Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin
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Ana lyse Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin* von Wolfgang Greiner 1 Abstract Mit dem Begriff der individualisierten Medizin werden The concept of individualized medicine comprises new ap- neuere Ansätze zur Beeinflussung des Krankheitsverlau- proaches to influence the progression of diseases or their fes oder zur Primärprävention bezeichnet, die auf für die prevention. They are based on therapeutic, preventive and individuelle genetische Disposition von Patienten zuge- rehabilitative interventions and have been specifically deve- schnittenen therapeutischen, präventiven und rehabilitati- loped for the patients’ individual genetic disposition. This ar- ven Interventionen beruhen. Diese Entwicklungen bringen ticle discusses challenges from the demand and supply side angebots- und nachfrageseitige Herausforderungen sowohl of the health care sector and its future financing with regard für die Gesundheitswirtschaft als auch für die Gesundheits- to this development. Individualized medicine will probably versorgung und deren zukünftige Finanzierung mit sich. lead to higher overall health care costs which will only be Individualisierte Medizin wird tendenziell zu höheren Ge- accepted if there is evidence on a gain in benefit. Therefore, samtkosten auf Systemebene führen, was nur unter der general conclusions about total costs or reimbursement of Voraussetzung eines entsprechend nachweisbaren Nutz- individualized medicine must be assessed in each individual engewinns akzeptiert werden wird. Generalisierende Aus- case for their cost and benefit effects. sagen zu den Gesamtkosten und der Erstattungsfähigkeit von Leistungen der individualisierten Medizin sind für jeden Einzelfall auf ihre Kosten- und Nutzeneffekte hin zu beurteilen. Schlüsselwörter: Individualisierte Medizin, Keywords: Individualized medicine, primary prevention, Primärprävention, genetische Disposition, Finanzierung, genetic disposition, financing, reimbursement of services Erstattung von Leistungen 1 Ziele und Potenziale unterschiedlich ansprechen. Während eine Therapiemaß- nahme sich bei dem einen Patienten als wirksam erweist, individualisierter Medizin erzielt sie bei einem anderen Patienten nicht die gewünschte Wirkung oder sogar unerwünschte Nebenwirkungen (Schils- Die Entstehung und der Verlauf chronischer Krankheiten ky 2010, S. 363). Gegenwärtige Behandlungsstandards ba- wird durch ein Zusammenwirken von verschiedenen – zum sieren dabei auf dem Axiom verschiedener Evidenzstufen, Teil noch nicht vollständig bekannten – Faktoren wie zum die im Wesentlichen durch klinische und epidemiologische Beispiel Umwelteinflüssen, Lebensführung, genetische Dis- Studien generiert werden. Randomisiert-kontrollierte Stu- position sowie Faktoren, die in Zusammenhang mit dem dien (Randomized controlled trials, RCT) liefern die höchs- sozioökonomischen Status stehen, bestimmt. Die individu- te Evidenz und die beste Annäherung an die Wirkung des alisierte Medizin beruht im Kern auf der Beobachtung, dass zu untersuchenden Arzneimittels bei Anwendung in der Patienten mit identischer Diagnose auf dieselbe Therapie durchschnittlichen Bevölkerung. Die konkrete Übertragung 1 Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, Fakultät f. Gesundheitswissenschaften, Gesundheitsökonomie u. Gesundheitsmanagement (AG5) Postfach 10 01 31 · 33501 Bielefeld · Telefon: 0521 106 6989 · Telefax: 0521 106 8054 · E-Mail: wolfgang.greiner@uni-bielefeld.de * Gekürzte und aktualisierte Fassung des Beitrages Greiner W, Knittel M: Wirtschaftliche Potentiale individualisierter Medizin, PharmacoEconomics – German Research Articles, 9(1):45–54, August 29, 2011. 20 © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26
