Gerontopsychiatrie - highlighted - Bayerisches Ärzteblatt
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Gerontopsychiatrie – highlighted Demenz – Depression – Delir Fall 1: „Die tüttelige vergangenen Jahren habe es wiederholt Phasen Die durchschnittliche Lebenserwartung von Niedergestimmtheit gegeben, diese seien Schwiegermutter“ hat in den vergangenen hundert Jahren aber nie behandelt worden. Im Alltag benötige von 47 auf 83 Jahre (Frauen) und 78 Jahre ihre Schwiegermutter inzwischen Unterstützung, (Männer) zugenommen. Bis 2060 wird Anamnese zum Beispiel bei der Regelung finanzieller An- Eine 84-Jährige kommt in Begleitung ihrer gelegenheiten, der Vorbereitung ihrer Medika- sie sich auf über 89 Jahre (Frauen) und Schwiegertochter zum Erstgespräch in unser mente oder bei der Planung und Organisation 85 Jahre (Männer) erhöhen [1]. In Deutsch- Memory-Zentrum und berichtet über eine lang- von Terminen. An körperlichen Vorerkrankungen land wird die Anzahl Demenzkranker auf sam zunehmende Vergesslichkeit seit dem Tod bestehe langjährig ein arterieller Hypertonus. 1,2 Millionen geschätzt [2]. Das Risiko an ihres Ehemannes vor fünf Jahren. Jetzt, seit einer Demenz zu erkranken, steigt mit zu- dem plötzlichen Tod ihres älteren Sohnes vor Diagnostik und Befund nehmendem Alter. Datenanalysen lassen einigen Wochen, leide sie außerdem unter Ein- Im psychopathologischen Befund zeigen sich bei ebenso einen Anstieg der Depressionsrate und Durchschlafstörungen, ihre Stimmung sei der allseits orientierten Patientin eine affekti- vermuten (4 Prozent bei 20 bis 29-jährigen, deutlich gedrückt und sie fühle sich schwach. ve Niedergestimmtheit mit psychomotorischer 14 Prozent bei 70 bis 79-jährigen) [3, 33]. Im alltäglichen Leben brauche sie kaum Hilfe, Unruhe und Agitiertheit. Im formalen Gedan- Auch das Phänomen der Polypharmazie auf Nachfragen berichtet sie, sich jedoch häufig kengang fallen eine Sprunghaftigkeit sowie ei- nimmt mit steigendem Alter zu bzw. ist mit über ihr Tun bei der Schwiegertochter rückzuver- ne Weitschweifigkeit auf. Es imponieren zudem sichern. Ihr räumliches Orientierungsvermögen sei leichte Merkfähigkeitsstörungen. Im Rahmen dessen Auswirkungen verbunden, insbe- im Vergleich zu früher „etwas schlechter“. Früher der leitliniengerechten, syndromalen und ätio- sondere ab 85 Jahren [4]. Mit zunehmen- habe sie gerne genäht, das mache sie jetzt nicht logischen Differenzialdiagnostik [5] wird neben der Lebenserwartung stehen Ärzte einer mehr. Fremdanamnestisch gibt die Schwieger- der Eigen- und Fremdanamnese, der klinischen Patientengruppe gegenüber, die aufgrund tochter an, dass sich die Patientin seit einigen Untersuchung, der Routinelabordiagnostik und ihrer Aetas und Multimorbidität besonderer Jahren immer öfter zum Beispiel an Arztkontak- kognitiven Screenings, eine ausführliche neuro- Kompetenz in Bezug auf gerontopsychiatri- te oder Terminabsprachen nicht mehr erinnern psychologische Diagnostik, eine weiterführende sche Behandlungsansätze bedarf. könne. Sie verlege oder verstecke häufig ihren Labordiagnostik sowie eine zerebrale Bildgebung Schmuck, Geldbeutel oder andere Dinge und finde durchgeführt. Über eine Liquoruntersuchung wird diese meist alleine nicht wieder. In fremder Um- die Patientin im Beisein ihrer Schwiegertochter gebung benötige sie Orientierungshilfen. In den ausführlich aufgeklärt, sie entscheidet sich aber 408 Bayerisches Ärzteblatt 9/2019
