GEWERKSCHAFTEN UND SOZIALER DIALOG - Frankreichs Erfahrungen während der Pandemie - Bibliothek ...
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PER SPEK T I V E Zu Beginn der Pandemie hatten die Sozialpartner in Frankreich unausgesprochen A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T eine Art sozialen Burgfrieden geschlossen. Die Gewerk- schaften bemühten sich über GEWERKSCHAFTEN den sozialen Dialog, Einfluss auf die Politik auszuüben. UND SOZIALER DIALOG Die Regierung zeigte sich offen dafür, die Sozialpartner regelmäßig anzuhören, doch waren diese bald mit diesem Austausch unzufrieden, da die Regierung letztlich stets Frankreichs Erfahrungen während der Pandemie im Alleingang entschied. Dominique Andolfatto Juni 2021 Auch wenn es zwischenzeit- lich zu einer Wiederbelebung von überbetrieblichen Ver handlungen kam, verfielen die Sozialpartner bald wieder in ihre traditionellen Ver- haltensmuster zurück, die einem Stillstand des sozialen Dialogs gleichkommen.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Gewerkschaften und sozialer D ialog A R BEI T U N D SOZI A L E GERECH T I GK EI T GEWERKSCHAFTEN UND SOZIALER DIALOG Frankreichs Erfahrungen während der Pandemie
Zusammenarbeit mit dem Staat oder Antagonismus? Im Laufe der Corona-Pandemie durchliefen die Gewerk- Videokonferenzen. »Wir wurden aufgefordert, zu schildern, schaften und der soziale Dialog in Frankreich drei verschie- welche Probleme es vor Ort gab; Informationen, an welche dene, sich aber teils überschneidende Phasen: zunächst die Regierung nur schwer herankam«, berichtete ein Ge- einen scheinbaren Burgfrieden, dann – nach einigen rechtli- werkschaftsführer. In offiziellem Rahmen wurden im Juli und chen Veränderungen – einen wirkungsvollen sozialen Dialog, Oktober 2020 sowie im März 2021 drei »Konferenzen für insbesondere auf Unternehmensebene, und schließlich die den sozialen Dialog« veranstaltet, um auf höchster Ebene Rückkehr zu den traditionellen Haltungen, die in einem ge- unter anderem Beschäftigungs- und Lohnfragen sowie die wissen Stillstand des sozialen Dialogs mündete. Die Gewerk- Krisenbewältigungsstrategie zu erörtern. Derartige Treffen schaftslandschaft in Frankreich ist komplex. Gleich fünf Ge- waren in Frankreich längst üblich geworden, die Pandemie werkschaftsverbände (und drei Arbeitgeberverbände) sind intensivierte die Gespräche jedoch. Allerdings zeigten sich landesweit anerkannt. Zur Gestaltung der Politik sind sie re- die Gewerkschaften – wie auch die Arbeitgeberorganisatio- gelmäßig Gesprächspartner der Regierung. Obwohl die Ge- nen – mit diesem Austausch oft unzufrieden, da es sich nur werkschaften nach wie vor gewissen Einfluss besitzen, sind um Anhörungen handelte und der Staat letztlich stets im Al- sie aufgrund ihrer Uneinigkeit oft nicht in der Lage, belast- leingang entschied. bare Gegenvorschläge zu den notwendigen Veränderungen zu machen. Die Gräben zwischen den einzelnen Gewerkschaften ver- hindern dabei oft, dass bei solchen Treffen gemeinsame Gegenvorschläge vorgebracht werden. Die Gewerkschaf- ZUSAMMENARBEIT MIT DEM STAAT ten nehmen in diesem Kontext meist eine ablehnende, oft ODER ANTAGONISMUS? sehr kritische Rolle ein und verhalten sich eher wie politische Gegner der Regierung. So zum Beispiel Ende März 2020, als Anfänglich führte der Schock angesichts der Pandemie dazu, die Regierung – nach den üblichen Konsultationen – das Ar- dass die Gewerkschaften unausgesprochen eine Art Burg- beitsrecht einseitig mittels Verordnungen an den von ihr ver- frieden schlossen – ähnlich dem von Präsident