Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen - RKI
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Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen KAPITEL 8
▶▶ 35 % der Frauen ist seit dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt widerfah- ren; diese ging überwiegend von Partnern oder Ex-Partnern aus. ▶▶ Die Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in Deutschland liegt im europäischen Durchschnitt; sie scheint sich in den letzten zehn Jahren kaum verändert zu haben. ▶▶ Gewaltbetroffenheit bei Frauen ist unabhängig vom sozialen Status; besonders gefährdet sind Frauen in Trennungssituationen, Frauen mit früheren Gewalterfahrungen und Frauen, die in erhöhtem Maße gesellschaftliche Diskriminie- rungen erfahren. ▶▶ Gewalt kann schwerwiegende Folgen für die körperliche und psychische Gesundheit und die psychosoziale Situation von Frauen haben. ▶▶ Viele betroffene Frauen kommen aus unterschied- lichen Gründen beim bestehenden Hilfesystem nicht an; medizinischem Personal kommt eine wichtige Rolle bei der Aufdeckung der Gewalt- betroffenheit und der Vermittlung von Hilfs angeboten zu.
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen | Kapitel 8 309 8 Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen 8.1 Gewalt und Frauengesundheit Sexualisierte und geschlechtsbezogene Formen von Gewalt gegen Frauen gehen weit überwie- Infobox 8.1.1 gend von Männern im Kontext von Partnergewalt Formen von personaler Gewalt gegen Frauen aus. Sie stellen nicht nur ein erhebliches soziales und ein Gesundheitsproblem dar, sondern werden Körperliche Gewalt umfasst Misshandlungen und körperliche Übergriffe jeder Art, z. B. Schla- international auch als Menschenrechtsverletzun- gen, Stoßen, Würgen, Treten, Verprügeln und gen gefasst und im Zusammenhang mit struktu- Waffengewalt. reller Gewalt, Diskriminierung von Frauen und ungleichen Machtverteilungen im Geschlechter- Sexuelle (oder sexualisierte) Gewalt* umfasst alle unerwünschten oder erzwungenen sexuellen verhältnis gesehen [1, 2]. Die Weltgesundheitsor- Handlungen und reicht von unerwünschten inti- ganisation (WHO) bezeichnet Gewalt als zentrales men Berührungen über Nötigung zu sexuellen Risiko für die Gesundheit von Frauen und Kindern Handlungen bis hin zur Vergewaltigung. [3, 4]. Sie definiert Gewalt auf allgemeiner Ebene Sexuelle Belästigung umfasst alle von der betrof- als „absichtliche(n) Gebrauch von angedrohtem fenen Person als sexuell belästigend empfunde- oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder phy- nen Handlungen. Sie reicht von Anstarren und sischer Macht gegen die eigene oder eine andere Nachpfeifen über unerwünschte sexualisierte Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der Bemerkungen und Berührungen sowie Belästi- entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlich- gungen per Telefon oder Internet bis hin zu ver- keit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, schiedenen Formen von Bedrängen und Über- Fehlentwicklung oder Deprivation führt“ [3, S. 5]. schreiten der Intimgrenzen einer Person, z. B. Zahlreiche nationale und internationale Studien auch im Kontext der Arbeit. Der Übergang zu verweisen auf die hohe Verbreitung von Gewalt sexueller Gewalt kann fließend sein. gegen Frauen und die mit ihr verbundenen erheb- Psychische Gewalt beschreibt ein breites Spek lichen kurz-, mittel- und langfristigen gesundheit- trum psychisch beeinträchtigender oder verlet- lichen und psychosozialen Folgen [3]. zender Handlungen, etwa Einschüchterungen, Relevant im Kontext personaler Gewalt gegen Anschreien, Beschimpfungen und Demütigun- Frauen sind sowohl Formen körperlicher und sexu- gen, Drohungen, Psychoterror, systematische Kontrolle, Isolierung und extreme Eifersucht. In eller Gewalt als auch sexuelle Belästigung, psychi- Paarbeziehungen ist sie oft in ein Muster von sche und ökonomische Gewalt sowie Stalking, wel- Handlungen eingebettet, das auf die Unterord- che häufig durch Partner oder Ex-Partner im Kon- nung und Kontrolle der Partnerin abzielt und tritt text häuslicher Gewalt verübt werden (siehe Infobox häufig in Kombination mit körperlicher und/ 8.1.1). Häufig treten unterschiedliche Formen von oder sexueller Gewalt auf. Gewalt in Kombination und mit unterschiedlichen Ökonomische Gewalt ist eine Form der psychi- Schweregraden auf und verdichten sich zu Mustern schen Gewalt, über die ökonomische Kontrolle von Gewalt in Paarbeziehungen [6], die von ein- ausgeübt wird oder ökonomische Abhängigkeits- maligen leichteren körperlichen Übergriffen über verhältnisse ausgenutzt und stabilisiert werden, Muster erhöhter psychischer Gewalt und mäßiger z. B. wenn Geld oder Wertsachen entnommen körperlicher Gewalt bis hin zu Mustern schwerer werden oder die Partnerin daran gehindert wird, Misshandlung reichen, in denen sowohl psychi- eigenes Geld zu verdienen oder zu verwalten. sche als auch körperliche und sexuelle Gewalt auf- Stalking bezeichnet Verfolgungen und Nachstel- treten. Alle Formen und Muster von Gewalt gehen lungen und das bewusste wiederholte Erzwingen mit erhöhten gesundheitlichen Belastungen von von Kontakt zu einer Person gegen deren Willen, Frauen einher [6]. etwa durch Auflauern sowie systematische Beläs- Auch sexuelle Belästigungen und Diskriminie- tigung über Telefon, SMS oder E-Mails. rungen am Arbeitsplatz, von denen Frauen deutlich
310 Kapitel 8 | Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen sind weltweit von körperlicher und/oder sexueller Neben diesen Formen personaler Gewalt gibt es Gewalt durch einen Beziehungspartner betroffen [1]. auch Formen struktureller Gewalt, die nicht von Dies entspricht in etwa den Gewaltausmaßen einer Person ausgehen, sondern durch gesell- in Europa, die im Jahr 2012 in einer Studie der schaftliche oder institutionelle Strukturen und Agentur der Europäischen Union für Grundrechte Vorgaben, Regelungen und Rahmenbedingun- (European Union Agency for Fundamental Rights, gen bedingt sind, etwa durch Diskriminierungen FRA) erhoben wurden (der sogenannten FRA-Stu- und Benachteiligungen sowie eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten bestimmter Personen- die) [8]. Demnach haben im europäischen Durch- gruppen wie Frauen, Menschen mit Behinderun- schnitt 33 % der Frauen seit dem Alter von 15 Jahren gen oder mit Migrations-/Fluchthintergrund. körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt; 22 % Strukturelle Diskriminierung und Gewalt bilden waren von sexueller und/oder körperlicher Gewalt häufig den Hintergrund für personale Gewalt. durch einen Partner oder Ex-Partner betroffen. Dar- über hinaus berichteten 43 % der Frauen Formen * Beide Begriffe werden in Forschung und Praxis von psychischer Gewalt durch (Ex-)Partner, oft in identisch verwendet. Mit dem Begriff der sexuali- Kombination mit körperlicher und/oder sexueller