Titelthema Dr. Katharina Grobholz Dr. rer. biol. hum. Verena Buschert Dr. Alexander Kuss Privatdozent Dr. Jens Benninghoff dagegen. Der neurologische Untersuchungsbe- Patienten, die zu Hause leben und unter leicht durch einen nahen, am besten im Haushalt des fund und das Labor sind unauffällig. Im aktuel- bis mittelschweren kognitiven Defiziten leiden. Betroffenen lebenden Angehörigen, ausgefüllt len cCT (zerebrale Computertomografie) – eine Entscheidend ist dabei, dass es sich um eine werden sollten. Das Ergebnis ist als Instrument zerebrale Kernspintomografie (cMRT) wird von Fremdbeurteilung handelt und die Fragen somit der Verlaufsbeurteilung besonders hilfreich [8]. der Patientin bei Klaustrophobie nicht gewünscht – zeigt sich eine leichtgradige globale Atrophie sowie eine leicht- bis mittelgradige Mikroangio- Nr. Frage JA NEIN pathie. In der Elektroenzephalografie (EEG) fällt 1. Sind Sie grundsätzlich mit Ihrem Leben zufrieden? eine geringe Verlangsamung des Grundrhythmus auf. Die neuropsychologische Leistungsdiagnos- 2. Haben Sie viele Ihrer Aktivitäten und Interessen aufgegeben? tik mittels CERAD-Testbatterie und ergänzen- 3. Haben Sie das Gefühl, Ihr Leben sei unausgefüllt? de Verfahren weisen neben psychomotorischer 4. Ist Ihnen oft langweilig? Verlangsamung, visuellen Wahrnehmungsdefi- 5. Sind Sie die meiste Zeit guter Laune? ziten und Beeinträchtigungen im Benennen auf Einbußen im episodischen Gedächtnis hin. Bei 6. Haben Sie Angst, dass Ihnen etwas Schlimmes zustoßen wird? der CERAD-Testbatterie (Consortium to Estab- 7. Fühlen Sie sich die meiste Zeit glücklich? lish a Registry for Alzheimer’s Disease) handelt 8. Fühlen Sie sich oft hilflos? es sich um ein standardisiertes Instrument zur 9. Bleiben Sie lieber zuhause, anstatt auszugehen und Neues zu unternehmen? differenzierteren Erfassung kognitiver Defizite bei Patienten mit Demenz. Diese umfasst die Glauben Sie, mehr Probleme mit dem Gedächtnis zu haben als die 10. Bereiche Sprache, Orientierung, episodisches meisten anderen? Gedächtnis sowie konstruktive Praxis [6]. Aus 11. Finden Sie, es sei schön, jetzt zu leben? der Selbstbeurteilung zu affektiven Symptomen 12. Kommen Sie sich in Ihrem jetzigen Zustand ziemlich wertlos vor? GDS (Geriatric Depression Scale) [7] ergeben sich 13. Fühlen Sie sich voller Energie? keine Hinweise auf eine klinisch relevante de- pressive Symptomatik. Bei der Kurzversion der 14. Finden Sie, dass Ihre Situation hoffnungslos ist? GDS-Skala werden 15 Ja/Nein-Fragen spontan 15. Glauben Sie, dass es den meisten Leuten besser geht als Ihnen? beantwortet, je nach errechneter Punktzahl kann Auswertung: Für Antwort NEIN auf die Fragen 1, 5, 7, 11, 13 sowie für Antwort JA eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit einer vorlie- auf die Fragen 2, 3, 4, 6, 8, 9, 10, 12, 14, 15 gibt es je einen Punkt. genden Depression gemacht werden (Tabelle 1). Bewertung: 0 bis 5 Punkte: Depression unwahrscheinlich Die Fremdbeurteilung zum Alltagsverhalten der 6 bis 10 Punkte: Depression möglich Patientin mittels Bayer-ADL-Skala weist auf 11 bis 15 Punkte: Depression wahrscheinlich bestehend Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags Tabelle 1: Geriatrische Depressionsskala (GDS) hin. Die Bayer-ADL-Skala dient insbesondere zur Modifiziert nach: Sheikh JI, Yesavage JA. Geriatric Depression Scale (GDS): Einschätzung der Alltagskompetenz bei älteren recent evidence and development of a shorter version. Clin Gerontol. 1986 June;5(1/2):165-173 Bayerisches Ärzteblatt 9/2019 409
Titelthema ICD-10: Demenzsyndrom Demenzielles Syndrom In dem hier aufgeführten Fallbeispiel zeigt sich, G1.1 Abnahme des Gedächtnisses, am deutlichsten beim Lernen neuer Information und in dass die Durchführung leitliniengerechter Dia besonders schweren Fällen bei der Erinnerung früher erlernter Informationen. Die Beeinträchtigung betrifft verbales und nonverbales Material. gnostik bei kognitiven Einbußen im höheren Die Abnahme sollte objektiv verifiziert werden. Alter zu einer verlässlichen Diagnose eines de- menziellen Syndroms führen kann. Die durch G1.2 Eine Abnahme anderer kognitiver Fähigkeiten, charakterisiert durch eine Verminderung die Diagnose indizierte