Strukturreform Pflege und Teilhabe ii - Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs - Kuratorium ...

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Strukturreform Pflege und Teilhabe ii - Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs - Kuratorium ...
Thomas Klie
                                Michael Ranft
                        Nadine-Michèle Szepan

        Strukturreform
Pflege und Teilhabe II
  Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik
       Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs
Strukturreform Pflege und Teilhabe ii - Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs - Kuratorium ...
Thomas Klie
Michael Ranft
Nadine-Michèle Szepan

Strukturreform
Pflege und Teilhabe II
Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik
Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs
Strukturreform Pflege und Teilhabe ii - Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs - Kuratorium ...
Inhalt                                                                                Seite

     Vorbemerkung                                                                             4

1. Imangewiesene
       Fokus: Bedingungen guten Lebens für auf Pflege
                 Menschen und ihre An- und Zugehörigen                                        6

2. Fachliche Begleitung und Erwachsenenschutz sicherstellen                                    7

     2.1 Analyse                                                                              7
     2.2 Reformperspektive: Subjektorientierte Qualitätssicherung                             8

3. Schnittstellenprobleme zwischen Medizin und Teilhabe lösen                                10

     3.1 Prävention                                                                          10
     3.2 Rehabilitation                                                                      10
     3.3 Behandlungspflege                                                                   11

4. Abgrenzungen und Schnittstellen zur Teilhabe                                              14

     4.1 Das BTHG                                                                            14
     4.2 Personenzentrierung in Teilhabe und Pflege                                          15

5. Pflege geschieht vor Ort: Rolle der Kommunen
   und der Kassen profilieren                                                                 15

     5.1 Aufgaben und Zuständigkeiten der Kommunen                                           15
     5.2 Daseinsvorsorge und Allzuständigkeit der Kommunen                                   17
     5.3 Kommune als Sozialhilfeträger                                                       17
     		5.3.1 Hilfe zur Pflege                                                                17
     		5.3.2 Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes                                          18
     		5.3.3 Altenhilfe                                                                      18
     5.4 Aufgaben und Zuständigkeiten der Kassen auf der kommunalen Ebene                    19
     5.5 Steuerungsaufgaben und Funktionen auf kommunaler und regionaler Ebene               20
     		5.5.1 Sozialplanung: Kommunale Teilhabe- und Pflegestrukturplanung                    20
     		5.5.2 Care Management: Pflegestützpunkte                                              22
     5.6 Case Management: Kooperativ und am Sozialraum orientiert                            23
     5.7 Teilhabe- und Pflegeberatung                                                        23
     5.8 Sozialraumorientierte Teilhabe- und Pflegestrukturplanung als kommunale Aufgabe     24
     5.9 Infrastrukturkosten                                                                 25

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6. Dem Personalnotstand begegnen                                                                  26

    6.1 Personalnotstand                                                                          26
    6.2 Differenzierung von beruflichen Qualifikationen                                           27

7. Finanzierung der Pflege neu ausrichten                                                         28

    7.1 Im Fokus: Die stationäre Langzeitpflege                                                   28
    7.2 Sockel-Spitze-Tausch                                                                      29
    7.3 Immer wieder vernachlässigt: Die häusliche Pflege                                         30
    7.4 Pflegepolitische Reformoptionen                                                           30
    7.5 Pflegepolitische Finanzierungs-Reformoptionen im Überblick                                31

8. Bausteine einer Strukturreform II                                                              32

    8.1 Pflege- und Sorgepolitik als anthropologisch fundierte Aufmerksamkeitsverlagerung
       vom Objekt zum Subjekt: Erweiterte MD-Funktion im Sinne einer subjektorientierten
        Qualitätssicherung                                                                         32
    8.2 Pflegefachliche Begleitung für alle: Fachpflegerische Steuerung und bedarfsdeckende
        Leistungen der Behandlungspflege                                                           32
    8.3 Innovationen fördern, Sektorengrenzen überwinden: Das Leistungsrecht flexibilisieren       34
    8.4 Effektive Governance vor Ort: Steuerungsebenen und Infrastrukturverantwortung profilieren  36
    			8.4.1 Steuerung auf der Fallebene                                                           37
    			8.4.2 Care Management                                                                       38
    8.5 Infrastrukturdefizite ausgleichen                                                          39
    8.6 Kommunale Handlungsebene stärken: Governancestrukturen und -kulturen vor Ort qualifizieren 39
    8.7 Investitionen in Innovationen fördern                                                      40
    8.8 Digitalisierung                                                                            41

9. Ausblick                                                                                       42

    Literaturverzeichnis                                                                          44

    Impressum                                                                                     48

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Strukturreform Pflege und Teilhabe ii - Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs - Kuratorium ...
Vorbemerkung                                              für die Sicherstellung der Pflege und Teilhabe vor
                                                          Ort als gemeinsame Aufgabe aller Beteiligten zu
                                                          befördern. Das Papier hat eine breite fachliche
                                                          und politische Resonanz erfahren und wurde von
Die Corona-Pandemie hat deutlich gemacht und              den kommunalen Spitzenverbänden einhellig un-
tut dies weiterhin: Eine suffiziente und krisenfes-       terstützt. 15 Bundesländer hatten sich den For-
te Infrastruktur für die Sorge und Versorgung auf         derungen angeschlossen. Es fand Eingang in die
Pflege angewiesener Menschen und die Unter-               seinerzeitige Koalitionsvereinbarung und diente
stützung von An- und Zugehörigen ist von exis-            als Impuls für die Beratungen in der Bund-Länder-
tentieller Bedeutung für die Bevölkerung. Ins-            Arbeitsgruppe zur Stärkung der Rolle der Kom-
besondere in der häuslichen Versorgung zeigte             munen in der Pflegeversicherung. Auch die Siebte
sich die Fragilität des aktuellen Pflegesystems. In       Altenberichtskommission hatte sich das Konzept
der stationären Versorgung wurde in menschen-             weitgehend zu eigen gemacht.
rechtlich problematischer Weise auf überwunden
geglaubte Mechanismen totaler Institutionen zu-           Trotz vielfältiger Bemühungen um relevante Re-
rückgegriffen (Schulz-Nieswandt 2020b). Gerade            formschritte in der Pflegeversicherung, insbeson-
Aspekte der Teilhabe auf Pflege angewiesener              dere im Zusammenhang mit der Einführung des
Menschen waren und sind in besonderer Wei-                neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes, der Auswei-
se bedroht. Dabei wissen wir wie lebenswichtig            tung von Leistungen und der Qualifizierung von
sie für die betroffenen Personen sind. Von daher          Beratungsangeboten hat sich an der Analyse, die
wird in dem hier vorgelegten Papier „Strukturre-          dem Papier „Strukturreform Pflege und Teilhabe“
form Pflege und Teilhabe II“ Pflege und Teilhabe          2013 zugrunde lag, wenig geändert. Von einer
zusammengedacht. Auch die Pflegeversicherung              systematischen Aufmerksamkeit für die Lebens-
soll ihren Beitrag dazu leisten, Menschen unter           lagen auf Pflege angewiesener Menschen in ihrer
Bedingungen von Pflegebedürftigkeit ein Leben             eigenen Häuslichkeit kann in Deutschland wei-
zu ermöglichen, dass die für sie elementar be-            terhin nicht die Rede sein. Das gilt auch und ge-
deutsamen Dimensionen familiärer, örtlicher und           rade nach bzw. in Zeiten der Corona-Pandemie.
gesellschaftlicher Zugehörigkeit realisieren lässt.       Verbreitet sind weiterhin Überforderungssituati-
Gerade in Coronazeiten besteht die Chance, aber           onen, insbesondere in der häuslichen Pflege, in
auch die Notwendigkeit, die schon lange diskutier-        der eine große Zahl von osteuropäischen Haus-
ten Desiderate der deutschen Pflegeversicherung           haltshilfen das „Systemversagen“ - regional und
aufzugreifen und ihnen zukunftsorientiert durch           für bestimmte Bevölkerungsgruppen - kompen-
entsprechende Reformen entgegenzutreten.                  sieren. Von gleichwertigen Lebensbedingungen
                                                          für auf Pflege angewiesenen Menschen kann in
2013 hatte ein Autorenteam einen Reformvor-               Deutschland in keiner Weise die Rede sein: Die In-
schlag für eine Strukturreform der Pflegeversi-           frastrukturunterschiede sind zwischen den Bun-
cherung für die 17. Legislaturperiode des Deut-           desländern aber ebenso zwischen kommunalen
schen Bundestag erarbeitet (Hoberg et al. 2013).          Gebietskörperschaften groß. Leistungsansprü-
Es kannte als Ausgangspunkt die von auf Pflege            che, die im SGB XI verbrieft sind, können vielfach
angewiesenen Menschen erlebten Defizite in                nicht eingelöst werden.
ihrer Versorgung, die nicht zuletzt aus nicht be-
arbeiteten Schnittstellen, in der fehlenden sys-          Seit einigen Jahren wird breit über eine Finanzie-
tematischen Aufmerksamkeit für Risikolagen, de-           rungsreform der Pflegeversicherung debattiert
fizitären Care und Case Management-Strukturen             (Rothgang und Domhoff 2019; Klie 2019d; Dia-
sowie einer nicht eingelösten Infrastrukturverant-        konie Deutschland 2019). Inzwischen haben sich
wortung auf örtlicher Ebene resultieren. Die sei-         durch die Corona-Pandemie die Rahmenbedin-
nerzeit erarbeiteten Vorschläge konzentrierten            gungen und Herausforderungen für die Langzeit-
sich auf der einen Seite auf eine Differenzierung         pflege weiter zugespitzt. Auch wurden die bislang
von Hilfebedarfen und ihrer Beantwortung ba-              für eine Finanzierungsreform zur Verfügung ste-
sierend auf einer Unterscheidung zwischen Cure-           hende Finanzreserven der Kassen weithin für Co-
und Care-Aufgaben, und auf der anderen Seite              ronakosten eingesetzt und verbraucht. Der Bun-
auf Instrumente zur Stärkung der kommunalen               desgesundheitsminister hat Ende 2020 u. a. eine
Handlungsebene in der Umsetzung der Pflegever-            Deckelung der Zuzahlungen von Bewohner*innen
sicherung, um die Einlösung der Verantwortung             stationärer Pflegeeinrichtungen ins Gespräch ge-