sierten Gewalt soll zum Ausdruck gebracht werden, Gewalt. Jede sechste Frau (18 %) war der Studie nach dass diese Gewaltform nichts mit Sexualität zu tun bereits Opfer von Stalking geworden; mehr als jede hat, sondern vielmehr ein sexualisierter Ausdruck von Macht und Gewalt ist. Dies wird inzwischen zweite Frau (55 %) war von sexueller Belästigung kontrovers diskutiert. Im Folgenden wird der Begriff betroffen [8]. „sexuelle Gewalt“ verwendet, da er den Gewaltcha- Die Gewaltausmaße gegen Frauen liegen der rakter der Handlungen deutlich macht. Zudem ist Studie nach in Deutschland weitgehend im europä- dies in der breiten Bevölkerung der gebräuchlichere ischen Durchschnitt; nur psychische Gewalt (50 %) Begriff. und Kontrolle durch (Ex-)Partner (40 %) sowie Stal- king (24 %) und sexuelle Belästigungen (60 %) wur- den von Frauen in Deutschland häufiger angegeben häufiger betroffen sind als Männer, können sich (Tab. 8.2.1). Dabei ist unklar, ob dies tatsächlich negativ auf die psychische und gesundheitliche auf eine höhere Betroffenheit in Deutschland oder Situation von Frauen auswirken. Eine Studie der (auch) auf eine möglicherweise stärkere Sensibili- Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die in den sierung für Gewalt zurückzuführen ist [8]. Jahren 2018/2019 durchgeführt wurde, zeigt, dass Bereits die erste repräsentative Studie zu Gewalt 13 % der befragten Frauen innerhalb der letzten drei gegen Frauen in Deutschland, die 2003 im Auftrag Jahre sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt des Bundesministeriums für Familie, Senioren, haben. Von mittelstarken bis sehr starken psychi- Frauen und Jugend (BMFSFJ) durchgeführt und schen Belastungen durch diese Vorfälle berichteten 2004 veröffentlicht wurde, hatte ein hohes Aus- 41 % der betroffenen Frauen [7]. maß von Gewalt gegen Frauen aufgedeckt [6]. Über Ausprägungen personaler Gewalt gegen Frauen 10.000 Frauen wurden schriftlich und mündlich sind darüber hinaus Menschenhandel zum Zwecke befragt. Fast jede siebte Frau im Alter von 16 bis der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution, 85 Jahren (13 %) berichtete über erzwungene, straf- wodurch Frauen verschiedene Gewaltformen, dar- rechtlich relevante sexuelle Handlungen in ihrem unter körperliche, psychische und sexuelle Gewalt Erwachsenenleben (überwiegend durch (Ex-)Partner, erfahren. aber auch durch andere bekannte/unbekannte Perso- nen). Jede vierte Frau (25 %) war mindestens einmal von körperlicher und/oder sexueller Gewalt durch 8.2 Ausmaß von Gewalt gegen Frauen einen aktuellen und/oder früheren Beziehungspart- ner betroffen [6]. Die körperlichen Gewalthandlun- Nach Einschätzung der WHO haben weltweit etwa gen durch (Ex-)Partner reichten von Ohrfeigen und ein Drittel aller Frauen (35 %) bereits körperliche wütendem Wegschubsen bis hin zu Tritten, Schlägen und/oder sexuelle Gewalt durch Beziehungspartner mit Fäusten, Würgen und Waffengewalt; fast zwei oder andere Personen erlebt [1]. Die Täter sind über- Drittel der von Partnergewalt betroffenen Frauen wiegend Partner oder Ex-Partner, 30 % der Frauen (64 %) gaben Verletzungsfolgen an [6].
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen | Kapitel 8 311 Tabelle 8.2.1 Gewaltbetroffenheit von Frauen seit dem 15. Lebensjahr in Deutschland und Europa Datenbasis: Europaweite FRA-Studie 2012 [9] Gewaltform und Kontext Prävalenz in Europa Prävalenz in Deutschland n = 42.002 n = 1.534 Körperliche/sexuelle Gewalt (allgemein) Körperliche und/oder sexuelle Gewalt (alle Täter/innen) 33 % 35 % Körperliche Gewalt (alle Täter/innen) 31 % 33 % Sexuelle Gewalt (alle Täter/innen) 11 % 12 % Gewalt durch Partner oder Ex-Partner * Körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch (Ex-)Partner 22 % 22 % Körperliche Gewalt durch (Ex-)Partner 20 % 20 % Sexuelle Gewalt durch (Ex-)Partner 7% 8% Psychische Gewalt durch (Ex-)Partner 43 % 50 % Kontrollierendes Verhalten durch (Ex-)Partner 35 % 40 % Ökonomische Gewalt durch (Ex-)Partner 12 % 11 % Drohung oder Handlungen des (Ex-)Partners, die Kinder zu verletzen 8% 9% Stalking und sexuelle Belästigung Stalking 18 % 24 % Sexuelle Belästigung 55 % 60 % * Hier wurde die männliche Form verwendet, da es sich fast durchgängig um Gewalt durch männliche (Ex-)Partner handelte. Auffällig ist, dass die europäische FRA-Studie im öffentlichen Raum durch bekannte und unbe- [8] fast zehn Jahre nach der ersten bundesweiten kannte – zumeist männliche – Personen. Überwie- Studie des BMFSFJ zu Gewalt gegen Frauen ähn- gend ereignen sich die Taten im jüngeren Lebens- lich hohe Gewaltprävalenzen für Deutschland fest- alter bis Mitte/Ende 20 [11, 12]. Anders als Frauen stellte und sich bislang kein relevanter Rückgang werden Männer seltener Opfer von schwerer, ein- von Gewalt gegen Frauen zeigt. So haben in der seitiger und fortgesetzter Partnergewalt und auch FRA-Studie 12 % der Frauen in Deutschland angege- deutlich seltener Opfer von sexueller Gewalt. Bei ben, seit dem 15. Lebensjahr sexuelle Gewalt erlebt Männern, die Gewalt erfahren haben, wurden zu haben (vs. 13 % in der BMFSFJ-Studie von 2003 erhöhte gesundheitliche Belastungen festgestellt [6]). 22 % waren von körperlicher und/oder sexuel- [10]. Das gilt ebenso für Männer, die zugleich Opfer ler Gewalt durch (Ex-)Partner im Erwachsenenleben und Täter geworden waren. betroffen (vs. 25 % in der BMFSFJ-Studie von 2003 Der Fokus des vorliegenden Kapitels liegt auf [6]) (Tab. 8.2.1). Beide Studien sind aufgrund von Frauen als Opfer von Gewalt und daraus resultie- unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten und renden gesundheitlichen Problemen. Gewalt gegen Stichprobengrößen nicht direkt vergleichbar. Ein Frauen in Partnerschaften geht ganz überwiegend relevanter Rückgang der Gewaltprävalenz scheint von Männern aus. Bei körperlichen Gewalterfah- aber unwahrscheinlich. rungen außerhalb von Partnerschaften berichteten Auch für Männer in Deutschland zeigt eine aktu- in der europäischen FRA-Studie 33 % der betroffe- ell laufende Studie der RWTH Aachen eine hohe nen Frauen von einer Täterin [8]. Weitere 7 % gaben Gewaltprävalenz. Erste Ergebnisse umfangreicher an, dass sie körperliche Gewalt sowohl durch männ- Befragungen von Männern in Kliniken ergaben, liche als auch weibliche Personen erfahren hätten. dass 18 % der Befragten Opfer von Gewalt gewor- Im Fall von sexueller Gewalt berichteten 3 % der den waren ohne selbst Gewalt ausgeübt zu haben, Frauen, dass eine Frau die Täterin war. Zur gesund- gut ein Viertel (26 %) hatte Gewalt erfahren und heitlichen Lage von Frauen, die Gewalt ausgeübt zugleich Gewalt ausgeübt [10]. Wenn Männer haben und von Frauen, die sowohl Täterin als auch schwere Gewalt im Erwachsenenalter erleben, han- Opfer von Gewalt waren, liegen bislang kaum For- delt es sich dabei häufiger um körperliche Gewalt schungsergebnisse vor.