Behandlung, bestehend der Urteilsfähigkeit und des Denkvermögens. Dies sollte, wenn möglich, durch eine Fremdanamnese und eine neuropsychologische Untersuchung oder quantifizierende aus psychopharmakologischen und psychoso- Verfahren objektiviert werden. Die Verminderung der früher höheren Leistungsfähigkeit zialen Maßnahmen, trägt zur Stabilisierung der sollte nachgewiesen werden. demenziellen Symptomatik bei. Der Patientin wurde die Fortführung der medikamentösen an- Ein Grad des Gedächtnisverlustes, der mindestens die täglichen Aktivitäten beeinträch- tigt, und/oder die Abnahme kognitiver Fähigkeiten beeinträchtigt die Leistungsfähigkeit tidementiven Therapie sowie der psychosozialen im täglichen Leben (Zusatzmerkmale für G1). Behandlungsmaßnahmen empfohlen. G2. Die Wahrnehmung der Umgebung muss ausreichend lange erhalten geblieben sein (das Notiert heißt Fehlen einer Bewusstseinstrübung). Bestehen gleichzeitig delirante Zustandsbilder, sollte die Diagnose Demenz aufgescho- » E ine differenzierte, leitliniengerechte Diag- ben werden. nostik in der Demenzabklärung führt meist zur Diagnose. G3. Die Verminderung der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens, manifes- tiert sich in mindestens einem der folgenden Merkmale: Emotionale Labilität, Reizbarkeit, Apathie, Vergröberung des Sozialverhaltens. » D ie Verwendung standardisierter Tests in- klusive Fremdbeurteilungsbögen ermöglicht G4. Für eine sichere klinische Diagnose sollte G1 mindestens sechs Monate vorhanden sein. eine valide Verlaufsbeurteilung. Tabelle 2: Allgemeine Demenzdefinition nach ICD-10. Modifiziert nach: T. Jahn & K. Werheid: Demenzen. Göttingen: Hogrefe; 2015 » E ine Einbeziehung und Psychoedukation der Angehörigen soll so früh wie möglich erfolgen. Diagnose Verlauf Fall 2: „Wird mein Mann dement?“ In Zusammenschau der Befunde wird die Diagnose Eine im Anschluss an die Behandlungsmaßnah- Wenn die Psyche verrückt spielt eines leichtgradig demenziellen Syndroms vom men durchgeführte Verlaufsuntersuchung (MMST, Alzheimer-Typ, gemischte Form (ICD-10: F00.2) Mini-Mental-Status-Test) nach etwa sechs Mo- Anamnese (Tabelle 2) [9] sowie einer Anpassungsstörung naten zeigt im Vergleich zur Voruntersuchung Ein 75-jähriger Patient stellt sich in Begleitung nach Tod des Sohnes (ICD-10: F43.2) gestellt. Im tendenziell bessere Leistungen in der visuel- seiner Ehefrau in unserer PIA (psychiatrische Ins- Rahmen eines Abschlussgesprächs werden mit len Verarbeitungsgeschwindigkeit, im Wieder- titutsambulanz) vor. Er berichtet, er leide unter der Patientin im Beisein ihrer Schwiegertochter erkennen zuvor gelernten verbalen Materials, motorischer, nächtlicher Unruhe mit permanent die Diagnose, Therapieoptionen, sinnvolle Ver- im logisch-schlussfolgernden Denken, in der bestehenden Missempfindungen und konse- haltensweisen im Umgang mit der Erkrankung Wortflüssigkeit sowie in der Globalbeurteilung kutiven Schlafstörungen. Die Ehefrau ergänzt, sowie Hilfe- und Unterstützungsangeboten aus- kognitiver Kapazitäten. Der MMST dient bei der dass ihr Mann darüber hinaus nachts verwirrt, führlich besprochen. Demenzdiagnostik als neurokognitive Screening- ängstlich und getrieben sei und in der Wohnung und Verlaufsuntersuchung. In Interviewform wer- umherlaufe. Zudem fühle er sich beobachtet Therapie den über neun verschiedene Bereiche kognitiver und bestohlen. Insgesamt sei er von der Stim- Gemäß der aktuellen, 2016 überarbeiteten, Funktionen getestet (zeitliche und räumliche mung niedergedrückt und habe wenig Antrieb S3-Leitlinie Demenzen [5] wurden sowohl eine Orientierung, Merk- und Erinnerungsfähigkeit, und Motivation. Die Ehefrau ist sehr besorgt, pharmakologische Therapie mit einem Antide- Aufmerksamkeit, Sprache und Sprachverständ- ihr Mann könne sich etwas antun. Der Patient mentivum als auch