Ana lys e von Erkenntnissen auf ein spezifisches Individuum ist Andere Konzepte erreichen das Prinzip der Individua dennoch immer mit Unsicherheiten verbunden. Erst wäh- lisierung, indem über eine bisherige Unterteilung der Pa- rend einer Therapie stellt sich heraus, ob eine gewünschte tientenpopulation in klinisch relevante Untergruppen Wirkung im konkreten Einzelfall eintritt. Neu entwickelte hinausgegangen wird und zum Beispiel eine weitere Stra- Technologien, etwa die Genotypisierung von Mutationen tifizierung nach Gruppen mit erhöhtem Erkrankungsrisiko und Metaboliten, bieten die Möglichkeit einer auf das In- oder Personen mit besonders gutem Ansprechen auf eine dividuum maßgeschneiderten medizinischen Versorgung: bestimmte Therapie erfolgt. Der „One size fits all“-Ansatz „These approaches have the potential to fulfill the promise wird durch die „biomarkerbasierte Stratifizierung“ mithilfe of delivering the right dose for the right indication to the der molekularen Diagnostik ersetzt. Dabei ist zu beachten, right patient at the right time“ (Gonzalez-Angulo et al. 2010, dass Diagnosen, Risikospezifizierungen und Interventionen S.1). Individualisierte Medizin wird in diesem Sinne als ein umso zielgenauer auf ein Individuum zugeschnitten wer- Modell verstanden, in dem nicht eine Indikation, sondern den können, je spezifischer Kriterien zur Gruppeneinteilung der Patient und dessen genetische Risikofaktoren, die das bekannt sind und vorab festgelegt werden können. Diese Auftreten spezifischer Krankheiten begünstigen, im Vorder- Gruppeneinteilung erfolgt durch Biomarker, die aus der Ge- grund stehen (Yeatman et al. 2008, S.1). Individualisierte nomforschung hervorgegangen sind. Per Definition können Medizin ist somit eine neuartige Strategie, zukünftig zum alle genombasierten Verfahren zur Erfassung der geneti- Beispiel durch Nutzung von biomarkerbasierten prädiktiv- schen Ausstattung, die einzigartig und unverwechselbar ist, probabilistischen Gesundheitsinformationen gezieltere und als individualisierte Medizin aufgefasst werden (Hüsing et damit wirksamere Medikamente zu entwickeln, aber auch al. 2008, S.7 ff.). aktuelle Medikamente sicherer zu machen. Biomarker sind biologische Stoffe oder genetische Merkmale, deren Vor- Für die Kostenträger in Deutschland, also in erster Linie handensein positiv mit einer Prognose von Krankheiten die Krankenkassen, könnten sich Vorteile der individuali- bei der Behandlung mit hierfür spezifischen Arzneimitteln sierten Medizin durch eine Erhöhung der Kosteneffektivität korrelliert. ergeben. So könnte die Wirksamkeit durch die stärkere Ziel- gruppenspezifität ansteigen, und Kosten, die bei der Behand- Dabei greift individualisierte Medizin nicht nur auf eine lung von auftretenden Nebenwirkungen anfallen, durch die spezifische Technologie zurück, sondern umfasst vielmehr neuen Therapieverfahren gesenkt werden. Allerdings ist der- eine Gruppe von Technologien der Molekulargenetik, die das zeit noch nicht fundiert zu beurteilen, ob diese erwünschten Ziel verfolgen, Krankheiten zu diagnostizieren, zu behandeln ökonomischen Effekte tatsächlich und umfassend realisiert oder deren Verlauf vorherzusagen (Meckley und Neumann werden können. Auch ist derzeit nicht zu beurteilen, ob sich 2010, S.91). Individualisierte Medizin lässt sich vor diesem die individualisierte Medizin umfassend oder in einzelnen Hintergrund in vier verschiedene Bereiche einteilen: Indikationsgruppen, etwa der Onkologie, etabliert und über biomarkerbasierte Stratifizierung (Gruppenbildung), welchen Zeitraum sich eine derartige Entwicklung hinzie- Ermittlung individueller Erkrankungsrisiken hen wird. Im nachfolgenden Abschnitt sollen daher wichtige (insbesondere genombasiert), Einflussgrößen auf die mit der individualisierten Medizin differenzielle Interventionsangebote, verbundenen ökonomischen Herausforderungen detaillierter therapeutische Unikate. diskutiert werden. Bei biomarkerbasierten Behandlungsstrategien wäre der Begriff „stratifizierte Medizin “ eigentlich zutreffender als der Begriff „individualisierte Medizin“, da es sich nicht um 2 Ökonomische Herausforderungen Einzelpersonen, sondern um Gruppen handelt, deren Grup- individualisierter Medizin penmitglieder einen hohen risikobezogenen genetischen Ähnlichkeitsgrad untereinander aufweisen. In der Medizin- Individualisierte Medizin bringt neue Herausforderungen statistik werden als Strata („Schichten“) Patientengruppen sowohl für die Gesundheitswirtschaft als auch für die Ge- bezeichnet, die einzelne Patienten zusammenfasst, die bezo- sundheitsversorgung und deren zukünftige Finanzierung gen auf jeweilige Risikofaktoren, eine ähnliche individuelle mit sich. Während im letzten Jahrzehnt aktiv im Bereich Prognose bei einer Behandlung aufweisen. Im engeren Sin- individualisierter Medizintechnologien geforscht wurde, ist ne meint der Terminus, dass stratifizierte Personengruppen deren Anwendung in der klinischen Praxis derzeit noch von entsprechend ihrer gemeinsamen genetischen Merkmale nachgeordneter Bedeutung. Allerdings ist zu erwarten, dass bestmöglich behandelt werden (Pfundner 2009, S.181). In der zukünftig eine steigende Verfügbarkeit individualisierter Literatur werden die Begriffe „individualisierte Medizin“ (in- Behandlungsstrategien sowohl die Angebots- als auch die dividualized medicine) und „personalisierte Medizin“ (perso- Nachfrageseite des Gesundheitsmarktes verändern und neue nalized medicine) synonym verwendet. Anforderungen an die Beteiligten stellen wird. © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26 21
Ana lyse 2.1 Angebotsseitige Herausforderungen Forschungs- und Entwicklungskosten bei insgesamt weniger Zulassungen neuer Medikamente. In der Gesundheitswirtschaft spielt individualisierte Medizin insbesondere für die pharmazeutische Industrie, aber auch Die zukünftige Herausforderung ist neben der Entwick- für Diagnostik- und Biotechnologieunternehmen eine große lung innovativer Arzneistoffe auch die Identifizierung Rolle. Die pharmazeutische Industrie verfolgte bislang in der entsprechender Biomarker, die zusammen in den Markt Regel ein Geschäftsmodell, das auf der Annahme beruht, dass eingeführt werden sollen. Zum einen können Biomarker Patienten mit einer ähnlichen, häufig vergleichsweise wenig die Aufgabe übernehmen, Ansatzpunkte (Targets) für Arz- differenzierten, Diagnose auf identische Arzneimittel gleich neimittel zu identifizieren und die Entwicklung von po- ansprechen. Diese populationsbasierten Therapieansätze tenziellen Medikamenten zu optimieren. Ein weiteres An- konzentrieren sich somit oftmals auf große Zielgruppen. Al- wendungsgebiet von Biomarkern kann die Bestimmung lerdings kommt die pharmazeutische Forschungstätigkeit of- oder Auswahl von Patientengruppen für klinische Studien fenbar an Grenzen, da bei einem großen Teil der sogenannten im Sinne einer Stratifizierung sein (Blair 2009, S. 27 ff.). Volkskrankheiten bereits wirksame, oftmals jedoch lediglich Eine Möglichkeit, Arzneimitteleinsatz und Diagnostik zu palliative und daher keineswegs perfekte Behandlungsoptio- verbinden, wären Kooperationsmodelle wie beispielsweise nen vorliegen. Für neue Arzneimittel wird es in dieser Situa- Fusionen, die Bildung von Allianzen bei Forschung und Ent- tion immer schwieriger noch einen signifikanten Zusatznut- wicklung mit anderen Unternehmen oder die Beteiligung an zen evidenzbasiert darstellen zu können. Abbildung 1 zeigt einem Biotechnologieunternehmen. Diese Arten von Koope- die aktuelle Entwicklung der Pharmaindustrie von 1992 bis rationen im Sinne von „economies of scope“ (Synergieeffek- 2005. Die Grafik verdeutlicht den tendenziellen Anstieg von te, die sich Unternehmungen im Rahmen von Gemeinkosten Abbi l du n g 1 Medikamenteneuzulassungen und Forschungsausgaben der Pharmaindustrie von 1992 bis 2005 55 40 Ausgaben der Pharmaindustrie für Forschung und Entwicklung 50 35 45 Quelle: Eigene Darstellung, Daten aus PhRMA 2010 S. 29 ff.; Grafik: G+G Wissenschaft 2011 30 40 Anzahl neuer Zulassungen Ausgaben in Mrd. USD 35 Pharma- 25 innovations- 30 lücke 20 25 20 15 15 10 10 Zulassungen neuer Medikamente 5 5 0 0 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Jahr 22 © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26