312 Kapitel 8 | Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen 8.3 Risikofaktoren für Gewalt gegen Zugangsmöglichkeiten zum Gesundheitswesen. Die Frauen Dauer des Aufenthalts in Deutschland kann mit unterschiedlichen Abhängigkeiten und mit unter- Risikofaktoren für Gewalt gegen Frauen wurden schiedlichem Wissen über Schutz- und Unterstüt- im Rahmen einer Sonderauswertung der oben zungsmöglichkeiten einhergehen. Informationen genannten deutschen Gewaltprävalenzstudie des zur Gesundheit von Frauen mit Migrationshinter- BMFSFJ zu Schweregraden und Mustern von grund finden sich in Kapitel 6 des Berichts. Gewalt in Paarbeziehung 2008 veröffentlicht [13]. Zur Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Migra Demnach besteht ein besonders hohes Risiko für tionshintergrund in Deutschland gibt es keine aktu- Gewalt gegen Frauen im Kontext von Trennung ellen repräsentativen Zahlen. Zusatzbefragungen und Scheidung [13]. Ein erhöhtes Risiko, Gewalt der deutschen Gewaltprävalenzstudie von 2003 zu erleben, wurde zudem bei Frauen mit Gewalt belegen aber einen Zusammenhang zwischen erfahrungen in Kindheit und Jugend festgestellt Migrationshintergrund und erhöhter Gewaltbelas- (siehe Kapitel 8.4). Auch Frauen mit Migrations- tung gegenüber der Gesamtbevölkerung, insbeson- und Fluchthintergrund tragen ein erhöhtes Risiko, dere für weibliche Flüchtlinge und für Frauen mit Opfer von Gewalt zu werden. Besonders gefährdet türkischem Migrationshintergrund [6, 16]. So waren ist die Gruppe der Frauen mit Behinderungen, Frauen mit türkischem Migrationshintergrund häu- die je nach Gewaltform und Behinderung zwei- figer von Gewalt durch den aktuellen Partner betrof- bis viermal häufiger von Gewalt betroffen waren fen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (29 % als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Ein sys- bzw. 14 %) [6, 16]. Eine Zusatzbefragung bei geflüch- tematischer Zusammenhang zwischen Bildung, teten Frauen zeigte, dass diese vergleichsweise häu- sozioökonomischer Situation und Gewaltbetrof- fig von Gewalt in unterschiedlichen Lebenskontex- fenheit der Frauen zeigte sich in der deutschen ten betroffen waren, also neben der Partnerschaft Studie hingegen nicht [13, 14]. auch in den Wohnheimen, im öffentlichen Raum Sowohl Frauen mit Behinderungen als auch und im Kontext der Arbeit: 79 % berichteten psy- Frauen mit Migrationshintergrund stellen keine chische Gewalt seit dem 16. Lebensjahr, 52 % kör- homogene Gruppe dar. Frauen mit Behinderun- perliche Gewalt, 69 % sexuelle Belästigung und gen leben in verschiedenen Kontexten und sind in 28 % sexuelle Gewalt. Wenn vermutet wird, dass unterschiedlichem Maße aufgrund von Behinde- geflüchtete Frauen aufgrund ihrer besonderen rungen und chronischen Erkrankungen in ihrem Lebenssituation eine größere Zurückhaltung zei- Leben eingeschränkt (siehe Kapitel 9). Eine erhöhte gen, Gewalterfahrungen in Deutschland Dritten Gewaltbetroffenheit ergibt sich oftmals durch die gegenüber zu benennen als andere Untersuchungs- eingeschränkte Wehrhaftigkeit und die Abhängig- gruppen, könnte die Gewaltbetroffenheit tatsäch- keit von anderen Menschen, außerdem durch die lich auch noch höher liegen [6]. Bei der erhöhten institutionelle Unterbringung, z. B. in Wohnheimen Gewaltbetroffenheit und Gesundheitsbelastung von für Menschen mit Behinderungen [14, 15]. Frauen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund fiel mit Behinderungen erfahren auch im Erwachse- auf, dass zur schlechteren gesundheitlichen Situa- nenleben durch Eltern und (Ex-)Partner häufiger tion insbesondere älterer Frauen aus dieser Gruppe Gewalt als Frauen ohne Behinderungen und ihr mehrere Faktoren beitrugen. Nicht nur die erhöh- Alltag ist nicht selten von gesellschaftlicher Aus- ten Gewalterfahrungen waren Ursache, sondern grenzung, erhöhter Diskriminierung und struktu- auch die schwierigere soziale und ökonomische reller Gewalt geprägt [14, 15]. Situation, die soziale Isolation sowie Diskriminie- Frauen mit Migrationshintergrund sind eben- rung und Ausgrenzung in Deutschland [6, 16]. falls eine sehr heterogene Gruppe. Sie umfasst Insofern ist auch hier ein Kontext von strukturel- Frauen der ersten und zweiten Migrationsgenera- ler Gewalt und Diskriminierung ein maßgeblicher tion, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, z. B. Hintergrund für erhöhte Belastungssituationen. ausländische Arbeitnehmerinnen und deren Töchter, Die Studie zeigte auch, dass sich sowohl Frauen Spätaussiedlerinnen, Asylbewerberinnen, (Kriegs-) mit Behinderungen als auch Frauen mit Migra- Flüchtlinge und Kinder aus binationalen Beziehun- tionshintergrund und geflüchtete Frauen auf- gen. Der Aufenthaltsstatus definiert ihre Rechte und grund stärkerer Abhängigkeiten schwerer aus
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen | Kapitel 8 313 Gewaltsituationen lösen als andere Frauen. Darü- und psychische sowie psychosoziale Probleme, wie ber hinaus war es für sie schwieriger, Hilfe, Schutz Angstgefühle, Konzentrationsstörungen und psy- und Unterstützung durch Institutionen zu erhal- chischer Stress, gelten als unmittelbare gesund- ten. Die strukturelle Situation trägt dazu bei, dass heitliche Folgen von Gewalt. Zu den mittel- und die betroffenen Frauen ein erhöhtes Risiko haben, langfristigen Gesundheitsfolgen körperlicher, sexu- in Gewaltsituationen zu verbleiben und dadurch eller und psychischer Gewalt gegen Frauen gehö- gesundheitlich geschädigt zu werden [6, 13–18]. ren körperliche und psychische Symptome und Erkrankungen. Durch das Zusammenwirken von körperlichen und psychischen Aspekten können 8.4 Gesundheitliche Folgen von sogenannte psychosomatische Erkrankungen ent- Gewalt gegen Frauen stehen. Auch gesundheitsgefährdende Verhaltens- weisen können als Folge erlebter Gewalt auftreten. Die Ergebnisse nationaler und internationaler Stu- Obwohl eine direkte Vergleichbarkeit der inter- dien verweisen auf einen Zusammenhang zwi- nationalen Forschungsergebnisse nur begrenzt schen Gewalterfahrungen von Frauen und direk- möglich ist und die komplexen Ursachen- und Wir- ten sowie langfristigen Folgen für die Gesundheit [1, kungszusammenhänge zwischen Gewalterlebnis- 5, 6, 9, 19–24]. Gewaltbelastungen in der Kindheit sen und gesundheitlichen Folgen empirisch schwer und Jugend sowie fortgesetzte Gewalterfahrungen zu erfassen sind, verweisen zahlreiche Befunde auf im Erwachsenenleben können den physischen und gesundheitliche Folgen