Emmanu- hängten Gesundheitsnotstand anpasste und Regelungen zu el Macron zur Ankündigung des ersten Lockdowns am 12. Arbeitszeit, Urlaub, Entlohnung, Arbeitslosengeld, sozialem März 2020 verwendeten Aufrufs zu einer »Union sacrée« Dialog etc. änderte. Finanziert über die Arbeitslosenversiche- (etwa: geheiligter Bund). Dieser Begriff geht auf den Aus- rung und zusätzliche staatliche Mittel weitete die Regierung bruch des Ersten Weltkriegs zurück, als der damalige fran- mit dem Beginn der Krise auch den Einsatz von Kurzarbeit zösische Präsident Raymond Poincaré zu einem Bündnis aller für die Mitarbeiter_innen der vom Lockdown betroffenen politischen und gewerkschaftlichen Kräfte aufrief. Zu Beginn Unternehmen aus. Diese erhielten dadurch weiterhin 84 Pro- der Pandemie schienen die Gewerkschaften von einer sol- zent ihres Nettogehalts. chen Strategie überzeugt. In ihren Verlautbarungen, insbe- sondere einer gemeinsamen Presseerklärung vom 19. März Im Wesentlichen verhinderten die engen Grenzen, in denen 2020, demonstrierten sie Einigkeit, zeigten sich verantwor- sich der soziale Dialog in Frankreich bewegt, und die über- tungsbewusst, bemüht um den sozialen Dialog und äußer- mäßige Zentralisierung des Staates, dass die sozioökonomi- ten die Absicht, ihren Einfluss auf die Politik gemeinsam aus- schen Aspekte der Krise einvernehmlich und mit innovativen zuüben. Mitteln bewältigt werden konnten. In einigen symbolträchti- gen Unternehmen (Amazon, Renault usw.) kam es sogar zu Wie schon 1914 kann in der Anfangsphase der Pandemie Differenzen, die vor Gericht beigelegt werden mussten. Eini- durchaus von einer Art Zusammenarbeit der Gewerkschaf- ge Gewerkschaften – die zweitgrößte französische Gewerk- ten mit dem Staat gesprochen werden. Die Regierung or- schaft CGT und die der extremen Linken nahestehende Ge- ganisierte vermehrt Treffen mit den Sozialpartnern (Ge- werkschaft SUD – hätten es am liebsten gesehen, wenn aus werkschafts- und Arbeitgebervertretern), meist in Form von Gründen des Gesundheitsschutzes jegliche wirtschaftliche 1
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Gewerkschaften und sozialer D ialog Tätigkeit eingestellt worden wäre, um so – das gilt zumin- DIE WIEDERAUFNAHME VON dest für SUD – mit dem Coronavirus und dem Kapitalismus BRANCHEN- UND BRANCHENÜBER »gleich zwei Seuchen« zu bekämpfen. So kam die Pandemie GREIFENDEN VERHANDLUNGEN einigen Gewerkschaften durchaus gelegen, um ihren revo- lutionären Mythos wieder aufleben zu lassen. Diese Haltung Die Situation des Personals im Gesundheitswesen, insbe- stieß jedoch auf wenig Anklang in der durch die Pandemie sondere in den Krankenhäusern, ist seit vielen Jahren höchst verunsicherten Bevölkerung. Für diese sind die Gewerkschaf- problematisch und war Ursache für wiederholte Arbeits- ten ohnehin weitgehend bedeutungslos geworden. Der kämpfe. Neben den üblichen Lohnforderungen spiegeln die- Grad gewerkschaftlicher Organisierung liegt in Frankreich je se nach mehreren Krankenhausreformen in den 2000er-Jah- nach Quelle nur noch zwischen sieben und elf Prozent. We- ren auch eine große Unzufriedenheit der Mitarbeiter_innen nig ist in der Öffentlichkeit auch über die Mechanismen von über mangelnde Anerkennung und den rein kostenorientier- Tarifverhandlungen bekannt. ten Klinikbetrieb wider. Dies erscheint zunächst paradox, da die Ausgaben für Krankenhäuser in Frankreich zu den höchs- Andere, eher reformorientierte Gewerkschaften – wie die ten in der OECD und die Gehälter der Klinikärzt_innen zu größte Gewerkschaft im Privatsektor, die CFDT, und die