Ana lys e durch ein ausgewogenes Produktspektrum zunutze machen Für das ärztliche und pflegerische Personal ergibt sich bei ei- können) stärken nicht nur das Produkt- und Forschungsport- ner zunehmenden Individualisierung der Medizin ebenfalls folio der jeweils beteiligten Unternehmen, sondern ermög die Notwendigkeit einer immer stärkeren Spezialisierung lichen gleichzeitig eine Kostendegression und die Verteilung und damit permanenter Weiterbildung, da die individuali- des wirtschaftlichen Risikos (Schreyögg und Stargardt 2010, sierte Medizin Kenntnisse in den Gebieten der Genetik, der S. 130). molekularen Medizin und den eingesetzten Testverfahren erfordert. Des Weiteren sind Kenntnisse zur Identifizierung Individualisierte Medizin birgt aber nicht nur Potenziale von Zielgruppen für biomarkerbasierte Tests und Diagnose- für pharmazeutische Hersteller, sondern auch Hürden. Die verfahren notwendig sowie Kenntnisse zur Durchführung auf dem Pharmamarkt bislang etablierten „Blockbuster“- und Auswertung der Tests. Letztlich müssen die Ergebnisse Medikamente, die das Ziel verfolgen, eine große Population der Messung im Hinblick auf die medizinische Fragestellung zu versorgen, können zukünftig durch Arzneimittel, die auf und Auswahl einer geeigneten Intervention interpretiert wer- dem Prinzip der individualisierten Medizin beruhen, abge- den können. löst werden. Ein Nachteil aus Sicht der Hersteller ist daher, dass Medikamente auf immer kleinere und weniger attrak- Eine mögliche vermehrte Nutzung von individualisierter tive Märkte treffen. Da die Entwicklungskosten eines Arz- Medizin wird zu Veränderungen in den Bereichen Personal, neimittels zu großen Teilen unabhängig von der Größe der Struktur, Ablauf und Organisation der Leistungserbringung, entsprechenden Patientenpopulation ist, müssen diese fixen in der Kostenübernahme, bei der Patientennachfrage und Bestandteile der Investitionen auf eine kleinere Anzahl von dem -verhalten und im Bereich der präventiven Ausrichtung späteren Nutzern umgelegt werden als bei dem bisherigen der Gesundheitsversorgung beitragen. Das betrifft insbeson- Geschäftsmodell einer breiten Anwendung von Medikamen- dere den Zugang zu den immer spezialisierteren Leistungsan- ten über vollständige Krankheitsgebiete. Zunehmend werden bietern, der notwendigerweise mit im Durchschnitt längeren zudem „economies of scale“ (Größenvorteile durch geringere Anfahrtswegen und komplexeren Behandlungsvorschlägen Durchschnittskosten) in der Produktion von Arzneimitteln verbunden sein wird. Dies kann insbesondere für bildungs- bedeutsam werden, da insbesondere bei biologischen Herstel- fernere Schichten eine höhere Zugangshürde darstellen als lungsprozessen teilweise sehr spezielle Fertigungsanlagen für Patienten mit aufgeklärterem Informationsverhalten benötigt werden, die die Fixkosten über die Abschreibung und höherer Durchsetzungskraft für eigene Behandlungsin- der Entwicklungsaufwendungen hinaus erhöhen. Auch dies teressen. Es besteht somit im Hinblick auf individualisierte hat auf individualisierte medizinische Leistungen einen eher Medizin ein steigender Bedarf für eine unabhängige Patien- preiserhöhenden Effekt. tenberatung, die vertrauenswürdige Beratungsinstitutionen erfordert. Das könnten sowohl Angebote der Kommunen Die aktuelle Marktsituation im Bereich der individua- sein, aber auch spezielle Stabsstellen in den Krankenkassen lisierten Therapieansätze zeigt aber, dass im Vergleich zu oder zertifizierte Informationsangebote im Internet (wie zum konventionellen Behandlungen trotz kleinerer Populationen Beispiel das Patientenportal