psychosoziale Behandlungs- nis, Lesen und Schreiben, Zeichnen und Rechnen). befürchtet, an Alzheimer-Demenz erkrankt zu maßnahmen begonnen. Da kardiale Ursachen Die maximal zu erreichende Punktzahl beträgt sein und habe in diesem Zusammenhang akute (QT-Zeit-Verlängerung) einer Behandlung der 30. Anhand der vom Patienten erreichten Punk- Suizidgedanken geäußert. ersten Wahl mit einem Acetylcholinesterase- te kann eine erste Einschätzung getroffen wer- hemmer entgegenstanden, leiteten wir eine den, ob und in welchem Ausmaß eine kognitive Im Vorfeld des Ambulanztermins waren die Dia- Medikation mit Memantin (Zieldosis 20 mg) ein. Einschränkung wahrscheinlich ist, zudem kann gnosen eines Restless-legs-Syndroms sowie einer Zur Stabilisierung und Leistungssteigerung wird der Test als besonders schnell durchführbares leichtgradigen Polyneuropathie gestellt worden. die Patientin in ein wöchentlich stattfindendes, Instrument in der Verlaufskontrolle verwendet Wegen erstgenannter Diagnose besteht eine standardisiertes ambulantes Behandlungspro- werden [11]. Tendenziell schlechtere Leistungen Behandlung mit Rotigotin, einem Dopaminre- gram „Aktiv+++“ an unserem Memory-Zentrum erzielt die Patientin im verbalen Arbeitsgedächt- zeptor-Agonisten, der neben der Behandlung über mehrere Monate hinweg eingebunden, nis und in der verbalen Lern- und Merkfähigkeit, des idiopathischen Parkinson-Syndroms auch welches kognitive Stimulation [10] und körper- wobei insbesondere in den ersten beiden Lern- zur Behandlung des Restless-legs-Syndroms liche Aktivierung beinhaltet. An der parallel zur durchgängen erhebliche Aufmerksamkeits- und eingesetzt wird und Levodopa/Benserazid. Eine Behandlung der Patientin stattfindenden An- Konzentrationseinbußen zu beobachten sind. passagere Therapie mit Gabapentin und Tilidin gehörigenschulung will die Schwiegertochter Aus der Fremdbeurteilung zum Alltagsverhalten zur Besserung der Missempfindungen habe zu aufgrund ihrer Berufstätigkeit zu einem spä- der Patientin (Bayer-ADL-Skala) [8] resultiert ein keinem Erfolg geführt. Aufgrund der depressiven teren Zeitpunkt teilnehmen. stabiles Ergebnis (Abbildung 1). Symptomatik sei Escitalopram ergänzt worden. 410 Bayerisches Ärzteblatt 9/2019
Titelthema Diagnostik und Befund Psychopathologisch zeigt sich der Patient zu CERAD Abzeichnen allen Qualitäten orientiert. Im interpersonellen CERAD Tiere Kontakt ist er hilfesuchend und klagsam. Seine mnestischen Funktionen sind intakt. Der for- CERAD Benennen male Gedankengang ist verlangsamt. Es fallen wahnhafte Symptome in Form von Verfolgungs-, TMT-A Bestehlungs- und Verarmungsideen bei ausge- prägter depressiver Affektivität auf. Die Schwin- ZN vorw. gungsfähigkeit ist reduziert. Psychomotorik und CERAD Lernen Antrieb imponieren vermindert. Es bestehen akute Suizidgedanken. CERAD Abruf In der zerebralen Bildgebung mittels cCT findet sich CERAD WE ein altersentsprechender Befund. Ebenso ergeben sich in der Routinelabordiagnostik keine wegwei- MZ senden Befunde. In der Elektroenzephalografie ZN rückw. (EEG) in Ruhe zeigt sich ein regelrechtes alpha- EEG. Im neurokognitiven Screening ergeben sich MMST keine Hinweise auf eine demenzielle Entwicklung. TMT-B nicht durchführbar Diagnose -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 In Zusammenschau der Befunde mit depressiv- Prä-Testung Post-Testung klagsamen Affekt, verminderter Schwingungs- fähigkeit, reduziertem Antrieb und wahnhafter Abbildung 1: Neuropsychologische Anfangs- und Verlaufsuntersuchung der 84-jährigen Patientin mit Alzhei- mer-Demenz vor (Prätestung: 7. Dezember 2018) und nach (Posttestung: 17. Juni 2019) Teilnahme an einer Begleitsymptomatik sowie regelrechter zerebraler wöchentlich stattfindenden, mehrmonatigen psychosozialen Intervention. Bildgebung und unauffälliger neurokognitiver