Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen - RKI

 
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Gesundheitliche
  Auswirkungen von
Gewalt gegen Frauen

     KAPITEL   8
▶▶ 35 % der Frauen ist seit dem 15. Lebensjahr
   körperliche und/oder sexuelle Gewalt widerfah-
   ren; diese ging überwiegend von Partnern oder
   Ex-Partnern aus.

▶▶ Die Prävalenz von Gewalt gegen Frauen in
   Deutschland liegt im europäischen Durchschnitt;
   sie scheint sich in den letzten zehn Jahren kaum
   verändert zu haben.

▶▶ Gewaltbetroffenheit bei Frauen ist unabhängig
   vom sozialen Status; besonders gefährdet sind
   Frauen in Trennungssituationen, Frauen mit
   früheren Gewalterfahrungen und Frauen, die in
   erhöhtem Maße gesellschaftliche Diskriminie-
   rungen erfahren.

▶▶ Gewalt kann schwerwiegende Folgen für die
   körperliche und psychische Gesundheit und die
   psychosoziale Situation von Frauen haben.

▶▶ Viele betroffene Frauen kommen aus unterschied-
   lichen Gründen beim bestehenden Hilfesystem
   nicht an; medizinischem Personal kommt eine
   wichtige Rolle bei der Aufdeckung der Gewalt-
   betroffenheit und der Vermittlung von Hilfs­
   angeboten zu.
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen       |   Kapitel 8   309

8      Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen
8.1    Gewalt und Frauengesundheit
Sexualisierte und geschlechtsbezogene Formen
von Gewalt gegen Frauen gehen weit überwie-           Infobox 8.1.1
gend von Männern im Kontext von Partnergewalt         Formen von personaler Gewalt gegen Frauen
aus. Sie stellen nicht nur ein erhebliches soziales
und ein Gesundheitsproblem dar, sondern werden        Körperliche Gewalt umfasst Misshandlungen
                                                      und körperliche Übergriffe jeder Art, z. B. Schla-
international auch als Menschenrechtsverletzun-
                                                      gen, Stoßen, Würgen, Treten, Verprügeln und
gen gefasst und im Zusammenhang mit struktu-          Waffengewalt.
reller Gewalt, Diskriminierung von Frauen und
ungleichen Machtverteilungen im Geschlechter-         Sexuelle (oder sexualisierte) Gewalt* umfasst alle
                                                      unerwünschten oder erzwungenen sexuellen
verhältnis gesehen [1, 2]. Die Weltgesundheitsor-
                                                      Handlungen und reicht von unerwünschten inti-
ganisation (WHO) bezeichnet Gewalt als zentrales      men Berührungen über Nötigung zu sexuellen
Risiko für die Gesundheit von Frauen und Kindern      Handlungen bis hin zur Vergewaltigung.
[3, 4]. Sie definiert Gewalt auf allgemeiner Ebene
                                                      Sexuelle Belästigung umfasst alle von der betrof-
als „absichtliche(n) Gebrauch von angedrohtem
                                                      fenen Person als sexuell belästigend empfunde-
oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder phy-       nen Handlungen. Sie reicht von Anstarren und
sischer Macht gegen die eigene oder eine andere       Nachpfeifen über unerwünschte sexualisierte
Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der      Bemerkungen und Berührungen sowie Belästi-
entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlich-       gungen per Telefon oder Internet bis hin zu ver-
keit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden,       schiedenen Formen von Bedrängen und Über-
Fehlentwicklung oder Deprivation führt“ [3, S. 5].    schreiten der Intimgrenzen einer Person, z. B.
    Zahlreiche nationale und internationale Studien   auch im Kontext der Arbeit. Der Übergang zu
verweisen auf die hohe Verbreitung von Gewalt         sexueller Gewalt kann fließend sein.
gegen Frauen und die mit ihr verbundenen erheb-       Psychische Gewalt beschreibt ein breites Spek­
lichen kurz-, mittel- und langfristigen gesundheit-   trum psychisch beeinträchtigender oder verlet-
lichen und psychosozialen Folgen [3].                 zender Handlungen, etwa Einschüchterungen,
    Relevant im Kontext personaler Gewalt gegen       Anschreien, Beschimpfungen und Demütigun-
Frauen sind sowohl Formen körperlicher und sexu-      gen, Drohungen, Psychoterror, systematische
                                                      Kontrolle, Isolierung und extreme Eifersucht. In
eller Gewalt als auch sexuelle Belästigung, psychi-
                                                      Paarbeziehungen ist sie oft in ein Muster von
sche und ökonomische Gewalt sowie Stalking, wel-
                                                      Handlungen eingebettet, das auf die Unterord-
che häufig durch Partner oder Ex-Partner im Kon-      nung und Kontrolle der Partnerin abzielt und tritt
text häuslicher Gewalt verübt werden (siehe Infobox   häufig in Kombination mit körperlicher und/
8.1.1). Häufig treten unterschiedliche Formen von     oder sexueller Gewalt auf.
Gewalt in Kombination und mit unterschiedlichen
                                                      Ökonomische Gewalt ist eine Form der psychi-
Schweregraden auf und verdichten sich zu Mustern      schen Gewalt, über die ökonomische Kontrolle
von Gewalt in Paarbeziehungen [6], die von ein-       ausgeübt wird oder ökonomische Abhängigkeits-
maligen leichteren körperlichen Übergriffen über      verhältnisse ausgenutzt und stabilisiert werden,
Muster erhöhter psychischer Gewalt und mäßiger        z. B. wenn Geld oder Wertsachen entnommen
körperlicher Gewalt bis hin zu Mustern schwerer       werden oder die Partnerin daran gehindert wird,
Misshandlung reichen, in denen sowohl psychi-         eigenes Geld zu verdienen oder zu verwalten.
sche als auch körperliche und sexuelle Gewalt auf-    Stalking bezeichnet Verfolgungen und Nachstel-
treten. Alle Formen und Muster von Gewalt gehen       lungen und das bewusste wiederholte Erzwingen
mit erhöhten gesundheitlichen Belastungen von         von Kontakt zu einer Person gegen deren Willen,
Frauen einher [6].                                    etwa durch Auflauern sowie systematische Beläs-
    Auch sexuelle Belästigungen und Diskriminie-      tigung über Telefon, SMS oder E-Mails.
rungen am Arbeitsplatz, von denen Frauen deutlich
310    Kapitel 8   |   Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