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bracht.1 Über einen Steuerzuschuss soll die Decke-           die schon länger diskutierten Schnittstellen zwischen
lung finanziert werden. Damit ist in jedem Fall poli-        SGB XI und SGB V werden aufgegriffen, sondern
tisch die Tür zu einer Verbreiterung der Finanzierung        auch und gerade die zum Bundesteilhabege-
der Pflegeversicherung aufgestoßen worden.                   setz. Wird das Papier doch, wie schon das Papier
                                                             „Strukturreform I“ von der Überzeugung getra-
Der Personalmangel in der Langzeitpflege, der                gen, dass alle pflegerischen Aufgaben und ins-
seinerseits in der Corona-Pandemie in seiner Dra-            besondere die Leistungsversprechen der Pflege-
matik deutlich hervortrat, führt vielerorts dazu,            versicherung ganz wesentlich auch dazu dienen,
dass vorhandene Angebote nicht mehr in der glei-             die Teilhabe auf Pflege angewiesener Menschen
chen Kapazität aufrechterhalten werden können                in den gesellschaftlichen Feldern zu sichern, die
und neue Einrichtungen pflegerischer Infrastruk-             dem je einzelnen Bürger oder der Bürgerin ele-
tur nicht an den Start gehen. Dies macht deutlich:           mentar bedeutsam sind - und dies bis zum Le-
Allein mit einer Optimierung des bestehenden                 bensende. Das Teilhabeversprechen ist an keine
Systems der Pflegeversicherung, die vor 25 Jah-              Altersgrenzen gebunden und darf nicht durch
ren eine sozialpolitische Errungenschaft war, las-           den Masterstatus Pflegebedürftigkeit relativiert
sen sich die aktuellen und künftigen Herausforde-            werden. Das Papier wird von der Überzeugung
rungen nicht bewältigen - ebenso wenig wie mit               getragen, dass Teilhabe i.S.d. Sicherung von Zu-
einer isolierten Finanzierungsreform.                        gehörigkeit von auf Pflege angewiesene Men-
                                                             schen nur dann und dort wird gelingen können,
Hier setzt das Papier „Strukturreform Pflege und             wenn und wo in der Pflege auch die Sicherung
Teilhabe II“ an, das sich ebenso wie das Papier „Pfle-       der Teilhabe als eine gesamtgesellschaftliche
gepolitik gesellschaftspolitisch radikal neu denken“         Aufgabe wahrgenommen wird. Zugehörigkeit,
von Frank Schulz-Nieswandt (Schulz-Nieswandt                 Lebensqualität und Teilhabe sowie der wirksa-
2020c) als Beitrag zu den Aktivitäten des Kuratori-          me Schutz von Menschenrechten lassen sich nur
ums Deutsche Altershilfe versteht: eine Plattform            im Zusammenwirken von Familien und anderen
für eine Reformdiskussion der Pflegeversicherung             sozialen Netzwerken, Professionellen und ihrer
zu bieten und Diskussionen in der Steuerungs-                fachlichen Expertise und ethischen Selbstbin-
gruppe und der Fachkommission aufzugreifen.                  dung, passfähigen Dienstleistungsangeboten im
Das nachfolgend vorgestellte Papier – bewusst                Bereich der Assistenz und Unterstützung sowie
konzentriert formuliert – wurde unter meiner Fe-             einer lebendigen Zivilgesellschaft erreichen. In
derführung in einem stetigen Diskurs und gemein-             diesem Zusammenhang hat sich das Leitbild der
samen Prozess der Konzept- und Textentwicklung               Caring Community (vgl. Klie 2020b) eingebürgert,
mit Nadine-Michèle Szepan und Michael Ranft                  das deutlich machen soll, dass zur Beantwortung
erstellt. Es wurde in seiner Entwicklung begleitet           der Herausforderungen im Zusammenhang mit
durch die Steuerungsgruppe zur Reform der Pfle-              dem, was wir in Deutschland Pflegebedürftigkeit
geversicherung im Kuratorium Deutsche Altershil-             nennen, dies nur mit einer Demokratisierung der
fe. Darüber hinaus fanden zahlreiche Gespräche               Sorge- und Pflegeaufgaben wird gelingen kön-
sowohl mit Pflegepolitiker*innen des Bundestages             nen. Auch die Siebte Altenberichtskommission
als auch der Länder statt, Verbandsvertreter*innen           hat sich dem Leitbild der geteilten Verantwortung
wurden konsultiert. Auch wenn die allermeisten               angeschlossen, das in wohlfahrtspluralistischen
Vorschläge und konzeptionellen Überlegungen                  Arrangements die einzig tragfähige Antwort für
im Konsens formuliert wurden, wurden einige                  die Zukunft sieht.
Fragen auch im Autoren*innenteam kontrovers
diskutiert. So bietet das Papier an der einen oder           Dieser Text ist im Dialog und Austausch mit Nadine-
anderen Stelle unterschiedliche Optionen zur Be-             Michèle Szepan und Staatssekretär Michael Ranft
antwortung der Fragen an, die in dem Papier be-              als Kuratorin und Kurator im KDA entstanden.
handelt werden.
                                                             Prof. Dr. habil. Thomas Klie
Das Papier reflektiert in besonderer Weise das               Berlin, Freiburg, Tutzing
Bundesteilhabegesetz, das zum 01.01.2020 auch
leistungsrechtlich in Kraft getreten ist. Nicht nur          Februar 2021
–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
1   Vgl. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2020/pflegereform.html
    (Abruf vom 10.12.2020).

