. brachte sie auf die Idee, eine Pfle-
großen Frage, wie sie für ihren an Demenz                      ge-WG zu gründen. Auf einer Infoveranstaltung
erkrankten Vater eine neue Form der pflegeri-                  der Alzheimer-Gesellschaft in Potsdam lernte sie
schen Versorgung finden kann. „Wir wollten etwas               zwei weitere pflegende Angehörige kennen. Die
entwickeln, das sich von der üblichen Pflege und               ersten drei Mitglieder der zukünftigen Angehöri-
Betreuung in einem Pflegeheim unterscheidet“, so               gengemeinschaft hatten sich gefunden.

Praxisseiten Pflege 09/2015                                                                                         1
Gemeinschaftsprojekt Pflege-WG - Der Aufbau einer von Angehörigen selbstorganisierten Pflege-Wohngemeinschaft in Potsdam
Praxisbeispiele                                                                                       VII.3

Lebendigkeit und
Persönlichkeit bewahren
Ihnen allen ging es darum, dass ihre Angehörigen             Pflegebedürftigen weiterhin wie zu Hause mit
trotz der Demenzerkrankung soweit wie möglich                ihren persönlichen Interessen wahrgenommen
ihr normales Leben weiterführen können – wie zu              werden. Wer gerne Zeitung liest, spazieren geht,
Hause. Die pflegebedürftigen Verwandten sollten              singt und musiziert, erzählt oder Gedichte liest,
täglich spüren, so der Wunsch, dass sie wichtig              soll dabei unterstützt werden. „Auch wenn die
sind, gebraucht werden und noch viele Fähig-                 Pflegebedürftigen dies aufgrund ihrer Demenzer-
keiten besitzen. Die Idee der Pflege-WG über-                krankung nicht mehr vollständig umsetzen
zeugte, denn sie ermöglicht eine Rund-um-die-                können – jede noch so kleine Beschäftigung mit
Uhr-Begleitung und bietet gleichzeitig einen                 ihren Lieblingsthemen bringt ihnen Freude“,
offenen, freien und häuslichen Rahmen, in dem                betont Birgitta Neumann, die mittlerweile auf die
die Bewohnerinnen und Bewohner aktiv in alle                 Erfahrung aus vielen Jahren bauen kann, in denen
Alltagsaktivitäten einbezogen sind. Dazu zählen              sie die Pflege-WG begleitet hat. „Solche Beschäfti-
u. a. das Zubereiten der Mahlzeiten, Abwaschen,              gungsangebote wirken sich positiv auf ihre
Aufräumen, Wäsche waschen. Aber wichtig war                  schwankenden Stimmungen aus, sie sind ein
den Gründerinnen und Gründern auch, dass die                 guter Ausgleich“, so Birgitta Neumann.

                                                                                                                    Leben wie ich bin e. V. / Birgitta Neumann

Ganz normaler WG-Alltag: Auch lästige Aufgaben wie Aufräumen und Staubsaugen des eigenen Zimmers müssen
erledigt werden.

Doppelbelastung bei der
Gründung
Doch von der Idee zur Verwirklichung war es wie              sind. Doch der zeitliche Betreuungsaufwand stieg
so häufig kein einfacher Weg. Allen fiel es nicht            und bestand teilweise auch nachts. Auch angesichts
leicht, die häusliche Betreuung aufzugeben. Denn             der übergroßen emotionalen Belastung, die den
die vertraute Wohnung oder das eigene Haus                   Umgang mit den Angehörigen täglich prägt, suchte
bieten Stabilität und Geborgenheit, die so wichtig           jeder nach einer würdigen Alternative, die das „zu
für das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz                 Hause leben“ ersetzen könnte.

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Gemeinschaftsprojekt Pflege-WG - Der Aufbau einer von Angehörigen selbstorganisierten Pflege-Wohngemeinschaft in Potsdam
VII.3                                                                             Praxisbeispiele