                                                               sind weltweit von körperlicher und/oder sexueller
        Neben diesen Formen personaler Gewalt gibt es          Gewalt durch einen Beziehungspartner betroffen [1].
        auch Formen struktureller Gewalt, die nicht von           Dies entspricht in etwa den Gewaltausmaßen
        einer Person ausgehen, sondern durch gesell-           in Europa, die im Jahr 2012 in einer Studie der
        schaftliche oder institutionelle Strukturen und        Agentur der Europäischen Union für Grundrechte
        Vorgaben, Regelungen und Rahmenbedingun-               (European Union Agency for Fundamental Rights,
        gen bedingt sind, etwa durch Diskriminierungen
                                                               FRA) erhoben wurden (der sogenannten FRA-Stu-
        und Benachteiligungen sowie eingeschränkte
        Entfaltungsmöglichkeiten bestimmter Personen-          die) [8]. Demnach haben im europäischen Durch-
        gruppen wie Frauen, Menschen mit Behinderun-           schnitt 33 % der Frauen seit dem Alter von 15 Jahren
        gen oder mit Migrations-/Fluchthintergrund.            körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt; 22 %
        Strukturelle Diskriminierung und Gewalt bilden         waren von sexueller und/oder körperlicher Gewalt
        häufig den Hintergrund für personale Gewalt.           durch einen Partner oder Ex-Partner betroffen. Dar-
                                                               über hinaus berichteten 43 % der Frauen Formen
        * Beide Begriffe werden in Forschung und Praxis        von psychischer Gewalt durch (Ex-)Partner, oft in
        identisch verwendet. Mit dem Begriff der sexuali-      Kombination mit körperlicher und/oder sexueller
        sierten Gewalt soll zum Ausdruck gebracht werden,      Gewalt. Jede sechste Frau (18 %) war der Studie nach
        dass diese Gewaltform nichts mit Sexualität zu tun
                                                               bereits Opfer von Stalking geworden; mehr als jede
        hat, sondern vielmehr ein sexualisierter Ausdruck
        von Macht und Gewalt ist. Dies wird inzwischen         zweite Frau (55 %) war von sexueller Belästigung
        kontrovers diskutiert. Im Folgenden wird der Begriff   betroffen [8].
        „sexuelle Gewalt“ verwendet, da er den Gewaltcha-         Die Gewaltausmaße gegen Frauen liegen der
        rakter der Handlungen deutlich macht. Zudem ist        Studie nach in Deutschland weitgehend im europä-
        dies in der breiten Bevölkerung der gebräuchlichere    ischen Durchschnitt; nur psychische Gewalt (50 %)
        Begriff.
                                                               und Kontrolle durch (Ex-)Partner (40 %) sowie Stal-
                                                               king (24 %) und sexuelle Belästigungen (60 %) wur-
                                                               den von Frauen in Deutschland häufiger angegeben
      häufiger betroffen sind als Männer, können sich          (Tab. 8.2.1). Dabei ist unklar, ob dies tatsächlich
      negativ auf die psychische und gesundheitliche           auf eine höhere Betroffenheit in Deutschland oder
      Situation von Frauen auswirken. Eine Studie der          (auch) auf eine möglicherweise stärkere Sensibili-
      Antidiskriminierungsstelle des Bundes, die in den        sierung für Gewalt zurückzuführen ist [8].
      Jahren 2018/2019 durchgeführt wurde, zeigt, dass            Bereits die erste repräsentative Studie zu Gewalt
      13 % der befragten Frauen innerhalb der letzten drei     gegen Frauen in Deutschland, die 2003 im Auftrag
      Jahre sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt        des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
      haben. Von mittelstarken bis sehr starken psychi-        Frauen und Jugend (BMFSFJ) durchgeführt und
      schen Belastungen durch diese Vorfälle berichteten       2004 veröffentlicht wurde, hatte ein hohes Aus-
      41 % der betroffenen Frauen [7].                         maß von Gewalt gegen Frauen aufgedeckt [6]. Über
          Ausprägungen personaler Gewalt gegen Frauen          10.000 Frauen wurden schriftlich und mündlich
      sind darüber hinaus Menschenhandel zum Zwecke            befragt. Fast jede siebte Frau im Alter von 16 bis
      der sexuellen Ausbeutung und Zwangsprostitution,         85 Jahren (13 %) berichtete über erzwungene, straf-
      wodurch Frauen verschiedene Gewaltformen, dar-           rechtlich relevante sexuelle Handlungen in ihrem
      unter körperliche, psychische und sexuelle Gewalt        Erwachsenenleben (überwiegend durch (Ex-)Partner,
      erfahren.                                                aber auch durch andere bekannte/unbekannte Perso-
                                                               nen). Jede vierte Frau (25 %) war mindestens einmal
                                                               von körperlicher und/oder sexueller Gewalt durch
      8.2    Ausmaß von Gewalt gegen Frauen                    einen aktuellen und/oder früheren Beziehungspart-
                                                               ner betroffen [6]. Die körperlichen Gewalthandlun-
      Nach Einschätzung der WHO haben weltweit etwa            gen durch (Ex-)Partner reichten von Ohrfeigen und
      ein Drittel aller Frauen (35 %) bereits körperliche      wütendem Wegschubsen bis hin zu Tritten, Schlägen
      und/oder sexuelle Gewalt durch Beziehungspartner         mit Fäusten, Würgen und Waffengewalt; fast zwei
      oder andere Personen erlebt [1]. Die Täter sind über-    Drittel der von Partnergewalt betroffenen Frauen
      wiegend Partner oder Ex-Partner, 30 % der Frauen         (64 %) gaben Verletzungsfolgen an [6].
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen                        |   Kapitel 8   311

Tabelle 8.2.1
Gewaltbetroffenheit von Frauen seit dem 15. Lebensjahr in Deutschland und Europa
Datenbasis: Europaweite FRA-Studie 2012 [9]

Gewaltform und Kontext                                                                  Prävalenz in Europa Prävalenz in Deutschland
                                                                                                  n = 42.002                n = 1.534
Körperliche/sexuelle Gewalt (allgemein)
    Körperliche und/oder sexuelle Gewalt (alle Täter/innen)                                                33 %                      35 %
    Körperliche Gewalt (alle Täter/innen)                                                                  31 %                      33 %
    Sexuelle Gewalt (alle Täter/innen)                                                                     11 %                      12 %
Gewalt durch Partner oder Ex-Partner *
    Körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch (Ex-)Partner                                                22 %                      22 %
    Körperliche Gewalt durch (Ex-)Partner                                                                  20 %                      20 %
    Sexuelle Gewalt durch (Ex-)Partner                                                                       7%                       8%
    Psychische Gewalt durch (Ex-)Partner                                                                   43 %                      50 %
    Kontrollierendes Verhalten durch (Ex-)Partner                                                          35 %                      40 %
    Ökonomische Gewalt durch (Ex-)Partner                                                                  12 %                      11 %
    Drohung oder Handlungen des (Ex-)Partners, die Kinder zu verletzen                                       8%                       9%
Stalking und sexuelle Belästigung
    Stalking                                                                                               18 %                      24 %
    Sexuelle Belästigung                                                                                   55 %                      60 %
*   Hier wurde die männliche Form verwendet, da es sich fast durchgängig um Gewalt durch männliche (Ex-)Partner handelte.

    Auffällig ist, dass die europäische FRA-Studie                          im öffentlichen Raum durch bekannte und unbe-
[8] fast zehn Jahre nach der ersten bundesweiten                            kannte – zumeist männliche – Personen. Überwie-
Studie des BMFSFJ zu Gewalt gegen Frauen ähn-                               gend ereignen sich die Taten im jüngeren Lebens-
lich hohe Gewaltprävalenzen für Deutschland fest-                           alter bis Mitte/Ende 20 [11, 12]. Anders als Frauen
stellte und sich bislang kein relevanter Rückgang                           werden Männer seltener Opfer von schwerer, ein-
von Gewalt gegen Frauen zeigt. So haben in der                              seitiger und fortgesetzter Partnergewalt und auch
FRA-Studie 12 % der Frauen in Deutschland angege-                           deutlich seltener Opfer von sexueller Gewalt. Bei
ben, seit dem 15. Lebensjahr sexuelle Gewalt erlebt                         Männern, die Gewalt erfahren haben, wurden
zu haben (vs. 13 % in der BMFSFJ-Studie von 2003                            erhöhte gesundheitliche Belastungen festgestellt
[6]). 22 % waren von körperlicher und/oder sexuel-                          [10]. Das gilt ebenso für Männer, die zugleich Opfer
ler Gewalt durch (Ex-)Partner im Erwachsenenleben                           und Täter geworden waren.
betroffen (vs. 25 % in der BMFSFJ-Studie von 2003                               Der Fokus des vorliegenden Kapitels liegt auf
[6]) (Tab. 8.2.1). Beide Studien sind aufgrund von                          Frauen als Opfer von Gewalt und daraus resultie-
unterschiedlichen Erhebungsinstrumenten und                                 renden gesundheitlichen Problemen. Gewalt gegen
Stichprobengrößen nicht direkt vergleichbar. Ein                            Frauen in Partnerschaften geht ganz überwiegend
relevanter Rückgang der Gewaltprävalenz scheint                             von Männern aus. Bei körperlichen Gewalterfah-
aber unwahrscheinlich.                                                      rungen außerhalb von Partnerschaften berichteten
    Auch für Männer in Deutschland zeigt eine aktu-                         in der europäischen FRA-Studie 33 % der betroffe-
ell laufende Studie der RWTH Aachen eine hohe                               nen Frauen von einer Täterin [8]. Weitere 7 % gaben
Gewaltprävalenz. Erste Ergebnisse umfangreicher                             an, dass sie körperliche Gewalt sowohl durch männ-
Befragungen von Männern in Kliniken ergaben,                                liche als auch weibliche Personen erfahren hätten.
dass 18 % der Befragten Opfer von Gewalt gewor-                             Im Fall von sexueller Gewalt berichteten 3 % der
den waren ohne selbst Gewalt ausgeübt zu haben,                             Frauen, dass eine Frau die Täterin war. Zur gesund-
gut ein Viertel (26 %) hatte Gewalt erfahren und                            heitlichen Lage von Frauen, die Gewalt ausgeübt
zugleich Gewalt ausgeübt [10]. Wenn Männer                                  haben und von Frauen, die sowohl Täterin als auch
schwere Gewalt im Erwachsenenalter erleben, han-                            Opfer von Gewalt waren, liegen bislang kaum For-
delt es sich dabei häufiger um körperliche Gewalt                           schungsergebnisse vor.
312    Kapitel 8   |   Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