des IQWiG oder die medizini- durchaus attraktive Umsätze erzielt werden können, soweit schen Informationen der Stiftung Warentest). die aufgrund der oben genannten Ursachen vergleichsweise hohen Preise am Markt durchgesetzt werden können (Hü- 2.2 Herausforderungen einer zukünftigen sing et al. 2008, S. 265–266). Individualisierte Therapeutika erfüllen damit potenziell das Kriterium eines umsatzstarken Finanzierung Nischenproduktes und können auch als „Niche-Buster“ be- Innovative Formen individualisierter Medizin haben sowohl zeichnet werden. Entscheidend für den kommerziellen Erfolg substitutive wie komplementäre Effekte auf den bestehenden ist offensichtlich, dass der Nachteil einer kleineren Patienten- Leistungskatalog, da es sowohl Patientengruppen gibt, für die gruppe durch höhere Effektivität und damit auch einem hö- auch heute schon ein Behandlungsangebot vorhanden ist (die heren Preis wett gemacht werden kann. Parallel dazu könnte aber die Chance auf eine zielgenauere und damit effektivere der „Durchdringungsgrad“ innerhalb einer kleinen Popula- Therapie haben), als auch Patienten, denen herkömmliche tion vergrößert werden und andere Patientenpopulationen Verfahren bisher nicht helfen konnten. Ob es jeweils ins- erschlossen werden, die zwar Träger des jeweiligen Biomar- gesamt zu Kostensteigerungen für das Gesundheitssystem kers sind, die aber mit Hilfe der herkömmlichen Diagnostik kommt, hängt insbesondere davon ab, inwiefern eine effek- bislang nicht erkannt werden konnten, da sie subklinisch tivere Therapie die Wahrscheinlichkeit des Auftretens oder sind. Eine verbesserte Wirkung beziehungsweise deren Beob- die Intensität unerwünschter Krankheitsereignisse mindert achtbarkeit kann sich zudem positiv auf die Compliance und und die Lebenszeit (beziehungsweise bei chronischen Krank- damit auf den Absatz des Produktes auswirken. Abbildung 2 heiten auch die Erkrankungszeit) verlängert. Insofern ist also zeigt die Potenziale zielgerichteter Therapien im Vergleich zu für jede einzelne Leistung zu ermitteln, welche Nettobudget- populationsbasierten Therapieansätzen effekte von ihr ausgehen. © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26 23
Ana lyse abbil d un g 2 Abwanderung von Block-Buster-Behandlungen zu hochwertigen zielgerichteten Therapien Großes Marktvolumen niedrig und niedriger Preis Quelle: EIgene Darstellung in Anlehnung an Blair 2009, S. 28; Grafik: G+G Wissenschaft 2011 Block-Buster „One-drug-fits- Kleines Marktvolumen all-Prinzip“ und hoher Preis Arzneimittelpreis Geringe Wirksamkeit (20 % – 80 %) und Segment-Buster moderat hohes Neben- Selektion eines wirkungsrisiko P atientenkollektivs durch diagnostisches Niche-Buster Screening garantiert Therapie individuell höhere Wirksamkeit auf einen Patienten abgestimmt; höchste Wirksamkeit hoch alle selektiert zielgerichtet Zahl der behandelten Patienten Allerdings ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Maß- auf Systemebene führen wird, dies aber aufgrund der Regu- nahmen eher zu Mehrkosten führt, was sowohl auf die grö- lierung nur unter der Voraussetzung entsprechend nachweis- ßere Anzahl behandelbarer Patienten als auch auf den Preis- baren Nutzengewinns akzeptiert werden wird. Daher sind effekt zurückzuführen ist, der sich aus von der Absatzmenge generalisierende Aussagen weder für die Gesamtkosten noch weitgehend unabhängigen Forschungs- und Entwicklungs- für die Erstattungsfähigkeit von Leistungen der individua- aufwendungen ergibt. Die daraus erwachsenen Finanzie- lisierten Medizin möglich, sondern diese sind in jedem Ein- rungserfordernisse stellen eine große Herausforderung für zelfall auf ihre Kosten- und Nutzeneffekte hin zu beurteilen. alle Gesundheitssysteme von Industrieländern dar, zumal die demografische Entwicklung auch außerhalb der Anwen- dungsbereiche der individualisierten Medizin tendenziell zu steigenden Kosten führen wird. Diese Steigerungen sind nur 3 