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Strukturreform Pflege und Teilhabe ii - Pflegepolitik als Gesellschaftspolitik Ein Beitrag zum pflegepolitischen Reformdiskurs - Kuratorium ...
1.
Im Fokus: Bedingungen
guten Lebens für auf Pflege
angewiesene Menschen und
                                                            Handlungsspielräume von Menschen beschreibt
                                                            und analysiert und danach fragt, welche Ressour-
                                                            cen den Bürger*innen zur Verfügung stehen, um
                                                            eine selbstbestimmte Lebensführung entfalten
                                                            zu können und inwieweit sie über die Fähigkeit
                                                            verfügen, das, was ihnen bedeutsam ist in der
                                                            Lebensführung, auch und gerade mit Blick auf
ihre An- und Zugehörigen                                    gesellschaftliche Teilhabe, zu realisieren (Schulz-
                                                            Nieswandt 2006; Naegele 2013). Der Lebensla-
                                                            geansatz ist weitergehend als das Konzept der
Der hier vorgelegte Reformansatz orientiert sich            Pflegebedürftigkeit, das Einschränkungen der
an dem von Martha Nussbaum (vgl. Nussbaum                   Selbständigkeit und ihre Kompensation fokussiert.
1997) vorgelegten Konzept der Bedingungen                   Analysiert man die Lebenslagen auf Pflege ange-
guten Lebens, das ausgehend von zehn We-                    wiesener Menschen und ihrer An- und Zugehö-
sensmerkmalen des Menschen danach fragt, ob                 rigen, auf deren Pflegebereitschaft die deutsche
und wie die Bedingungen aussehen, unter denen               Pflegeversicherung weiter kalkuliert ist – was un-
Menschen weltweit und in jedweder Lebenslage                ter Subsidiaritätsgesichtspunkten bei einer fairen
das realisieren können, was für sie in den Dimen-           Verteilung von Sorgeaufgaben auch vertretbar
sionen guten Lebens jeweils elementar bedeut-               ist – wird man Überforderungssituationen pfle-
sam ist. Gerade für vulnerable Bürger*innen in              gender Angehöriger (Rothgang und Müller 2018;
schwierigen Lebenslagen ist der Ansatz von Mar-             DAK-Gesundheit 2015) ebenso wenig übergehen
tha Nussbaum relevant. Er thematisiert damit die            können wie Menschenrechtsverletzungen in der
Verantwortung von Gesellschaft und Staat, die               häuslichen Pflege. Vielfach fehlt es an entlasten-
Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass auch                der Infrastruktur. Eine systematische Awareness
unter schwierigen und prekären Voraussetzungen              für Risiken in der Versorgung auf Pflege angewie-
ein gutes Leben möglich wird. Keine Bestimmung              sener Menschen wurde nicht entwickelt. Auch ist
dessen, was gutes Leben für den jeweiligen Bür-             die Pflegeversicherung in ihrer fiskalischen Archi-
ger bedeutet, ist mit dem Ansatz verbunden. Das             tektur so konzipiert, dass sie lediglich einen So-
für die jeweilige Person Bedeutsame kann nur sie            ckelbetrag finanziert und eine bedarfsdeckende
selbst identifizieren und entscheiden. Die Voraus-          Versorgung, insbesondere im ambulanten Be-
setzungen für Bedingungen guten Lebens als sozi-            reich, in die Verantwortung und in die Finanzie-
alstaatliche Verpflichtung zu adressieren, ist in ho-       rungsbereitschaft und -möglichkeit der Betrof-
hem Maße verbunden mit dem den Sozialstaat in               fenen stellt. Auch im stationären Bereich muss
Deutschland prägenden Subsidiaritätsprinzip, das            festgestellt werden, dass trotz vielfältiger Quali-
von der Fähigkeit des Menschen in seinen jeweili-           tätssicherungsaktivitäten die Versorgungsquali-
gen sozialen Bezügen, seine eigenen Angelegen-              tät, auch und gerade unter menschenrechtlichen
heiten zu besorgen, ausgeht, aber dabei zugleich            Gesichtspunkten (Klie 2020g) keineswegs befrie-
staatliche Vorleistungspflichten mit bedenkt, die           digen kann. Das hat sich unter Bedingungen der
die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das                Corona-Pandemie nochmals in dramatischer Wei-
Subsidiaritätsprinzip „atmen“ (Zacher 1968) und             se zugespitzt gezeigt. Auch reicht das Personal in
jeder das ihm Gemäße zur Gestaltung einer Ge-               der Regel nicht aus, um eine teilhabeorientierte
samtaufgabe (Korff 1999) beitragen kann. Nicht              Pflege und Sorge unter Bedingungen stationärer
messbare Kriterien der Lebensqualität, nicht die            Versorgung zu gewährleisten. Dies spiegelt sich
problematische Dimension der „Kundenzufrie-                 nicht zuletzt auf der auf persönlichen Erfahrun-
denheit“ (Schulz-Nieswandt 2020c) werden in                 gen beruhenden Einstellung in der Bevölkerung
dem Papier zugrunde gelegt. Als Referenz gilt               wider, die trotz anerkannter Qualitätsbemühun-
das Konzept der Bedingungen guten Lebens von                gen in der stationären Pflege eine Pflegeheim-
Nussbaum (1997), das inzwischen vielfältig in der           versorgung als Perspektive für die eigene oder die
gerontologischen und pflegewissenschaftlichen               Versorgung von nahen Angehörigen weitgehend
Forschung herangezogen wird (BMFSFJ 2016;                   vermeiden möchte (Haumann 2018). In der häusli-
Nolan et al. 2006; Klie 2018b).                             chen Versorgung haben wir es mit einer insgesamt
                                                            ausgeprägten Leistungsbereitschaft von Familien
In der Soziologie hat sich das Konzept der Le-              zu tun, die auch im historischen Vergleich eine
benslagen durchgesetzt und bewährt, das die                 erstaunliche Versorgungsqualität gewährleistet.

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Gleichwohl haben wir insbesondere bei Alleinste-           gend im illegalen oder zumindest im Graubereich
henden, aber auch bei überforderten An- und Zu-            gesetzlicher Regelungen eingesetzt werden, wird
gehörigen die Verletzung von Menschenrechten,              weithin hingenommen und geduldet. Von einem
Gewaltkonstellationen im Pflegealltag und nicht            Systemversagen ist hier zu sprechen (Klie 2019f).
sach- und fachgerechte Pflege zu beklagen, die
auch durch vielfältige Qualitätssicherungsbemü-            Die Zurückhaltung des Staates in dem Bereich der
hungen, vom obligatorischen Beratungsbesuch in             familiaren Pflege wird u.a. mit der Autonomie der
der eigenen Häuslichkeit bis hin zu Angeboten der          Familie begründet. Unabhängig von der proble-
Pflegeberatung, nicht kompensiert werden. Die              matischen – auf einem überkommenden Famili-
menschenrechtlichen Probleme in der häuslichen             alismus beruhenden – Fokussierung der pflegen-
Pflege lassen sich auch als Folgen einer problema-         den Angehörigen (Schulz-Nieswandt 2020a) muss
tischen Risikoprivatisierung zu Lasten der Familien        im Sinne des Subsidiaritätsprinzips und unter He-
lesen (Schulz-Nieswandt 2020c). All dies verlangt          ranziehung der Referenz der Bedingungen guten
nach wesentlich stärkerer Aufmerksamkeit auf               Lebens stets die Frage gestellt werden, ob der
die Lebenslage des jeweiligen auf Pflege ange-             Staat seinen Vorleistungspflichten nachkommt,
wiesenen Menschen und seiner An- und Zugehö-               damit in den weiterhin vorausgesetzten und do-
rigen, nach suffizienten Unterstützungs- und Be-           minanten informellen Pflegearrangements in für
ratungsangeboten jenseits respektive ergänzend             die Beteiligten verträglicher Weise Pflege- und
zu den formellen Hilfen, die das Leistungsrecht            Sorgeaufgaben übernommen und gestaltet wer-
der Pflegeversicherung vorsieht, und einer syste-          den können. Hiervon ist die soziale Pflegeversi-
matischen Care und Case Management-Struktur,               cherung aber auch die kommunale Altenhilfe, be-
die die auf der individuellen (Fall-) Ebene sichtbar       zogen auf einen nennenswerten Anteil auf Pflege
werdenden Defizite systematisch für die Weiter-            angewiesener Menschen und ihrer An- und Zuge-
entwicklung von Infrastrukturen, Kooperationen             hörigen, trotz einer Reihe von Angeboten der Be-
und die Gestaltung von Hilfeprozessen auswertet            ratung – in der Praxis, weit entfernt. Dies verlangt
und nutzt (Klie 2020a). Eingebunden in Strategien          nach Reformen.
der Sozialplanung und mit einer neu zu normieren-