Testung ist somit die Diagnose einer schweren Neuropsychologische Untersuchung – eingesetzte Untersuchungsverfahren: CERAD (Consortium to Establish depressiven Episode mit psychotischen Sympto- a Registry for Alzheimer‘s Disease), MZ = Matrizentest, WAIS-IV (Wechsler Intelligenztest für Erwachsene, dt. Adaption); ZN = Zahlen nachsprechen vorwärts/rückwärts, MMST = Mini-Mental-Status-Test; GDS = Geriatric men zu stellen (ICD-10: F32.2). Depression Scale, Bayer-ADL = Bayer Activities of Daily Living Scale Therapie Aufgrund der Suizidalität erfolgte die stationä- re Aufnahme. Wegen der unter antidepressiver Therapie persistierenden depressiven Sympto- Syndroms hat sich zwar der Bewegungsdrang bisherigen Daten von einem deutlichen Überwie- matik, verordnen wir anstelle des Escitaloprams initial vermindert, es verstärkt sich dafür aber gen der Depression beim weiblichen Geschlecht das duale (serotonerg und noradrenerg wirksa- die wahnhafte Komponente. Die wahnhaften ausgegangen werden. Das Depressionsrisiko steigt me) Antidepressivum Venlafaxin, worunter sich Symptome können wiederum durch die anti- ferner beim älteren Menschen mit körperlichen Ko- im Verlauf einerseits die depressive Affektlage psychotische Therapie mit Risperidon beherrscht morbiditäten an [3]. Im Hinblick auf die Gesundung bessert, andererseits die Missempfindungen als werden, diese erhöht im Gegenzug jedoch durch scheint das Alter alleine die Prognose jedoch nicht wesentlich erträglicher gewertet werden. Bei ihren antidopaminergen Effekt den Bewegungs- zu beeinflussen, hier spielen das Vorhandensein anhaltenden wahnhaften Symptomen wird die drang, der jedoch aufgrund der minimalen Dosis eines Partners, ein stützendes soziales Umfeld, dopaminerge Therapie mit Rotigotin und Levo- von Risperidon nicht deutlich zunahm. Die Bes- psychische und somatische Komorbiditäten die dopa beendet, die psychotische Symptomatik serung der depressiven Symptomatik sowie die entscheidende Rolle [15 bis 19]. Die Differenzierung nimmt danach spürbar ab. Trotz Zunahme des Remission der psychotischen Begleitsymptoma- zwischen den Symptomen somatischer Erkrankun- nächtlichen Bewegungsdranges nach Absetzen tik wirken sich schließlich bei unserem Fall mit gen und den Beschwerden der Depression stellt von Rotigotin und Levodopa wird die Medika- zuletzt gut stabilisiertem psychischem Zustand, eine schwierige Aufgabe dar [20] – insbesondere, tion um 0,5 mg Risperidon zur Nacht erweitert, positiv auf die Restless-legs-Symptomatik und die wenn wie in diesem Fall aufgrund der berichte- um die wahnhafte Begleitsymptomatik gänzlich polyneuropathisch bedingten Parästhesien aus. ten Verwirrtheit, differenzialdiagnostisch eine einzudämmen. Demenz von einer sogenannten „depressiogenen Depression Pseudodemenz“ abzugrenzen ist (Tabelle 3) [21]. Verlauf Die Lebenszeitprävalenz für eine Depression, egal Hierbei ist auch zu beachten, dass Patienten, die Der Patient wirkt hierunter im Verlauf deutlich welcher Form, liegt in Deutschland wie interna- an einer Depression leiden, ein doppelt so hohes entlastet, wahnhaftes Erleben oder Suizidalität tional bei 16 bis 20 Prozent [12, 13]. Frauen in Risiko besitzen, im Laufe ihres Lebens an einer lässt sich nicht mehr eruieren, die psychomoto- Deutschland haben mit einer Zwölfmonatsprä- Alzheimer-Demenz zu erkranken [22]. rische Unruhe nimmt ab und der Bewegungs- valenz für eine unipolare Depression von 10,6 drang wird nach eigenen Angaben nicht mehr Prozent ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko Die Depressionsbehandlung hat ein großes Spek- als relevant empfunden. wie Männer [14]. Auch wenn wiederholt diskutiert trum, das von „watchful-waiting“ bis zur Elektro- wird, ob dieses Geschlechterphänomen nicht zum krampf-Therapie reicht. Mit jedem Patienten muss Die medikamentöse Einstellung gestaltet sich hier Beispiel auf einer unzureichenden Diagnosestellung somit individuell ein Therapiekonzept vereinbart aufgrund der Komorbiditäten schwierig. Durch bei Männern oder an einem invalidem Diagno- und dieses regelmäßig reevaluiert und gegebe- die dopaminerge Therapie des Restless-legs- sesystem liegen könnte, kann entsprechend den nenfalls angepasst werden. Bayerisches Ärzteblatt 9/2019 411