Preis- und Erstattungsregulierungen dann akzeptabel, wenn ihnen ein entsprechender gesundheit- licher Mehrwert gegenüber steht. Dementsprechend ist davon Neben der Beurteilung, inwieweit die individualisierte Me- auszugehen, dass die Kostenträger bei individualisierter Me- dizin Innovationen im Sinne eines nachhaltigen Nutzen- dizin wie bei anderen innovativen Leistungen zukünftig stär- gewinns für die Patienten hervorbringt, ist auch die Frage ker auf einen entsprechenden Nachweis höherer Wirksamkeit der Erstattungs- und Preisregulierung neuer medizinischer bestehen werden und daher die Institutionen, die über die Leistungen eine Herausforderung. Wie bei allen neuen me- Erstattungsfähigkeit von Gesundheitsleistungen entscheiden dizinischen Technologien, sollte der medizinische Gegenwert (in Deutschland zum Beispiel der Gemeinsame Bundesaus- von Investitionen in medizinische Technologien (value for schuss), entsprechend fundierte Studien fordern werden. money) beurteilt werden. Es erfolgt eine Bewertung der in- krementellen Kosteneffektivität, indem der medizinische Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass individu- Zusatznutzen in Relation zu den Zusatzkosten gestellt wird. alisierte Medizin zwar tendenziell zu höheren Gesamtkosten Die Kosteneffektivität eines Arzneimittels wird zukünftig bei 24 © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26
Ana lys e Regulierungsentscheidungen stärker berücksichtigt werden teten europäischen Preis referenziert. Allerdings ist abgese- und hat sowohl Einfluss auf die Erstattungsfähigkeit als auch hen von diesen regulatorischen Defiziten derzeit auch ein auf die Preisbildung. Nicht kosteneffektive Arzneimittel wür- gesellschaftlicher Konsenz zu rationalen Erstattungsentschei- den hinsichtlich der Erstattungsentscheidung aus dem Leis- dungen auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Berechnun- tungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gen nicht in Sicht. Nachweislich wirksame individualisierte ausgeschlossen. Kosteneffektive Arzneimittel können hinge- Gesundheitsleistungen mit schlechter Kosten-Effektivitäts- gen im Rahmen der Preisregulierung zum Beispiel mittels Relation könnten deshalb zwar grundsätzlich auch durch Preisverhandlungen zwischen Krankenversicherungen und Zusatzversicherungen abgesichert werden, entsprechende Herstellern Berücksichtigung finden (Kulp und Schulenburg offene Rationierungsentscheidungen sind derzeit aber in 2008, S.429 ff.). Deutschland auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Verdeckte Rationierungen (zum Beispiel aufgrund von Arzneimittelkos- In Deutschland unterliegt die Aufnahme von Innovatio- tenbudgetierung) sind dagegen gerade bei vergleichsweise nen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen teuren Therapien wahrscheinlich. derzeit noch nicht einer formalen Bewertung im Rahmen eines vollständigen „Health Technology Assessment“ (HTA). Würde ausschließlich das Kriterium der Patientengrup- Health Technology Assessment (HTA) ist eine systematische pengröße ausschlaggebend für eine Prioritätensetzung sein, und transparente Bewertungsmethodik von medizinischen erzeugte dies aus gesellschaftlicher Sicht Fehlanreize für Verfahren und Technologien unter medizinischen, ökonomi- pharmazeutische Unternehmen zu einer sogenannten „Or- schen, juristischen, sozialen und ethischen Aspekten. Ziel des phanisierung“ ihres Produktprogramms. Gemeint ist damit Verfahrens ist die Unterstützung von Entscheidungsprozes- ein vornehmlich nicht medizinisch motivierter Trend zur sen (Greiner 2008, S. 449). Allerdings gelten insbesondere für Zulassung von Medikamenten für immer kleinere Patien- Arzneimittel mit dem Inkrafttreten des Arzneimittelmarkt- tengruppen, die im Wesentlichen aus Gründen erleichterter Neuordungsgesetzes (AMNOG) seit 2011 strengere Vorgaben Erstattungsregelungen so limitiert werden. Dies würde zu für die Ermittlung des