DIE FAMILIEN-VERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILY GOVERNANCE UND IHRE JURISTISCHE UMSETZUNG - EIN PRAXISLEITFADEN - P+P Pöllath + Partners

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DIE FAMILIEN-VERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILY GOVERNANCE UND IHRE JURISTISCHE UMSETZUNG - EIN PRAXISLEITFADEN - P+P Pöllath + Partners
DIE FAMILIEN-
VERFASSUNG ALS
INSTRUMENT DER F
               ­ AMILY
GOVERNANCE UND IHRE
JURISTISCHE UMSETZUNG
EIN PRAXISLEITFADEN
       von
       Tom A. Rüsen und Arist v. Schlippe
       Wittener Institut für
       Familienunternehmen (WIFU)
       Andreas Richter und Tobias Hueck
       P+P Pöllath + Partners
IMPRESSUM

VERANTWORTLICH:
Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU)
Universität Witten/Herdecke
Prof. Dr. Tom A. Rüsen
Prof. Dr. Marcel Hülsbeck
Alfred-Herrhausen-Straße 50
58448 Witten

Redaktion: Nicole Vöpel
Gestaltung: Designbüro Schönfelder GmbH
Titelfoto: Adobe Stock

Hinweis: Soweit personenbezogene Bezeichnungen
in männlicher Form aufgeführt sind, beziehen sich
diese auf alle Geschlechter in gleicher Weise.

Mai 2019

ISSN (Print) 2626-3424
ISSN (Online) 2626-3432
INHALT

1.   Einführung                                                                                                            5

2.   Die Familienverfassung als Instrument der Familienstrategie                                                           6

     2.1 Wozu ein Familienstrategieprozess?....................................................................            6

     2.2 Das Wittener Modell der Familienstrategieentwicklung........................................                      7

     2.3 Von der Familienverfassung zum etablierten Familienmanagement-System........                                    10

     2.4 Die Rolle von externen Beratern.............................................................................. 11

     2.5 Die Umsetzung der Familienstrategie als Daueraufgabe.......................................                     12

3.   Bindungswirkung und rechtliche Umsetzung einer Familienverfassung                                                   13

     3.1 Stand der Diskussion zur rechtlichen Bedeutung von Familienverfassungen.......                                  13

     3.2 Rechtliche Bindungswirkung der Familienverfassung............................................                   13

		        a) In der Regel keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit der
			           Familienverfassung gewollt.................................................................................. 13

		        b) Pros und Cons einer rechtlich unverbindlichen Familienverfassung.................                           14

		        c) Mittelbare Rechtswirkungen der Familienverfassung........................................                   15

			           aa) Vertragsänderungen und -ergänzungen durch die Familienverfassung.....                                  16

			           bb) Vertragsauslegung anhand der Familienverfassung..................................                      16

			           cc) Rücksichtnahme- und Treuepflichten der Familiengesellschafter
				                aufgrund der Familienverfassung................................................................      17

			           dd) Auswirkungen der Familienverfassung auf die Pflichtenlage von
				                Geschäftsführung und Beirat.......................................................................   17

     3.3 Umsetzung der Familienverfassung im rechtlichen Ordnungsrahmen von
		        Familienunternehmen und Familiengesellschaftern...............................................                 18

		        a) Funktionales Zusammenspiel zwischen Familienverfassung und
			           rechtlichem Ordnungsrahmen..........................................................................       18

                                                                                                                                3
INHALT

       		         b) Regelungssystem der juristischen Governance in Familienunternehmen.........                               18

       			            aa) Gesetzlicher Rahmen................................................................................... 19

       			            bb) Corporate Governance Kodizes...................................................................      19

       			            cc) Gesellschaftsvertrag und Geschäftsordnungen......................................... 20

       			 dd) Poolvertrag............................................................................................... 20

       			            ee) Schenkungsverträge, Testamente, Eheverträge und
       				Vorsorgevollmachten..................................................................................... 21

       		         c) Themen der Familienverfassung und ihre juristische Umsetzung im
       			            rechtlichen Ordnungsrahmen............................................................................... 21

             3.4 Empfehlungen zur Abstimmung zwischen Familienverfassung und
       		         rechtlichem Ordnungsrahmen................................................................................... 23

       4.    10 Thesen zur Familienverfassung                                                                                  25

       5.    Weiterführende Literatur                                                                                          26

             Kontakt                                                                                                           27

4
1 | EINFÜHRUNG

D       ie im Januar 2019 erschienene Studie „Die
        Unternehmerfamilie und ihre Familienstra­
        ­
 gie“ des Wittener Instituts für Familienunternehmen
                                                    te­
                                                                                    Jenseits des übergeordneten Ziels des langfris­
                                                                                tigen Erhalts des Unternehmens in Familienhand
                                                                                verbinden Unternehmerfamilien mit der Familien-
 (WIFU) hat gezeigt, dass sich Unternehmer­familien                             verfassung zumeist weitere, konkretere Erwartun-
 mit dem Thema Familienstrategie und einer auf                                  gen: Zum einen geht es Familien darum, die emo­
 ­dieser aufbauenden Family Governance inzwischen                               tionale Bindung der Familie an das Unternehmen
  in­tensiv auseinandersetzen.1 Die Erarbeitung einer                           und den Zusammenhalt der Familie zu stärken
Familienstrategie und ihre Niederschrift als Fami­                              ­(Integrationsfunktion). Zum anderen möchten sie
lienverfassung sind zum festen ­       Bestandteil der                           potenzielle Konfliktthemen frühzeitig klären und
­gelebten Praxis vieler deutscher Unternehmerfami-                               damit einen Ordnungsrahmen für die Zukunft
 lien geworden. Die Familienstrategie wird als ein                               schaffen (Ordnungsfunktion).
 zentrales Instrument zur Organisation wachsender
 Unternehmerfamilien wahrgenommen und trägt auf                                    Dieser Praxisleitfaden baut auf verschiedenen
 diese Weise zur Zukunftssicherung der deutschen                                empirischen Studien des WIFU und rechtswissen-
 Familienunternehmen bei.                                                       schaftlichen Abhandlungen zum Thema auf. Er
                                                                                zeigt, wie eine Familienverfassung so erarbeitet
    Eine besondere Bedeutung kommt dabei der                                    werden kann, dass sie ihre Funktion optimal erfüllt.
­Familienverfassung zu.2 Die Niederschrift der Fami-                            Im ­ersten Teil des Leitfadens stehen der gemein­
 lienstrategie in einem familieneigenen Regelwerk                               same Erarbeitungsprozess und die integrierende
 sehen immerhin 78 Prozent der vom WIFU befrag-                                 Auf­gabe auf Ebene der Familie im Fokus. Der
 ten Unternehmerfamilien als das wichtigste Instru-                             zweite Teil behandelt die Ordnungsfunktion der
                                                                                ­
 ment der Family Governance an. Mit 45 Prozent der                              ­Familienverfassung, insbesondere deren Bindungs-
 Unternehmerfamilien verfügt bereits eine Vielzahl                               wirkung und ihre Umsetzung in dem juristischen
 der Studienteilnehmer über eine eigene Familien-                                Ordnungs­ rahmen von Familienunternehmen und
 verfassung – mit zunehmender Tendenz.                                           Familien­gesellschaftern.

    ZIEL DER FAMILIENVERFASSUNG:
    LANGFRISTIGER FORTBESTAND DES FAMILIENUNTERNEHMENS

    Integrationsfunktion                                                        Ordnungsfunktion

    Stärkung der emotionalen Bindung an das                                     Klärung potenzieller Konfliktthemen
    Unternehmen

    Sicherung des Zusammenhalts der Unter­                                      Herstellung einer Bindungswirkung und Über­
    nehmerfamilie                                                               nahme rechtsverbindlicher Regelungen in den
                                                                                Gesellschaftsvertrag und andere Vertragswerke

Abbildung 1: Ziel der Familienverfassung

1
    Siehe hierzu Rüsen & Löhde (2019). In dieser Studie des WIFU werden Trends und Dynamiken von Unternehmerfamilie bei der Entwicklung von Familien-
    strategien untersucht.
2
    In der Praxis werden die verschriftlichten Gedanken, Haltungen und Regelwerke oftmals auch als Familienkodex, Leitlinien der Familie, Familiencharta,
    Familienkompass etc. bezeichnet. Aus Vereinfachungsgründen wird im Folgenden der Begriff der Familienverfassung verwendet.