von Gewalt und benennen psychischen Gesundheitszustand von Frauen nach- ähnliche Symptome. Neben den erlebten Gewalt haltig negativ beeinflussen [1, 5, 6, 9, 13, 15, 19–26]. erfahrungen haben auch die individuelle Bewer- Gewalterfahrungen können zu kurz-, mittel- und tung und Verarbeitung der Gewalterfahrungen langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigun- einen Einfluss auf die physische und psychische gen führen. Die Übersicht in Abbildung 8.4.1 zeigt Gesundheit Betroffener [1, 28]. Zudem liegen bis- verschiedene gesundheitliche Folgen von Gewalt her nur wenige Erkenntnisse über die möglichen gegen Frauen und Mädchen. Akute Verletzungen Wechselwirkungen zwischen gesundheitlichen Abbildung 8.4.1 Übersicht zu gesundheitlichen Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen Quelle: Hellbernd, Brzank, Wieners et al. [27] Gesundheitliche Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen Nicht-tödliche Folgen Tödliche Folgen Körperliche Folgen Psychische Folgen • Verletzungen • Posttraumatische Belastungsstörungen • Funktionelle Beeinträchtigungen • Depression, Ängste, Schlafstörungen, • Dauerhafte Behinderungen Panikattacken • Essstörungen • Tödliche Verletzungen Gesundheitsgefährdende • Verlust von Selbstachtung und Selbstwertgefühl (Überlebens-) Strategien als Folgen • Suizidalität • Tötung • Rauchen • Alkohol- und Drogengebrauch Folgen für die reproduktive Gesundheit • Mord • Risikoreiches Sexualverhalten • Eileiter- und Eierstockentzündungen • Selbstverletzendes Verhalten • Sexuell übertragbare Krankheiten • Suizid • Ungewollte Schwangerschaften (Psycho-)somatische Folgen • Schwangerschaftskomplikationen • Chronische Schmerzsyndrome • Fehlgeburten/niedriges Geburtsgewicht • Reizdarmsyndrom • Magen-Darm-Störungen • Harnwegsinfektionen • Atemwegsbeschwerden
314 Kapitel 8 | Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen Beeinträchtigungen, erhöhter Gewaltbetroffen- in unterschiedlichem Ausmaß davon [6]. Verlet- heit und sozialen Folgeproblemen von Gewalt (z. B. zungsfolgen traten dabei etwas häufiger nach kör- Armut oder Isolation) vor. So ist z. B. nicht eindeu- perlicher Gewalt (55 %) als nach sexueller Gewalt tig nachvollziehbar, in welchem Maße psychische (44 %) auf. Etwa jede fünfte in Deutschland Beschwerden eine Folge von Gewalterfahrungen lebende Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren gab sind und in welchem Maße Frauen mit psychischen an, mindestens einmal körperliche Verletzungen Problemen eher gefährdet sind, Gewalt in ihrer infolge von Gewalt in ihrem Erwachsenenleben Partnerschaft oder in anderen Lebensbereichen erlitten zu haben. Hierzu zählten u. a. Hämatome zu erfahren bzw. sich nicht daraus lösen zu kön- (Blutergüsse), Gesichts- und Kopfverletzungen, nen [1, 5, 6, 14]. Vieles spricht für wechselseitige aber auch Knochenbrüche und Verletzungen Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen, im Genitalbereich. Die Mehrheit der befragten psychosozialen und gesundheitlichen Problemen Frauen trug infolge körperlicher und/oder sexu- im Leben von Frauen [1, 5, 6, 14, 29]. eller Gewalt eine Kombination unterschiedlicher Die folgenden Erkenntnisse zu den gesundheit- Verletzungen davon; dies stimmt auch mit den lichen Folgen von Gewalt gegen Frauen basieren Ergebnissen anderer europäischer und internati- überwiegend auf repräsentativen bevölkerungswei- onaler Studien überein [1, 5, 6, 8, 30]. ten Befragungen von Frauen, auf klinischen Stu- Etwa ein Drittel der befragten gewaltbetroffenen dien und (systematischen) Literaturreviews. Für Frauen hatten so schwerwiegende Verletzungen, Deutschland beziehen sich die Befunde größten- dass sie medizinische Hilfe in Anspruch nahmen teils auf die Ergebnisse der bisher einzigen großen [6]. Internationale Studien geben Hinweise darauf, bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie aus dem dass gewaltbetroffene Frauen medizinische Hilfe Jahr 2003 mit über 10.000 Befragten [6], einer Fol- – unabhängig von ihrem Zugang zu dem jeweili- gestudie zu Gewalt gegen Frauen mit Behinderun- gen Gesundheitssystem – auch bei schwerwiegen- gen [13] sowie auf die Ergebnisse der europäischen deren Verletzungen oftmals nicht wahrnehmen FRA-Studie von 2012 [8]. [5]. Dies könnte mit der nach wie vor bestehenden In diesen Studien wurden die Zusammenhänge gesellschaftlichen Tabuisierung des Gewaltthemas zwischen Gewalt und gesundheitlichen Folgen und der daraus resultierenden Scham der Opfer einerseits durch direkte Nachfragen an Betroffene zusammenhängen. erfasst. Die Frauen berichten von Verletzungs-, psy- Verletzungsfolgen wurden in der bundesdeut- chischen und psychosozialen Folgen von Gewalt schen Prävalenzstudie vergleichsweise häufig von ereignissen. Andererseits wurde statistisch unter- Frauen angegeben, die von Gewalt durch ihren Part- sucht, ob Frauen, die Gewalt (in unterschiedlichen ner oder Ex-Partner betroffen waren (64 %). Diese Formen und Kontexten) erlebt hatten, in erhöhtem Befunde decken sich mit den Ergebnissen anderer Maße von verschiedenen körperlichen, psychoso- europäischer Studien [6, 8, 31], wonach mindestens matischen und psychischen Belastungen sowie 55 % bis 70 % der von körperlicher und/oder sexuel- Einschränkungen in der reproduktiven Gesund- ler Partnergewalt betroffenen Frauen unmittelbare heit und im Gesundheitsverhalten betroffen sind. körperliche Verletzungen und Beeinträchtigungen Daraus ergaben sich die im Folgenden dargestell- davontrugen. Ferner stellt sich Partnergewalt auch ten Erkenntnisse zu gesundheitlichen Folgen von dadurch als schwerwiegender dar, als es sich häu- Gewalt im Lebensverlauf. figer um mehrfache und fortgesetzte Gewaltüber- griffe handelt [5, 6, 8, 31]. In der aktuelleren FRA-Studie wurden die Ver- 8.4.1 Verletzungsfolgen letzungsfolgen nur im Zusammenhang mit dem schwerwiegendsten Vorfall körperlicher oder sexuel- Verletzungen zählen zu den unmittelbaren Folgen ler Gewalt durch den (Ex-)Partner erfasst (Tab. 8.4.1.1). von Gewalt, die zu kurz-, mittel- oder langfristigen Im schlimmsten Fall können Verletzungen auch Gesundheitsbeeinträchtigungen führen können. zum Tode führen. Für das Jahr 2018 erfasste das Etwa die Hälfte der gewaltbetroffenen Frauen der Bundeskriminalamt 324 Fälle von versuchtem Tot- bundesdeutschen Prävalenzstudie trugen in Folge schlag und Mord an Frauen durch deren Partner körperlicher oder sexueller Gewalt Verletzungen oder Ex-Partner; 118 dieser Fälle endeten tödlich [32].