Titelthema Notiert » K omorbiditäten erschweren die Depres sionsbehandlung älterer Patienten, wes- wegen vor Medikationsbeginn Interakti- onen, Wechselwirkungen und mögliche Verschlechterungen anderer Erkrankungen mittels Risiko-Nutzen-Abwägung bedacht werden müssen. » E ine Demenz und eine „Pseudodemenz“ las- sen sich oft bereits durch Anamnese und klinische Befunderhebung unterscheiden. Fall 3: Der verwirrte Nachbar Anamnese Ein 64-Jähriger (ledig, alleinlebend, Rentner) wird nach Wohnungsöffnung verwirrt und ver- wahrlost in die Klinik gebracht. Der Betroffe- ne ist desorientiert, situationsverkennend und psychomotorisch unruhig. Eine Eigenanamne- se ist nicht erhebbar, fremdanamnestisch lässt Abbildung 2: Zerebrale Computertomografie nativ, transversale Schichtung. sich eruieren, dass der Betroffene seit mehreren Frontotemporal betonte Atrophie bei 71-jähriger Patientin mit Alzheimer-Demenz. Monaten zunehmend Alltagskompetenz und Ge- dächtnisleistung verloren habe. Diagnostik und Befunde verkennend und kann keinerlei Aufgaben selbst Die Laboruntersuchungen mit Blutbild, Ge- Ein fokal-neurologisches Defizit findet sich in übernehmen. Aufforderungen befolgt er nicht, rinnung, Elektrolyten, TSH basal, Leber- und der körperlichen Untersuchung nicht. Der Betrof- es besteht eine Harn- und Stuhlinkontinenz und Nierenwerten, Blutfetten, HBA1c sowie CRP, fene ist in der Vigilanz schwankend, situations- fremdaggressives Verhalten. Creatinkinase und Troponin I sind normwertig. Ein Infektfokus findet sich nicht. Die Serolo- gie für TPHA, HIV und Hepatitis C ist negativ, für Hepatitis B zeigt sich die Konstellation Symptom Demenz „depressiogene Pseudodemenz“ einer abgelaufenen, ausgeheilten Infektion. Im nativen cCT lässt sich keine akute Affek- Alter höheres Lebensalter jedes Erwachsenenalter tion nachweisen, auffällig ist jedoch eine Beginn schleichender Beginn (Monate bis Jahre) rascher Beginn ausgeprägte symmetrische, fronto-temporal Verlauf langsam und stetig progredient rasch zunehmend, wechselnder betonte Atrophie (Abbildungen 2, 3 und 4). Verlauf Nach notfallmäßiger Lumbalpunktion ist der Arztbesuch fremdmotiviert eigenmotiviert Liquorstatus bei regelrechter Zellzahl ohne wegweisenden Befund. Die Proteine 14 bis 33 Angst gering hoch sind negativ, es findet sich jedoch eine Erhö- Beschwerde- eher selten spontan, schildert die Be- klagsam, schildert detailliert, hung der Tau-Proteine mit einem Alpha-Tau schilderung schwerden ungenau, dissimulierend aggravierend von 784 pg/ml bei einem Referenzbereich von Stimmung wechselnd, leicht umzustimmen (Defi- gleichbleibend depressiv (Defizite < 605 und einem p-Tau-Protein von 92,6 pg/ml zite werden weniger wahrgenommen) werden als schwerer erlebt) bei einem Referenzbereich von < 61 bei gleichzei- Aufmerksam- gestört nur bei schweren Formen der tig erniedrigtem ß-Amyloid-Quotienten (42/40) keit Depression gestört (x10) von 0,49 bei einem Referenzbereich von Körperpflege zunehmend vernachlässigt meist unauffällig > 0,6. Eine Erhöhung der Tau-Proteine (Gesamt- Tau) ist ein Zeichen eines neurodegenerativen Verhalten meist unbesorgt, fordernd meist sehr besorgt, unsicher und Prozesses. Bei der Alzheimer-Demenz kommt es zurückhaltend durch eine fehlerhafte Hyperphosphorilierung Auffassung meist stark gestört meist nicht gestört (p-Tau-Protein, Phospho-Tau-Protein) zur int- Gedächtnis- von Gedächtnisstörungen