                                                                                                                                                            5
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT
                          DER FAMILIENSTRATEGIE

    U     nsere aktuellen Untersuchungsergebnisse
          verdeutlichen einen anhaltenden Trend zur
    Professionalisierung in Unternehmerfamilien.3 Für
                                                                             ratsam, sich einem familienstrategischen Prozess
                                                                             zu stellen. Die oftmals bereits gelebten Praktiken,
                                                                             implizit kommunizierten Werthaltungen und vor-
    Außenstehende mag es zunächst schwer nachvoll-                           handenen Verhaltenserwartungen werden in einem
    ziehbar sein, wenn sich Verwandte zusammenset-                           solchen Rahmen erörtert, verhandelt und gegebe-
    zen, gemeinsam mehrere Wochenenden mit der                               nenfalls für alle Familienmitglieder niedergeschrie-
    Beantwortung eines Fragenkataloges verbringen,                           ben, vielfach geschieht dies in Form einer Familien-
    schließlich ein Dokument erstellen und dieses als                        verfassung.
    für sich moralisch bindend anerkennen. Um dieses
    Verhalten besser verstehen zu können, ist es                                 Der am WIFU entwickelte Ansatz basiert auf der
    notwendig, ein Verständnis für die in Unterneh­mer­                       ­ rämisse, dass es sinnvoll ist, wenn sich die Mit-
                                                                              P
    familien durchaus typische Wirkung widersprüch­                           glieder einer Unternehmerfamilie im Prozess der
    licher Erwartungen auf Einzelpersonen, auf Fami­                          Formulierung einer Familienstrategie bewusst mit
    liengremien und auf die Familie als Ganzes mit                            Fragen der Zukunftsgestaltung des Familienunter-
    ihren Entscheidungsprozeduren zu entwickeln.                              nehmens, des Gesellschafterkreises und der Fami-
                                                                              lie auseinandersetzen. Sowohl individuell wie auch
                                                                              kollektiv geht es im Kern um Fragen der Positionie-
    2.1 | WOZU EIN FAMILIEN-                                                  rung der Familie dem Unternehmen gegenüber.
    STRATEGIEPROZESS?                                                         Hiermit verbunden sind eine Vielzahl von Identi-
                                                                              täts-, Definitions- und Verständnisfragen. Nicht we-
                                                                              nige Familienverantwortliche haben anfangs den

    U    nternehmerfamilien umfassen meist einen
         größeren Personenkreis als die klassische
    Kernfamilie. Der Wille zur Weitergabe des Unterneh-
                                                                              Eindruck, sie brächen Tabus auf, wenn sie begin-
                                                                              nen, im größeren Familienkreis Fragen zum Ver-
                                                                              ständnis von Unternehmertum, zum Umgang mit
    mens in die nächste Generation stellt für diese eine                      Traditionen, zur Definition von Familie, zur Höhe
    zentrale Zielsetzung dar. Aufgrund ihres prägenden                        der Ausschüttungen oder auch zur Besetzung von
    Einflusses auf Entwicklung des in ihrem Eigentum                          Gremien zu diskutieren. Meist gehen Familien
    befindlichen Unternehmens können große, weiter                            ­jedoch gestärkt aus einem solchen Prozess hervor.
    wachsende Gesellschafterkreise einen wesent­                               Man lernt sich besser kennen, mit allen Gemein-
    lichen Beitrag zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit                         samkeiten und auch Unterschieden, entwickelt ein
    oder aber zur Destabilisierung ihres Familienunter-                        gemeinsames Verständnis von Unternehmens­
    nehmens leisten. Bedingung für eine positive Ein-                          führung, nimmt Konflikte und deren Bewältigung
    flussnahme ist jedoch, dass sie sich explizit mit der                      vorweg. Oft werden entsprechende Auseinander-
    Entwicklung einer Familienstrategie beschäftigen.                          setzungen auch als persönliche Reifungs- und
    Diese klärt sowohl inhaltlich wie auch prozessual                        ­Entwicklungsprozesse erlebt.
    das Verhältnis der Familie zum Unternehmen (und
    umgekehrt), statt die typischerweise entstehenden                           Irgendeine Art von Familienstrategie wird in jeder
    Entfremdungsdynamiken der Familienmitglieder                             Unternehmerfamilie praktiziert, explizit oder im­
    untereinander bzw. gegenüber dem Unternehmen                             plizit. Sie beginnt, sobald beispielsweise eine
    einfach dem Lauf der Dinge zu überlassen. Spätes-                        ­Gründerperson darüber nachdenkt, wie und unter
    tens wenn die Familie so groß ist oder absehbar                           welchen Umständen eine innerfamiliäre Nachfolge
    wird, dass Alltagsfragen nicht mehr „face to face“                        möglich sein könnte oder wie mit dem Erbe umzu-
    besprochen und bearbeitet werden können, ist es                           gehen ist. Oft gehen die Mitglieder der Unterneh-

    3
        Vgl. v. Schlippe, Groth & Rüsen (2017) sowie Rüsen & Löhde (2019).

6
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILIENSTRATEGIE

 merfamilie davon aus, dass ihre Art des Umgangs                                 auch unterschwellige Konflikte hervortreten, die
 mit diesen Fragen ganz selbstverständlich sei. Erst                             zunächst zu bearbeiten sind. Latent vorhandene
 in der Konfrontation mit anderen Möglichkeiten                                  Erwartungshaltungen können dann gemeinsam ge-
 wird den Beteiligten klar, dass sie eine Familien­                              festigt werden, sodass aus diesen ein klares
 gemeinschaft bilden, in der sich geteilte Werte, Be-                            Selbstverständnis mit nachvollziehbaren Anforde-
 urteilungen und Handlungsmaximen in Bezug auf                                   rungen an die einzelnen Gesellschafter formuliert
 das gemeinsame Unternehmen ganz spezifisch                                      werden kann.
 ausgebildet haben.4 Solche Vorstellungen und
­Strategien werden aber im Zeitverlauf kaum jemals
 kritisch diskutiert und auf veränderte Gegebenhei-                              2.2 | DAS WITTENER MODELL DER
 ten hin reflektiert. Auch fehlen meist gezielte Maß-                            FAMILIENSTRATEGIEENTWICKLUNG
 nahmen, wie etwa die Inhalte einer Strategie an den
 wachsenden Gesellschafterkreis bzw. die Folge­
 generationen weiterzugeben seien. Darum ist es
 so wichtig, das implizite Wissen der Unternehmer-
 familie zu explizieren.
                                                                                D       as Wittener Institut für Familienunternehmen
                                                                                        hat, basierend auf Analysen von etablierten
                                                                                 Familienmanagementsystemen, Familienverfas-
                                                                                 sungen und -kodizes sowie auf Erfahrungen mit
   In den letzten Jahren haben Unternehmerfami-                                  Mehrgenerationen-Unternehmerfamilien, das Witte-
lien verstärkt über eine Verschriftlichung von Wert-                             ner Modell der Familienstrategieentwicklung erar-
haltungen und Regelungen zu einem verantwortli-                                  beitet. Dieses Modell umfasst zwölf Themenfelder,
chen (Selbst-)Management des Unternehmens und                                    die aufeinander aufbauen (können). Jeder einzelne
der Unternehmerfamilie nachgedacht. Ein entspre-                                 Baustein behandelt eine zentrale Fragestellung,
chendes Schriftstück, eine „Familienverfassung“,                                 ­deren Klärung und Beantwortung durch die Unter-
beschreibt meist die zentralen Leitlinien des fami-                               nehmerfamilie essenziell ist. Es ist ratsam, zu-
lialen Denkens einer Unternehmerfamilie als Orien-                                nächst die grundlegenden Fragen zu bearbeiten,
tierungsrahmen. Fast immer handelt es sich dabei                                  um dann bestimmte Detailfragen zu behandeln und
um ein zwar moralisch bindendes Dokument, das                                     schließlich das Miteinander zu organisieren. Die-
jedoch nicht im juristischen Sinne verpflichtend                                  ses Modell ist kein starres Rezept, vielmehr dient
ist.5 Es bezieht gerade aus der moralischen Bin-                                  es als Anstoß zur Professionalisierung der Familie
dung seine Stärke und dokumentiert den Willen der                                 in ihrer Funktion als Unternehmerfamilie. Diese
Familie. In der Bindungslogik der Familie drücken                                 zwölf Themenfelder sind in Abbildung 2 darge-
sich darin die Erwartungen der Unternehmerfamilie                                 stellt.6
an die unterzeichnenden Mitglieder aus.