      8.3    Risikofaktoren für Gewalt gegen                 Zugangsmöglichkeiten zum Gesundheitswesen. Die
             Frauen                                          Dauer des Aufenthalts in Deutschland kann mit
                                                             unterschiedlichen Abhängigkeiten und mit unter-
      Risikofaktoren für Gewalt gegen Frauen wurden          schiedlichem Wissen über Schutz- und Unterstüt-
      im Rahmen einer Sonderauswertung der oben              zungsmöglichkeiten einhergehen. Informationen
      genannten deutschen Gewaltprävalenzstudie des          zur Gesundheit von Frauen mit Migrationshinter-
      BMFSFJ zu Schweregraden und Mustern von                grund finden sich in Kapitel 6 des Berichts.
      Gewalt in Paarbeziehung 2008 veröffentlicht [13].          Zur Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Migra­
      Demnach besteht ein besonders hohes Risiko für         tionshintergrund in Deutschland gibt es keine aktu-
      Gewalt gegen Frauen im Kontext von Trennung            ellen repräsentativen Zahlen. Zusatzbefragungen
      und Scheidung [13]. Ein erhöhtes Risiko, Gewalt        der deutschen Gewaltprävalenzstudie von 2003
      zu erleben, wurde zudem bei Frauen mit Gewalt­         belegen aber einen Zusammenhang zwischen
      erfahrungen in Kindheit und Jugend festgestellt        Migra­tionshintergrund und erhöhter Gewaltbelas-
      (siehe Kapitel 8.4). Auch Frauen mit Migrations-       tung gegenüber der Gesamtbevölkerung, insbeson-
      und Fluchthintergrund tragen ein erhöhtes Risiko,      dere für weibliche Flüchtlinge und für Frauen mit
      Opfer von Gewalt zu werden. Besonders gefährdet        türkischem Migrationshintergrund [6, 16]. So waren
      ist die Gruppe der Frauen mit Behinderungen,           Frauen mit türkischem Migrationshintergrund häu-
      die je nach Gewaltform und Behinderung zwei-           figer von Gewalt durch den aktuellen Partner betrof-
      bis viermal häufiger von Gewalt betroffen waren        fen als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt (29 %
      als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. Ein sys-       bzw. 14 %) [6, 16]. Eine Zusatzbefragung bei geflüch-
      tematischer Zusammenhang zwischen Bildung,             teten Frauen zeigte, dass diese vergleichsweise häu-
      sozioökonomischer Situation und Gewaltbetrof-          fig von Gewalt in unterschied­lichen Lebenskontex-
      fenheit der Frauen zeigte sich in der deutschen        ten betroffen waren, also neben der Partnerschaft
      Studie hingegen nicht [13, 14].                        auch in den Wohnheimen, im öffentlichen Raum
          Sowohl Frauen mit Behinderungen als auch           und im Kontext der Arbeit: 79 % berichteten psy-
      Frauen mit Migrationshintergrund stellen keine         chische Gewalt seit dem 16. Lebensjahr, 52 % kör-
      homogene Gruppe dar. Frauen mit Behinderun-            perliche Gewalt, 69 % sexuelle Belästigung und
      gen leben in verschiedenen Kontexten und sind in       28 % sexuelle Gewalt. Wenn vermutet wird, dass
      unterschiedlichem Maße aufgrund von Behinde-           geflüchtete Frauen aufgrund ihrer besonderen
      rungen und chronischen Erkrankungen in ihrem           Lebenssituation eine größere Zurückhaltung zei-
      Leben eingeschränkt (siehe Kapitel 9). Eine erhöhte    gen, Gewalt­erfahrungen in Deutschland Dritten
      Gewaltbetroffenheit ergibt sich oftmals durch die      gegenüber zu benennen als andere Untersuchungs-
      eingeschränkte Wehrhaftigkeit und die Abhängig-        gruppen, könnte die Gewaltbetroffenheit tatsäch-
      keit von anderen Menschen, außerdem durch die          lich auch noch höher liegen [6]. Bei der erhöhten
      institutionelle Unterbringung, z. B. in Wohnheimen     Gewaltbetroffenheit und Gesundheitsbelastung von
      für Menschen mit Behinderungen [14, 15]. Frauen        Frauen mit türkischem Migrationshintergrund fiel
      mit Behinderungen erfahren auch im Erwachse-           auf, dass zur schlechteren gesundheitlichen Situa-
      nenleben durch Eltern und (Ex-)Partner häufiger        tion insbesondere älterer Frauen aus dieser Gruppe
      Gewalt als Frauen ohne Behinderungen und ihr           mehrere Faktoren beitrugen. Nicht nur die erhöh-
      Alltag ist nicht selten von gesellschaftlicher Aus-    ten Gewalterfahrungen waren Ursache, sondern
      grenzung, erhöhter Diskriminierung und struktu-        auch die schwierigere soziale und ökonomische
      reller Gewalt geprägt [14, 15].                        Situation, die soziale Isolation sowie Diskriminie-
          Frauen mit Migrationshintergrund sind eben-        rung und Ausgrenzung in Deutschland [6, 16].
      falls eine sehr heterogene Gruppe. Sie umfasst         Insofern ist auch hier ein Kontext von strukturel-
      Frauen der ersten und zweiten Migrationsgenera-        ler Gewalt und Diskriminierung ein maßgeblicher
      tion, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, z. B.    Hintergrund für erhöhte Belastungssituationen.
      ausländische Arbeitnehmerinnen und deren Töchter,          Die Studie zeigte auch, dass sich sowohl Frauen
      Spätaussiedlerinnen, Asylbewerberinnen, (Kriegs-)      mit Behinderungen als auch Frauen mit Migra-
      Flüchtlinge und Kinder aus binationalen Beziehun-      tionshintergrund und geflüchtete Frauen auf-
      gen. Der Aufenthaltsstatus definiert ihre Rechte und   grund stärkerer Abhängigkeiten schwerer aus
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen            |   Kapitel 8   313

Gewaltsituationen lösen als andere Frauen. Darü-                und psychische sowie psychosoziale Probleme, wie
ber hinaus war es für sie schwieriger, Hilfe, Schutz            Angstgefühle, Konzentrationsstörungen und psy-
und Unterstützung durch Institutionen zu erhal-                 chischer Stress, gelten als unmittelbare gesund-
ten. Die strukturelle Situation trägt dazu bei, dass            heitliche Folgen von Gewalt. Zu den mittel- und
die betroffenen Frauen ein erhöhtes Risiko haben,               langfristigen Gesundheitsfolgen körperlicher, sexu-
in Gewaltsituationen zu verbleiben und dadurch                  eller und psychischer Gewalt gegen Frauen gehö-
gesundheitlich geschädigt zu werden [6, 13–18].                 ren körperliche und psychische Symptome und
                                                                Erkrankungen. Durch das Zusammenwirken von
                                                                körperlichen und psychischen Aspekten können
8.4     Gesundheitliche Folgen von                              sogenannte psychosomatische Erkrankungen ent-
        Gewalt gegen Frauen                                     stehen. Auch gesundheitsgefährdende Verhaltens-
                                                                weisen können als Folge erlebter Gewalt auftreten.
Die Ergebnisse nationaler und internationaler Stu-                  Obwohl eine direkte Vergleichbarkeit der inter-
dien verweisen auf einen Zusammenhang zwi-                      nationalen Forschungsergebnisse nur begrenzt
schen Gewalterfahrungen von Frauen und direk-                   möglich ist und die komplexen Ursachen- und Wir-
ten sowie langfristigen Folgen für die Gesundheit [1,           kungszusammenhänge zwischen Gewalterlebnis-
5, 6, 9, 19–24]. Gewaltbelastungen in der Kindheit              sen und gesundheitlichen Folgen empirisch schwer
und Jugend sowie fortgesetzte Gewalterfahrungen                 zu erfassen sind, verweisen zahlreiche Befunde auf
im Erwachsenenleben können den physischen und                   gesundheitliche Folgen von Gewalt und benennen
psychischen Gesundheitszustand von Frauen nach-                 ähnliche Symptome. Neben den erlebten Gewalt­
haltig negativ beeinflussen [1, 5, 6, 9, 13, 15, 19–26].        erfahrungen haben auch die individuelle Bewer-
    Gewalterfahrungen können zu kurz-, mittel- und              tung und Verarbeitung der Gewalterfahrungen
langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigun-                 einen Einfluss auf die physische und psychische
gen führen. Die Übersicht in Abbildung 8.4.1 zeigt              Gesundheit Betroffener [1, 28]. Zudem liegen bis-
verschiedene gesundheitliche Folgen von Gewalt                  her nur wenige Erkenntnisse über die mög­lichen
gegen Frauen und Mädchen. Akute Verletzungen                    Wechselwirkungen zwischen gesundheitlichen