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen | Kapitel 8 315 Tabelle 8.4.1.1 Diabetes mellitus Typ 2, Magen-Darm-Beschwer- Verletzungsfolgen bei Frauen infolge des schwer den, Atemwegserkrankungen wie Asthma bronchi- wiegendsten Vorfalls körperlicher oder sexueller Gewalt durch den (Ex-)Partner ale und Bronchitis sowie Knochen-, Muskel- und Datenbasis: Europaweite FRA-Studie 2012 [9] Nervenerkrankungen [1, 20, 21, 33]. Gewalterfahrun- gen von Frauen sind zudem oftmals mit gynäko- Verletzungsfolgen Prävalenz bei Gewaltbetroffenen logischen Beschwerden und Erkrankungen sowie in Deutschland Einschränkungen in der reproduktiven Gesundheit n = 1.534 verbunden [1, 5, 34–36]. Blaue Flecken/Kratzer 49 % Eine Auswertung der bundesdeutschen Gewalt- Wunden, Verstauchungen/ 16 % prävalenzstudie belegte einen starken Zusammen- Verrenkungen, Verbrennungen hang zwischen der Gewaltbetroffenheit im Lebens- Knochenbrüche, 5% abgebrochene Zähne verlauf und der gesundheitlichen Situation der Befragten [16]. Frauen, die im Lebensverlauf kör- Gehirnerschütterungen/ 3% Verletzungen des Gehirns perlicher, psychischer und/oder sexueller Gewalt Innere Verletzungen 2% ausgesetzt waren, schätzten die eigene Gesundheit Fehlgeburt 1% im Vergleich zu nicht betroffenen Frauen durchweg Sonstige 4% schlechter ein. Zudem gaben sie deutlich häufiger körperliche und psychische Beschwerden wie Kopf- und Bauchschmerzen, Magen- und Darmprobleme, 8.4.2 Körperliche und psycho- Zittern, Schwindel, Atemprobleme und gynäkolo- somatische Folgen gische Beschwerden an. Gewalterfahrungen in der Kindheit und zusätzlich im Erwachsenenleben führ- Körperliche und psychosomatische Folgebe- ten zu einer erheblichen Zunahme der gesundheitli- schwerden von Gewalt gegen Frauen im Lebens- chen Belastungen. In einer Patientinnenbefragung verlauf sind mit Befragungen nicht eindeutig des Berliner S.I.G.N.A.L.-Begleitprojektes Anfang erfassbar, zumal oftmals vielfältige Einflussfak- der 2000er-Jahre wurden weitgehend identische kör- toren, Zusammenhänge und Wirkungen eine perliche Beschwerden und Symptomatiken als Folge Rolle spielen. Bisher ist noch relativ wenig über von Gewalterfahrungen identifiziert [11]. Wechselwirkungen und miteinander verknüpfte Der wechselseitige Zusammenhang zwischen Prozesse, z. B. durch das (mehrfache) Erleben fortgesetzten Gewalterfahrungen und gesundheit unterschiedlicher Gewaltformen im Lebensver- lichen Belastungen zeigt sich auch und insbeson- lauf, Folgeprobleme von Gewaltereignissen und dere für Frauen mit Behinderungen [1, 14, 37]. Sie mögliche weitere Einflussfaktoren bekannt. Die werden im gesamten Lebensverlauf deutlich häufi- verfügbaren Daten verweisen jedoch auf bedeut- ger Opfer von Gewalt als Frauen ohne Behinderun- same Zusammenhänge zwischen erlebter Gewalt gen. Auch nationale Studien geben Hinweise dar- und körperlichen Beschwerden bzw. Symptoma- auf, dass Behinderungen und chronische Erkran- tiken bei Betroffenen [1, 5, 8, 20, 21]. kungen auch eine Folge von in der Kindheit und im Internationale Forschungsergebnisse belegen, Erwachsenenalter erlebter Gewalt sein können [29]. dass Gewaltereignisse in der Kindheit und im Erwachsenenalter zu einer Reihe körperlicher und psychosomatischer Beschwerden führen können. 8.4.3 Psychische und psychosoziale Hierbei steht die Anzahl und Schwere der Sympto- Folgen matiken in engem Zusammenhang mit der Häufig- keit, Dauer und Intensität der Gewaltereignisse. Oft- Gewalterfahrungen in der Kindheit und im mals bleiben die Beschwerden über die Beendigung Erwachsenenleben gelten in der nationalen und der Gewaltsituation hinaus bestehen [1, 20, 21, 33]. internationalen Forschung als Ursache verschie- Zu den körperlichen und psychosomatischen denster kurz-, mittel- und langfristiger psychischer Folgen von Gewalt gegen Frauen zählen u. a. Beeinträchtigungen und Erkrankungen [1, 5, 6, 20, chronische Schmerzen, wie Kopf-, Rücken- und 21, 26, 33, 38]. Zu den psychischen Folgen zählen Bauchschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere die Ausbildung einer Depression,
316 Kapitel 8 | Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, Ess- Tabelle 8.4.3.1 störung oder Angststörung, aber auch Angstsymp Langfristige psychische Folgen für Frauen durch den schwerwiegendsten Vorfall körperlicher oder sexueller tome, Stresssymptome und Suizidalität [5, 6, 8, Gewalt durch den (Ex-)Partner 30, 33, 39]. Kinder mit Gewalterfahrungen weisen Datenbasis: Europaweite FRA-Studie 2012 [9] zudem häufiger Beeinträchtigungen in der geis- tigen und emotionalen Entwicklung auf [20, 21]. Langfristige Prävalenz bei Gewaltbetroffenen Als direkte psychische und psychosoziale Fol- psychische in Deutschland gen der erlebten physischen, psychischen und Folgen n = 1.534 sexuellen Gewalt gaben die befragten Frauen in Beziehungsschwierigkeiten 45 % der bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie am Gefühl der Verletzlichkeit 43 % häufigsten Niedergeschlagenheit/Depressionen, Angstzustände 36 % Schlafstörungen/Alpträume, dauerndes Grübeln, Verlust des Selbstvertrauens 33 % vermindertes Selbstwertgefühl, erhöhte Ängste, Schlafstörungen 28 % Schwierigkeiten im Umgang mit Männern bzw. Depressionen 20 % in sozialen Beziehungen sowie Antriebslosigkeit/ Panikattacken 13 % Konzentrationsschwäche an [6]. Darüber hinaus Konzentrationsstörungen 13 % wurden auch Essstörungen und Suizidgedanken Sonstige 7% genannt. Diese vielfältigen psychischen und psy- chosozialen Symptome und Erkrankungen wur- den auch in anderen internationalen Studien zu Häufigkeit der erlebten Gewalt und dem Ausmaß den Folgen von Gewalt gegen Frauen identifiziert psychischer Beschwerden. [5, 8, 30, 33, 38]. Ergebnisse nationaler und internationaler Stu- In der für Deutschland aktuelleren europäischen dien zu den psychischen Folgen von Misshandlung, FRA-Studie aus dem Jahr 2012 wurden von den Vernachlässigung und Missbrauch im Kindesalter Betroffenen als langfristige Folgen von Gewaltereig- [19, 20, 21] deuten ebenfalls auf eine enge Verbin- nissen durch den Partner oder Ex-Partner genannt: dung von Gewalterfahrungen in der Kindheit mit Beziehungsschwierigkeiten, ein Gefühl der Verletz- Störungen des Sozialverhaltens, Angst- und