   Der Ausgang eines Familienstrategieprozesses
ist offen zu gestalten und somit auch für die Fami-
lie nicht frei von Überraschungen. Innerhalb von
Unternehmerfamilien können sich im Laufe eines
Bearbeitungsprozesses bestimmte, vermeintlich
festgefügte Vorstellungen (z. B. über die Regeln
der Mitarbeit, das Einbringen in die strategische
Entwicklung des Unternehmens etc.) radikal verän-
dern; die Familie „erfindet“ sich neu. Dabei können

4
    Vgl. Fletcher, Melin & Gimeno (2012).
5
    Siehe hierzu näher unter Ziffer 3.2.
6
    Das Wittener Modell der Familienstrategieentwicklung ist ausführlich beschrieben in Rüsen, v. Schlippe & Groth (2019a) sowie in v. Schlippe, Groth &
    Rüsen (2017).

                                                                                                                                                           7
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILIENSTRATEGIE

                                            12 Regeln zur Einhaltung                    1 Individuelles Bekenntnis zum
                                               und Veränderung                            Familienunternehmen
                                               der Regeln

                   11 Aufbau von                                                                         2 Definition von Familie
                      Gesellschafter-
                      kompetenz                                           12       1

                                                                11                          2
           10 Vorhandenes                                                                                        3 Werte und Ziele
              Familienmanagement-                                                                                  für Unternehmen
                                                         10                                      3
              System                                                       Wittener                                und Familien
                                                                      Prozessmodell einer
                                                                       Familienstrategie
            9 Ausschüttungspolitik/                       9                                      4               4 Rolle und Funktion von
              Vermögensstrategie                                                                                   Mitgliedern der Familie
                                                                                                                   im Unternehmen
                                                                 8                          5

                    8 Konfliktbewältigung/                                7        6                     5 Rolle und Funktion von
                      Krisenprävention                                                                     Familienmitgliedern als
                                                                                                           Gesellschafter

                                 7 Information, Kommunikation                            6 Installation von Gremien
                                   und Verhalten

           Abbildung 2: Das Wittener Modell zur Familienstrategieentwicklung

       Themenfeld 1:                                                             nehmerfamilie gehört, in welcher Form Ehegatten
          Zunächst wird geklärt, wie die Unternehmer­                            in die Familienaktivitäten einbezogen werden sol-
        familie zum Familienunternehmen steht und wie                            len und ob diese generell Anteile bekommen kön-
        sie ihr grundsätzliches Verhältnis zum Unterneh-                         nen. Auch ist hier festzuhalten, wie mit eheähn­
        men definiert, welches „Mentale Modell“ sie für                          lichen Lebensgemeinschaften oder mit Adoptionen
        sich als zutreffend erachtet.7 Auch ist hier zu                          umgegangen wird und wer zu welchen Gremien
       ­klären, unter welchen Bedingungen die Familie den                        und Institutionen Zugang erhält etc.
        Status des Familienunternehmens aufrechterhal-
        ten will (dies impliziert u. a. Aussagen zur Wachs-                      Themenfeld 3:
        tums- und Finanzierungsform, zum Umgang mit                                Anschließend werden Fragen zu den Werten und
        familienexternem Management, Governance-Struk-                           Zielen der Familie in Bezug auf sich selbst und in
        turen etc.).                                                             Bezug zum Unternehmen behandelt. Hier ist es von
                                                                                 besonderer Relevanz, die auf den Werten basieren-
       Themenfeld 2:                                                             den Grundhaltungen (z. B. in Bezug auf das Verhal-
         Nach diesem grundlegenden Einstieg ist es sinn-                         ten in der Öffentlichkeit etc.) konkret zu reflek­tieren
       voll, im nächsten Schritt eine Definition der Familie                     und zu überlegen, woran ein Nichteinhalten eines
       vorzunehmen, also zu klären, wer genau zur Unter-                         Wertes festgestellt werden kann.

       7
           Siehe ausführlich hierzu Rüsen, v. Schlippe & Groth (2019b).

8
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILIENSTRATEGIE

Themenfeld 4:                                                              sellschaftsvertrages) werden typische kritische
   Im nächsten Schritt geht es um die Festlegung,                          ­Ereignisse im Lebenszyklus der Unternehmerfami-
ob und unter welchen Bedingungen die Mitglieder                             lie im Rahmen eines Stress-Tests beleuchtet und
der Unternehmerfamilie eine operative Tätigkeit im                          gegebenenfalls notwendige Vorsorgen getroffen.
Familienunternehmen ausüben können. Gerade die
Festlegung, ab welcher Ebene eine Tätigkeit vorge-                         Themenfeld 9:
sehen ist, und insbesondere, wie der notwendige                               In diesem Themenkomplex werden der Aufbau
Kompetenznachweis zum Einstieg und Aufstieg                                und die Diversifikation von Vermögen in der Unter-
von welchen Personengruppen zu beurteilen ist,                             nehmerfamilie sowie die hiermit unweigerlich ver-
sind Kernfragen, die erhebliche Konflikte in der                           bundene Ausschüttungspolitik des Unternehmens
­Familie erzeugen können.                                                  behandelt, gemeinsame Dienste eines Family
                                                                           ­Offices diskutiert und gegebenenfalls vereinbart.
Themenfeld 5:
  Wesentlich ist dann, wer unter welchen Bedin-                            Themenfeld 10:
gungen Anteile am Familienunternehmen erhalten                               Hier ist zu regeln, wer sich als Familienmanager
darf und wie diese gegebenenfalls veräußert wer-                           um die Belange der Familie kümmern soll und wie
den können. Auch hier zeigt die Praxis ein erhöhtes                        diese Person(en) mittels Wahlverfahren zu „Amt
Konfliktpotenzial, wenn sich die Familie u
                                         ­ neinig ist,                     und Würden“ gelangt/-en. Schließlich beinhaltet die
ob sie sich in Stämmen oder als Großfamilie orga-                          Ausformulierung der Familienstrategie an diesem
nisieren möchte. Mit den Festlegungen zum Um-                              Punkt im Idealfall eine Auflistung sämtlicher Insti-
gang mit den Gesellschafteranteilen sind auch die                          tutionen, Maßnahmen im Rahmen des Familien­
Einigung zu Abstimmungs- und Wahlverfahren und                             management-Systems sowie die Erstellung eines
der dabei praktizierte innerfamiliäre Umgang mit                           Veranstaltungskalenders der Unternehmerfamilie.
Mehrheitsvoten verknüpft.
                                                                           Themenfeld 11:
Themenfeld 6:                                                                 Das Themenfeld definiert das interne Weiterbil-
    Dieses Themenfeld behandelt unternehmens-                              dungsprogramm der Unternehmerfamilie. Es um-
und familienseitige Gremien (z. B. Beirat und                              fasst somit einen Maßnahmenkatalog zur systema­
­Famil­ienrat), deren Aufgabenspektrum, Zusammen-                          tischen Qualifizierung und Kompetenzerweiterung
 setzung und Entscheidungskompetenzen. Hier de-                            von Nachwuchsgesellschaftern, den Mitgliedern der
 finierte Institutionen stellen die oftmals für Außen-                     Unternehmerfamilie sowie von Gremienvertretern.8
 stehende sichtbare Form der Corporate und Family
 Governance eines Familienunternehmens dar.                                Themenfeld 12:
                                                                              Für sämtliche Festlegungen im Rahmen der
Themenfeld 7:                                                              Fami­lienstrategie ist es wichtig, einen Prozess zur
  Hier werden Regelwerke zur Kommunikation und                             systematischen Änderung zu definieren. Gleichzei-
Information innerhalb der Familie und gegenüber                            tig ist ein Vorgehen zu definieren, wie mit wieder-
Dritten festgelegt. Neben der Informationsvermitt-                         holter Abweichung von vereinbarten Regeln fami­
lung geht es hier vor allem um eine Abstimmung                             lienintern umgegangen werden soll.
des Umgangs miteinander sowie einen koordinier-
ten Auftritt in der Öffentlichkeit.                                           Diese Skizze kann nur andeuten, zu welchen
                                                                           ­ ebatten die Formulierung einer Familienstrategie
                                                                           D
Themenfeld 8:                                                              führt. Nicht selten kommt deshalb der Wunsch zur
   Entscheidend für eine zukünftige Krisenfestig-                          Vereinfachung, zum ­Beispiel durch Abschrift einer
keit der Unternehmerfamilie ist die Formulierung                           fremden Verfassung, auf, um dem Suchen und Fin-
von Vorgehensweisen bei Uneinigkeit ihrer Mit­                             den ­ gemeinsamer Antworten auszuweichen. Die
glieder. Hierdurch sowie mittels regelmäßiger                              im ­geschützten Rahmen, im Beisein eines moderie-
Überprüfung von Vorsorgeregelungen und einer                               rend eingreifenden Beraters, praktizierte Vorweg-
Abstimmung der unterschiedlichen juristischen                              nahme von Krisen stellt jedoch eine der ­wichtigsten
­Regelwerke in der Familie (z. B. zum „sauberen“                           Funktionen bei der Niederschrift einer Familienver-
 Ineinandergreifen des Testamentes und des Ge-
 ­                                                                         fassung dar.