                                                       2.
den Infrastrukturverantwortung, die jeweils einen
regionalen und Ortsbezug aufweisen muss, kann
und muss der diagnostizierten dramatischen Un-
gleichwertigkeit von Lebensbedingungen für auf             Fachliche Begleitung
Pflege angewiesene Menschen entgegengetreten
werden. Das gelingt nur über neue Kooperations-            und Erwachsenenschutz
formen zwischen Leistungsträgern, Kommunen,                sicherstellen
der Zivilgesellschaft und Leistungserbringern.

Es besteht ein so nicht länger zu akzeptieren-             2.1 Analyse
der Gap zwischen streng regulierten formellen
Dienstleistungsangeboten in der ambulanten                 Auf Pflege angewiesenen Menschen steht ebenso
und stationären Pflege einerseits und einem                wie aufgrund von Krankheit behandlungsbedürf-
weithin Laissez-faire gehandhabten Geschehen               tigen Menschen ein Rechtsanspruch auf fachliche
in der lebensweltlichen Bewältigung von Pflege-            Begleitung im Kontext der Bewältigung von Pfle-
und Sorgeaufgaben in der jeweiligen Häuslichkeit           gebedürftigkeit i. S. d. § 14 SGB XI zu: hier auf me-
andererseits. Bei den lediglich von 24 Prozent             dizinische, dort auf (fach-)pflegerische: Sie sind
der zu Hause versorgten, auf Pflege angewiese-             darauf ausgerichtet, die selbstständige Lebens-
nen Menschen in Anspruch genommenen Pfle-                  führung sowie die Selbstständigkeit im Umgang
gediensten werden strenge Qualitätskontrollen              mit funktionellen Beeinträchtigungen und krank-
durchgeführt. In nicht durch formelle Dienste be-          heitsbedingten Belastungen soweit wie möglich
gleiteten Pflegehaushalten – aber auch in diesen           zu erhalten und zu fördern. Auch wenn die Über-
– werden Überforderungssituationen pflegender              nahme von pflegerischen Aufgaben innerhalb
Angehöriger ebenso übersehen wie Menschen-                 von Familien, in Haushalten aber auch Freund-
rechtsverletzungen im Pflegealltag. Auch die ver-          schaftsbeziehungen in unserer Gesellschaft als
breitete Inanspruchnahme von osteuropäischen               eine Solidaritätsaufgabe verstanden und auch
Haushalts- und Pflegehilfen, die ganz überwie-             tatsächlich wahrgenommen wird, sind mit dem

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unter dem Begriff der Pflegebedürftigkeit subsu-             provoziert, sondern auch Überlastungssituatio-
mierten Einschränkung der Selbständigkeit auf-               nen befördert und das Wohl auf Pflege angewie-
grund von Krankheit und/ oder Behinderung zahl-              sener Menschen gefährdet sein kann. In diesem
reiche fachliche Anforderungen verbunden. Die                Zusammenhang sind auch Aspekte des Erwach-
Übernahme von Pflegeaufgaben lediglich als eine              senenschutzes zu betonen. Sozialleistungen in
private Angelegenheit zu sehen, ist nicht zuletzt            Deutschland dienen im Kern der Grundrechtsre-
durch Einführung der Pflegeversicherung 1994                 alisierung von Bürger*innen. Jede erwachsene
hinfällig. Mit der Begutachtung durch den Medizi-            Person hat – nicht zuletzt abgeleitet aus dem
nischen Dienst (MD), durch die Verankerung eines             Haager Erwachsenenschutzübereinkommen –
Rechtsanspruches aber auch der Verpflichtung                 ein Recht auf wirksamen Schutz der Grund- und
von Geldleistungsbeziehern zur Inanspruchnah-                Menschenrechte. Das gilt auch für erwachse-
me von Pflegeberatungsbesuchen gem. § 37 Abs.                ne Menschen, auch wenn es an einer das Kin-
3 SGB XI, der inzwischen elaborierten fachlichen             deswohl schützenden Vorschrift gem. § 1666
Anforderungen im Rahmen von Qualitätssiche-                  BGB für erwachsene Personen bislang fehlt (vgl.
rung in der Langzeitpflege kann und darf man die             Zenz 2007; EmMa-Projekt2). Sozialleistungsträ-
Übernahme von Aufgaben der Pflege nicht als                  gern kann unter bestimmten Voraussetzungen
solche verstehen, die in der Durchführung als von            eine Garantenstellung gegenüber vulnerablen
jedem „Laien“ als kompetent wahrzunehmende                   Bürger*innen zuwachsen (vgl. Hoffmann 2010a;
angesehen werden können und dürfen. Aus der                  Klie 2019c), wenn sie Kenntnis von einer Notlage
Sicht des auf Pflege angewiesenen Menschen und               erhalten und eine Fallverantwortung in den ent-
seiner An- und Zugehörigen resultiert daraus ein             sprechenden Strukturen übernommen worden
Anspruch auf pflegefachliche und gegebenenfalls              ist. Eine entsprechende Awarenessstruktur für
weitere fachliche (rehabilitative, sozialarbeite-            erwachsenenschutzrechtlich relevante Risikosi-
rische, medizinische) Begleitung. Nicht nur un-              tuationen existiert in Deutschland bislang nicht.
ter dem Gesichtspunkt der Prävention, auch mit               Das gilt auch und gerade für erwachsenenschutz-
Blick auf mögliche und notwendige Maßnahmen                  rechtlich relevante Konstellationen in der häusli-
zur Erhaltung der Selbständigkeit, der Nutzung               chen Pflege. Einschlägig ist das Betreuungsrecht
rehabilitativer Potentiale im Zusammenhang mit               als eine Ausformung des Erwachsenenschutz-
Pflegebedürftigkeit aber auch zur Entlastung und             rechts in Deutschland, das advokatorische Funk-
Unterstützung von pflegenden Angehörigen, ist                tionen für ihre Angelegenheit selbst nicht mehr
fachpflegerische Begleitung als Rechtsanspruch               besorgen könnende Personengruppen vorsieht
zu verstehen. Durch die Verankerung der Steue-               (vgl. § 1896 BGB, § 1814 BGB E). In beiden: In einer
rung des Pflegeprozesses als Vorbehaltsaufgabe               systematischen Awarenessstruktur für erwachse-
der Fachpflege in § 4 PflBG wird die Exklusivität            nenschutzrechtlich relevante Risikosituation auf
fachpflegerischer Begleitung und Steuerung noch              Pflege angewiesener Menschen wie auch für die
einmal deutlich unterstrichen (Klie 2021). Die In-           pflegefachliche Begleitung von Beziehern von
anspruchnahme von fachpflegerischen Leistun-                 Leistungen der Pflegeversicherung fehlt es bis-
gen wird auf der einen Seite durch das SGB XI                lang an einer auch in der Praxis verfangenen suf-
vorgesehen. Gleichzeitig setzt allerdings die Fi-            fizienten Infrastruktur und klaren Regelung recht-
nanzarchitektur der Pflegeversicherung und das               licher Verantwortlichkeiten. Bei der anstehenden
Nebeneinander von Cash- und Care-Leistungen                  Reform des Betreuungsrechts sollten diese Desi-
Anreize, dass auch dort, wo fachpflegerische Be-             derate aufgenommen werden.
gleitung an sich erforderlich wäre, diese aus haus-
haltsökonomischen Gründen und zum Schutz der
Haushaltsautonomie vor staatlicher und fachli-               2.2 Reformperspektive:
cher Ingerenz abgelehnt wird. Selbstverständ-                Subjektorientierte Qualitätssicherung
lich gilt es die Autonomie von Pflegehaushalten
zu schützen. Auch ist hier ein fachpflegerischer             Unter dem Label „Subjektorientierte Qualitätssi-
Paternalismus abzulehnen. Gleichzeitig ist nicht             cherung“ wurde in den letzten Jahren ein Ansatz
zu verkennen, dass durch den Verzicht auf fach-              entwickelt (Klie und Büscher 2019), der ausge-
pflegerische Begleitung nicht nur Pflegefehler               hend von dem Pflegemodell von Nolan (Nolan et