patientenrelevanten Zusatznutzens einem nicht optimalen Einsatz knapper Ressourcen für Me- gegenüber einer zweckmäßigen Vergleichstherapie. Dieser dikamente mit begrenztem therapeutischen Wert auf Kosten Zusatznutzen ist die Basis für Preisverhandlungen mit dem von anderen medizinischen Leistungen mit höherer Kosten- GKV-Spitzenverband. Kosten-Nutzen-Analysen werden dage- effektivität führen, die aber nicht die Förderung für kleine gen vorerst die Ausnahme bleiben. Patientengruppen genießen. Methodisch kann die Frage diskutiert werden, ob vor dem Hintergrund der kleineren Patientengruppen eventuell neue Bewertungsmethoden und Studiendesigns notwendig sind. 4 Fazit und Ausblick Zudem könnten ähnlich wie bei Arzneimitteln für seltene Erkrankungen (sogenannte „Orphan Drugs“) Kriterien einer Die wirtschaftliche Bedeutung der individuellen Medizin angemessenen Bewertung von Kosten und Nutzen einer In- hängt in erster Linie davon ab, ob aus der Ausnahme die Regel tervention der individualisierten Medizin entwickelt werden. wird und die weitere Forschung eine Individualisierung der Patientenbezogene Kriterien, die in der Prioritätensetzung Therapien in weiten Bereichen der Medizin ermöglicht. Ob- Berücksichtigung finden könnten, sind insbesondere der wohl dies aus heutiger Sicht wahrscheinlich erscheint, können Schweregrad der Krankheit, die Patientengruppengröße und zukünftige Erfolge dieser Forschungsrichtung naturgemäß die Verfügbarkeit alternativer therapeutischer Maßnahmen. nicht als sicher vorausgesetzt werden. Allerdings wird allein Der Schweregrad einer Erkrankung ist oftmals das erste Kri- schon der regulatorische Druck größer werden, eine gegenüber terium, das bei der Prioritätensetzung eine Rolle spielt. bestehenden Therapieoptionen überlegene Wirksamkeit vor der Erstattung nachzuweisen, was wiederum bei medizinisch Fragen einer möglichen Zusatzversicherung (sogenannte abgrenzbaren Subgruppen eher erreichbar werden könnte als „Mezzanine-Märkte“) (Dierks et al. 2010) für Leistungen, die bei sehr breit definierten Indikationen. Die individualisierte zwar wirksam sind, aber aufgrund schlechter Kosteneffekti- Medizin hat also sowohl das Potenzial, die Effektivität zu- vität keinen Platz im Basis-Leistungskatalog der GKV finden, künftiger Innovationen zu heben (Siegmund-Schultze 2011, S. stellen sich derzeit noch nicht, weil mit dem AMNOG das A1904), als auch gleichzeitig zu höheren Ausgaben zu führen. Kriterium der Kosteneffektivität nur noch eine sehr indirekte Wie dargestellt, werden Leistungen der individualisierten Me- Bedeutung für die Erstattungspreise in Deutschland hat. Es dizin daher in besonderer Weise von den zukünftig erhöhten ist aber langfristig kaum denkbar, dass es bei dieser Regelung Anforderungen an wissenschaftlich tragfähige Studien betrof- bleibt, denn das würde bedeuten, dass der deutsche Arznei- fen sein, und sie werden auf der Angebots- und Nachfrageseite mittelmarkt (nach Ermittlung des Zusatznutzens) auf Dauer des Gesundheitsmarktes darüber hinaus verschiedene weitere bei der Preisfindung im Wesentlichen nur auf den gewich- Anforderungen aufweisen. Diese gehen im Wesentlichen auf © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26 25
Ana lyse die höhere Komplexität zukünftiger Behandlungsmuster und Hüsing B, Hartig J, Bührlen B et al. (Hrsg.) (2008): Individualisierte der damit einhergehenden Spezialisierung der Leistungsan- Medizin und Gesundheitssystem – Zukunftsreport. Berlin: Büro für bieter zurück. Eine entsprechende Zentrenbildung kann zu Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) einer höheren medizinischen Expertise führen, aber auch mit Kulp W, Schulenburg JM Graf v. d. (2008): Institutionen der Vierten einer eingeschränkteren Erreichbarkeit und mit wesentlich Hürde. In: Schöffski O, Schulenburg JM Graf v. d. (Hrsg.). Gesund- höheren Aufklärungsnotwendigkeiten und Abwägen zwi- heitsökonomische Evaluationen. 