Persön- lichkeit, der Verlust des Selbstvertrauens, Angst- lichkeitsstörungen, depressiven Erkrankungen, der zustände, Schlafstörungen sowie Depressionen Ausbildung einer Posttraumatischen Belastungs- (Tab. 8.4.3.1). Partnergewalt gegen Frauen zeichnet störung, Suizidalität sowie einem erhöhten Alko- sich oft dadurch aus, dass sie wiederholt und über hol- und Drogenkonsum hin. Diese Befunde wei- einen längeren Zeitraum auftritt und unterschied- sen auf die hohe Bedeutung der Prävention von liche Formen physischer, psychischer und sexuel- Gewalt hin. Zudem verdeutlichen sie, wie wichtig ler Gewalt umfasst. Diese ist besonders häufig mit das frühzeitige Erkennen der psychischen und psy- schwerwiegenden psychischen und psychosomati- chosozialen Folgen von Gewalt und deren medizi- schen Folgen verbunden [13, 16]. nische und therapeutische Behandlung sind. Aktuelle psychische Beschwerden können auf akute Gewaltereignisse, aber auch auf frü- here Gewalterfahrungen in der Kindheit und im 8.4.4 Auswirkungen auf die reproduktive Erwachsenenleben zurückgehen. In der bundes- Gesundheit deutschen Gewaltprävalenzstudie des BMFSFJ zeigten sich besonders hohe psychische Belas- Bedeutsame Lebensereignisse wie Schwanger- tungswerte für Frauen, die Opfer von Gewalt schaft und Mutterschaft sind von vielfältigen sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenen- Veränderungen und Umbrüchen sowie neuen leben geworden waren und die neben körperlicher Herausforderungen für Frauen und deren Part- Gewalt auch von psychischer und/oder sexueller ner geprägt (siehe auch Kapitel 7). Für Frauen geht Gewalt betroffen waren [1, 6]. Dies unterstreicht diese Lebensphase mit einem erhöhten Risiko, ebenfalls die Relevanz wiederholter Gewalterfah- Opfer von Partnergewalt zu werden, einher. Ergeb- rungen im Leben von Frauen und es verweist auf nisse der bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie den Zusammenhang zwischen der Intensität und bestätigen dies. Von den Frauen, die von Gewalt
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen | Kapitel 8 317 in Paarbeziehungen betroffen waren, berichteten erhöhte Tabakkonsum auffiel [6]. So rauchten 23 %, dass die Gewalt in der Paarbeziehung erst- gewaltbetroffene Frauen zwei- bis dreimal häufi- mals im Kontext ihrer Schwangerschaft und/oder ger mindestens zehn Zigaretten am Tag als nicht der Geburt des ersten Kindes aufgetreten war [1, 6]. betroffene Frauen. In dieser und in weiteren inter- Gewalttaten vor und während der Schwanger- nationalen Studien wird der erhöhte Tabak-, Alko- schaft schädigen die körperliche und psychische hol- und Drogenkonsum als Bewältigungsstrategie Gesundheit von Frauen und sie können Kompli- infolge der erlebten Gewalt interpretiert [1, 5, 6]. kationen im Schwangerschafts- und Geburtsver- Ferner ist bekannt, dass Frauen mit Gewalterfah- lauf verursachen. Dies wirkt sich auch auf die rungen sich häufiger selbst verletzen und ein ris- Gesundheit von Föten bzw. Neugeborenen aus. In kanteres Sexualverhalten aufweisen. Außerhäus- der bundesdeutschen Prävalenzstudie [6] gaben liche körperlich-sportliche Aktivitäten, welche die gewaltbetroffene Frauen signifikant häufiger als Gesundheit fördern können (siehe auch Kapitel nicht betroffene Frauen Unterleibs- bzw. gynäko- 2.2.1), werden dagegen von gewaltbetroffenen logische Beschwerden sowie Komplikationen wäh- Frauen seltener unternommen [1, 5, 6]. rend der Schwangerschaft und Geburt an. Darüber Frauen, die sowohl in der Kindheit als auch im hinaus belegen mehrere nationale und internatio- Erwachsenenalter Gewalt erlebt haben, sind zudem nale Forschungsergebnisse, dass gewaltbetroffene stärker sozial isoliert und benennen häufiger Pro Frauen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit Fehl- bleme in ihren sozialen Beziehungen [5, 6, 16]. oder Frühgeburten erleiden und häufiger Babys mit Letzteres kann sowohl Ursache, als auch Folge von einem geringeren Geburtsgewicht zur Welt bringen Gewalt sein, da gewalttätige Partner oftmals dazu [1, 5, 8, 40, 41]. Ursachen hierfür können chroni- neigen, ihre Partnerinnen zu kontrollieren und sie scher Stress infolge der Gewaltbelastungen in der von ihren Freundinnen und Freunden, Bekannten Paarbeziehung, körperliche Verletzungen sowie und ihrer Familie zu isolieren. Die Ergebnisse der eine geringere oder verspätete Inanspruchnahme bundesdeutschen Gewaltprälenzstudie belegen von Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen einen Zusammenhang zwischen sozialer Isola- durch gewaltbetroffene Frauen sein [1, 5]. Weiterhin tion, Gewalt und einem schlechteren Gesundheits- berichteten Frauen, die von Partnergewalt betroffen zustand [6]. sind oder waren, häufiger von ungewollten Schwan- gerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen [5]. Partnerschaftskonflikte und -gewalt, aber auch 8.5 Kosten von Gewalt mangelnde Unterstützung und Verlässlichkeit durch den Partner im Verlauf der Schwangerschaft Gewalterfahrungen sind für die betroffenen und nach der Geburt erhöhen zudem das Risiko, Frauen (und auch deren Kinder) mit einem gro- in dieser Lebensphase an einer Depressionn zu ßen individuellen Leid und häufig mit diversen erkranken (u. a. postnatale Depression) [1, 36, 40]. gesundheitlichen und (psycho-)sozialen Folgen verbunden. Gleichzeitig verursachen die Folgen von Gewalt auch erhebliche gesamtgesellschaft 8.4.5 Auswirkungen auf das Gesund- liche Kosten [21, 43]. Die jährlichen Kosten infolge heitsverhalten und soziale von Gewalt gegen Frauen belaufen sich auf etwa Beziehungen 3,8 Milliarden Euro [44]. Diese Summe setzt sich zusammen aus den tatsächlichen Ausgaben für Gewalterfahrungen können ein gesundheitsschä- Güter und Dienstleistungen, die als direkte Folge digendes Verhalten begünstigen. Es ist belegt, dass von Gewalt in Anspruch genommen werden, und gewaltbetroffene Frauen sowie Kinder und Jugend- aus weiteren Folgekosten. Darüber hinaus fallen liche häufiger Tabak, Alkohol, Drogen und auf die Kosten an, denen kein direkter Geldwert zugeord- Psyche wirkende Medikamente konsumieren als net werden kann. Nichtbetroffene [1, 5, 6, 20, 21, 42]. Nach der bun- Im Gesundheitssektor entstehen Kosten vorwie- desdeutschen Gewaltprävalenzstudie konsumier- gend durch die medizinische Erstversorgung bei ten Frauen mit Gewalterfahrungen häufiger Alko- akuten Verletzungen, die Behandlung psychoso- hol und Drogen, wobei insbesondere der deutlich matischer Beschwerden und sexuell übertragbarer