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
2 Goethe-Universität, Frankfurt am Main, https://www.uni-frankfurt.de/62154606/Projekt-EmMa (Abruf vom 22.01.2020).

                                                         8
al. 2006) und basierend auf dem Capability-Ap-            mitteln eine besondere Feststellungsfunktion
proach von Martha Nussbaum - die Bedingungen              als auch dort, wo aus seiner Sicht die Pflege bei
guten Lebens (Nussbaum 1997) - die Perspektive            Pflegegeldbezug nicht sichergestellt ist, eine Art
der Qualitätssicherung in der Langzeitpflege von          Warnfunktion gegenüber den jeweiligen Pflege-
den zu kontrollierenden Einrichtungen respek-             kassen. Ob de lege lata oder de lege ferenda wäre
tive Institutionen auf die Subjektebene, auf die          in jedem Fall die Funktion des MD zu präzisieren
jeweilige Person und ihre Lebenswelt verlagert.           und wäre das Begutachtungsverfahren potential-
Jeder auf Pflege angewiesene Mensch, der Leis-            und risikospezifisch weiterzuentwickeln, damit
tungen der Pflegeversicherung oder anderer So-            sowohl für den Pflegehaushalt selbst als auch für
zialleistungsträger bezieht, hat einen Anspruch           Beratungsinstitutionen entsprechende Rückmel-
auf wirksamen Schutz seiner Menschenrechte                dungen und Hinweise gegeben werden können,
und darauf, dass Bedingungen gesichert werden,            welche Maßnahmen zur Sicherung der Qualität
unter denen er seine Selbständigkeit entfalten re-        in Betracht gezogen respektive ergriffen werden
spektive Selbständigkeitsdefizite kompensieren            sollten. Eine ähnliche Funktion war mit dem bis
kann, um die für ihn bedeutsamen Dimensionen              heute in § 18 SGB XI vorgesehenen Pflegeplan be-
guten Lebens leben und insofern seine Persön-             reits angelegt, wurde jedoch nicht weiterverfolgt
lichkeit auch unter Bedingungen von Pflegebe-             respektive umgesetzt, da der Begriff der Pflege-
dürftigkeit entfalten zu können. Die der Konzep-          planung anderweitig besetzt ist und der jeweils
tion der subjektorientierten Qualitätssicherung           verantwortlichen Pflegefachperson übertragen
zugrundeliegende Überlegung in methodischer               wurde, einen Pflegeplan im Rahmen der Steue-
und institutioneller Sicht basiert auf der Begut-         rung des Pflegeprozesses mit dem auf Pflege an-
achtungsfunktion des Medizinischen Dienst der             gewiesenen Menschen gemeinsam zu entwickeln.
Krankenversicherung gem. § 18 SGB XI und dem
neuen Begutachtungsinstrument (NBI), das der              Klärungsbedürftig sind die Fragen, die sich aus
Feststellung der Pflegebedürftigkeit seit 2017            den Feststellungen des MD respektive den ermit-
dient. Das Begutachtungsverfahren ist pflege-             telten Potentialen und Risikofaktoren ergeben-
wissenschaftlich hinterlegt und bietet wesentlich         den Folgerungen und Maßnahmen. § 18 SGB XI
mehr Informationen als das bisherige Begut-               sieht bereits jetzt vor, dass die Feststellung eines
achtungsinstrument. Bei dem im Auftrag des                Rehabilitationsbedarfes durch den MDK leis-
AOK-Bundesverbandes weiterzuentwickelnden                 tungsrechtliche Implikationen mit sich bringt.
Konzeptes wird sichtbar, dass die Items des Be-           Ähnliches könnte man sich für die Feststellung
gutachtungsinstrumentes verbunden mit dem                 hinsichtlich der Potentiale und Risikofaktoren
Begutachtungsbogen zur Feststellung der Pfle-             vorstellen: Die Empfehlungen wären an den Ver-
gebedürftigkeit geeignet sind, sowohl Gelingens-          sicherten selbst und seine An- und Zugehörigen
als auch relevante Risikofaktoren für das jeweilige       weiterzuleiten, ebenfalls an seine Pflege- und
Pflegearrangement unter Heranziehung der be-              Krankenkasse. Diese hätte dann insbesondere bei
schriebenen Parameter zu befördern. Mithilfe des          Risikofaktoren darauf hinzuwirken, dass geeigne-
MD und des Begutachtungsverfahrens könnte                 te Beratungsangebote unterbreitet und gegebe-
die bislang fehlende systematische Awareness              nenfalls auch Maßnahmen zur Sicherung des Er-
für Fragen der Notwendigkeit pflegefachlicher             wachsenenschutzes ergriffen werden. Abgestufte
Begleitung und erwachsenenschutzrechtlich re-             Maßnahmen von Informationen über Beratung
levanter Risikosituationen geschaffen werden.             bis hin zu einer Case Management-basierten Be-
Dabei wäre zu prüfen, ob die Rolle des MD inso-           gleitung (Pflegeberatung) wären ebenso vorzuse-
fern weiter zu fassen ist: Nicht nur die Begutach-        hen wie im Extremfall von unabweisbarem Schutz
tungsfunktion i.S.d Feststellung eines Pflegegra-         etwa in gewaltgeneigten Pflegekonstellationen
des, sondern darüber hinaus auch die Aufgaben,            und der Ablehnung von Beratung die Einschal-
das jeweilige Pflegearrangement hinsichtlich              tung des Betreuungsgerichtes, die bereits heute
seiner Potentiale aber auch seiner Risiken in den         nach dem Sozialdatenschutzrecht möglich und
Blick zu nehmen, ließe sich als Aufgabe dem MD            geboten sein kann. Inwieweit sich eine Garanten-
zuordnen. Im Ansatz sind diese Aufgaben bereits           stellung – ähnlich wie in der Sozial- und Jugend-
im Aufgabenkonzept des MDK vorgesehen: So                 hilfe bekannt – mit entsprechenden Handlungs-
hat er sowohl hinsichtlich bestehender Rehabi-            pflichten ergeben kann, wäre zu prüfen.
litationsbedarfe, im Einsatz von Heil- und Hilfs-

