GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG - Was würde Jesus heute tun? Vielleicht das Gleiche wie Yvan Sagnet - sagt Yvan Sagnet, Aktivist und Schauspieler
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Nummer 49 | 4. Dezember 2020 GLAUBE, LIEBE, HOFFNUNG Was würde Jesus heute tun? Vielleicht das Gleiche wie Yvan Sagnet – sagt Yvan Sagnet, Aktivist und Schauspieler
I N H A LT NR. 49 4. DEZEMBER 2020 14 Yvan Sagnet ist als Kämpfer für die Rechte der Erntehelfer in Italien bekannt geworden. Nun spielt er im neuen Film von Milo Rau einen zeitgemäßen Jesus Christus – zu dem er tatsächlich einige Parallelen sieht. 22 Viele Paare, die sich aufrichtig lieben, sind trotzdem manchmal ausgesprochen fies zueinander. Woher kommt dieses Fünkchen Hass in der Beziehung? 26 Ein britischer Künstler hat für uns aktuelle Uhrenmodelle in den Sand gezeichnet – im ganz großen Stil. 34 Die Mutter stirbt, der Sohn wird geboren: Wie unsere Autorin zwei gegensätzliche Ereignisse verarbeitet, die fast zur gleichen Zeit geschehen sind. 10 Sagen Sie jetzt nichts 12 Gute Frage, Gefühlte Wahrheit, Gemischtes Doppel, Die drei großen Lügen 42 Kosmos 44 Das Kochquartett 46 Getränkemarkt 48 Hotel Europa, Gewinnen, Impressum 49 Das Kreuz mit den Worten 50 Das Beste aus aller Welt A U F S Z- M A G A Z I N . D E Meilenstein der Inklusion Am 7. November gelang dem 21-jährigen US-Amerikaner Chris Nikic eine große sportliche Leistung: Als erster Athlet mit Down-Syndrom absolvierte er einen Ironman-Triathlon – in 16 Stunden, 46 Minuten und neun Sekunden. Im Interview mit unserer Lösungs-Kolumnistin Michaela Haas erklärt Nikic, dessen Trainingspro- gramm vor drei Jahren mit einem einzigen Foto: Aszack Wittman/NYT/Redux/laif; Illustration: QuickHoney Liegestütz begann, wie er sich kontinuierlich verbesserte und was sein Erfolg für andere Menschen mit Down-Syndrom bedeutet. sz-magazin.de/dieloesung Z E I C H E N D E R Z E I T • Emojis für Erwachsene (167) Du bist dran mit Nikolaus, Kostüm im Keller. Titelfoto: Mattia Balsamini SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 3
Yvan Sagnet wohnt mit seiner Familie in Rom, ist als Aktivist aber ständig unterwegs, meistens im Süden Italiens.
»HEUTE WÄRE JESUS AUF EINEM BOOT IM MITTELMEER« Yvan Sagnet spielt im Film Das neue Evangelium die Rolle des Jesus – ohne Schauspieler zu sein. Der Regisseur Milo Rau wählte ihn, weil Sagnet sich mit großem Charisma gegen die Ausbeutung der Erntehelfer auf italienischen Tomatenfeldern auflehnt. Hier spricht Sagnet über das Gute und Schlechte im Menschen und seine Gemeinsamkeiten mit Jesus Interview Fotos GABRIELA HERPELL MATTIA BALSAMINI SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 15
A n einem Nachmittag im Spätherbst sitzt Yvan Sagnet auf dem Balkon seiner sehr klei- tat. Aber Jesus war für mich auch mehr als eine Figur aus der Religion, ich habe ihn wie ei- und bei in sengender Hitze für einen Hungerlohn Tomaten oder Orangen ernteten. hiebe, ich war wirklich drin in der Rolle, ich habe an die Menschheit gedacht, an Jesus. nen Wohnung im fünften Stock nen Gewerkschafter gesehen. Er Rau fragte sich, wer wäre Je- Das war wie eine Meditation. eines sehr großen Wohnhauses stand auf der Seite der Armen. sus heute? Würde er, der für die Judas’ Verrat ging mir auch sehr in Rom. Von hier aus sieht man Als Milo mir vorgeschlagen hat, Armen eintrat, nicht versuchen, nahe. die Kuppel