Abbildung 8.4.1
Übersicht zu gesundheitlichen Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen
Quelle: Hellbernd, Brzank, Wieners et al. [27]

                       Gesundheitliche Folgen von Gewalt gegen Frauen und Mädchen

                                  Nicht-tödliche Folgen                                        Tödliche Folgen

   Körperliche Folgen                     Psychische Folgen
   • Verletzungen                         • Posttraumatische Belastungsstörungen
   • Funktionelle Beeinträchtigungen      • Depression, Ängste, Schlafstörungen,
   • Dauerhafte Behinderungen               Panikattacken
                                          • Essstörungen                                     • Tödliche Verletzungen
   Gesundheitsgefährdende                 • Verlust von Selbstachtung und Selbstwertgefühl
   (Überlebens-) Strategien als Folgen    • Suizidalität                                     • Tötung
   • Rauchen
   • Alkohol- und Drogengebrauch          Folgen für die reproduktive Gesundheit             • Mord
   • Risikoreiches Sexualverhalten        • Eileiter- und Eierstockentzündungen
   • Selbstverletzendes Verhalten         • Sexuell übertragbare Krankheiten                 • Suizid
                                          • Ungewollte Schwangerschaften
   (Psycho-)somatische Folgen             • Schwangerschaftskomplikationen
   • Chronische Schmerzsyndrome           • Fehlgeburten/niedriges Geburtsgewicht
   • Reizdarmsyndrom
   • Magen-Darm-Störungen
   • Harnwegsinfektionen
   • Atemwegsbeschwerden
314    Kapitel 8   |   Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

      Beeinträchtigungen, erhöhter Gewaltbetroffen-           in unterschiedlichem Ausmaß davon [6]. Verlet-
      heit und sozialen Folgeproblemen von Gewalt (z. B.      zungsfolgen traten dabei etwas häufiger nach kör-
      Armut oder Isolation) vor. So ist z. B. nicht eindeu-   perlicher Gewalt (55 %) als nach sexueller Gewalt
      tig nachvollziehbar, in welchem Maße psychische         (44 %) auf. Etwa jede fünfte in Deutschland
      Beschwerden eine Folge von Gewalterfahrungen            lebende Frau im Alter von 16 bis 85 Jahren gab
      sind und in welchem Maße Frauen mit psychischen         an, mindestens einmal körperliche Verletzungen
      Problemen eher gefährdet sind, Gewalt in ihrer          infolge von Gewalt in ihrem Erwachsenen­leben
      Partnerschaft oder in anderen Lebensbereichen           erlitten zu haben. Hierzu zählten u. a. Hämatome
      zu erfahren bzw. sich nicht daraus lösen zu kön-        (Blutergüsse), Gesichts- und Kopfverletzungen,
      nen [1, 5, 6, 14]. Vieles spricht für wechselseitige    aber auch Knochenbrüche und Verletzungen
      Zusammenhänge zwischen Gewalterfahrungen,               im Genitalbereich. Die Mehrheit der befragten
      psychosozialen und gesundheitlichen Problemen           Frauen trug infolge körperlicher und/oder sexu-
      im Leben von Frauen [1, 5, 6, 14, 29].                  eller Gewalt eine Kombination unterschiedlicher
          Die folgenden Erkenntnisse zu den gesundheit-       Verletzungen davon; dies stimmt auch mit den
      lichen Folgen von Gewalt gegen Frauen basieren          Ergebnissen anderer europäischer und internati-
      überwiegend auf repräsentativen bevölkerungswei-        onaler Studien überein [1, 5, 6, 8, 30].
      ten Befragungen von Frauen, auf klinischen Stu-             Etwa ein Drittel der befragten gewaltbetroffenen
      dien und (systematischen) Literaturreviews. Für         Frauen hatten so schwerwiegende Verletzungen,
      Deutschland beziehen sich die Befunde größten-          dass sie medizinische Hilfe in Anspruch nahmen
      teils auf die Ergebnisse der bisher einzigen großen     [6]. Internationale Studien geben Hinweise darauf,
      bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie aus dem           dass gewaltbetroffene Frauen medizinische Hilfe
      Jahr 2003 mit über 10.000 Befragten [6], einer Fol-     – unabhängig von ihrem Zugang zu dem jeweili-
      gestudie zu Gewalt gegen Frauen mit Behinderun-         gen Gesundheitssystem – auch bei schwerwiegen-
      gen [13] sowie auf die Ergebnisse der europäischen      deren Verletzungen oftmals nicht wahrnehmen
      FRA-Studie von 2012 [8].                                [5]. Dies könnte mit der nach wie vor bestehenden
          In diesen Studien wurden die Zusammenhänge          gesellschaftlichen Tabuisierung des Gewaltthemas
      zwischen Gewalt und gesundheitlichen Folgen             und der daraus resultierenden Scham der Opfer
      einerseits durch direkte Nachfragen an Betroffene       zusammenhängen.
      erfasst. Die Frauen berichten von Verletzungs-, psy-        Verletzungsfolgen wurden in der bundesdeut-
      chischen und psychosozialen Folgen von Gewalt­          schen Prävalenzstudie vergleichsweise häufig von
      ereignissen. Andererseits wurde statistisch unter-      Frauen angegeben, die von Gewalt durch ihren Part-
      sucht, ob Frauen, die Gewalt (in unterschiedlichen      ner oder Ex-Partner betroffen waren (64 %). Diese
      Formen und Kontexten) erlebt hatten, in erhöhtem        Befunde decken sich mit den Ergebnissen anderer
      Maße von verschiedenen körperlichen, psychoso-          europäischer Studien [6, 8, 31], wonach mindestens
      matischen und psychischen Belastungen sowie             55 % bis 70 % der von körperlicher und/oder sexuel-
      Einschränkungen in der reproduktiven Gesund-            ler Partnergewalt betroffenen Frauen unmittelbare
      heit und im Gesundheitsverhalten betroffen sind.        körperliche Verletzungen und Beeinträchtigungen
      Daraus ergaben sich die im Folgenden dargestell-        davontrugen. Ferner stellt sich Partnergewalt auch
      ten Erkenntnisse zu gesundheitlichen Folgen von         dadurch als schwerwiegender dar, als es sich häu-
      Gewalt im Lebensverlauf.                                figer um mehrfache und fortgesetzte Gewaltüber-
                                                              griffe handelt [5, 6, 8, 31].
                                                                  In der aktuelleren FRA-Studie wurden die Ver-
      8.4.1 Verletzungsfolgen                                 letzungsfolgen nur im Zusammenhang mit dem
                                                              schwerwiegendsten Vorfall körperlicher oder sexuel-
      Verletzungen zählen zu den unmittelbaren Folgen         ler Gewalt durch den (Ex-)Partner erfasst (Tab. 8.4.1.1).
      von Gewalt, die zu kurz-, mittel- oder langfristigen        Im schlimmsten Fall können Verletzungen auch
      Gesundheitsbeeinträchtigungen führen können.            zum Tode führen. Für das Jahr 2018 erfasste das
      Etwa die Hälfte der gewaltbetroffenen Frauen der        Bundeskriminalamt 324 Fälle von versuchtem Tot-
      bundesdeutschen Prävalenzstudie trugen in Folge         schlag und Mord an Frauen durch deren Partner
      körperlicher oder sexueller Gewalt Verletzungen         oder Ex-Partner; 118 dieser Fälle endeten tödlich [32].
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen        |   Kapitel 8   315