8
    Siehe hierzu ausführlich Rüsen (2018a) sowie Rüsen (2018b).

                                                                                                                                    9
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILIENSTRATEGIE

     2.3 | VON DER FAMILIENVERFASSUNG                                  Neben der juristischen Prüfung und mitunter not-
     ZUM ETABLIERTEN                                                wendigen Anpassung der bestehenden Vertrags-
     FAMILIENMANAGEMENT-SYSTEM                                      werke geht es dann darum, die im Rahmen des
                                                                    Familienstrategieprozesses definierten Gremien
                                                                    ­
                                                                    (z. B. einen Familienrat, einen Familienmanager etc.)

     M       it der Verabschiedung einer Familienverfas-
             sung findet der familienstrategische Ent-
     wicklungsprozess seinen Abschluss. Sobald die
                                                                    zu installieren sowie die hier festgelegten Maßnah-
                                                                    men zur Förderung und Pflege des Zusammen­
                                                                    halts sowie zum Aufbau von Gesellschafterkom­
     ­Familienverfassung ausformuliert ist, geht es da­             petenz auf den Weg zu bringen. Nach einem
      rum, Anpassungen in bestehenden Vertragswerken                mitunter aufreibenden Entwicklungsprozess und
      (z. B. Gesellschaftsverträge, Erbregelungen, Ehe-             nach der feierlichen Unterzeichnung des Familien-
      verträge etc.) vorzunehmen. Hierdurch finden die              dokuments steckt die Unternehmerfamilie aller-
      familienstrategischen Überlegungen in bereits                 dings oftmals in einer Art „Ermüdungsfalle“ und
      bestehende Vertragswerke Eingang. Auch ist in
      ­                                                             benötigt Zeit, bevor es mit den nächsten Umset-
      diesem Rahmen darauf zu achten, dass keine un­                zungsschritten weitergeht. Zu empfehlen ist, dass
      beabsichtigten Wechselwirkungen zwischen dem                  die im Familiendokument vorgesehenen Institutio-
      Familiendokument und vorhandenen Vertragswer-                 nen (z. B. eine Kümmerer-Institution, ein Familien-
      ken durch die Erstellung bzw. die Unterzeichnung              gremium etc.) schnell durch konkrete Personen
      einer Familienverfassung entstehen. Grundsätzlich             ­besetzt werden. Gleichzeitig ist es hilfreich, sich
      sollte allerdings davon ausgegangen werden, dass               mit anderen befreundeten Unternehmerfamilien
      in einem strittigen Fall ein Richter eine vorhandene           über die Umsetzung auszutauschen und gegebe-
      Familienverfassung zur Auslegung von Vertrags-                 nenfalls von deren Erfahrungen zu profitieren.
      werken heranziehen wird.9
                                                                       Erst durch die systematische Einführung und
          Folglich ist also immer zu bedenken, wie die               Umsetzung der im Rahmen des Familienstrategie-
     ­abgefassten Inhalte einer Verfassung durch einen               prozesses definierten Maßnahmen entsteht dann
      Familienexternen aufgefasst und bei einem                      das spezifische Familienmanagement-System einer
      Schieds- oder Richterspruch verwendet werden                   Unternehmerfamilie. Fortan werden von diesem
      können. Vor diesem Hintergrund ist es daher sinn-              sämtliche Maßnahmen zur Ausbildung eines
      voll, das Ergebnis des familienstrategischen Ent-              kollek­tiven Willens durchgeführt. In diesem Selbst-
      wicklungsprozesses vor der Unterzeichnung durch                steuerungssystem werden künftig sämtliche Frage­
      einen juristischen Berater kritisch prüfen zu lassen.          stellungen einer Unternehmerfamilie behandelt.
      Gegebenenfalls erscheint es in dem einen oder                  Die Verfassungsinhalte werden von der Familie
      ­anderen Fall angemessen, die gefundenen Lösun-               ­regelmäßig überprüft.
       gen als Ergänzung zum bestehenden Gesellschafts-
       vertrag zu formulieren oder diesen in Gänze in
       ­Bezug auf die erarbeiteten Grundüberlegungen des
        Familienstrategieprozesses hin anzupassen.

     9
         Siehe hierzu die Ausführungen in den folgenden Kapiteln.

10
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILIENSTRATEGIE

               Reflexion der
             Familienstrategie
                                                                                        Definierte Gremien
                                           Ausformulierung des      Verträge ändern
                                                                                          und Aufgaben
                                            „Familien-Willens“      bzw. ausarbeiten
                                                                                             „beleben“

                                         1 Erstellung eines      1 Durchführung        1 Einrichtung
                                           schriftlichen           ggf. notwendiger      definierter
                                           Dokuments               Vertrags-             Gremien
                                           (Verfassung,            modifikationen
                                                                                       1 Aufnahme der
               Definition des              Kodex, Statut,
           (Selbst-)Management-                                  1 Vorbereitung          Gremienarbeit
                                           Charta etc.)
                  Systems                                          und Abschluss
                                                                                       1 Durchführung
                                         1 Prüfung durch           zusätzlicher
                                                                                         definierter
                                           Juristen, welche        Verträge
                                                                                         „Familien-
                                           rechtlichen
                                                                                         Aktivitäten“
                                           Bindungswir-
                                           kungen entstehen
                                           können

  Abbildung 3: Von der Familienstrategie zum Familienmanagement-System

2.4 | DIE ROLLE VON EXTERNEN                            Prozesses gerade im gemeinsamen, wenn auch
BERATERN                                                ­zuweilen mühsamen Prozess der Formulierungs-
                                                         suche und Entscheidungsfindung liegt, denn dieser
                                                         macht einen Großteil der Bindungswirkung einer

W      erden familienstrategische Entwicklungs-
       prozesse durch familienexterne Moderato-
ren beratend begleitet, kommt diesen Personen
                                                         Familienverfassung aus, vielleicht ist er sogar
                                                         wichtiger als das Ergebnis selbst. Es ist deshalb
                                                         wichtig, dass Beraterinnen und Berater die Span-
eine hohe Verantwortung zu. Sie haben den Pro-           nung aushalten, die sich aus zwei „Verführungen“
zess zu führen und eine Familie mit Grundfragen zu       zusammensetzt:
konfrontieren, die sie sich womöglich bisher nicht
gestellt hat; zugleich braucht die Unternehmer­         1 zum einen, als Spezialisten den Familien die Ent-
familie Freiraum und Gestaltungsfreiheit, um ihre         scheidungsunsicherheit zu nehmen, indem sie
eigenen Vorstellungen, Meinungen und Strukturen           die Inhalte definieren;
zu entwickeln.
                                                        1 zum anderen, mit Expertenmeinungen den in­
  Wenn aber der Berater seine eigene Vorstellung          nerfamiliären Auseinandersetzungsprozess vor-
darüber, wie eine „vernünftige“ Verfassung zu for-        schnell abzukürzen. Einwände, kritische Stim-
mulieren ist und wie die „richtige“ Gremienstruktur       men, ein Nein von Familienmitgliedern zu einem
auszusehen hat, der Unternehmerfamilie über-              scheinbar völlig unpassenden Zeitpunkt stören
stülpt, dürfte die Nachhaltigkeit der gefundenen          vermeintlich. Wer dann mit Expertise interveniert
Lösung fraglich sein. Auch wenn externe Spezialis-        und diese Stimmen zum Schweigen bringt, kann
ten sicherlich über breite Erfahrungen verfügen, so       sich des Beifalls des ungeduldigen Rests der
sind die Binnen-Logiken von Familiensystemen              ­Familie sicher sein. Es besteht jedoch die Gefahr,
doch kaum untereinander vergleichbar. Hinzu                dass das zum Schweigen gebrachte Familienmit-
kommt, dass der Wert eines familienstrategischen           glied sich zunehmend weniger an dem Prozess