318 Kapitel 8 | Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen Krankheiten sowie für psychologische oder the- gesundheitlichen Versorgung von nahezu allen rapeutische Behandlungen betroffener Frauen. Bevölkerungsgruppen genutzt werden. Aus diesem Zudem fallen Kosten für Medikamente, Rehabili- Grund sollten angehende Fachkräfte darin geschult tationsmaßnahmen und langfristige Versorgungs werden, die gesundheitlichen Folgen von Gewalt zu erfordernisse an (z. B. infolge chronischer Erkran- erkennen und potenziell Betroffene auf mögliche kungen). Direkte Kosten für die Gesellschaft Gewalterfahrungen anzusprechen und zu unter- entstehen auch durch Beratungs- und Unterstüt- stützen. zungseinrichtungen für Frauen, durch die Kinder- Dies ist umso wichtiger, als sich ein großer Teil und Jugendhilfe, Polizei und Justiz. Folgekosten der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte sowie von Gewalt entstehen u. a. durch den Verlust an Pflegekräfte nicht ausreichend qualifiziert fühlt, Potenzial, z. B. durch entgangene Einkünfte infolge die Folgen körperlicher, sexueller und häuslicher von Arbeitsausfall/-unfähigkeit oder Frühverren- Gewalt zu diagnostizieren und adäquat anzuspre- tung [1, 5, 11, 43, 44]. Kosten, denen kein direkter chen [1, 27, 48]. Geschulte Fachkräfte könnten in Geldwert gegenübergestellt werden kann, entste- allen medizinischen und therapeutischen Versor- hen z. B. durch den Verlust an Lebensqualität auf- gungsbereichen dazu beitragen, dass Gewaltbelas- grund von Schmerzen, Angst oder dem Verlust von tungen frühzeitig erkannt und bei der Behand- geliebten Personen. Diese Beeinträchtigungen kön- lung entsprechend berücksichtigt werden [49, nen lebenslang bestehen, auf insgesamt 18 Milliar- 50]; außerdem könnten so mehr Betroffene an den Euro schätzt sie die erste deutsche Kostenstudie Schutz- und Unterstützungseinrichtungen wei- zu häuslicher Gewalt gegen Frauen [44]. tervermittelt werden. Wenn mögliche Gewalterfahrungen in der Behandlung von physischen und psychischen 8.6 Fazit Beschwerden nicht berücksichtigt werden, kann dies zu Über-, Unter- oder Fehlversorgungen füh- Mit der weltweiten Ausbreitung des neuartigen ren. Fehlbehandlungen und Fehlmedikation haben Coronavirus SARS-CoV-2 Anfang des Jahres 2020 mitunter gravierende gesundheitsschädigende Aus- bekam auch das Thema Gewalt gegen Frauen eine wirkungen für die Betroffenen und können die besondere Aktualität. Die WHO weist darauf hin, Chronifizierung von Symptomen sowie dauerhafte dass Gewalt gegen Frauen gerade in Notfällen Beeinträchtigungen bedingen [1]. und schwierigen Lebenssituationen wie Pande- Neben einer angemessenen medizinischen mien oftmals zunimmt [45]. Das Regionalbüro Versorgung benötigen gewaltbetroffene Frauen für Europa geht von einem starken Anstieg der in der Regel auch Unterstützung durch regionale Fälle in Europa während der Ausgangssperren Hilfe- und Beratungseinrichtungen und Frauen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit schutzhäuser sowie überregionale Angebote, wie aus [46]. Erste Ergebnisse einer repräsentativen z. B. das Hilfetelefon (www.hilfetelefon.de). Bera- Studie aus Deutschland zeigen, dass die Quaran- tungs- und Hilfsangebote für gewaltbetroffene täne das Risiko für Frauen und Kinder erhöhte, Frauen umfassen ein breites Spektrum an Ange- zu Hause Opfer von körperlichen Übergriffen zu boten, zum Teil mit Spezialisierungen auf häus- werden [47]. liche Gewalt (z. B. Frauenberatungsstellen und Eine Reduzierung der Gewaltbetroffenheit von -notrufe, Interventionsstellen, Frauenhäuser und Frauen und der mit ihr verbundenen Folgen und angegliederte Beratungsstellen), sexuelle Gewalt Folgekosten ist – aktuell und langfristig – eine (z. B. Frauennotrufe und Fachberatungsstellen für zentrale Voraussetzung für die Verbesserung der Opfer sexueller Gewalt) sowie Menschenhandel, Gesundheits- und Lebenssituation von Frauen und Zwangsprostitution und Zwangsverheiratung [51, die umfassende Gleichstellung der Geschlechter 52]. Form und Anzahl der Hilfe- und Beratungsein- in allen Lebensbereichen. Sie bedarf umfassender richtungen unterscheiden sich innerhalb Deutsch- Präventions-, Unterstützungs- und Interventions- lands je nach Land und Region. Wie eine bundes- strategien auf allen Ebenen. weite Bedarfsanalyse zeigt, steht insgesamt ein Das Gesundheitswesen nimmt hierbei dichtes und ausdifferenziertes Netz an Unterstüt- eine Schlüsselrolle ein, da Einrichtungen der zungseinrichtungen für gewaltbetroffene Frauen
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen | Kapitel 8 319 im Bundesgebiet zur Verfügung [51]. Punktuell zur rechtssicheren Dokumentation bei häuslicher wurden jedoch Versorgungslücken und Zugangs- Gewalt gibt es innerhalb von Deutschland in eini- schwierigkeiten beobachtet, z. B. für Frauen mit gen Ländern, z. B. auch über die Ärztekammern. Behinderungen, Frauen mit psychischen Erkran- Am 1. März 2020 ist eine gesetzliche Regelung in kungen/Suchtmittelabhängigkeiten und Frauen Kraft getreten, die vorsieht, dass die vertrauliche mit Migrationshintergrund [51, 52]. Selbst wenn Spurensicherung bei Verdacht auf sexuelle Gewalt qualifizierte Einrichtungen zur Verfügung stehen, von den Krankenkassen erstattet wird [55]. Damit werden sie von einem Teil der Betroffenen nicht wird die frühzeitige Beweissicherung bei Verdacht genutzt, u. a. aus Scham oder Angst vor den Fol- auf Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch ver- gen der Beratung [51]. Den Ergebnissen der deut- bessert. Die Opfer können vertraulich von einer schen Prävalenzstudie nach nutzt nur ein gerin- Ärztin oder einem Arzt Spuren sicherstellen lassen, ger Teil der von Gewalt betroffenen Frauen jemals bevor sie sich an die Polizei wenden. Frauenhäuser oder Fachberatungsstellen; auch wird Gesundheitsprävention, Gewaltprävention und nur selten die Polizei eingeschaltet [6]. Am häu- die Gleichstellung der Geschlechter sind konzep- figsten werden Ärztinnen und Ärzte in Anspruch tionell