stär- den höchsten im öffentlichen Sektor zählen. Die Gehälter ker im öffentlichen Dienst verankerte FO – maßen der »Si- der Pflegekräfte sind jedoch sehr niedrig. Um diesem Miss- cherheit und Gesundheit aller«, wie die FO es ausdrückte, stand entgegenzuwirken, rief die Regierung im Mai 2020 ein Priorität zu, ohne dabei auf rechtliche Schritte gegen die besonderes Beratungsgremium ins Leben, das nach dem Sitz Fortsetzung wirtschaftlicher Aktivitäten zurückzugreifen. des Gesundheitsministeriums in der Avenue de Ségur in Pa- Stattdessen appellierten sie an die Schutzfunktion des Staa- ris »Ségur de la santé« genannt wurde. Zehn Gewerkschaf- tes und forderten rasche und gezielte Maßnahmen zum ten (fünf Gewerkschaften für Staatsbedienstete und fünf Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. Diese Gewerkschaften Ärzt_innengewerkschaften) nahmen von Mai bis Juli 2020 setzten sich für die Aushandlung von Protokollen und Leitfä- an diesen Beratungen mit Regierungsvertreter_innen teil, die den für bewährte Praktiken in verschiedenen Branchen (u. a. unter dem Vorsitz einer ehemaligen Generalsekretärin der im Bauwesen, der Lebensmittelindustrie, dem Transportwe- CFDT, stattfanden. Eine mehrheitlich verabschiedete Verein- sen) bzw. in Unternehmen ein, um »Gesundheit, Sicherheit barung (unterzeichnet von CFDT, FO und UNSA) sieht nun und den Weiterbetrieb der Unternehmen in Einklang zu brin- die schrittweise Erhöhung der Gehälter des Krankenhaus- gen«, wie es die CFDT ausdrückte. Dennoch kam es zu Span- personals (das sind immerhin mehr als eine Million Staatsbe- nungen mit den Regierungsbehörden: Die Gewerkschaften dienstete), aber auch neue Investitionen in die Gesundheits- kritisierten die während der Krise unternommenen Eingriffe infrastruktur, die Bereitstellung zusätzlicher Betten und eine des Staates in den tarifpolitischen Raum in Form von ein- Umstrukturierung der Krankenhäuser vor. seitig durchgesetzten Ausnahmeregelungen im Arbeitsrecht, die schnellere Entscheidungen bei den Themen Arbeitszeit, Für den Privatsektor schlossen die Sozialpartner (außer der Urlaub oder Entlohnung ermöglichen sollten – ein Ausdruck CGT) am 26. November 2020 eine neue landesweite und der in Frankreich stark ausgeprägten Spannungen zwischen branchenübergreifende Vereinbarung »für eine erfolgrei- gesetzgeberischer und tarifpolitischer Regulierung. che Umsetzung der Telearbeit« ab, da die Pandemie zu ei- nem starken Anstieg der Telearbeit geführt hat – sie betraf Die rechtlichen Klagen der mehr protestorientierten Gewerk- im April 2021 fast ein Drittel der Arbeitnehmer_innen. Der schaften und die anschließenden Gerichtsbeschlüsse führ- Arbeitgeberverband MEDEF stellte sich einer solchen Verein- ten tatsächlich zu einer Stärkung der Schutzmaßnahmen barung zunächst entgegen, da diese zwangsläufig die recht- für Arbeitnehmer_innen. Bei aller Kritik machte sich die Re- lichen Auflagen für Unternehmen erhöht. Die Vereinbarung gierung zudem daran, die starren Vorgaben für betriebliche wird sicherlich nicht ohne rechtliche Auswirkungen bleiben, Tarifverhandlungen zu lockern. Dadurch konnten trotz der auch wenn sie in erster Linie als Sammlung bewährter Prakti- wirtschaftlichen Schwierigkeiten schließlich zahlreiche Ver- ken gedacht ist und seine Anwendung einigermaßen flexibel einbarungen, Protokolle und Leitfäden über die Rahmenbe- sein soll. Sie definiert Telearbeit als »jede Beschäftigung, die dingungen für die Aufrechterhaltung der Wirtschaftstätig- freiwillig und regelmäßig, gelegentlich oder aufgrund von keit, die Telearbeit oder den Arbeitsplatzerhalt beschlossen außergewöhnlichen Umständen oder höherer Gewalt mithil- werden. Dazu gehörten auch neue Op-out-Regelungen zur fe von Informations- und Kommunikationstechnologien (…) Arbeitsplatzsicherung in Form von sogenannten »leistungs- außerhalb der Räumlichkeiten des Unternehmens ausge- orientierten Tarifverträgen« – ein neues Rechtsinstrument, führt wird, obwohl sie vor Ort ausgeführt werden könnte.