Tabelle 8.4.1.1                                            Diabetes mellitus Typ 2, Magen-Darm-Beschwer-
Verletzungsfolgen bei Frauen infolge des schwer­           den, Atemwegserkrankungen wie Asthma bronchi-
wiegendsten Vorfalls körperlicher oder sexueller
Gewalt durch den (Ex-)Partner
                                                           ale und Bronchitis sowie Knochen-, Muskel- und
Datenbasis: Europaweite FRA-Studie 2012 [9]                Nervenerkrankungen [1, 20, 21, 33]. Gewalterfahrun-
                                                           gen von Frauen sind zudem oftmals mit gynäko-
Verletzungsfolgen       Prävalenz bei Gewaltbetroffenen    logischen Beschwerden und Erkrankungen sowie
                                        in Deutschland     Einschränkungen in der reproduktiven Gesundheit
                                               n = 1.534
                                                           verbunden [1, 5, 34–36].
Blaue Flecken/Kratzer                              49 %       Eine Auswertung der bundesdeutschen Gewalt-
Wunden, Verstauchungen/                            16 %    prävalenzstudie belegte einen starken Zusammen-
Verrenkungen, Verbrennungen
                                                           hang zwischen der Gewaltbetroffenheit im Lebens-
Knochenbrüche,                                      5%
abgebrochene Zähne
                                                           verlauf und der gesundheitlichen Situation der
                                                           Befragten [16]. Frauen, die im Lebensverlauf kör-
Gehirnerschütterungen/                              3%
Verletzungen des Gehirns                                   perlicher, psychischer und/oder sexueller Gewalt
Innere Verletzungen                                 2%     ausgesetzt waren, schätzten die eigene Gesundheit
Fehlgeburt                                          1%     im Vergleich zu nicht betroffenen Frauen durchweg
Sonstige                                            4%     schlechter ein. Zudem gaben sie deutlich häufiger
                                                           körperliche und psychische Beschwerden wie Kopf-
                                                           und Bauchschmerzen, Magen- und Darmprobleme,
8.4.2 Körperliche und psycho-                              Zittern, Schwindel, Atemprobleme und gynäkolo-
      somatische Folgen                                    gische Beschwerden an. Gewalterfahrungen in der
                                                           Kindheit und zusätzlich im Erwachsenenleben führ-
Körperliche und psychosomatische Folgebe-                  ten zu einer erheblichen Zunahme der gesundheitli-
schwerden von Gewalt gegen Frauen im Lebens-               chen Belastungen. In einer Patientinnenbefragung
verlauf sind mit Befragungen nicht eindeutig               des Berliner S.I.G.N.A.L.-Begleitprojektes Anfang
erfassbar, zumal oftmals vielfältige Einflussfak-          der 2000er-Jahre wurden weitgehend identische kör-
toren, Zusammenhänge und Wirkungen eine                    perliche Beschwerden und Symptomatiken als Folge
Rolle spielen. Bisher ist noch relativ wenig über          von Gewalterfahrungen identifiziert [11].
Wechselwirkungen und miteinander verknüpfte                   Der wechselseitige Zusammenhang zwischen
Prozesse, z. B. durch das (mehrfache) Erleben              fortgesetzten Gewalterfahrungen und gesundheit­
unterschiedlicher Gewaltformen im Lebensver-               lichen Belastungen zeigt sich auch und insbeson-
lauf, Folgeprobleme von Gewaltereignissen und              dere für Frauen mit Behinderungen [1, 14, 37]. Sie
mögliche weitere Einflussfaktoren bekannt. Die             werden im gesamten Lebensverlauf deutlich häufi-
verfügbaren Daten verweisen jedoch auf bedeut-             ger Opfer von Gewalt als Frauen ohne Behinderun-
same Zusammenhänge zwischen erlebter Gewalt                gen. Auch nationale Studien geben Hinweise dar-
und körperlichen Beschwerden bzw. Symptoma-                auf, dass Behinderungen und chronische Erkran-
tiken bei Betroffenen [1, 5, 8, 20, 21].                   kungen auch eine Folge von in der Kindheit und im
   Internationale Forschungsergebnisse belegen,            Erwachsenenalter erlebter Gewalt sein können [29].
dass Gewaltereignisse in der Kindheit und im
Erwachsenenalter zu einer Reihe körperlicher und
psychosomatischer Beschwerden führen können.               8.4.3 Psychische und psychosoziale
Hierbei steht die Anzahl und Schwere der Sympto-                 Folgen
matiken in engem Zusammenhang mit der Häufig-
keit, Dauer und Intensität der Gewaltereignisse. Oft-      Gewalterfahrungen in der Kindheit und im
mals bleiben die Beschwerden über die Beendigung           Erwachsenenleben gelten in der nationalen und
der Gewaltsituation hinaus bestehen [1, 20, 21, 33].       internationalen Forschung als Ursache verschie-
   Zu den körperlichen und psychosomatischen               denster kurz-, mittel- und langfristiger psychischer
Folgen von Gewalt gegen Frauen zählen u. a.                Beeinträchtigungen und Erkrankungen [1, 5, 6, 20,
chronische Schmerzen, wie Kopf-, Rücken- und               21, 26, 33, 38]. Zu den psychischen Folgen zählen
Bauchschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen,               insbesondere die Ausbildung einer Depression,
316    Kapitel 8   |   Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

      einer Posttraumatischen Belastungsstörung, Ess-        Tabelle 8.4.3.1
      störung oder Angststörung, aber auch Angstsymp­        Langfristige psychische Folgen für Frauen durch den
                                                             schwerwiegendsten Vorfall körperlicher oder sexueller
      tome, Stresssymptome und Suizidalität [5, 6, 8,
                                                             Gewalt durch den (Ex-)Partner
      30, 33, 39]. Kinder mit Gewalterfahrungen weisen       Datenbasis: Europaweite FRA-Studie 2012 [9]
      zudem häufiger Beeinträchtigungen in der geis-
      tigen und emotionalen Entwicklung auf [20, 21].         Langfristige            Prävalenz bei Gewaltbetroffenen
          Als direkte psychische und psychosoziale Fol-       psychische                              in Deutschland
      gen der erlebten physischen, psychischen und            Folgen                                         n = 1.534
      sexuellen Gewalt gaben die befragten Frauen in         Beziehungsschwierigkeiten                           45 %
      der bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie am           Gefühl der Verletzlichkeit                          43 %
      häufigsten Niedergeschlagenheit/Depressionen,          Angstzustände                                       36 %
      Schlafstörungen/Alpträume, dauerndes Grübeln,          Verlust des Selbstvertrauens                        33 %
      vermindertes Selbstwertgefühl, erhöhte Ängste,         Schlafstörungen                                     28 %
      Schwierigkeiten im Umgang mit Männern bzw.             Depressionen                                        20 %
      in sozialen Beziehungen sowie Antriebslosigkeit/       Panikattacken                                       13 %
      Konzentra­tionsschwäche an [6]. Darüber hinaus         Konzentrationsstörungen                             13 %
      wurden auch Essstörungen und Suizidgedanken            Sonstige                                             7%
      genannt. Diese vielfältigen psychischen und psy-
      chosozialen Symptome und Erkrankungen wur-
      den auch in anderen internationalen Studien zu         Häufigkeit der erlebten Gewalt und dem Ausmaß
      den Folgen von Gewalt gegen Frauen identifiziert       psychischer Beschwerden.
      [5, 8, 30, 33, 38].                                        Ergebnisse nationaler und internationaler Stu-
          In der für Deutschland aktuelleren europäischen    dien zu den psychischen Folgen von Misshandlung,
      FRA-Studie aus dem Jahr 2012 wurden von den            Vernachlässigung und Missbrauch im Kindesalter
      Betroffenen als langfristige Folgen von Gewaltereig-   [19, 20, 21] deuten ebenfalls auf eine enge Verbin-
      nissen durch den Partner oder Ex-Partner genannt:      dung von Gewalterfahrungen in der Kindheit mit
      Beziehungsschwierigkeiten, ein Gefühl der Verletz-     Störungen des Sozialverhaltens, Angst- und Persön-
      lichkeit, der Verlust des Selbstvertrauens, Angst-     lichkeitsstörungen, depressiven Erkrankungen, der
      zustände, Schlafstörungen sowie Depressionen           Ausbildung einer Posttraumatischen Belastungs-
      (Tab. 8.4.3.1). Partnergewalt gegen Frauen zeichnet    störung, Suizidalität sowie einem erhöhten Alko-
      sich oft dadurch aus, dass sie wiederholt und über     hol- und Drogenkonsum hin. Diese Befunde wei-
      einen längeren Zeitraum auftritt und unterschied-      sen auf die hohe Bedeutung der Prävention von
      liche Formen physischer, psychischer und sexuel-       Gewalt hin. Zudem verdeutlichen sie, wie wichtig
      ler Gewalt umfasst. Diese ist besonders häufig mit     das frühzeitige Erkennen der psychischen und psy-
      schwerwiegenden psychischen und psychosomati-          chosozialen Folgen von Gewalt und deren medizi-
      schen Folgen verbunden [13, 16].                       nische und therapeutische Behandlung sind.
          Aktuelle psychische Beschwerden können
      auf akute Gewaltereignisse, aber auch auf frü-
      here Gewalterfahrungen in der Kindheit und im          8.4.4 Auswirkungen auf die reproduktive
      Erwachsenenleben zurückgehen. In der bundes-                 Gesundheit
      deutschen Gewaltprävalenzstudie des BMFSFJ
      zeigten sich besonders hohe psychische Belas-          Bedeutsame Lebensereignisse wie Schwanger-
      tungswerte für Frauen, die Opfer von Gewalt            schaft und Mutterschaft sind von vielfältigen
      sowohl in der Kindheit als auch im Erwachsenen-        Veränderungen und Umbrüchen sowie neuen
      leben geworden waren und die neben körperlicher        Heraus­forderungen für Frauen und deren Part-
      Gewalt auch von psychischer und/oder sexueller         ner geprägt (siehe auch Kapitel 7). Für Frauen geht
      Gewalt betroffen waren [1, 6]. Dies unterstreicht      diese Lebensphase mit einem erhöhten Risiko,
      ebenfalls die Relevanz wiederholter Gewalterfah-       Opfer von Partnergewalt zu werden, einher. Ergeb-
      rungen im Leben von Frauen und es verweist auf         nisse der bundesdeutschen Gewaltprävalenzstudie
      den Zusammenhang zwischen der Intensität und           bestätigen dies. Von den Frauen, die von Gewalt
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen       |   Kapitel 8   317