ist zunächst abgesehen von einer Verlangsa- razellulären Ablagerung der Tau-Proteine und störungen und das aktuelle Geschehen betroffen, spä- mung keine weiteren Störungen somit zum Zelluntergang. Amyloid-Beta 42 und andere kogni- ter kommen weitere Störungen hinzu 40 gelten als neurotoxisch und sind Peptide, tive Störungen die extrazellulär akkumulieren und die senilen Dauer chronisch voranschreitend nur passager Plaques bei der Alzheimer-Erkrankung darstel- Tabelle 3: Unterschiede zwischen Demenz und „depressiogener Pseudodemenz“. len. Durch die Aggregatbildung kommt es bei Modifiziert nach: Maier W., Schulz J.B., Weggen S.: Alzheimer und Demenzen verstehen. der Alzheimer-Demenz zu einer Erniedrigung Diagnose, Behandlung, Alltag, Betreuung. Stuttgart: Trias-Verlag; 2011 der gemessenen Peptide. 412 Bayerisches Ärzteblatt 9/2019
Titelthema Abbildung 3: Zerebrale Computertomografie nativ, sagittale Schichtung. Abbildung 4: Zerebrale Computertomografie nativ, coronare Schichtung. Frontotemporal betonte Atrophie bei 71-jähriger Patientin mit Alzheimer-Demenz. Frontotemporal betonte Atrophie bei 71-jähriger Patientin mit Alzheimer-Demenz. Diagnose Anzeige In Zusammenschau der Befunde ist somit die Diagnose eines Delirs bei Alzheimer-Demenz mit frühem Beginn zu stellen (ICD-10: F05.1; F00.0). Für das Delir typisch ist die akute Verschlech- terung, des sich bis dahin selbst versorgenden Patienten sowie der fluktuierende Verlauf mit Störungen von Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Orientierung. Als wahrscheinlicher Auslöser ist die effiziente Praxis-Software die Exsikkose zu sehen, wobei die vorbestehende demenzielle Erkrankung in unserem Fallbeispiel Data-AL wurde von Ärzten aus der Praxis als entscheidender Risikofaktor zur Entwicklung für die Praxis entwickelt. eines manifesten Delirs zu sehen ist. Die Diagnose einer Alzheimer-Demenz lässt sich insbesonde- Die elektronische Karteikarte ist für den Informationsbedarf des Arztes optimiert. re anhand des klinischen Bildes nach Abklingen des akuten Delirs, der zerebralen Bildgebung, Die einfache und intuitive Bedienbarkeit des Befundes der Neurodegenerationsmarker im macht Spaß und erspart Ihnen viel Zeit. Liquor sowie des fremdanamnestisch berichteten klinischen und zeitlichen Krankheitsverlaufs im Vorfeld stellen. Therapie Wir behandeln strukturierend, sedierend und entaktualisierend mit Risperidon und Loraze- pam. Zunächst müssen nach der Diagnosefindung auslösende Faktoren identifiziert und im Idealfall kausal behandelt werden. Ein Beispiel wäre eine leitliniengerechte antibiotische Behandlung eines Infektes, der Ausgleich eines Flüssigkeitsmangels oder einer Elektrolytentgleisung. Der Patient war initial exsikkiert, sodass umgehend eine intravenö- Ihr Medizintechnikpartner in Bayern se Flüssigkeitssubstitution eingeleitet wurde. Me- 0961 390150 dikamentös rücken in der Behandlung bei älteren Patienten neben dem klassischerweise eingesetz- www.4medic.de ten, auch international in der Literatur immer noch Bayerisches Ärzteblatt 9/2019 413
Titelthema Medikamentös Patienten mit Demenz haben im Anschluss an » Antipsychotika („start low and go slow“) ein Delir ein 33-prozentiges Risiko, langfristig – Haloperidol, Risperidon, Quetiapin, Olanzapin in einer Einrichtung untergebracht werden zu » Benzodiazepine („low dose“) müssen, wobei nur 20 Prozent der Delirpati- keine Substanz erster Wahl enten ohne vordiagnostizierte Demenz hier- – Einsatz vor allem bei Krampfanfällen, Delirien bei Alkohol- oder Sedativentzug von betroffen sind [31]. Das klinische Bild des – bevorzugt Lorazepam (kurze Halbwertszeit, kein aktiver Metabolit) Delirs ist sehr variabel und oft schwierig von Nicht-medikamentös einer Demenz abzugrenzen. Ein wichtiges Un- » Überprüfung der prämorbiden Medikation terscheidungsmerkmal