« das im Rahmen der 2017 beschlossenen Arbeitsrechtsreform Die Anwendung von Telearbeit muss entweder Ergebnis ei- geschaffen worden war und auf Unternehmensebene eine ner Verhandlung innerhalb des Unternehmens sein, oder auf Anpassung der Arbeitszeiten und Löhne erlaubt. Der größte Basis einer vom Arbeitgeber bzw. der Arbeitgeberin (nach Arbeitgeberverband MEDEF hat seit Anfang der Krise etwa Anhörung des betrieblichen Sozial- und Wirtschaftsaus- 600 Opt-out-Regelungen und 10.000 Verträge zur Regelung schusses, CSE) vorgeschlagenen Charta erfolgen oder ein- der Kurzarbeit erfasst. Vor diesem Hintergrund begannen fach auf »beiderseitigem Einvernehmen« zwischen Arbeit- mühsame Verhandlungen auf auf Branchen- und branchen- geber_in und dem bzw. der betroffenen Arbeitnehmer_in übergreifender Ebene. beruhen. Die ausgehandelte Vereinbarung oder Charta legt dann Schulungsmaßnahmen sowie die Übernahme der mit der Telearbeit verbundenen Kosten fest. Während Telearbeit 2
Die Gewerkschaften beziehen ihre gewohnten Positionen normalerweise für beide Parteien freiwillig ist, kann sie unter Transportarbeiter_innen usw.) ausgeweitet. Sie kann auf außergewöhnlichen Umständen (z. B. bei einer Pandemie) 2.000 Euro erhöht und von der Steuer befreit werden, wenn auch angeordnet werden. Der Einsatz von Telearbeit darf je- von den Gewerkschaften eine Branchen- oder Betriebsver- doch nicht zulasten der Mitarbeiter_innen gehen. einbarung zur Gewinnbeteiligung ausgehandelt wird. Die Auszahlung dieses Bonus soll die Anerkennung für das En- Am 10. Dezember 2020 verabschiedeten die Sozialpartner gagement der Beschäftigten in der Pandemie zum Ausdruck (auf Gewerkschaftsseite auch hier ohne die CGT) eine weite- bringen und gleichzeitig auf die bereits im Frühjahr 2020 von re landesweite branchenübergreifende Vereinbarung »über mehreren Gewerkschaften, insbesondere der CGT und der den Schutz der Gesundheit am Arbeitsplatz und die Arbeits- FO, formulierten Forderungen nach einer Lohnerhöhung re- bedingungen«. Die Verhandlungen darüber hatten sich be- agieren bzw. diese entschärfen. reits über zwei Jahre hingezogen, die Pandemie beschleu- nigte dann ihren Abschluss. Wie viele aktuelle Texte ist die Parallel zu diesen Entwicklungen haben das Arbeitsministe- Vereinbarung allerdings lang und wortreich und bietet kaum rium und die Sozialpartner die Branchen sowie die zugehöri- Neuerungen. Sie enthält Themen, die bereits auf Unterneh- gen Tarifverträge neu geordnet. Historisch und auch rechtlich mens- und Branchenebene verhandelt worden sind und die waren diese stark fragmentiert; im Jahr 2009 etwa gab es nun herausgestellt und besser vermittelt werden sollen. So 371 Branchen. Durch die seit 2015 andauernden Verhand- sollen Risikoprävention sowie Sicherheit und Gesundheits- lungen zur Vereinheitlichung und Vereinfachung ist es gelun- schutz am Arbeitsplatz künftig in einen umfassenden Ansatz gen, diese Zahl mit Stand 2020 auf unter 200 zu senken. Die gegossen werden, der die »Lebensqualität am Arbeitsplatz« Aufteilung bleibt aber komplex, zumal die Struktur der Bran- und letztlich die »Leistungsfähigkeit des Unternehmens« chenorganisationen