in Paarbeziehungen betroffen waren, berichteten        erhöhte Tabakkonsum auffiel [6]. So rauchten
23 %, dass die Gewalt in der Paarbeziehung erst-       gewaltbetroffene Frauen zwei- bis dreimal häufi-
mals im Kontext ihrer Schwangerschaft und/oder         ger mindestens zehn Zigaretten am Tag als nicht
der Geburt des ersten Kindes aufgetreten war [1, 6].   betroffene Frauen. In dieser und in weiteren inter-
    Gewalttaten vor und während der Schwanger-         nationalen Studien wird der erhöhte Tabak-, Alko-
schaft schädigen die körperliche und psychische        hol- und Drogenkonsum als Bewältigungsstrategie
Gesundheit von Frauen und sie können Kompli-           infolge der erlebten Gewalt interpretiert [1, 5, 6].
kationen im Schwangerschafts- und Geburtsver-          Ferner ist bekannt, dass Frauen mit Gewalterfah-
lauf verursachen. Dies wirkt sich auch auf die         rungen sich häufiger selbst verletzen und ein ris-
Gesundheit von Föten bzw. Neugeborenen aus. In         kanteres Sexualverhalten aufweisen. Außerhäus-
der bundesdeutschen Prävalenzstudie [6] gaben          liche körperlich-sportliche Aktivitäten, welche die
gewaltbetroffene Frauen signifikant häufiger als       Gesundheit fördern können (siehe auch Kapitel
nicht betroffene Frauen Unterleibs- bzw. gynäko-       2.2.1), werden dagegen von gewaltbetroffenen
logische Beschwerden sowie Komplikationen wäh-         Frauen seltener unternommen [1, 5, 6].
rend der Schwangerschaft und Geburt an. Darüber           Frauen, die sowohl in der Kindheit als auch im
hinaus belegen mehrere nationale und internatio-       Erwachsenenalter Gewalt erlebt haben, sind zudem
nale Forschungsergebnisse, dass gewaltbetroffene       stärker sozial isoliert und benennen häufiger Pro­
Frauen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit Fehl-     bleme in ihren sozialen Beziehungen [5, 6, 16].
oder Frühgeburten erleiden und häufiger Babys mit      Letzteres kann sowohl Ursache, als auch Folge von
einem geringeren Geburtsgewicht zur Welt bringen       Gewalt sein, da gewalttätige Partner oftmals dazu
[1, 5, 8, 40, 41]. Ursachen hierfür können chroni-     neigen, ihre Partnerinnen zu kontrollieren und sie
scher Stress infolge der Gewaltbelastungen in der      von ihren Freundinnen und Freunden, Bekannten
Paarbeziehung, körperliche Verletzungen sowie          und ihrer Familie zu isolieren. Die Ergebnisse der
eine geringere oder verspätete Inanspruchnahme         bundesdeutschen Gewaltprälenzstudie belegen
von Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen             einen Zusammenhang zwischen sozialer Isola-
durch gewaltbetroffene Frauen sein [1, 5]. Weiterhin   tion, Gewalt und einem schlechteren Gesundheits-
berichteten Frauen, die von Partnergewalt betroffen    zustand [6].
sind oder waren, häufiger von ungewollten Schwan-
gerschaften und Schwangerschaftsabbrüchen [5].
    Partnerschaftskonflikte und -gewalt, aber auch     8.5    Kosten von Gewalt
mangelnde Unterstützung und Verlässlichkeit
durch den Partner im Verlauf der Schwangerschaft       Gewalterfahrungen sind für die betroffenen
und nach der Geburt erhöhen zudem das Risiko,          Frauen (und auch deren Kinder) mit einem gro-
in dieser Lebensphase an einer Depressionn zu          ßen individuellen Leid und häufig mit diversen
erkranken (u. a. postnatale Depression) [1, 36, 40].   gesundheitlichen und (psycho-)sozialen Folgen
                                                       verbunden. Gleichzeitig verursachen die Folgen
                                                       von Gewalt auch erhebliche gesamtgesellschaft­
8.4.5 Auswirkungen auf das Gesund-                     liche Kosten [21, 43]. Die jährlichen Kosten infolge
      heitsverhalten und soziale                       von Gewalt gegen Frauen belaufen sich auf etwa
      Beziehungen                                      3,8 Milliarden Euro [44]. Diese Summe setzt sich
                                                       zusammen aus den tatsächlichen Ausgaben für
Gewalterfahrungen können ein gesundheitsschä-          Güter und Dienstleistungen, die als direkte Folge
digendes Verhalten begünstigen. Es ist belegt, dass    von Gewalt in Anspruch genommen werden, und
gewaltbetroffene Frauen sowie Kinder und Jugend-       aus weiteren Folgekosten. Darüber hinaus fallen
liche häufiger Tabak, Alkohol, Drogen und auf die      Kosten an, denen kein direkter Geldwert zugeord-
Psyche wirkende Medikamente konsumieren als            net werden kann.
Nichtbetroffene [1, 5, 6, 20, 21, 42]. Nach der bun-      Im Gesundheitssektor entstehen Kosten vorwie-
desdeutschen Gewaltprävalenzstudie konsumier-          gend durch die medizinische Erstversorgung bei
ten Frauen mit Gewalterfahrungen häufiger Alko-        akuten Verletzungen, die Behandlung psychoso-
hol und Drogen, wobei insbesondere der deutlich        matischer Beschwerden und sexuell übertragbarer
318    Kapitel 8   |   Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