Als die Pflege-WG vorbereitet wurde, verdoppelte       → Auswahl eines ambulanten Pflegedienstes
sich die Belastung: Alle mussten die Pflege zu Hause
weiterhin sicherstellen und gleichzeitig die Aufga-    → Vorstellungen über die Alltagsgestaltung und
ben bewältigen, die mit der Gründung einer                Begleitung der demenzerkrankten Angehörigen
Pflege-WG verbunden sind. Welche ­Wohnung eignet
sich? Woher kommen weitere WG-Mitglieder?              → Vereinbarung der Vorstellungen mit dem
                                                          ­ambulanten Pflegedienst
Als endlich eine passende Wohnung gefunden
wurde – eine ehemalige Büroetage in Potsdam –          → Klärung der Finanzierung der Rund-um-die-Uhr-
veröffentlichten die Angehörigen eine Pressemit-          Pflege und -Begleitung
teilung. Prompt meldeten sich weitere Interes-
sierte. Und als klar wurde, wann der Einzug in die     → Verteilung der Aufgaben bzw.
Wohngemeinschaft voraussichtlich stattfinden              Verantwortlichkeiten
konnte, waren drei weitere Angehörige zusätzlich
an Bord. Sie waren dankbar, sich an ein solches        In der Regel werden zwischen Bewohnerinnen
Projekt anschließen zu können.                         und Bewohnern und dem Vermieter Einzelmiet-
                                                       verträge geschlossen, gleiches gilt für die individu-
Auf einer Fläche von 300 Quadratmetern wurden          ellen Pflege- und Betreuungsverträge (siehe
nun zehn Räume so gestaltet, dass für acht             Infokasten). Im Falle der Potsdamer Pflege-WG
Bewohnerinnen und Bewohner jeweils ein                 waren Einzelmietverträge nicht mehr möglich, da
Zimmer vorhanden war, um es selbständig zu             der Vermieter nicht bereit war, die hohen Umbau-
möblieren. Im 60 Quadratmeter großen Wohn-             kosten auf eigenes Risiko zu tragen. Er wünschte
zimmer wurde eine Wohnküche integriert. Der            einen Gesamtmieter als verantwortlichen
Vermieter erklärte sich bereit, die Wohnung            Ansprechpartner. Auch hier fanden die enga-
entsprechend den Vorstellungen mit zwei Bädern         gierten Potsdamerinnen und Potsdamer eine
und drei behindertengerechten Toiletten umzu-          Lösung: Sie gründeten den Verein „Leben wie ich
bauen. Herausfordernd waren für die Potsdamer          bin – Selbstbestimmtes Wohnen für Menschen mit
Pflege-WG beim Umbau die entsprechenden                Demenz“, der dann einen Gesamtmietvertrag mit
bau- und brandschutzrechtlichen Vorschriften.          dem Vermieter abschloss.
Denn Wohngemeinschaften werden ab einer
bestimmten Größe – ab sechs Bewohnerinnen und          Untereinander legten die Angehörigen klare
Bewohnern – als Sonderbau und „heimähnliche            Verantwortungsbereiche für die Gemeinschaft
Einrichtung“ eingestuft. Die Angehörigen mussten       fest. Dabei stand das Interesse am Mitwirken im
sich daher auch um den Einbau eines zweiten            Vordergrund und nicht die „gerechte“ Verteilung
Rettungswegs, einer Brandmeldeanlage und von           der Aufgaben untereinander. „Dies ist natürlich
Rauchabzugstüren kümmern.                              ein Prozess, der alle fordert und sich nicht von
                                                       alleine einstellt, der jedoch neue Ressourcen und
                                                       Gestaltungsspielräume für alle Beteiligten
Organisation, Verantwortung                            eröffnet“, so Birgitta Neumann.
und Engagement
Doch der Aufbau einer Pflege-WG ist bei Weitem
mehr als ein bauliches Projekt. Schon früh machte
man sich nicht nur Gedanken, wie die Rund-um-
die-Uhr-Pflege gelingt, sondern auch, wie ein
abwechslungsreicher Alltag in der WG organisiert
werden kann. Die Angehörigen schlossen sich
zuerst zu einer Angehörigenauftraggebergemein-
schaft zusammen. Mit der Mustervorlage „Verein-
barung der Angehörigen“ von der Alzheimer-­
Gesellschaft Brandenburg e. V. verständigten sie
sich zu fünf Punkten:

Praxisseiten Pflege 09/2015                                                                                3
Praxisbeispiele                                                                                   VII.3

           Tipps aus der Praxis
           → Die Mietverträge werden in der Regel als Einzelmietverträge der Bewohnerinnen
              und Bewohner mit dem Vermieter geschlossen.

           → Das Gleiche gilt für individuelle Pflege- und Betreuungsverträge.

           → Es muss darauf geachtet werden, dass Mietvertrag und Pflegevertrag getrennt
              geschlossen werden.

           → So wird eine Unabhängigkeit vom Pflegedienst gewährleistet, denn dieser ist stets
              „Gast“ in der Wohnung, während die WG-Bewohnerinnen und -Bewohner sowie die
              Angehörigen die Verantwortung tragen und das Schlüssel- und Hausrecht haben.
              Dies ist ein ganz wesentlicher Teil der Selbstbestimmung.

           → Zusätzlich ist es sinnvoll, Qualitätsvereinbarungen mit dem Pflegedienst zu treffen.