                                                                                                                11
2 | DIE FAMILIENVERFASSUNG ALS INSTRUMENT DER FAMILIENSTRATEGIE

       beteiligt und diesen nur halbherzig mitträgt oder    von Familienunternehmen und Unternehmerfami-
       sich innerlich aus der Unternehmerfamilie verab-     lien nicht gerecht. Gerade wenn familienstrategi-
       schiedet. Jeder Einwand, so mühsam mit ihm           sche Regelwerke strapaziert werden (z. B. bei der
       umzugehen ist, ist auch eine Erkenntnischance        Frage nach der Zugehörigkeit zur Familie, den
       für die Familie, weil er zeigt, dass ein Thema       ­Kriterien zur Befähigung für den Einstieg ins Unter-
       noch nicht ausreichend durchdacht wurde.              nehmen, bei Uneinigkeit etc.), versagen solche
                                                             „netten“, oftmals familienextern vorformulierten
        Wird der Entwicklungsprozess einer Familien-         Regelwerke. Die vermeintliche Vorsorge durch ent-
     strategie dazu genutzt, vermeintlich professionelle     sprechend undurchdachte Schriftstücke stürzt die
     Strukturvorschläge gegen das Selbstbild der Unter-      Unternehmerfamilie mitunter ins Chaos. Als Kon-
     nehmerfamilie zu positionieren, kann ein Familien-      fliktpräventionsinstrumente sind solche Regel­
     strategieprozess auch kontraproduktive Wirkung          werke wenig brauchbar.
     haben. Dies zeigt sich zumeist daran, dass Fami­
     lienmitglieder, die, auch wenn sie über Monate an          Die Familie des Familienunternehmens muss
     der Entwicklung einer Familienstrategie beteiligt      sich zu Beginn des Prozesses bewusst sein, dass
     waren, „plötzlich“ am Tag der Unterzeichnung des       sie ein gehöriges Maß an Zeit für den Prozess und
     Dokuments ihre Unterschrift verweigern mit dem         das dadurch implementierte Familienmanage-
     Hinweis, sich hier nicht mehr wiederzufinden. Dann     ment-System zu investieren hat. Doch was ist die
     sind offenbar Strukturen, Werthaltungen und Re-        Alternative? Wer familienstrategische Entschei-
     geln formuliert worden, die von den prozessbetei-      dungen immerfort weiter so trifft, wie es sich
     ligten Familienmitgliedern zwar auf der Sachebene      ­bisher bewährt hat, muss hoffen, dass die Fami­
     akzeptiert, innerlich jedoch nicht wirklich mitge­      lienverhältnisse und Umfeldanforderungen auch
     tragen wurden. Es kann an dieser Stelle nicht klar      weiterhin zu den bekannten Lösungen passen. Wer
     genug betont werden, dass ein familienstrategi-         einen Familienstrategieprozess startet, der wird
     scher Entwicklungsprozess eine durchaus heftige         einigen Kommunikationsaufwand in der Familie
                                                             ­
     Intervention für das soziale Gefüge einer Unterneh-     auf sich nehmen und natürlich mit Auseinanderset-
     merfamilie bedeuten kann.                               zungen und Konflikten konfrontiert sein, bis eine
                                                             Familienstrategie endlich steht. Aber mehr als die
       Dementsprechend kommt dem familienexternen            Formulierung der Inhalte hat die Familie auf die-
     Begleiter nicht nur die Rolle eines Fachberaters zu,    sem Weg gelernt, wie sie lernt, wie sie zum Beispiel
     der die „richtige“ Lösung einführt, sondern auch        Selbstbilder anpasst, Nachfolgemuster und Gre­
     und vor allem die eines „Familien-Coaches“ und          mienstrukturen verändert, wie sie Unterschiede
     „Prozessberaters“, der die Unternehmerfamilie bei       und Gemeinsamkeiten zusammenbringt etc. Sie
     der Bewältigung der Kernfragen zur Überlebens­          kann darauf vertrauen, dass diese Kompetenz zum
     sicherung als Unternehmerfamilie begleitet.             Tragen kommt bei Ereignissen und Herausforde­
                                                             rungen, von denen man bisher nur ahnen kann,
                                                             dass sie auf die Familie zukommen werden.
     2.5 | DIE UMSETZUNG DER FAMILIEN­
     STRATEGIE ALS DAUERAUFGABE                               Sich auf eine Familienstrategie einzulassen, er-
                                                            höht die Wahrscheinlichkeit, dass das eintritt, was
                                                            so gut wie alle Unternehmen anstreben: die Stär-

     D    iese Ausführungen haben deutlich werden
          lassen, dass eine reine Auflistung von all­
          ­
     gemeinen Werten und Institutionen oder auch die
                                                            kung des generationenübergreifenden Willens, das
                                                            Familienunternehmen im Eigentum der Unter­
                                                            nehmerfamilie zu erhalten. Kurz gesagt: die Enkel-
     Niederschrift einer Verfassung nicht hinreichend       fähigkeit!
     sind, um das komplexe Zusammenspiel einer
     Familie und eines Unternehmens nachhaltig zu
     ­
     ­unterstützen. Die zuweilen in der Praxis vorzufin-
      denden einfachen „Verfassungen“, die meist in ein-
      oder zweitägigen Workshops entstehen, werden
      dem Bewusstseinsbildungs- und Regelungsbedarf

12
3 | BINDUNGSWIRKUNG UND
                                RECHTLICHE UMSETZUNG EINER
                                     FAMILIENVERFASSUNG

3.1 | STAND DER DISKUSSION ZUR                                       können. Nicht ohne Grund spricht daher der Gover-
RECHTLICHEN BEDEUTUNG VON                                            nance Kodex für Familienunternehmen in Ziffer 8.4
FAMILIENVERFASSUNGEN                                                 die Empfehlung aus, dass Unternehmerfamilien
                                                                    ­regeln sollten, „welche Rechtsqualität dem Kodex
                                                                     (= der Familienverfassung) und seinen Inhalten zu­

F   amilienverfassungen wurden von der Bera-
    tungspraxis lange Zeit pauschal als unverbind-
liche Absichtserklärungen eingeordnet und im rein
                                                                     kommt, insbesondere im Verhältnis zu Gesellschafts­
                                                                     verträgen und anderen juristischen Dokumenten“ .11