ist der akute Beginn » Kontinuierliche Reevaluation des Delirs, im Vergleich zu dem schleichenden » Stressreduktion Beginn einer demenziellen Entwicklung. Delir » Gabe von Orientierungshilfen (Kalender, Uhr, Fotos der Familie) typisch sind zudem Fluktuationen der Sympto- me, die üblicherweise in Frequenz und Ausmaß Allgemein die Schwankungen bei einer Demenz übertreffen » Korrekte Diagnosefindung [5]. Ein Delir kann sowohl hyper- (fünf Prozent) » Überprüfung der Medikation als auch hypoaktiv (30 Prozent) sein, Misch- » Ursachenidentifikation und Behandlung formen (65 Prozent) werden laut Literatur am Tabelle 4: Therapieansätze bei Verdacht auf ein bestehendes oder sich entwickelndes Delir. häufigsten beobachtet [26, 32]. Notiert » E in Delir ist bei älteren Patienten häufig Risikofaktoren und sollte insbesondere im stationären » Höheres Lebensalter; > 70 Jahre Rahmen bei Zustandsverschlechterung dif- » Demenzielle Entwicklung ferenzialdiagnostisch bedacht werden. » Seh- und/oder Hörminderung » Depression » A ls Erstes sollte nach Diagnosestellung » Alkoholabusus eines Delirs eine Überprüfung der aktuellen » zerebrale (transitorische) Ischämie in der Anamnese Medikation sowie eine Ursachensuche und » vorheriges Delir -behandlung erfolgen. » Komorbidität Auslösende Faktoren » D elirien sind lebensbedrohlich und müssen » Medikamente/Polypharmazie/Substanzentzug als ernstzunehmende, eigenständige Krank- » Operationen/Anästhesie heitsbilder gesehen werden. » Infektionen, Sepsis » Intubation/Hypoxie Das Literaturverzeichnis kann im Internet » Metabolische Entgleisungen (zum Beispiel Elektrolytentgleisung, unter www.bayerisches-aerzteblatt.de Hypo-/Hyperglykämie, Nieren-/Leberversagen) (Aktuelles Heft) abgerufen werden. » Dehydratation » Traumata Die Autoren erklären, dass sie keine finan- » Stress ziellen oder persönlichen Beziehungen zu Tabelle 5: Mögliche Risikofaktoren und Auslöser für ein Delir. Dritten haben, deren Interessen vom Ma- nuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten. als „Goldstandard“ gewerteten, niedrig dosierten remobilisieren. Die führende medikamentöse Be- Haloperidol zum Teil auch atypische Neurolepti- handlung bestand aus Antipsychotika (Risperidon) ka wie unter anderem Risperidon, Quetiapin, und und zu Beginn des Aufenthaltes aus Lorazepam Olanzapin in den Vordergrund. Diskutiert wird bei ausgeprägter Unruhe und Agitation. Der hier eine gleichwertige Wirkung bei günstigerem Patient war zuletzt selbstständig auf Stations- Nebenwirkungsprofil, zum Beispiel weniger das ebene mobil. Psychopathologisch verblieb jedoch extrapyramidalmotorische System (EPMS) betref- eine vollständige Desorientierung, weswegen Autoren fend [24, 25]. Benzodiazepine hingegen sollten die Entlassung in eine beschützte Einrichtung nur im konkreten Bedarfsfall eingesetzt werden erfolgen musste. Dr. Katharina Grobholz (Sedativa-Entzug, Anfälle, Agitation) [23, 24, 25]. Dr. rer. biol. hum. Verena Buschert Ergänzend sollten flankierende Therapieansätze Delir Dr. Alexander Kuss wie zum Beispiel Stressreduktion, Orientierungs- Patienten im höheren Lebensalter sind besonders Privatdozent Dr. Jens Benninghoff hilfen und Einbindung von Angehörigen genutzt gefährdet, ein Delir zu entwickeln [23, 26, 27, 28]. werden (Tabelle 4). Die Prävalenz des Delirs beim älteren, hospitali- Zentrum für Altersmedizin und Entwick- sierten Patienten liegt bei bis zu 50 Prozent [29]. lungsstörungen, kbo-Isar-Amper-Klinikum Verlauf Der Hauptrisikofaktor für ein Delir stellt das München Ost, Vockestraße 72, 85540 Haar Nach langwierigem und schwierigem Behand- primäre Vorhandensein einer demenziellen Er- lungsverlauf gelang es, den Patienten wieder zu krankung dar (Tabelle 5) [26 bis 30]. 414 Bayerisches Ärzteblatt 9/2019
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