      Krankheiten sowie für psychologische oder the-         gesundheitlichen Versorgung von nahezu allen
      rapeutische Behandlungen betroffener Frauen.           Bevölkerungsgruppen genutzt werden. Aus diesem
      Zudem fallen Kosten für Medikamente, Rehabili-         Grund sollten angehende Fachkräfte darin geschult
      tationsmaßnahmen und langfristige Versorgungs­         werden, die gesundheitlichen Folgen von Gewalt zu
      erfordernisse an (z. B. infolge chronischer Erkran-    erkennen und potenziell Betroffene auf mögliche
      kungen). Direkte Kosten für die Gesellschaft           Gewalterfahrungen anzusprechen und zu unter-
      entstehen auch durch Beratungs- und Unterstüt-         stützen.
      zungseinrichtungen für Frauen, durch die Kinder-           Dies ist umso wichtiger, als sich ein großer Teil
      und Jugendhilfe, Polizei und Justiz. Folgekosten       der praktizierenden Ärztinnen und Ärzte sowie
      von Gewalt entstehen u. a. durch den Verlust an        Pflegekräfte nicht ausreichend qualifiziert fühlt,
      Potenzial, z. B. durch entgangene Einkünfte infolge    die Folgen körperlicher, sexueller und häuslicher
      von Arbeitsausfall/-unfähigkeit oder Frühverren-       Gewalt zu diagnostizieren und adäquat anzuspre-
      tung [1, 5, 11, 43, 44]. Kosten, denen kein direkter   chen [1, 27, 48]. Geschulte Fachkräfte könnten in
      Geldwert gegenübergestellt werden kann, entste-        allen medizinischen und therapeutischen Versor-
      hen z. B. durch den Verlust an Lebensqualität auf-     gungsbereichen dazu beitragen, dass Gewaltbelas-
      grund von Schmerzen, Angst oder dem Verlust von        tungen frühzeitig erkannt und bei der Behand-
      geliebten Personen. Diese Beeinträchtigungen kön-      lung entsprechend berücksichtigt werden [49,
      nen lebenslang bestehen, auf insgesamt 18 Milliar-     50]; außerdem könnten so mehr Betroffene an
      den Euro schätzt sie die erste deutsche Kostenstudie   Schutz- und Unterstützungseinrichtungen wei-
      zu häuslicher Gewalt gegen Frauen [44].                tervermittelt werden.
                                                                 Wenn mögliche Gewalterfahrungen in der
                                                             Behandlung von physischen und psychischen
      8.6    Fazit                                           Beschwerden nicht berücksichtigt werden, kann
                                                             dies zu Über-, Unter- oder Fehlversorgungen füh-
      Mit der weltweiten Ausbreitung des neuartigen          ren. Fehlbehandlungen und Fehlmedikation haben
      Coronavirus SARS-CoV-2 Anfang des Jahres 2020          mitunter gravierende gesundheitsschädigende Aus-
      bekam auch das Thema Gewalt gegen Frauen eine          wirkungen für die Betroffenen und können die
      besondere Aktualität. Die WHO weist darauf hin,        Chronifizierung von Symptomen sowie dauerhafte
      dass Gewalt gegen Frauen gerade in Notfällen           Beeinträchtigungen bedingen [1].
      und schwierigen Lebenssituationen wie Pande-               Neben einer angemessenen medizinischen
      mien oftmals zunimmt [45]. Das Regionalbüro            Versorgung benötigen gewaltbetroffene Frauen
      für Europa geht von einem starken Anstieg der          in der Regel auch Unterstützung durch regionale
      Fälle in Europa während der Ausgangssperren            Hilfe- und Beratungseinrichtungen und Frauen­
      und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit              schutzhäuser sowie überregionale Angebote, wie
      aus [46]. Erste Ergebnisse einer repräsentativen       z. B. das Hilfetelefon (www.hilfetelefon.de). Bera-
      Studie aus Deutschland zeigen, dass die Quaran-        tungs- und Hilfsangebote für gewaltbetroffene
      täne das Risiko für Frauen und Kinder erhöhte,         Frauen umfassen ein breites Spektrum an Ange-
      zu Hause Opfer von körper­lichen Übergriffen zu        boten, zum Teil mit Spezialisierungen auf häus-
      werden [47].                                           liche Gewalt (z. B. Frauenberatungsstellen und
         Eine Reduzierung der Gewaltbetroffenheit von        -notrufe, Interventionsstellen, Frauenhäuser und
      Frauen und der mit ihr verbundenen Folgen und          angegliederte Beratungsstellen), sexuelle Gewalt
      Folgekosten ist – aktuell und langfristig – eine       (z. B. Frauennotrufe und Fachberatungsstellen für
      zentrale Voraussetzung für die Verbesserung der        Opfer sexueller Gewalt) sowie Menschenhandel,
      Gesundheits- und Lebenssituation von Frauen und        Zwangspros­titution und Zwangsverheiratung [51,
      die umfassende Gleichstellung der Geschlechter         52]. Form und Anzahl der Hilfe- und Beratungsein-
      in allen Lebensbereichen. Sie bedarf umfassender       richtungen unterscheiden sich innerhalb Deutsch-
      Präventions-, Unterstützungs- und Interventions-       lands je nach Land und Region. Wie eine bundes-
      strategien auf allen Ebenen.                           weite Bedarfsanalyse zeigt, steht insgesamt ein
         Das Gesundheitswesen nimmt hierbei                  dichtes und ausdifferenziertes Netz an Unterstüt-
      eine Schlüsselrolle ein, da Einrichtungen der          zungseinrichtungen für gewaltbetroffene Frauen
Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen       |   Kapitel 8   319

im Bundesgebiet zur Verfügung [51]. Punktuell          zur rechtssicheren Dokumentation bei häuslicher
wurden jedoch Versorgungslücken und Zugangs-           Gewalt gibt es innerhalb von Deutschland in eini-
schwierigkeiten beobachtet, z. B. für Frauen mit       gen Ländern, z. B. auch über die Ärztekammern.
Behinderungen, Frauen mit psychischen Erkran-          Am 1. März 2020 ist eine gesetzliche Regelung in
kungen/Suchtmittelabhängigkeiten und Frauen            Kraft getreten, die vorsieht, dass die vertrauliche
mit Migrationshintergrund [51, 52]. Selbst wenn        Spurensicherung bei Verdacht auf sexuelle Gewalt
qualifizierte Einrichtungen zur Verfügung stehen,      von den Krankenkassen erstattet wird [55]. Damit
werden sie von einem Teil der Betroffenen nicht        wird die frühzeitige Beweissicherung bei Verdacht
genutzt, u. a. aus Scham oder Angst vor den Fol-       auf Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch ver-
gen der Beratung [51]. Den Ergebnissen der deut-       bessert. Die Opfer können vertraulich von einer
schen Prävalenzstudie nach nutzt nur ein gerin-        Ärztin oder einem Arzt Spuren sicherstellen lassen,
ger Teil der von Gewalt betroffenen Frauen jemals      bevor sie sich an die Polizei wenden.
Frauen­häuser oder Fachberatungsstellen; auch wird        Gesundheitsprävention, Gewaltprävention und
nur selten die Polizei eingeschaltet [6]. Am häu-      die Gleichstellung der Geschlechter sind konzep-
figsten werden Ärztinnen und Ärzte in Anspruch         tionell eng miteinander verknüpft, sodass z. B.
genommen. Dies bestätigen auch die Ergebnisse          Fortschritte bei der Gleichstellung dazu beitragen
der FRA-Studie [8]. Das unterstreicht die Notwen-      können, Gewalt gegen Frauen und ihren gesund-
digkeit, dass Fachkräfte im Gesundheitswesen mit       heitlichen Folgen besser entgegenzuwirken. Die
der Hilfeinfrastruktur vor Ort vertraut und gut ver-   Europaratskonvention von 2011 zur Verhütung
netzt sein sollten. Geeignetes Informationsma-         und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und
terial sollte leicht zugänglich ausliegen, z. B. im    häuslicher Gewalt (die sogenannte Istanbul-Kon-
Wartezimmer der Arztpraxis oder in Kranken- und        vention), die im Februar 2018 in Deutschland in
Geburtshäusern [49, 50].                               Kraft trat, verpflichtet die Staaten zu umfassenden
   Die regionale Vernetzung der verschiedenen          Maßnahmen in den Bereichen Recht und Inter-
Akteurinnen und Akteure im Kontext von Gewalt          vention, Schutz und Unterstützung sowie Präven-
sollte weiter ausgebaut und verstetigt werden. In      tion [56]. Sie zielt darauf ab, Gewalt gegen Frauen
Deutschland gab es auf Bundesebene und in ein-         wirkungsvoll zu verhüten, zu verfolgen und zu
zelnen Ländern bereits Modellprojekte zur medi-        beseitigen und Gewaltbetroffenen die erforder­liche
zinischen Prävention und Intervention bei Gewalt,      Unterstützung und Beratung zu ermöglichen. Sie
welche die Schulung von Fachkräften im Gesund-         fordert, dass gewaltbetroffene Frauen wirkungs-
heitswesen förderten sowie die Vernetzung mit          voll vor Gewalt geschützt werden sowie kurz- und
der örtlichen (Frauen-)Hilfeinfrastruktur verstär-     langfristige Unterstützung erhalten (inkl. nachge-
ken [27, 53]. Deren Ergebnisse zeigen, dass die        hender Angebote zur Heilung und Regeneration),
Gesundheitsfachkräfte davon profitieren und die        um die Gewalt und deren Folgen überwinden zu
Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen in den         können. Die Angebote müssen niedrigschwellig,
beteiligten Kliniken und Arztpraxen verbessert wer-    zugänglich, regional verteilt und gut erreichbar
den konnte.                                            sein. Anvisiert wird ein ganzheitliches Konzept,
   Weiterhin kommt einer rechtssicheren ärzt­          welches Prävention, (rechtliche und medizinische)
lichen Befunddokumentation bei der Versor-             Intervention, Schutz und Beratung sowie die Koor-
gung von Gewaltopfern eine große Bedeutung zu,         dinierung aller Akteurinnen und Akteure unter
da diese Dokumentation z. B. für die strafrecht­       Einbezug von Fachberatungsstellen umfasst und
liche Verfolgung der Taten oder zur Klärung des        Schutz- und Unterstützungseinrichtungen sowie
Umgangs- und Sorgerechts nach einer Trennung           erforderliche fachliche Angebote angemessen aus-
genutzt werden können. In Gerichtsverfahren wird       stattet und finanziert [56].
der ärztlichen Befunddokumentation oftmals mehr           Bisherige Bestandsaufnahmen für Deutschland
Bedeutung beigemessen als den Polizeiakten oder        zeigen, dass für einen Teil der Schutz und Unter-
einer eidesstattlichen Erklärung des Opfers [54].      stützung suchenden Frauen noch Versorgungs­
Dementsprechend sollten Ärztinnen und Ärzte flä-       lücken bestehen [6, 8]. Darüber hinaus fehlen sys-
chendeckend in rechtssicherer Befunddokumenta-         tematische Konzepte zur Prävention von Gewalt
tion geschult sein. Fortbildungen und Materialien      gegen Frauen und zur langfristigen Heilung/
320        Kapitel 8   |   Gesundheitliche Auswirkungen von Gewalt gegen Frauen