                                                      9
3.
Schnittstellenprobleme
zwischen Medizin und
Pflege lösen
                                                                   Identifikation von sekundären Präventions- und
                                                                   Rehabilitationsbedarfen vor und bei Pflege ist
                                                                   in § 18 Abs. 6 SGB XI niedergelegt und als Auf-
                                                                   gabe des MD definiert. Die Umsetzunghinder-
                                                                   nisse für eine breit angelegte und konzeptionell
                                                                   ausgereifte Prävention vor und im Umfeld von
                                                                   Pflegebedürftigkeit liegen zum einen in den un-
                                                                   terschiedlichen Finanzierungslogiken in der GKV
3.1 Prävention                                                     und SPV, im in Präventionsleistungen virulent
                                                                   werdenden Vertragswettbewerb in der GKV und
Im Zusammenhang mit der Entstehung aber auch                       fehlenden bzw. nicht greifenden Regelungen, die
dem Verlauf von „Pflegebedürftigkeit“ spielt die                   auf eine sektorenübergreifende Koordinations-
Prävention eine zentrale Rolle. Leistungen der                     verpflichtung zielen bzw. Vorleistungsverpflich-
medizinischen Rehabilitation und Prävention                        tungen für Reha- und Präventionsleistungen
dienen der Vermeidung und -minderung von Pfle-                     verankern. Es wird davon ausgegangen, dass in
gebedürftigkeit. Der Grundsatz „Rehabilitation                     einem nicht unbeträchtlichen Umfang das Ein-
vor Pflege“ (Klie 2017b) wurde vielfältig im Leis-                 treten der eingeschränkten Selbstständigkeit,
tungsrecht niedergelegt. Während die Verhält-                      die zur Leistungsberechtigung nach dem SGB
nisprävention i.W. als Aufgabe der Kommunen                        XI führt, hinausgezögert werden kann. Auch ist
zu verstehen ist, konzentriert sich die Präventi-                  bekannt, dass es im Wesentlichen soziale Risi-
onsverantwortung von Kranken- und Pflegekas-                       kofaktoren sind, die einen Pflegeheimeintritt als
se auf die Verhaltensprävention. In einem breiten                  unabweisbar erscheinen lassen. Insofern ist das
Präventionsverständnis geht es zudem nicht nur                     Investment in (soziale) Präventionsmaßnahmen
um Leistungen der medizinischen Prävention,                        im Kontext von Pflegebedürftigkeit unabweis-
die auf die Verminderung und Vermeidung von                        bar. Im Bereich Prävention ist das Spektrum von
Pflegebedürftigkeit zielen. Auch solche der so-                    Niveaus der Vorhaltung von Angeboten und Leis-
zialen Prävention spielen eine bedeutsame Rol-                     tungen in der Bundesrepublik noch vielfältiger
le. Für sie tragen vorrangig die Kommunen die                      als hinsichtlich der Leistungen der Pflegeversi-
Verantwortung – bezogen auf ältere Menschen                        cherung und entsprechender Infrastrukturen.
etwa über § 71 SGB XII. Die Hoffnungen durch                       Auch und gerade hier kann in keiner Weise von
den Ausbau von Präventionsangeboten für von                        gleichwertigen Lebensbedingungen für von
Pflegebedürftigkeit Bedrohten die Zahl der Pfle-                   Pflegebedürftigkeit bedrohten Menschen ge-
gebedürftigen zu begrenzen, werden politisch                       sprochen werden. An tragfähigen und gut eva-
immer wieder aufgegriffen. Von einer konse-                        luierten Konzepten, wie etwa den unterschied-
quenten Ausrichtung der Kranken- und Pflege-                       lichen Ansätzen des präventiven Hausbesuches
versicherung an Public Health-Konzepten (Hilde-                    mangelt es nicht.3
brandt et al. 2020a; Hildebrandt et al. 2020b)
kann noch keine Rede sein. Dabei ist ein weites
Präventionsverständnis im Sinne der WHO ge-                        3.2 Rehabilitation
fragt, das auch in den §§ 20 ff SGB V seinen Nie-
derschlag findet, inzwischen aber auch in der Be-                  In einem rehabilitationswissenschaftlichen Sinne
wohnerprävention gem. § 5 SGB XI, die auch auf                     ist das Spektrum von Rehabilitationsangeboten
ambulante Settings ausgedehnt werden sollte.                       für von Pflegebedürftigkeit bedrohten oder von
Gesundheitskompetenz vermittelnde Bildungs-                        ihr betroffenen Menschen ausgesprochen weit
angebote gehören in das Spektrum von Präven-                       und schließt auch und gerade auf soziale Teilhabe
tionsleistungen, die in der Logik des Präventions-                 ausgerichtete rehabilitative Maßnahmen ebenso
gesetzes abgestimmt zwischen Kassen, Trägern                       ein wie solche der Heil- und Hilfsmittel, die alle-
von Präventionsleistungen, der Zivilgesellschaft                   samt Rehabilitationszielen dienen. In der leistungs-
und den Kommunen unterhalten, entwickelt                           rechtlichen Logik des SGB V wird von Rehabilitati-
und vermittelt werden sollen. Die Aufgaben der                     onsleistungen nur insoweit gesprochen, als dass es

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
3 Vgl. zum Beispiel: Blotenberg et al. 2020; Deutsches Institut für Angewandte Pflegeforschung 2008; Deutsches Institut für an-
   gewandte Pflegeforschung e.V. (dip) 2019.