außerrechtlichen Raum verortet („rechtliches Nul-
lum“). Diese Annahme wurde inzwischen von der                       3.2 | RECHTLICHE BINDUNGSWIRKUNG
Rechtswissenschaft als zu pauschal widerlegt.10                     DER FAMILIENVERFASSUNG
Die Einordnung als rechtliches Nullum wird der
Fami­lienverfassung insbesondere aus folgenden
Gründen nicht gerecht:                                              a) In der Regel keine unmittelbare Rechtsver-
                                                                    bindlichkeit der Familienverfassung gewollt
1 Anders als für Absichtserklärungen üblich be-
  steht meist ein Befolgungswille der Familien­                           Die rechtliche Qualität und Bindungswirkung
  gesellschafter und die Familienverfassung soll                     ­ iner bestehenden Familienverfassung ist in jedem
                                                                     e
  als Regelwerk dauerhaft Bestand haben.                             Einzelfall sorgfältig im Wege der Auslegung gemäß
                                                                     §§ 133, 157 BGB zu prüfen, weil die Regelungen
1 Familienverfassungen weisen vielfältige inhalt­                    und Funktionen einer Familienverfassung sehr un-
  liche Verflechtungen mit dem rechtlichen Ord-                      terschiedlich sein können und es nicht die Fami­
  nungsrahmen des Familienunternehmens und                           lien­verfassung gibt. Die einzelnen Regelungen der
  seiner Gesellschafter auf (z. B. Regelungen zur                    ­Familienverfassung können rechtlich auch durch-
  Mitarbeit im Unternehmen, zur Übertragbarkeit                       aus unterschiedlich zu bewerten sein. Auf der
  von Anteilen oder zu Abfindungen).                                  ­einen Seite enthalten Familienverfassungen übli-
                                                                       cherweise Regelungen, die einen engen inhaltli-
1 Familien verwenden bei der Formulierung von                          chen Bezug zu Fragen des Unternehmens und der
  Familienverfassungen häufig die Sprache des
  ­                                                                 ­Gesellschafter aufweisen. Zu denken ist beispiels-
  Rechts („wir verpflichten uns“, „wir legen fest“                     weise an Regelungen zur Besetzung der Ge­
  etc.).                                                               schäftsführung und (Kontroll-)Gremien des Unter-
                                                                       nehmens, zur Mitarbeit von Familienmitgliedern im
    Eine Familienverfassung oder zumindest einzel-                     Unternehmen, zur Übertragbarkeit von Anteilen
ne ihrer Regelungen können daher durchaus recht-                       oder zur Berechnung von Abfindungen. Diesbe­
lich erheblich sein. Gerichtsurteile zur Familienver-                  züglich kommt eine rechtliche Bindung ernsthaft in
fassung existieren – soweit ersichtlich – allerdings                   Betracht. Daneben enthalten Familienverfassungen
noch nicht. Dies liegt unter anderem daran, dass                       aber auch originär familienbezogene Inhalte, die
Familienverfassungen in Deutschland erst seit eini-                    keinen Bezug zum Unternehmen aufweisen. Dabei
gen Jahren üblich sind. Es erscheint jedoch nicht                      geht es etwa um Festlegungen zu Familientagen
ausgeschlossen, dass ein mit Familienverfassun-                        und sonstigen Familienaktivitäten einschließlich
gen nicht vertrautes Gericht die unternehmens-                         Qualifizierungsmaßnahmen für die jüngere Gene­
und gesellschafterbezogenen Regelungen der                             ration oder Regeln zum Umgang und zur Kommu­
­Familienverfassung in einem Konfliktfall als juris-                   nikation untereinander. Bezüglich solcher Inhalte
 tisch einklagbar qualifizieren könnte.                                der Familienverfassung kommt eine rechtliche
                                                                       Bindungswirkung von vornherein nicht infrage.
                                                                       ­
   Umso wichtiger ist, dass sich Unternehmerfami-                      Schließlich enthält die Familienverfassung übli-
lien mit der Bindungswirkung der Familienverfas-                       cherweise Regelungen, die die Bedeutung und
sung aktiv auseinandersetzen, die gewünschte                           Handhabung des Regelwerks selbst betreffen,
rechtliche Qualität festlegen und auf diese Weise                      etwa zum Verfahren für Anpassungen der Fami­
gegebenenfalls unerwünschte rechtliche Wirkun-                         lienverfassung. Bezüglich solcher Regelungen ist
gen der Familienverfassung vermieden werden                            eine rechtliche Verbindlichkeit wiederum denkbar.

10
     Siehe hierzu insbesondere Fleischer (2016) und Hueck (2017).
11
     Governance Kodex für Familienunternehmen, Ziffer 8.4.

                                                                                                                            13
3 | BINDUNGSWIRKUNG UND RECHTLICHE UMSETZUNG EINER FAMILIENVERFASSUNG

         In der Tat entspricht es jedoch zumeist dem                             meinsame Erarbeitungsprozess sei, erschließt sich
     ­ illen der Familienmitglieder, die eine Familienver-
     W                                                                           nämlich nicht, warum dem Erarbeitungsprozess für
     fassung verabschieden, dass die darin getroffenen                           den Fall, dass sich daran die Etablierung eines
     Vereinbarungen insgesamt nicht rechtsverbindlich                            rechtlich verbindlichen Regelwerks anschlösse,
     in dem Sinne sein sollen, dass sich daraus unmit-                           ­bezüglich der Integrationsfunktion ein geringeres
     telbar durchsetzbare Rechte und Pflichten im juris-                          Potenzial zukommen sollte. Am ehesten noch ver-
     tischen Sinne ergeben. Familienmitglieder betrach-                           mag das Argument zu überzeugen, dass die Aus-
     ten die Familienverfassung vielmehr in aller Regel                           sicht auf ein (zunächst) unverbindliches Regelwerk
     als eine Art Gentlemen’s Agreement mit rechtlich                             die Einigungsbereitschaft sowie auch die Bereit-
     nicht durchsetzbaren Verhaltenszusagen. Unter-                               schaft der Familienmitglieder, sich auf den Prozess
     nehmerfamilien nehmen in diesem Fall das bei                                 der Er­ arbeitung einer Familienverfassung über-
     ­unverbindlichen Regelungen naturgemäß erhöhte                               haupt einzulassen, erhöht. Dieses Argument wird
      Risiko in Kauf, dass sich die Beteiligten zu einem                          freilich nicht stets zum Tragen kommen. Vielmehr
      späteren Zeitpunkt, insbesondere in Konfliktsitua-                          besteht bei unverbindlichen Regelungen das
      tionen, nicht mehr an die Familienverfassung                                ­erhöhte Risiko, dass sich die Parteien zu einem
      ­gebunden fühlen und die Regelungen nicht durch­                             späteren Zeitpunkt nicht mehr an die Regelungen
       gesetzt werden können.                                                      der Familienverfassung halten (Family Compliance-­
                                                                                   Verstoß).12 Sofern Regelungen in der Familienver-
                                                                                   fassung sich auf das Familienunternehmen und die
     b) Pros und Cons einer rechtlich                                              Ausübung von Gesellschafter- und/oder Organ-
     unverbindlichen Familienverfassung                                            rechten und -pflichten beziehen, können jedoch
                                                                                   durchaus erhebliche wirtschaftliche Interessen der
       Jedenfalls sollten sich Unternehmerfamilien,                                Beteiligten negativ betroffen sein. Dieses Risiko
     wenn sie eine neue Familienverfassung etablieren,                             zugunsten einer unverbindlichen Gestaltung einzu-
     mit der Frage nach der gewünschten rechtlichen                                gehen, wäre dann ein hoher Preis. Zudem kann es
     Bindungswirkung befassen. Nachfolgend werden                                  über die Frage, ob die Unverbindlichkeit der Fami­
     einige Entscheidungsparameter für die stets gebo-                             lienverfassung zugleich Legitimation für ein jeder-
     tene Einzelfallanalyse gegeben.                                               zeitiges Abweichen sein soll, überhaupt erst zu
                                                                                   Konflikten in der Familie kommen.
        Für eine rechtlich unverbindliche Gestaltung
     wird angeführt, dass mit der Familienverfassung                                 Allerdings ist auch zu berücksichtigen, dass zu-
     bewusst ein Regelwerk außerhalb des bestehen-                               mindest einzelne Inhalte der Familienverfassung
     den rechtlichen Ordnungsrahmens geschaffen                                  schon nach dem bisher in vielen Unternehmerfami-
     werden soll, dessen Adressat die Familie als sol-                           lien herrschenden Verständnis – wenn auch erst in
     che ist. Dazu gehören gegebenenfalls auch Fami­                             einem zeitlich nachgelagerten Schritt – noch in
     lienmitglieder, die (noch) keine Gesellschafter des                         rechtlich bindende Regelungen auf Gesellschafts-
     Familienunternehmens sind. Zudem wird einer                                 und Gesellschafterebene überführt werden sollen,
     rechtlich nicht bindenden Familienverfassung ein                            um auf diese Weise Rechtsklarheit zu schaffen.
     höheres Potenzial zugeschrieben, soweit es darum                            Ferner würde eine rechtsverbindlich abgefasste
     geht, Zusammenhalt und Identität zu stiften.                                ­Familienverfassung nicht nur ein zusätzliches Ver-
     Schließlich gewährleiste ein rechtlich unverbind­                            tragswerk, sondern auch zusätzliche rechtliche
     liches Regelwerk ein höheres Maß an Flexibilität für                         Komplexität bedeuten, nicht zuletzt auch aufgrund
     Abweichungen und erfordere (vermeintlich) ein ge-                            der dann gebotenen gerichtsfesten Formulierung.
     ringeres Maß an Sorgfalt bei der Ausformulierung.                            Des Weiteren kommt bezüglich einiger Inhalte
                                                                                  ­originär familienbezogener Themen der Familien-
       Bei genauer Betrachtung überzeugt diese Argu-                               verfassung eine rechtliche Bindungswirkung von
     mentation nur bedingt. Wenn weithin angenommen                                vornherein nicht ernsthaft infrage, etwa soweit es
     wird, dass wesentliches Element der integrie­                                 um die Durchführung gemeinsamer Familienaktivi-
     renden Funktion der Familienverfassung der ge-                                täten geht.