der Gewerkschaften nicht mit der aktu- fördern soll. Konkret sieht die Vereinbarung die Möglichkeit ellen Branchengliederung übereinstimmt. Dies wirft struktu- vor, im Falle einer Pandemie ein Ferngutachten einzuholen relle Schwierigkeiten für Tarifverhandlungen auf. bzw. jegliche Form von Fernuntersuchungen einzusetzen. Zudem wird das Risikomerkmal der »beruflichen Ausgren- zung« neu eingeführt, also die Gefahr der Arbeitsunfähig- DIE GEWERKSCHAFTEN BEZIEHEN IHRE keit und damit des Arbeitsplatzverlustes, die es im Interesse GEWOHNTEN POSITIONEN der Arbeitnehmer_innen zu verhindern gilt. Die CGT lehnte auch diese Vereinbarung ab, in der sie im Gegensatz zu den Da sie die Entscheidungen der Politik nicht beeinflussen anderen Gewerkschaften eine »Beeinträchtigung der Rechte konnten, auch nicht in arbeitsrechtlichen Fragen, hatten die und Handlungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer_innen be- Gewerkschaften seit Beginn der Krise vornehmlich sehr all- züglich ihrer Arbeitsbedingungen« sieht. gemeine Forderungen gestellt – Vorrang für die Gesundheit, notwendige Reformen im Krankenhauswesen oder die Aus- 2020 wurden aufgrund der Pandemie in rund zwanzig setzung von Dividendenzahlungen –, um den wirtschaftli- Branchen auch Vereinbarungen über die »reduzierte Tä- chen Wiederaufschwung zu unterstützen. Sie hatten zwar tigkeit zum Erhalt von Arbeitsplätzen« bzw. »langfristige viele gute Absichten, doch waren diese in der Praxis für den Kurzarbeit« ausgehandelt. Mit ihrer Vereinbarung vom 30. sozialen Dialog vor Ort kaum praktikabel. Juli 2020 bahnte, wie so oft, die Metallbranche den Weg. Schon zu Beginn der Krise waren hier konkrete Maßnah- Die Gewerkschaften sind nicht nur zerstritten, sondern auf- men zum Erhalt von Arbeitsplätzen ergriffen worden, da grund ihrer nur sehr niedrigen Mitgliederzahlen auch von der »schwere wirtschaftliche Schock« ein Fünftel der Ar- staatlichen Subventionen abhängig geworden. Mit dem Ge- beitsplätze in diesem Sektor zu vernichten drohte, wie es setz zur sozialen Demokratie wurde 2015 sogar die Finanzie- in der Vereinbarung heißt. Diese Maßnahmen bestehen rung von Gewerkschaften – aber auch von Arbeitgeberver- hauptsächlich aus einer deutlichen Reduzierung der Ar- bänden – durch eine Steuer auf alle Gehälter im Privatsektor beitszeit (bis zu 50 Prozent) und aus Schulungen, um eine eingeführt. So sind die Beziehungen zwischen Gewerkschaf- Wiederaufnahme des Vollbetriebs zu erleichtern. Sie wer- ten, Arbeitgebern und Staat in Frankreich heute stark von den durch staatliche Fördermittel finanziert. Jedes Unter- einer Art Neokorporatismus (oder »Kartellisierung«) geprägt nehmen muss die Umsetzung der Vereinbarung in einem und entsprechen so gar nicht dem immer noch vorherr- Dokument festhalten, das dem Sozial- und Wirtschaftsaus- schenden Bild einer sozialen Bewegung. schuss (CSE) zur Information und Stellungnahme vorge- legt wird. Drei repräsentative Gewerkschaften der Branche Aufgrund der Asymmetrie der Beziehungen zwischen Ge- (CFDT, FO, CGC) stimmten der Vereinbarung zu. Die CGT werkschaften und Staat werden diese wohl stets schwierig lehnte sie mit der Begründung ab, es sei nicht garantiert, bleiben. Im Fall von Konflikten – an denen es nicht mangelt – dass alle Arbeitsplätze erhalten blieben. nutzen die Gewerkschaften immer häufiger den Rechtsweg statt Verhandlungen oder Streiks. So auch zu Beginn der Schließlich beschloss die Regierung im April 2020, den Be- Pandemie, als sie bestimmte Unternehmensentscheidungen schäftigten, die während der Krise an »vorderster Front« ste- gerichtlich anfochten. Auch gegen die letzte Reform der Ar- hen – vor allem das Krankenhauspersonal –, einen Bonus beitslosenversicherung, die wie vorherige Reformen Arbeits- von 1.000 Euro zu gewähren. Die Auszahlung dieser Zula- lose zur schnellen Rückkehr in ein Beschäftigungsverhältnis ge wurde im März 2021 auf Mitarbeiter_innen der »zwei- motivieren soll, wählten die Gewerkschaften den Rechts- ten Reihe« (Supermarktkassierer_innen, Bauarbeiter_innen, weg. Die Gewerkschaften waren von der Reform nicht über- 3
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Gewerkschaften und sozialer D ialog zeugt, schlugen allerdings auch keine Alternativen vor, son- SCHLUSSBEMERKUNGEN dern riefen stattdessen – jede für sich – im April 2021 den Conseil d’Etat (die höchste verwaltungsgerichtliche Instanz Letztlich hat die Coronakrise das komplizierte Wirkungsge- Frankreichs) an, um die Reform für nichtig erklären zu las- flecht der französischen Sozialpartner, in dem der Staat, die sen. Diese Verrechtlichung der sozialpolitischen Beziehungen Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände eng mitein- macht deutlich, dass der soziale Dialog in einer tiefen Krise ander verwoben sind, nicht tiefgreifend verändert. Vor allem steckt. Vor mehr als einem halben Jahrhundert war die Ar- aus wirtschaftlichen Gründen stand und steht die Regierung beitslosenversicherung noch aus fruchtbaren Tarifverhand- bei der sozialen Bewältigung der Krise an erster Stelle: Sie lungen hervorgegangen und anfangs sogar von den Sozial- beschloss und finanzierte die Kurzarbeit für alle Arbeitneh- partnern verwaltet worden, bevor der Staat sie übernahm. mer_innen, deren Unternehmen sie den Betrieb während des Lockdowns untersagte. Auch bei der Frage der Gehälter Zwar scheint der soziale Dialog auf Branchen- und Unter- intervenierte sie. Nicht zuletzt erleichterte sie die Rahmenbe- nehmensebene besser zu funktionieren, aber auch dort ist er dingungen für den sozialen Dialog, um Vereinbarungen und stark rechtlich reglementiert. Trotz erheblicher Widerstände Beschlüsse auf allen Ebenen zu unterstützen, mit denen die seitens der Gewerkschaften wurde 2020 ein neues Organ Wirtschaftstätigkeit aufrechterhalten und die Telearbeit aus- der Arbeitnehmer_innenvertretung in Unternehmen ein- geweitet werden konnte. geführt, der sogenannte Sozial- und Wirtschaftsausschuss (CSE), der in mancherlei Hinsicht an die deutschen Betriebs- Die Regierung bemühte sich zwar, bei all diesen Schritten räte angelehnt ist. Der CSE übernimmt nun alle Funktionen, die Sozialpartner regelmäßig anzuhören. Allerdings beklag- die zuvor auf mehrere Personalgremien verteilt waren, wo- ten diese, sie seien nicht ausreichend in Entscheidungen durch sich die Zahl der gewählten Mandatsträger_innen ver- einbezogen worden. Ebenso engagierten sich die Gewerk- ringert hat. Die tatsächliche Rolle dieser Ausschüsse kann je- schaften für die Umsetzung dieser Entscheidungen in Form doch noch nicht abschließend bewertet werden. von Betriebs- und Branchenvereinbarungen, wobei CGT und SUD allerdings gleichzeitig juristische Schritte einleiteten, Um einen Neuanfang nach dem Ende der durch die Pande- um unter Berufung auf das Vorsorgeprinzip bessere Schutz- mie ausgelösten Krise einzuleiten, schlug der Arbeitgeberver- maßnahmen der Unternehmen für die Gesundheit der Mit- band MEDEF den Sozialpartnern schließlich im Februar 2021 arbeiter_innen oder andernfalls sogar die Schließung der vor, mit einer eigenen Gesprächsagenda die Initiative zu er- Unternehmen zu fordern. Diese