Alltag wie in einer Familie
Mehrere Jahre gibt es die WG nun schon. Birgitta         des ambulanten Pflegedienstes den Alltag unserer
Neumanns Vater verstarb. Daraufhin wechselte sie         an Demenz erkrankten Angehörigen gestalten.“ Je
in eine neue Rolle: Als Moderatorin ist es nun ihre      nach vorhandenen Fähigkeiten werden sie in die
Aufgabe, unterschiedliche Interessen zwischen            Essensvorbereitung oder das Abwaschen einbe-
Angehörigen untereinander oder auch in Zusam-            zogen, zudem wird gemeinsam die Freizeit
menarbeit mit dem Pflegedienst auszugleichen.            gestaltet. Alles findet so statt, wie es auch sonst in
Gerade wenn es um zeitliche oder emotionale              normalen Familien gelebt wird. Neben der Pflege
Überforderungen geht, ist solch eine moderie-            und Betreuung übernehmen die Angehörigen
rende neutrale Person, die nicht in die unmittel-        organisatorische Aufgaben und sind Teil des
bare Tagesorganisation eingebunden ist und einen         Ganzen. Gemeinsam kann dies nur gelingen, wenn
kühlen Kopf mitbringt, äußerst wertvoll. In der          in jeder Schicht tagsüber zwei Mitarbeiterinnen
WG wohnen acht Mitglieder und es ist für Birgitta        bzw. Mitarbeiter und in der Nacht eine Kraft des
Neumann „immer wieder beeindruckend, wie                 ausgewählten Pflegedienstes diese Form der
engagiert die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter           Begleitung übernehmen.

       Weiterlesen
       Ihre gesammelten Erfahrungen hat Birgitta         Tipps und Erfahrungen für die Gründung
       Neumann in dem umfangreichen Praxis-              und Organisation einer Pflege-WG bietet
       handbuch „Es selbst in die Hand nehmen!“          auch die Alzheimer Gesellschaft Branden-
       zusammengefasst. Dort finden sich                 burg in der Informationsbroschüre „Leben
       umfangreiche Checklisten, Tipps und               wie ich bin“. Download unter:
       Praxis­beispiele zu interessanten Schulungs-
                                                         → www.alzheimer-brandenburg.de
       themen für pflegende Angehörige. Down-
       load unter:

       → www.leben-wie-ich-bin.de

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VII.3                                                                                        Praxisbeispiele

Gemeinsame Schulungen
schaffen Sicherheit
Die gemeinsame Verständigung zwischen Ange-                     durchzuführen. So lassen sich die gemeinsamen
hörigen und ambulantem Pflegedienst darüber,                    Grundlagen zur „Praxis Wohngemeinschaft“ von
wie der Alltag in der Wohngemeinschaft gelebt                   Angehörigen und Mitarbeitenden des Pflege-
werden soll und kann, ist eine der wichtigsten                  dienstes entwickeln und diskutieren. Die Pots-
Voraussetzungen für das Gelingen einer Wohnge-                  damer raten dazu, auch Expertinnen und Experten
meinschaft für Menschen mit Demenz. Natürlich                   zu den verschiedenen Themen einzuladen. Diese
gibt es unterschiedliche Vorstellungen und                      Form der gemeinsamen Schulung fördert die
Einstellungen von Angehörigen und Mitarbei-                     Qualitätsentwicklung für die gesamte Pflege-WG.
tenden des Pflegedienstes – zum Beispiel mit Blick
auf den Bedarf der Alltagsbegleitung und die                    Denn Qualität, so das Fazit des Gemeinschafts­
Pflege von Menschen mit Demenz. Um das                          projektes Pflege-WG, legt man nicht zu Beginn
subjektive Wohlbefinden der Pflegebedürftigen zu                fest, beim Bau der Pflege-WG – sie entwickelt sich
fördern und ihre Rechte auf Selbstbestimmung zu                 im gemeinsamen Alltag und kann so einen Beitrag
stärken, müssen sich alle inhaltlich mit den                    zu mehr Lebensqualität der Bewohnerinnen und
verschiedensten Anforderungen auseinander-                      Bewohner leisten.
setzen und im Austausch bleiben. Auch gilt es,
Fragen der „geteilten Verantwortung“ zu klären.                        Hintergründe zu den Unterstützungsmöglich-
Nach der Erfahrung von Birgitta Neumann ist es                         keiten für moderne Pflege-Wohngemein-
für jede Pflege-Wohngemeinschaft deshalb                               schaften finden Sie auf der Praxisseite II.3.
empfehlenswert, regelmäßige Schulungsabende

                                                                                                                           Leben wie ich bin e. V. / Birgitta Neumann

Voneinander lernen: Rezepte wie bei Muttern können von den Pflegebedürftigen gelernt werden.

Praxisseiten Pflege 09/2015                                                                                            5
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