     12
          Zu den Besonderheiten von Family Compliance siehe auch Rüsen (2017).

14
3 | BINDUNGSWIRKUNG UND RECHTLICHE UMSETZUNG EINER FAMILIENVERFASSUNG

     PRO                                                          CONTRA

     Rechtliche Unverbindlichkeit fördert stärker                 Bei Unverbindlichkeit verbleiben Unklarheiten**
     den Zusammenhalt*

     Höhere Flexibilität*                                         Unverbindlichkeit geht zu Lasten der Durch­
                                                                  setzbarkeit und Verlässlichkeit***

     Geringeres Risiko gerichtlicher Streitigkeiten*              Geringere Konfliktbereitschaft bei Rechts­
                                                                  verbindlichkeit**

     Erhöhte Prozess- und Einigungsbereitschaft*

     Zusätzliche Komplexität einer rechtsverbind­
     lichen Gestaltung wird vermieden.***

     * schwaches Argument         ** mittleres Argument   *** starkes Argument

Abbildung 4: Rechtlich unverbindliche Gestaltung der unternehmensbezogenen Regelun-
gen in der Familienverfassung?

   Im Ergebnis empfiehlt sich daher einerseits, die               c) Mittelbare Rechtswirkungen der
Familienverfassung zwar rechtlich unverbindlich                   Familienverfassung
­abzufassen, andererseits die auf das Gesellschafts-
 verhältnis bezogenen Verständigungen jedoch zu-                     Von der Frage der unmittelbaren Rechtsverbind-
 gleich rechtssicher auf Ebene des rechtlichen                    lichkeit zu unterscheiden ist die Frage nach mög­
 Organisationsrahmens zu verankern (dazu siehe                    lichen mittelbaren Rechtswirkungen der Familien-
 noch näher unter Ziffer 3.3.a) unten).                           verfassung. Damit ist eine rechtliche Relevanz der
                                                                  (unverbindlichen) Familienverfassung gemeint, die
  Unabhängig davon, wie die erforderliche Einzel-                 sich im Zusammenwirken mit anderweitigen recht-
fallanalyse ausfällt, sollte die Familienverfassung               lichen Anknüpfungspunkten wie beispielsweise
stets eine ausdrückliche Klarstellung zu der                      dem Gesellschaftsvertrag ergeben kann. In der
gewünschten rechtlichen Bindungswirkung ihrer
­                                                                 Rechtswissenschaft wurde herausgearbeitet, dass
Regelungen enthalten. Soll eine Familienverfas-                   die rechtliche Unverbindlichkeit der Regelungen
sung rechtlich unverbindlich sein und auch – so-                  der Familienverfassung nicht per se deren recht­
weit möglich – darüber hinaus keine Rechtswirkun-                 liche Unbeachtlichkeit bedeutet.13 Damit gilt für die
gen entfalten, kann dafür die folgende Formulierung               Familienverfassung das, was auch für Soft Law
verwendet werden:                                                 und unverbindliche Erklärungen in unterschied­
                                                                  lichen Anwendungsbereichen (z. B. für den Letter
                                                                  of Intent, das Memorandum of Understanding oder
     „Die Familienverfassung soll nach dem Willen                 die weiche Patronatserklärung) gilt. Maßgeblicher
     der Familie rechtlich unverbindlich sein. Sie soll           Ansatzpunkt einer rechtlichen Relevanz der Fami­
     weder Rechte und Pflichten im juristischen ­Sinne            lienverfassung ist das durch die gegenseitigen
     begründen noch eine wie auch immer geartete                  Versprechen zwischen den Familienmitgliedern
                                                                  ­
     sonstige rechtliche Bedeutung entfalten. Juris-              begründete Vertrauen. Wird das Vertrauen ent-
                                                                  ­
     tisch maßgeblich sind allein der Gesellschafts-              täuscht, unterliegen die rechtlichen Konsequenzen
     vertrag und die sonstigen Vertragswerke des                  nur bedingt der Disposition der Beteiligten. So kann
     Unternehmens und seiner Gesellschafter.“                     etwa über den Grundsatz von Treu und Glauben,
                                                                  Rücksichtnahmepflichten und die gesellschafts-

13
     Siehe hierzu Hueck (2017).

                                                                                                                          15
3 | BINDUNGSWIRKUNG UND RECHTLICHE UMSETZUNG EINER FAMILIENVERFASSUNG

     rechtliche Treuepflicht gerade nicht vollständig dis-    gesellschaften (GmbH, AG) scheidet eine Ände-
     poniert werden. Solche gelten auch dann, wenn die        rung zumindest des Gesellschaftsvertrags durch
     Parteien bezüglich einer Vereinbarung rechtliche         ein­verständliche Praxis wegen der gesetzlichen
     Unverbindlichkeit vereinbart haben.                      Form- und Eintragungserfordernisse hingegen in
                                                              aller ­Regel aus.
        Die möglichen rechtlichen Folgewirkungen der
      Familienverfassung, einschließlich der sich jeweils        Beispiel: Wenn etwa ein bestimmter, von einer
      unter Umständen ergebenden Pflichten, sind viel-        ­ esellschaftsvertraglichen Regelung abweichender,
                                                              g
      fältig. Sie lassen sich letztlich immer nur mit Blick   Gewinnverteilungsschlüssel über mehrere Jahre der
      auf die konkreten Umstände des Einzelfalls prä­         Praxis eines Familienunternehmens in der Form
      zise bestimmen. Hierfür sind jeweils die rechtli-       einer Personengesellschaft entspricht, legt dies
                                                              ­
      chen Rahmenbedingungen wie auch das in tat-             ­einen Willen auch zur (stillschweigenden) Abände­
      sächlicher Hinsicht konkret begründete Vertrauen         rung des Gesellschaftsvertrags nahe. Eine Regelung
      maßgeblich. Im Folgenden werden einige mögliche          in der Familienverfassung zur Gewinnverteilung
      Ansatzpunkte für eine rechtliche Relevanz der            kann in diesem Fall den Willen der Gesellschafter zu
     ­Familienverfassung skizziert.                            einer vertragsändernden Praxis belegen.

     aa) Vertragsänderungen und -ergänzungen durch            bb) Vertragsauslegung anhand der
     die Familienverfassung                                   Familienverfassung