      Regeneration nach erfahrener Gewalt [51, 52]. Diese                  11. GiG-net – Forschungsnetz Gewalt im Geschlechterverhältnis
                                                                               (Hrsg) (2008) Gewalt im Geschlechterverhältnis. Erkenntnisse
      zu entwickeln, bundesweit zu implementieren                              und Konsequenzen für Politik, Wissenschaft und Soziale Pra-
      und im Hinblick auf Wirkung und Wirksamkeit                              xis. Verlag Barbara Budrich, Leverkusen-Opladen
      zu evaluieren, sollte ein zentrales Ziel der weite-                  12. Schröttle M, Vogt K (2016) Women as Victims and Perpetrators
                                                                               of Violence: Empirical Results from National and International
      ren Gesundheits-, Sozial- und Gleichstellungs-                           Quantitative Violence Research. In: Kury H, Redo S, Shea
      politik zur Stärkung der Frauengesundheit und                            E (Hrsg) Women and Children as Victims and Offenders:
      Gleichstellung von Frauen in Deutschland sein.                           Background, Prevention, Reintegration. Suggestions for Suc-
                                                                               ceeding Generations (Volume 1). Springer, Heidelberg, New
      Die nun auch in Deutschland geltende Europa-                             York, S. 479–504
      ratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung                          13. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
      von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt                            (Hrsg) (2008) Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine
                                                                               sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung von
      könnte dieser Zielsetzung erheb­lichen Anschub
                                                                               Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung
      geben. Ihre Umsetzung ist durch kontinuierliche                          nach erlebter Gewalt. BMFSFJ, Berlin
      Forschung, Datensammlung und Monitoring kri-                         14. Schröttle M, Hornberg C, Glammeier S et al. (2012) Lebens­
      tisch zu begleiten, zu kontrollieren und zu doku-                        situation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigun-
                                                                               gen und Behinderungen in Deutschland. Journal Netzwerk
      mentieren [56]. Ein erster Bericht zur Umsetzung                         Frauen- und Geschlechterforschung NRW 30:60–64
      der Istanbul-Konvention in Deutschland liegt seit                    15. Schröttle M, Glammeier S (2013) Intimate Partner Violence
      Sommer 2020 vor.                                                         Against Disabled Women as a Part of Widespread Victimiza-
                                                                               tion and Discrimination over the Lifetime: Evidence from a
                                                                               German Representative Study. IJCV 7(2):232–248
      Literatur                                                            16. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
      1.    World Health Organization (Hrsg) (2017) Violence against           (Hrsg) (2007) Gesundheit – Gewalt – Migration. Eine verglei-
            women. Key facts. Fact sheet.                                      chende Sekundäranalyse zur gesundheitlichen und sozialen
            www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/violence-against-         Situation und Gewaltbetroffenheit von Frauen mit und ohne
            women (Stand: 01.04.2020)                                          Migrationshintergrund in Deutschland. BMFSFJ, Berlin
      2.    Council of Europe (Hrsg) (2011) Council of Europe Convention   17. Smedley BD (2012) The lived experience of race and its health
            on preventing and combating violence against women and             consequences. Am J Public Health 102(5):933–935
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      4.    World Health Organization (Hrsg) (2013) Global and regional    19. Herrmann B, Banaschak S, Csorba R et al. (2014) Physical
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            effects of intimate partner violence and non-partner sexual        evidence. Dtsch Arztebl Int 111(41):692–703
            violence. WHO, Geneva                                          20. Egle UT, Franz M, Joraschky P et al. (2016) Gesundheitliche
      5.    Robert Koch-Institut (Hrsg) (2008) Gesundheitliche Folgen          Langzeitfolgen psychosozialer Belastungen in der Kindheit –
            von Gewalt – Unter besonderer Berücksichtigung von häus­           ein Update. Bundesgesundheitsbl 59(10):1247–1254
            licher Gewalt gegen Frauen. Gesundheitsberichterstattung       21. Plener PL, Ignatius A, Huber-Lang M et al. (2017) Auswirkun-
            des Bundes. Heft 42. RKI, Berlin                                   gen von Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung im
      6.    Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend         Kindesalter auf die psychische und physische Gesundheit im
            (Hrsg) (2004) Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit           Erwachsenenalter. Nervenheilkunde 36(03):161–167
            von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung    22. Zieman G, Bridwell A, Cárdenas JF (2017) Traumatic Brain Inju-
            zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. BMFSFJ, Berlin              ry in Domestic Violence Victims: A Retrospective Study at the
      7.    Schröttle M, Meshkova K, Lehmann C (2019) Umgang mit               Barrow Neurological Institute. J Neurotrauma 34(4):876–880
            sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien      23. Widom CS, Czaja SJ, Bentley T et al. (2012) A prospective inves-
            und Maßnahmen zur Intervention. Ergebnisse einer Studie            tigation of physical health outcomes in abused and neglected
            der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Antidiskriminie-        children: new findings from a 30-year follow-up. Am J Public
            rungsstelle des Bundes, Berlin.                                    Health 102(6):1135–1144
            www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Down-             24. Black MC (2011) Intimate Partner Violence and Adverse Health
            loads/DE/publikationen/Expertisen/Umgang_mit_sexuel-               Consequences: Implications for Clinicians. Am J Lifestyle Med
            ler_Belaestigung_am_Arbeitsplatz.html (Stand: 01.04.2020)          5(5):428–439
      8.    European Union Agency for Fundamental Rights (Hrsg) (2014)     25. Kwako LE, Glass N, Campbell J et al. (2011) Traumatic brain
            Violence against women: an EU-wide survey. Main results.           injury in intimate partner violence: a critical review of out-
            FRA, Vienna                                                        comes and mechanisms. Trauma Violence Abuse 12(3):115–126
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            vey on violence against women in EU (2012).                        Childhood Experiences (ACE) – Studie zu Kindheitstrauma
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      10.   Habel U (2018) Gewaltbetroffene Männer. Gesundheit und             Gewalt gegen Frauen: gesundheitliche Versorgung. Das
            Risikoverhalten. Vorstellung der Zwischenergebnisse der            S.I.G.N.A.L.-Interventionsprogramm. Handbuch für die
            G.M.G.R. Studie. GMGR-Symposium, Bochum                            Praxis. BMFSFJ, Berlin
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