3. Auflage. Berlin, Heidelberg: schen verschiedenen Therapiealterativen unter Unsicherheit Springer, 429–446 über das zu erwartende Ergebnis verbunden sein. Meckley LM, Neumann PJ (2010): Personalized medicine: Factors influencing reimbursement. Health Policy (94), 91–100 Die entsprechende Vielfalt ist eine gute Voraussetzung für Pfundner H (2009): Personalisierte Medizin als Innovationsstrate- einen neu entfachten oder zumindest intensivierten Wett- gie der forschenden Pharmaindustrie für eine gesteigerte Effizienz bewerb um die im Einzelfall beste medizinische Lösung. Zu in der Behandlung von Krankheiten. Rebscher H, Kaufmann S einem in diesem Sinne funktionierenden Wettbewerb gehört (Hrsg.). Gesundheitssysteme im Wandel. Heidelberg, Hamburg: allerdings auch eine hinreichende Informationsbasis auf bei- Economica, 169–191 den Marktseiten sowie eine ausreichende Risikobereitschaft, PhRMA (Pharmaceutical Research and Manufacturers of Ame- bisherige Behandlungsmuster ständig zu überprüfen und rica) (2010): Innovative Pharmaindustrie als Chance für den neben der notwendigen Forschung über neue Wirkprinzi- Wirtschaftsstandort Deutschland – Eine Studie im Auftrag von pien und Biomarker auch den organisatorischen Aufbau im PhRMA, dem Branchenverband der forschenden Pharmaindustrie Gesundheitssystem den neuen Gegebenheiten anzupassen. in den USA, und der deutschen LAWG (Local American Working Group); www.vfa.de/de/download-manager/_atkearney-deutsch. pdf [9.9.2010] Literatur Schreyögg J, Stargardt T (2010): Leistungsmanagement in der Arzneimittelindustrie. In: Busse R, Schreyögg J, Tiemann O (Hrsg.). Blair E (2009): Predictive Tests and personalised medicine. Drug Management im Gesundheitswesen. 2. Auflage. Berlin: Springer, Discovery World, Jg. X, Heft X, 27–31 ((Bitte ergänzen)) 123–141 Dierks C, Felder S, Wasem J (2010): Mezzanine-Märkte in der Schilsky R (2010): Personalised medicine in oncology: the future is Krankenversicherung – Ein Zugang zu innovativen Gesundheitsleis- now. Nat Rev Drug Discov, Vol. 9, 363–367 tungen. Baden-Baden: Nomos Siegmund-Schultze N (2011): Personalisierte Medizin in der Gonzalez-Angulo AM, Hennessy BT, Mills GB (2010): Future of Onkologie – Fortschritt oder falsches Versprechen? Deutsches personalized medicine in oncology: a systems biology approach. Ärzteblatt, Jg. 108, Heft 37, A1904–A1909 Journal of Clinical Oncology, Jg. ? 16, 2777–2783 ((Jahrgang oder Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. (VFA) (20XX): Heft?)) Forschung für das Leben. Entwicklungsprojekte für innovative Greiner W (2008): Health Technology Assessment (HTA). In: Arzneimittel ((welches Erscheinungsjahr?)) Schöffski O, Schulenburg JM Graf v. d. (Hrsg.). Gesundheitsöko- Yeatman TJ, Mule J, Dalton WS et al. (2008): On the Eve of Perso- nomische Evaluationen. 3. Auflage. Berlin, Heidelberg: Springer, nalized Medicine in Oncology, Jg. ? 18, 7250–7252 ((Jahrgang 447–469 oder Heft?)) De r Auto r Prof. Dr. rer. pol. Wolfgang Greiner, der DAK sowie dem Aufsichtsrat und Präsidialausschuss der Foto: Universität Bielefeld Jahrgang 1965, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Klinikum Region Hannover GmbH an. Von Mai 2007 bis März Universität Hannover. Seit April 2005 Inhaber des Lehrstuhls 2008 im wissenschaftlichen Beirat für die Neugestaltung des für „Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement“ Risikostrukturausgleichs in der gesetzlichen Krankenversiche- an der Universität Bielefeld. 1999 wurde er in das Board rung. Seit Mitte 2010 Mitglied des Sachverständigenrats zur der EuroQol-Foundation in Rotterdam gewählt. Er gehört den Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen beim wissenschaftlichen Beiräten der Techniker Krankenkasse und Bundesgesundheitsministerium. 26 © GGW 2012 · Greiner: Wirtschaftliche Potenziale individualisierter Medizin · Jg. 12, Heft 1 (Januar): 20–26
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