Härte lässt sich nicht zuletzt greifen und einen branchenübergreifenden sozialen D ialog daraus erklären, dass soziale Bewegungen und Streiks wäh- zu führen. Damit wollte der MEDEF die durch die Pandemie rend der Pandemie fast vollkommen verschwunden sind, diktierten Diskussionen hinter sich lassen, um längerfristige wohingegen die Sozialpolitik bis zum Beginn der Pandemie und grundlegendere Themen aufzugreifen, etwa die Berufs- durch Demonstrationen gegen die Rentenreform beherrscht ausbildung, die Arbeitsgerichte (conseils de prud’hommes), war. Nach einigen Monaten wurden zwar wieder einzelne den Umgang mit der wachsenden Zahl an Arbeitsunfällen Protestaktionen organisiert, die insbesondere im öffentlichen und Berufskrankheiten, die Beziehungen zwischen den Sozi- Dienst das Fehlen eines sozialen Dialogs beklagten. Abgese- alpartnern und dem Staat (in Frankreich wird dieses tripartiti- hen davon hat sich aber entgegen allen Vorurteilen die seit sche System, deren Funktionsweise nicht genügend transpa- den 1990er-Jahren rückläufige Tendenz der Zahl von Streiks rent erscheint, »Paritarismus« genannt), die Auswirkungen in Frankreich fortgesetzt des digitalen Wandels und des Klimawandels auf die Unter- nehmen etc. Die Mehrzahl der Gewerkschaften befürwor- Zu erwähnen ist schließlich noch, dass die französischen Ge- tet diese Gespräche, die CGT lehnt sie wiederum ab, da die werkschaften bei Ausbruch der Pandemie mit Anspielung Lohnfrage ausgeschlossen sei. Ein Grundproblem ist auch auf den berühmten Filmtitel des deutschen Regisseurs Ro- die »Eigenständigkeit« dieser Gespräche, also die Ausklam- land Emmerich einen »day after tomorrow« forderten, einen merung des Staates, die bei vielen Gewerkschafter_innen Bruch mit der bisherigen Art des Wirtschaftens und Lebens. die Sorge nährt, dass sich am Ende neoliberale Positionen So verabschiedeten CGT, SUD und ein Dutzend NGOs im Ap- der Unternehmenseite durchsetzen werden. Diese Angst ril 2020 ein Manifest, das einen Ausweg aus der »gesund- – zusammen mit den bereits erwähnten organisatorischen heitlichen, aber auch sozialen und klimabezogenen Sack- Schwächen der Gewerkschaften – erklärt schließlich, warum gasse« aufzeigen soll. Im Juni 2020 veröffentlichte die CFDT es für sie schwer vorstellbar ist, sich vom Staat unabhängig nach einer Umfrage zu den Sorgen und Bedürfnissen der zu machen – selbst wenn dies bedeutet, eine Aushöhlung Beschäftigten ein Papier mit dem Titel Die Krise und die Zeit der tarifpolitischen Autonomie und des sozialpartnerschaftli- danach: für einen sozialen und ökologischen Aufschwung chen Dialogs in Kauf zu nehmen. durch neue demokratische Verfahren. Die Corona-Pande- mie hat viele Organisationen dazu gebracht, anders über die Zukunft nachzudenken. Einige Monate nach dem Lancieren dieser Manifeste scheinen diese jedoch in der gewerkschaft- lichen Praxis wieder in den Hintergrund getreten zu sein; da- gegen haben die alten Routinen, d. h. Tarifverhandlungen mit starker Abhängigkeit vom Staat, erneut die Oberhand gewonnen. 4
Literaturhinweise LITERATURHINWEISE Andolfatto, Dominique (Hrsg.) (2019): La démocratie sociale en ten- sion, Lille, Presses universitaires du Septentrion. Andolfatto, Dominique / Labbé, Dominique (2021): Anatomie du syndicalisme, Presses universitaires de Grenoble (erscheint in Kürze). IFOP-Institut (2021): Etude sur les relations sociales en entreprise, Januar 2021 5