                                                              10
sich um Formen stationärer oder teilstationärer            Pflegeversicherung könnte sprechen, dass hier am
Reha-Leistungen handelt, die etwa im Rahmen                ehesten ein Interesse an den Wirkungen der Reha-
der Geriatrie in Krankenhäusern der Regelversor-           bilitationsleistungen auch in ökonomischer Hin-
gung (Frührehabilitation gem. § 39 SGB V) und              sicht besteht. Dies ist allerdings eingeschränkt, so
im Bereich der geriatrischen Rehabilitation in             der Kassenwettbewerb nicht auch im Bereich der
Reha-Kliniken gem. § 40 SGB V vorgehalten und              sozialen Pflegeversicherung verankert wird. Auch
finanziert werden. Gefragt ist ein sektorenüber-           stellt sich die Frage, ob es allein wettbewerbliche
greifendes Verständnis und Angebot von Rehabi-             Elemente sind, die die Kassenaktivitäten steuern.
litationsleistungen, das im Sinne des Versicherten         Überdies wäre mit einer Verlagerung der Träger-
alle rehabilitativ relevanten Ansätze und Angebo-          schaft für Reha-Leistungen in die Pflegeversiche-
te aufeinander bezieht, miteinander verbindet              rung nur ein enges Rehabilitationsverständnis Ba-
und den Versicherten zugänglich macht. Ansätze             sis der Reha-Leistungen. Rehabilitation im Sinne
derart weitgefasster Rehabilitationsverständnis-           der ICF – der Sicherung sozialer Teilhabe – bliebe
se finden sich etwa in Konzepten wie Pflege-Plus           weiterhin außen vor, wobei die im Konzept der
des AOK-Bundesverbandes (Wagner und Szepan                 Pflegebedürftigkeit in den Vordergrund gestellten
2018, S. 184ff.). Die Rehabilitationsansprüche aus         Selbständigkeitsbeeinträchtigungen in ihrer Be-
dem SGB V sehen vor allen Dingen stationäre und            antwortung jeweils der sozialen Teilhabe dienen,
ambulante Angebote in Kliniken vor. Aufsuchen-             obwohl sie keine Teilhabeleistung im engeren Sin-
de Angebote sind zwar regelhaft vorgesehen,                ne darstellen. Man würde durch die Verlagerung
aber keineswegs flächendeckend implementiert.              der Trägerschaft der medizinischen Rehabilitation
Leistungen gem. §§ 32, 33 SGB V, die Heil- und             nur ein Teilproblem lösen.
Hilfsmittelversorgung, werden nicht im engeren
Sinne als Rehabilitationsleistungen verstanden,            Die andere Position sieht weiterhin die gesetz-
Leistungen der ergänzenden Rehabilitation gem.             liche Krankenversicherung als Träger der Re-
§ 43 SGB V für auf Pflege angewiesenen Men-                habilitationsleistung im Vorfeld von und bei
schen oder von Pflegebedürftigkeit bedrohten               Pflegebedürftigkeit. Für die Beibehaltung und
Personen selten zugänglich gemacht. Inwieweit              gegebenenfalls den Ausbau spreche die enge
sich eine rehabilitativ orientierte Pflege (Bobarth        Verzahnung mit Leistungen ärztlicher Diagnostik
etwa) auch im Leistungserbringungsrecht der                und Behandlung, die insgesamt den Rehabilita-
häuslichen Krankenpflege gem. § 37 SGB V nie-              tionsprozess koordinierenden Funktionen von
derschlägt respektive Rehabilitationsziele auch            Kliniken und niedergelassenen Ärzten und die
bei der Leistungserbringung im Rahmen von                  Einbeziehung von im weiteren Sinne als Rehabi-
§ 36 SGB XI ihren Niederschlag finden (können),            litationsleistung zu wertenden Maßnahmen wie
ist nicht in jeder Hinsicht geklärt, zumal wenn es         die Gewährung von Heil- und Hilfsmitteln. Auch
darum geht, Rehabilitationsziele zum zentralen             die für die GKV-Leistungen in Anwendung zu
Ziel oder Ankerpunkt für die Verordnung entspre-           bringenden Koordinationsvorschriften aus Teil 1
chender Leistungen zu machen. Ähnliches gilt für           des SGB IX mit der klaren Regelung von Zustän-
Angebote und Konzepte der Kurzzeitpflege, die              digkeits- und Fragen der Verfahrensgestaltung
ihrerseits ressourcenorientiert pflegerisch-thera-         sprechen für den Verbleib der leistungsrechtli-
peutisch ausgerichtet sein sollten.                        chen Zuständigkeit in der GKV. Damit auch die
                                                           Koordinations- und Kooperationsregelungen aus
Unabhängig von diesen Detailfragen stellt sich             dem Rehabilitationsrecht verbindlich die Leis-
die Frage danach, wie die Rehabilitationsleistun-          tungen der Pflegeversicherung miteinbeziehen,
gen für auf Pflege angewiesene Menschen künf-              denn Menschen mit Pflegebedarf haben auch
tig besser koordiniert und Rehabilitationsbedarfe          Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe,
von auf Pflege angewiesenen Menschen geziel-               ist es unumgänglich, die Pflegeversicherung zum
ter beantwortet werden können. Zwei Positionen             Reha-Träger im Sinne des SGB IX zu machen.
werden hierzu vertreten: Eine Position möchte die
Pflegeversicherung zum Träger von Rehabilitati-
onsleistungen für auf Pflege angewiesene Men-              3.3 Behandlungspflege
schen machen, die andere sieht die Rehabilitati-
onsleistung weiterhin in der Hand der gesetzlichen         Die leistungsrechtliche Verortung der sogenannten
Krankenversicherung. Für eine Verlagerung der              Behandlungspflege ist seit vielen Jahrzehnten Ge-
Rehabilitationsleistungen in das Recht der sozialen        genstand fachpolitischer aber vor allem pflegeöko-

                                                      11
nomischer Debatten (Steppe 2000; Klie 1998; Szepan                konzeptionell durchbrochen und zugleich der Ver-
2018). Pflegewissenschaftlich ist der Begriff der Be-             such unternommen, im Sinne von extended nursing
handlungspflege mehr als umstritten. Sinnvoll lässt               eigenständige Aufgaben der Heilkunde an Pflege-
sich in einem pflegewissenschaftlichen Verständnis                fachpersonen zu übertragen (Szepan 2013). Im Rah-
die leistungsrechtliche Unterscheidung zwischen so-               men der Corona-Pandemie erhält die Frage der Heil-
genannten körperbezogenen Pflegemaßnahmen,                        kundeübertragung gem. § 5a IfSG neue Aktualität.
pfle­gerischen Betreuungsmaßnahmen- und Be-                       Völlig unabhängig davon sind pflegerische Aufgaben
handlungspflege nicht treffen. Traditionell wurden                immer eingebunden in einen allein von den Pflege-
unter Behandlungspflege Aufgaben bei der Mitar-                   fachpersonen als Vorbehaltsaufgabe gem. § 4 PflBG
beit bei ärztlicher Diagnostik und Therapie verstan-              in Aushandlung mit den Patient*innen zu gestal-
den, soweit Aufgaben und Tätigkeiten in ärztlicher                tenden Pflegeprozess. Der Pflegeprozess kann und
Verantwortung an Pflegekräfte delegiert werden                    darf in seiner Logik nicht einer leistungs- und ver-
konnten. Die Diskussion pflegeökonomischer Art fo-                tragsrechtlichen Segmentierung nach körperbezo-
kussierte vor allen Dingen die Kostentragungspflicht              genen Pflegemaßnahmen und pflegerischen Be-
für die Behandlungspflege in stationären Einrich-                 treuungsmaßnahmen hier und Behandlungspflege
tungen der Langzeitpflege und der Behindertenhil-                 dort folgen. Die Fachpflege wird ganzheitlich ver-
fe.4 Die Finanzierung der Behandlungspflegekosten                 standen und der Pflegeprozess ist einheitlich unter
durch die GKV war bereits mit Einführung der Pfle-                Berücksichtigung aller pflegerelevanten Aspekte zu
geversicherung in Aussicht gestellt worden, ist aber              gestalten und hat jeweils die Schnittstellen zu den
bis heute nicht vollständig umgesetzt, auch wenn                  Verantwortungsbereichen anderer Berufsgruppen,
seit 2019 durch das Pflegepersonalstärkungsgesetz                 seien es die der Ärzte, seien es die der Therapeuten,
Zuschüsse zu den Personalkosten für Aufgaben der                  aber auch die der Hauswirtschaft und Sozialarbeit zu
Behandlungspflege in stationären Pflegeeinrichtun-                reflektieren und die Kompetenzen der angesproche-
gen gewährt werden können. Inhaltlich wird das,                   nen Berufsgruppen einzubeziehen. In der Pflegewis-
was heute als Behandlungspflege verstanden wird,                  senschaft und in den Lehrbüchern zur Pflegeplanung
im Wesentlichen über die Richtlinien des Gemein-                  (Weidner 2019; Brandenburg 2013) wird dies auch in
samen Bundesausschuss gem. § 92 SGB V zu dem                      diesem umfassenden Sinne verstanden und wird
Leistungsumfang der häuslichen Krankenpflege                      Pflegeplanung entsprechend konzipiert. Die Frage
gem. § 37 SGB V definiert. Bei Beziehern von Leis-                ist, wie leistungsrechtlich auf die Schnittstellenpro-
tungen der Pflegeversicherung kommt es regelmä-                   blematik eingegangen respektive diese bearbeitet
ßig zu einer Leistungskonkurrenz respektive einem                 werden kann und soll. Zwei unterschiedliche Optio-
Nebeneinander von Leistungen gem. § 36 SGB XI                     nen kommen in Betracht und werden diskutiert:
und § 37 Abs. 2 SGB V – etwa §§ 41, 42, 43, 43a SGB XI
i.V.m. § 37 Abs. 2 SGB V. Mit der leistungsrechtlichen            (1) Behandlungspflege und
Trennung und der Zuständigkeit unterschiedlicher                  Pflegeprozesssteuerung als Leistung der GKV
Kostenträger von Pflegeleistungen im Rahmen des
Pflegeprozesses liegt eine bearbeitungsbedürftige                 Wie schon in dem Reformpapier „Strukturreform
Schnittstellenproblematik vor, die sehr unterschied-              Pflege und Teilhabe“ 2013 vorgeschlagen und
liche „Gesichter“ in vollstationären Versorgungskon-              modellhaft berechnet, könnten die Aufgaben der
texten, in ambulanten Versorgungssettings aber                    Pflegeprozessplanung neben den Leistungen der
auch in neueren kollektiven Versorgungsformen                     „Behandlungspflege“ als Leistungen in einem er-
wie Tagespflege und ambulant betreuten Wohnge-                    weiterten § 37 SGB V verankert werden. Zusätzlich
meinschaften kennt. Mit der Professionalisierung                  zu dem bislang schon im Leistungskatalog der
der Fachpflege ist die Behandlungspflege in jedem                 häuslichen Krankenpflege gem. § 37 Abs. 2 SGB V
Fall aus dem Schatten alleiniger ärztlicher Verant-               vorgesehenen Leistungen kämen solche der
wortung und delegierter Aufgaben herausgetreten.                  Steuerung des Pflegeprozesses hinzu, die bei um-
Im Zusammenhang mit der Debatte um die Über-                      fassenden behandlungspflegerischen Leistungs-
tragung von Heilbehandlungsaufgaben als eigen-                    profilen mitfinanziert, ansonsten gegebenenfalls
ständige an die Pflegefachpersonen wird auch die                  über eine zusätzliche Pauschale zusätzlich entgol-
faktische Delegationsfiktion problematisiert und                  ten werden müssten. Auf diese Weise würden im