eng miteinander verknüpft, sodass z. B. genommen. Dies bestätigen auch die Ergebnisse Fortschritte bei der Gleichstellung dazu beitragen der FRA-Studie [8]. Das unterstreicht die Notwen- können, Gewalt gegen Frauen und ihren gesund- digkeit, dass Fachkräfte im Gesundheitswesen mit heitlichen Folgen besser entgegenzuwirken. Die der Hilfeinfrastruktur vor Ort vertraut und gut ver- Europaratskonvention von 2011 zur Verhütung netzt sein sollten. Geeignetes Informationsma- und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und terial sollte leicht zugänglich ausliegen, z. B. im häuslicher Gewalt (die sogenannte Istanbul-Kon- Wartezimmer der Arztpraxis oder in Kranken- und vention), die im Februar 2018 in Deutschland in Geburtshäusern [49, 50]. Kraft trat, verpflichtet die Staaten zu umfassenden Die regionale Vernetzung der verschiedenen Maßnahmen in den Bereichen Recht und Inter- Akteurinnen und Akteure im Kontext von Gewalt vention, Schutz und Unterstützung sowie Präven- sollte weiter ausgebaut und verstetigt werden. In tion [56]. Sie zielt darauf ab, Gewalt gegen Frauen Deutschland gab es auf Bundesebene und in ein- wirkungsvoll zu verhüten, zu verfolgen und zu zelnen Ländern bereits Modellprojekte zur medi- beseitigen und Gewaltbetroffenen die erforderliche zinischen Prävention und Intervention bei Gewalt, Unterstützung und Beratung zu ermöglichen. Sie welche die Schulung von Fachkräften im Gesund- fordert, dass gewaltbetroffene Frauen wirkungs- heitswesen förderten sowie die Vernetzung mit voll vor Gewalt geschützt werden sowie kurz- und der örtlichen (Frauen-)Hilfeinfrastruktur verstär- langfristige Unterstützung erhalten (inkl. nachge- ken [27, 53]. Deren Ergebnisse zeigen, dass die hender Angebote zur Heilung und Regeneration), Gesundheitsfachkräfte davon profitieren und die um die Gewalt und deren Folgen überwinden zu Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen in den können. Die Angebote müssen niedrigschwellig, beteiligten Kliniken und Arztpraxen verbessert wer- zugänglich, regional verteilt und gut erreichbar den konnte. sein. Anvisiert wird ein ganzheitliches Konzept, Weiterhin kommt einer rechtssicheren ärzt welches Prävention, (rechtliche und medizinische) lichen Befunddokumentation bei der Versor- Intervention, Schutz und Beratung sowie die Koor- gung von Gewaltopfern eine große Bedeutung zu, dinierung aller Akteurinnen und Akteure unter da diese Dokumentation z. B. für die strafrecht Einbezug von Fachberatungsstellen umfasst und liche Verfolgung der Taten oder zur Klärung des Schutz- und Unterstützungseinrichtungen sowie Umgangs- und Sorgerechts nach einer Trennung erforderliche fachliche Angebote angemessen aus- genutzt werden können. In Gerichtsverfahren wird stattet und finanziert [56]. der ärztlichen Befunddokumentation oftmals mehr Bisherige Bestandsaufnahmen für Deutschland Bedeutung beigemessen als den Polizeiakten oder zeigen, dass für einen Teil der Schutz und Unter- einer eidesstattlichen Erklärung des Opfers [54]. stützung suchenden Frauen noch Versorgungs Dementsprechend sollten Ärztinnen und Ärzte flä- lücken bestehen [6, 8]. Darüber hinaus fehlen sys- chendeckend in rechtssicherer Befunddokumenta- tematische Konzepte zur Prävention von Gewalt tion geschult sein. Fortbildungen und Materialien gegen Frauen und zur langfristigen Heilung/
320 Kapitel 8 | Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen Regeneration nach erfahrener Gewalt [51, 52]. Diese 11. GiG-net – Forschungsnetz Gewalt im Geschlechterverhältnis (Hrsg) (2008) Gewalt im Geschlechterverhältnis. Erkenntnisse zu entwickeln, bundesweit zu implementieren und Konsequenzen für Politik, Wissenschaft und Soziale Pra- und im Hinblick auf Wirkung und Wirksamkeit xis. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen-Opladen zu evaluieren, sollte ein zentrales Ziel der weite- 12. Schröttle M, Vogt K (2016) Women as Victims and Perpetrators of Violence: Empirical Results from National and International ren Gesundheits-, Sozial- und Gleichstellungs- Quantitative Violence Research. In: Kury H, Redo S, Shea politik zur Stärkung der Frauengesundheit und E (Hrsg) Women and Children as Victims and Offenders: Gleichstellung von Frauen in Deutschland sein. Background, Prevention, Reintegration. Suggestions for Suc- ceeding Generations (Volume 1). Springer, Heidelberg, New Die nun auch in Deutschland geltende Europa- York, S. 479–504 ratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung 13. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Hrsg) (2008) Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von könnte dieser Zielsetzung erheblichen Anschub Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung geben. Ihre Umsetzung ist durch kontinuierliche nach erlebter Gewalt. BMFSFJ, Berlin Forschung, Datensammlung und Monitoring kri- 14. Schröttle M, Hornberg C, Glammeier S et al. (2012) Lebens tisch zu begleiten, zu kontrollieren und zu doku- situation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigun- gen und Behinderungen in Deutschland. Journal Netzwerk mentieren [56]. Ein erster Bericht zur Umsetzung Frauen- und Geschlechterforschung NRW 30:60–64 der Istanbul-Konvention in Deutschland liegt seit 15. Schröttle M, Glammeier S (2013) Intimate Partner Violence Sommer 2020 vor. Against Disabled Women as a Part of Widespread Victimiza- tion and Discrimination over the Lifetime: Evidence from a German Representative Study. IJCV 7(2):232–248 Literatur 16. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 1. World Health Organization (Hrsg) (2017) Violence against (Hrsg) (2007) Gesundheit – Gewalt – Migration. Eine verglei- women. Key facts. Fact sheet. chende Sekundäranalyse zur gesundheitlichen und sozialen www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against- Situation und Gewaltbetroffenheit von Frauen mit und ohne women (Stand: 01.04.2020) Migrationshintergrund in Deutschland. BMFSFJ, Berlin 2. Council of Europe (Hrsg) (2011) Council of Europe Convention 17. Smedley BD (2012) The lived experience of race and its health on preventing and combating violence against women and consequences. Am J Public Health 102(5):933–935 domestic violence. 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