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IMPRESSUM ÜBER DEN AUTOR IMPRESSUM Dominique Andolfatto ist Professor für Politikwissenschaf- Friedrich-Ebert-Stiftung Paris ten an der Université de Bourgogne (Dijon), Forschungszent- 41 bis, bd. de la Tour-Maubourg | 75007 Paris | France rum für Rechts- und Politikwissenschaften (Credespo). www.fesparis.org Kontakt: fes@fesparis.org Das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Frankreich wurde Eine gewerbliche Nutzung der von der Friedrich-Ebert- 1985 in Paris eröffnet. Seine Tätigkeit zielt darauf ab, un- Stiftung (FES) herausgegebenen Medien ist ohne schrift- terhalb der Ebene des Austauschs und der Zusammenarbeit liche Zustimmung durch die FES nicht gestattet. zwischen den Regierungen Deutschlands und Frankreichs ei- ne Vermittlerfunktion im deutsch-französischen Verhältnis zu Die in dieser Publikation zum Ausdruck ge- erfüllen. Dabei steht im Mittelpunkt, Entscheidungsträgern brachten A nsichten sind nicht notwendiger- aus Politik und Verwaltung sowie Akteuren der Zivilgesell- weise die der Friedrich-Ebert-Stiftung. schaft Gelegenheit zu geben, sich zu Themen von beidersei- tigem Belang auszutauschen und die Probleme und Heraus- Publikationen der Friedrich-Ebert-Stiftung dürfen forderungen, die die jeweils andere Seite zu bewältigen hat, nicht für Wahlkampfzwecke verwendet werden. kennenzulernen. Deutsche und französische Partner der FES können dadurch zu gemeinsamen Positionen insbesondere zur europäischen Integration gelangen und bei der Formu- lierung von Lösungen für die jeweils eigenen Probleme auf vorhandene Kenntnisse und Erfahrungen des Nachbarlan- des zurückgreifen. Langjährige Veranstaltungsreihen sind die Deutsch-französischen Strategiegespräche (»Cercle stratégi- que«) über aktuelle außen- und sicherheitspolitischen The- men, Jahreskonferenzen zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen (»Deutsch-Französischer W irtschaftsdialog«) und das Deutsch-französische Gewerkschaftsforum.
GEWERKSCHAFTEN UND SOZIALER DIALOG Frankreichs Erfahrungen während der Pandemie Zu Beginn der Pandemie hatten die So- Die Regierung zeigte sich offen dafür, Auch wenn es zwischenzeitlich zu zialpartner in Frankreich unausgespro- bei der Gestaltung ihrer Politik die Sozi- einer Wiederbelebung von überbe- chen eine Art sozialen Burgfrieden ge- alpartner regelmäßig anzuhören, doch trieblichen Verhandlungen kam, ver- schlossen. Auch die Gewerkschaften waren diese bald mit diesem Austausch fielen die Sozialpartner bald wieder waren anfangs von einer solchen Stra- unzufrieden, da es sich nur um Anhö- in ihre traditionellen Verhaltensmus- tegie überzeugt, zeigten sich verant- rungen handelte und die Regierung ter zurück, die einem Stillstand des wortungsbewusst und bemühten sich letztlich stets im Alleingang entschied. sozialen Dialogs gleichkommt. Zwar über den sozialen Dialog, gemeinsam In dieser Phase zeigten sich die franzö- hat die Corona-Pandemie die Gewerk- Einfluss auf die Politik auszuüben. sischen Gewerkschaften aufgrund ihrer schaftsorganisationen dazu gebracht, ideologischen und strategischen Diffe- anders über die Zukunft nachzudenken. renzen unfähig, bei den sozialen Kon- Doch nach einigen Monaten der Kri- sultationen gemeinsame Gegenvor- se scheinen wieder die alten Routinen, schläge zu den Regierungsinitiativen zu d. h. Tarifverhandlungen mit starker formulieren und in die Verhandlungen Abhängigkeit vom Staat, die Oberhand einzubringen. zu gewinnen. Letztlich hat die Coro- nakrise das komplizierte Wirkungsge- flecht der französischen Sozialpartner nicht wesentlich verändert. Weitere Informationen zum Thema erhalten Sie hier: www.fesparis.org
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