        In der Regel soll die Verabschiedung der Fami­           Die in der Familienverfassung dokumentierten
     lienverfassung nicht unmittelbar zu einer Änderung       Verständigungen lassen sich zur Auslegung des
     des Gesellschaftsvertrags führen. Die Familienver-       Gesellschaftsvertrags sowie sonstiger gesell-
     fassung stellt vielmehr ein eigenständiges Regel-        schaftsbezogener Regelungen wie etwa einem
     werk dar, das vom Gesellschaftsvertrag zu unter-         Poolvertrag oder Geschäftsordnungen heranzie-
     scheiden ist (siehe näher Ziffer 3.3 a) unten).          hen. Insbesondere gilt dies für die Auslegung des
     Dennoch kann die Familienverfassung im Einzelfall        Gesellschaftsvertrags bei Personengesellschaften,
     – gegebenenfalls ungewollt – aufgrund einer so-          weil dieser anhand der allgemeinen Grundsätze
     genannten einverständlichen Übung zu einer Än-           ­gemäß §§ 133, 157 BGB auszulegen ist und daher
     derung des Gesellschaftsvertrags beitragen. Bei           auch außerhalb der Vertragsurkunde liegende
     Personengesellschaften (OHG, KG) ist für den ge-          Umstände ohne Weiteres Berücksichtigung finden
     sellschaftsvertraglichen Regelungsrahmen näm-             können. Weniger eindeutig ist, ob die Familien­
     lich nicht zwingend der Wortlaut des Vertrags­            verfassung auch zur Auslegung des Gesellschafts-
     textes, sondern das tatsächliche Verständnis und          vertrags einer Kapitalgesellschaft herangezogen
     die Praxis der beteiligten Gesellschafter maß­            werden kann. Dessen Auslegung hat nach der
     geblich. Wird beispielsweise über einen langen            Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs streng
     Zeitraum anders als im Gesellschaftsvertrag vor-          objektiv anhand des Vertragswortlauts („aus sich
     gesehen verfahren, kann hierin zugleich eine Ver-         heraus“) zu erfolgen. Gleichwohl kommt dort eine
     tragsänderung liegen und unter Umständen sogar            Aus­legung anhand der Familienverfassung zumin-
     eine konstitutive Schriftformklausel ­abbedungen          dest dann in Betracht, wenn den Familiengesell-
     werden. Der Familienverfassung kann deshalb die           schaftern die Familienverfassung bekannt ist –
     Bedeutung zukommen, eine tatsäch­liche, einver-           wovon in aller Regel auszugehen ist.
     ständliche Übung der Gesellschafter zu doku­
     mentieren, aus der eine Abänderung oder Ergän-              Beispiel: Regelmäßig lässt der Gesellschaftsver­
     zung der gesellschaftsvertraglichen Regelungen           trag freie Anteilsübertragungen nur an Familien­
     folgt. Die Familienverfassung lässt sich dann als        angehörige zu. Die Übertragung von Anteilen an
     Argumentationshilfe, gegebenenfalls auch als Be-         ­Familienfremde erfordert hingegen einen gesonder­
     weismittel, für das Bestehen einer entsprechen-           ten Zustimmungsbeschluss der Gesellschafter. Es
     den einverständlichen Übung und den Willen der            kommt nicht selten vor, dass die Familienverfas­
     Familiengesellschafter, auch in Zukunft derart zu         sung die gesellschaftsvertraglichen Regelungen
     verfahren, heranziehen. Im Bereich der Kapital­           noch präzisiert, wenn es darum geht zu bestimmen,

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3 | BINDUNGSWIRKUNG UND RECHTLICHE UMSETZUNG EINER FAMILIENVERFASSUNG

wer zur Familie gehört und Gesellschafter werden        verfassung abweichen. Auf diese Weise können
kann. Beispielsweise ist denkbar, dass der Gesell­      die mit der Familienverfassung ­gesetzten Verhal-
schaftsvertrag den Begriff „Kind“ verwendet, ohne       tenserwartungen den Inhalt der gesellschafts-
ihn zu definieren, die Familienverfassung jedoch        rechtlichen Treuepflicht bestimmen.
klarstellt, dass Adoptivkinder den leiblichen Kindern
gleichzustellen sind. Es liegt dann nahe, dass die         Beispiel: Vorstellbar ist beispielsweise, dass die
Familienverfassung in einem solchen Fall das spezi­     Familienverfassung Anpassungen bestehender
fizierte Verständnis der Familiengesellschafter ab­     recht­licher Strukturen vorsieht, diese Anpassungen
bildet und die Familienverfassung bei einem Streit      unter Einholung rechtlicher und steuerlicher Bera­
über die Nachfolgeberechtigung auch juristisch          tungsleistungen vorbereitet wurden, jedoch nicht
nicht außer Acht gelassen werden kann.14                zustande kommen, weil ein Familiengesellschafter
                                                        – trotz vorheriger Zustimmung zur Familien­        ver­
                                                        fassung – ohne triftigen Grund seine Stimme in der
cc) Rücksichtnahme- und Treuepflichten                  Gesellschafterversammlung verweigert, in der die
der Familiengesellschafter aufgrund der                 Änderungen formal beschlossen werden s    ­ ollen. Den
Familienverfassung                                      weiteren Familienmitgliedern kann dann unter
                                                        Umständen ein ersatzfähiger Vertrauensschaden
                                                        ­
    Des Weiteren können die im Rahmen einer             in Form getätigter Aufwendungen für Beratung
 ­amilienverfassung abgegebenen Versprechen
 F                                                      ­entstanden sein. Darüber hinaus können in einer
­ge­gen­seitige Rücksichtnahmepflichten der Fami­        solchen Kon­stellation auch der Gesellschaft selbst
 lien­
     gesellschafter auslösen, die sich auch auf          Schadens­ersatzansprüche gegen den betreffenden
 Unternehmens- und Gesellschafterebene auswir-
 ­                                                       Gesellschafter entstehen.
 ken kön­nen. Insbesondere kommt in Betracht, dass
 der Familienverfassung eine konkretisierende Wir-
 kung im Hinblick auf die gesellschaftsrechtliche       dd) Auswirkungen der Familienverfassung auf die
 Treuepflicht zukommt. Die gesellschaftsrechtliche      Pflichtenlage von Geschäftsführung und Beirat
 Treuepflicht verpflichtet die Gesellschafter, sich
 gegenüber der Gesellschaft loyal zu verhalten, den           Die Familienverfassung kann sich auch auf die
 Gesellschaftszweck aktiv zu fördern sowie die Ge-      Pflichtenlage der Geschäftsführung und des Bei-
 sellschaft vor Schaden zu bewahren. Zudem sind         rats auswirken. Dies kann sich zunächst daraus
 die Gesellschafter zur Rücksichtnahme auf die Be-      ­ergeben, dass die Familienverfassung den Gesell-
 lange ihrer Mitgesellschafter verpflichtet.             schaftsvertrag oder eine Geschäftsordnung in­
                                                         haltlich konkretisiert und zu deren Auslegung
    Das rechtsformübergreifende geltende Prinzip         heranzuziehen ist (siehe Ziffer 2 c) bb) oben).
                                                         ­
der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht hat in         ­Geschäftsführung und Beirat haben zwar rechts-
­Familienunternehmen aufgrund ihrer personalis­ti­        formübergreifend grundsätzlich einen gewissen
 schen Prägung besondere Bedeutung. In der Fami-          Ermessensspielraum bei ihren Entscheidungen.
                                                          ­
 lienverfassung kommt regelmäßig das be­sondere           Dabei ist ihnen jedoch unter anderem durch den
 Vertrauensverhältnis der Familiengesellschafter          Gesellschaftsvertrag und eine ihnen auferlegte
                                                          ­
 zum Ausdruck. Sie präzisiert die­jenigen Vorstellun-     ­Geschäftsordnung ein bestimmter äußerer Hand-
 gen der Gesellschafter, die ihnen in Bezug auf das        lungsrahmen vorgegeben. Für die Auslegung her-
 Unternehmen und ihr Zusammenwirken besonders              anzuziehenden Regelungen der Familienverfas-
 wichtig sind. Entspricht es dem Wunsch der Fami-          sung können diesen Handlungsrahmen mittelbar
 liengesellschafter, dass die Familienverfassung           beeinflussen. Darüber hinaus kann den Regelun-
 rechtlich unverbindlich sein soll, kann daraus zwar       gen einer von den Gesellschaftern verabschiedeten
 grundsätzlich keine rechtliche Pflicht zur Befol-         und der Geschäftsführung bekannt gemachten
 gung der Familienverfassung resultieren. Es kann          ­Familienverfassung im Einzelfall auch Weisungs-
 jedoch zumindest ein rechtlich geschütztes Ver-            charakter zukommen. Letzteres kann insbesonde-
 trauen dahingehend entstehen, dass die Familien-           re dann der Fall sein, wenn die Familienverfassung
 mitglieder beabsichtigte Abweichungen von Rege-            konkrete Vorgaben für die Unternehmensführung
 lungen der Familienverfassung vorab ankündigen             enthält.
 und nicht ohne triftigen Grund von der Familien-

14
     Siehe hierzu Fleischer (2016).

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