–––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––
4 Ruhensvorschrift des § 216 Abs. 1, Ziff. 4 RVO a.F. Klie 1990 wurden im Dritten Reich die Krankenkassen von den Kosten der
   Behandlungspflege in Anstalten, die nicht mehr kurativ ausgerichtet waren, befreit.

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Leistungsrecht der GKV eigenständig Leistungen              tung der GKV deutlich unterstützt und erleichtert
der Fachpflege, so ihr Aufgaben gem. § 4 PflBG              werden. Dabei berühren die den Pflegefach-
berufsrechtlich vorbehalten sind, verankert.                kräften zugeordneten Kompetenzen in der Pri-
                                                            mär- und Langzeitversorgung sowie dem breiten
Für eine GKV-Lösung spricht zunächst, dass                  Feld von Public Health immer unterschiedliche
Aufgaben der Fachpflege keineswegs lediglich                Kostenträger – und wie nicht zuletzt die Corona-
im Zusammenhang mit dem sozialrechtlichen                   Pandemie deutlich machte, den öffentlichen Ge-
Konstrukt der Pflegebedürftigkeit und dem Leis-             sundheitsdienst, der in den letzten Jahrzehnten
tungsbezug von Pflegeversicherungsleistungen                zurückgefahren wurde.
einhergehen. Die pflegefachliche Begleitung ist
auch in zahlreichen anderen Situationen indi-               (2) Behandlungspflege unabhängig vom Ort
ziert, in denen Pflegebedürftigkeit im Sinne der            der Leistungserbringung in der Finanzierungs-
§§ 14ff SGB XI nicht vorliegt. Aufgaben der Be-             trägerschaft des SGB XI
handlungspflege werden häufig von nichtpflege-
bedürftigen Personen in Anspruch genommen.                  Das Konzept der Pflegebedürftigkeit, das 2017
Bei drohender Pflegebedürftigkeit, aber auch                mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff ver-
bei vorliegender Behinderung können pflege-                 bindlich eingeführt wurde, ist pflegewissen-
fachliche Begleitaufgaben unter präventiven und             schaftlich basiert und kennt als zentralen Akteur
rehabilitativen Gesichtspunkten von größter Be-             die Fachpflege, die sowohl diagnostisch als auch
deutung sein (vgl. Community Health Nursing,                im Assessment unter Hilfeplanung bei pflegebe-
Robert Bosch Stiftung5). Die Präventions- und               dürftigen Versicherten eine zentrale Steuerungs-
Rehabilitationspotentiale fachpflegerischer Be-             funktion übernimmt und dies auch unabhängig
gleitung, die gesundheitsfördernde und eduka-               von der Profession der Medizin. Das Konzept
tive Ausrichtung von Fachpflege wären auf diese             Pflegebedürftigkeit, wie es jetzt im Recht der
Weise ebenso zu gewährleisten wie ein stigma-               Pflegeversicherung mit dem neuen Pflegebe-
freier Zugang zu fachpflegerischer Begleitung.              dürftigkeitsbegriff verankert ist, rückt Fragen
Die Zuerkennung von Pflegebedürftigkeit als ei-             der Selbstständigkeit im Umgang mit den Folgen
nerseits leistungsauslösender Tatbestand und auf            gesundheitlicher Störungen in den Mittelpunkt.
der anderen Seite als Stigma behaftet, rückt die            Die Fähigkeit zur selbstständigen Krankheits-
fachpflegerische Begleitung stets in die Nähe der           bewältigung und selbstständigen Gestaltung
sogenannten Altersgebrechlichkeit, die bei dem              von Lebensbereichen zu erhalten, steht im Vor-
Konzept der Pflegebedürftigkeit faktisch immer              dergrund. Pflegerische Aufgabe ist es, den Pfle-
noch prägend ist. Auch ist die Pflegeversicherung           gebedürftigen im Umgang mit krankheits- und
nicht nur heute, sondern wird auch in Zukunft               therapiebedingten Anforderungen zu befähigen,
stets mit haushaltsökonomischen Kalkülen hin-               Selbstpflegekompetenzen wahrzunehmen, zu
sichtlich der Finanzierung von Pflegeleistungen             entwickeln und zu unterstützen. Sie folgt dem
verbunden bleiben. Im geltenden Leistungsrecht              ganzheitlichen Ansatz und unterscheidet nicht
der Pflegeversicherung wird unter haushaltsöko-             wie das Kranken- und Pflegeversicherungsrecht
nomischen Gesichtspunkten auf die Inanspruch-               in körperbezogene Pflegemaßnahmen, pflege-
nahme von Pflegefachleistungen verzichtet (cash             rische Betreuungsmaßnahmen, Hilfen bei der
oder care). Damit werden die oben beschriebe-               Haushaltsführung und Behandlungspflege auf
nen bedeutsamen Verantwortlichkeiten sozial-                der einen Seite und unterschiedliche Finanzie-
staatlicher Art, die sich auch und gerade in der            rungsträgerschaften auf der anderen Seite. Pfle-
fachpflegerischen Begleitung niederschlagen,                gerische Handlungen lassen sich weder inhaltlich
eingeschränkt respektive mit in ihren Folgen                noch kostenmäßig voneinander trennen. Körper-
problematischen Hürden verbunden. Auch die                  bezogene Pflegemaßnahmen und medizinische
Zusammenarbeit mit Ärzten, Krankenhäusern,                  Behandlungspflege etwa werden oftmals gleich-
Therapeuten und anderen Akteuren des Gesund-                zeitig ergriffen. Insofern bietet eine Verankerung
heitswesens könnte über eine Integration fach-              von behandlungspflegerischen Leistungen im
pflegerischer Leistungen als eigenständige Leis-            SGB XI zumindest für die Leistungsbezieher der

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5 Vgl. https://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/community-health-nursing (Abruf vom 10.12.2020).

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