des Petersdoms. Vor Jesus zu spielen, habe ich mir diese Menschen zu retten? Er Wie haben Sie die Apostel ein paar Stunden ist er aus dem angeschaut, was ich mache, ich hörte von Yvan Sagnet, der es ge- ausgewählt? Süden zurückgekommen, seine habe mir angeschaut, was Jesus schafft hatte, die Arbeiter auf Milo vermischt ja Fiktion und Tätigkeit als Aktivist führt den getan hat, und ich habe gesehen, den Feldern zum Streik zu bewe- Realität und arbeitet mit Profis 35-jährigen Kameruner meistens es gibt Ähnlichkeiten. Heute gen. Ihn, einen schwarzen Nicht- und Laien. Wir sind zusammen nach Apulien, Kalabrien, Sizi- träte Jesus für die Migranten ein, Schauspieler, der aus Kamerun in die Ghettos gegangen und ha- lien und in die Basilikata. für die Geflüchteten, für die stammt, machte Rau zu seinem ben Leute gesucht und gebeten, Die Mutter seiner italie- Rechtlosen. Er wäre in den Ghet- Jesus, der im weißen Gewand mit uns mitzukommen. Ge- nischen Frau möchte mit seiner tos, er wäre auf einem Boot im mit seinen Jüngern das Abend- flüchtete, Aktivisten, ein Bauer, Tochter, ihrer Enkelin, auf den Mittelmeer, er wäre in Afrika mahl einnimmt, aber auch in Gewerkschafter, manche kannte Spielplatz, doch die Dreijährige und Südamerika. Und er wäre Jeans und T-Shirt auf dem Markt- ich, manche nicht. Milo wollte krallt sich am Vater fest, sie kann gegen Matteo Salvini. platz Reden gegen die Ausbeu- auch eine Frau als Apostel, er sich kaum von ihm trennen. Sei- tung der Geflüchteten hält. Der sagte, Jesus hätte für ihn auch ne Frau ist noch im Büro. Er bie- Durch sein »Genter Manifest« Film erzählt parallel, wie Jesus eine Frau sein können. Für mich tet Kaffee an, lässt die Espresso- wurde der Schweizer Regisseur mit den Aposteln in Jerusalem passte das. Sie war Opfer von kanne viel zu lange auf dem und Theaterintendant Milo Rau einzieht und wie Sagnet mit sei- Menschenhandel und Prostitu- Herd stehen und entschuldigt 2018 einer größeren Öffentlich- nen Mitstreitern, darunter dann tion, heute hilft sie Frauen, aus sich, er trinke nie Kaffee und keit bekannt: zehn Regeln für auch Milo Rau und das Film- der Prostitution auszusteigen. wisse nicht, wie man ihn macht. ein modernes Theater, das die team, durch die Straßen von Ma- Der Film lief im September Welt verändern soll. Dieses The- tera zieht und zur Revolte der im Sonderprogramm der SZ-MAGAZIN Herr Sagnet, Sie ater entsteht draußen, vor Ort, Würde aufruft: la Rivolta della Filmfestspiele in Venedig. spielen Jesus im Film Das neue auch in Krisengebieten, es geht Dignità. So wird der Film einer- Dort, vor Publikum, haben Evangelium. Haben Sie eine dahin, wo es wehtut, und es tau- seits zu einer neuen Passions- Sie ihn zum ersten Mal Vorstellung von Gott? chen, neben den Schauspielern, geschichte und andererseits zur gesehen. Wie haben Sie sich Y VAN SAGNET Ja. Gott ist das die Menschen auf, von denen Dokumentation der Kampagne da gefühlt? Gute. erzählt wird, als sie selbst und in »La Rivolta della Dignità«, die Seltsam. Es war sehr ungewohnt. Da könnte man jetzt wider- Rollen. Rau ist für seine Arbeit durch den Film überhaupt erst Ich habe den Film dort zweimal sprechen. in den Kongo, in den Irak und entsteht. gesehen, beim zweiten Mal war Also sagen wir: Gott ist niemals nun nach Süditalien gegangen. ich nicht mehr so auf mich kon- das Schlechte. Gott liebt. Wenn In Matera, an dem Ort, an dem In einer Szene tragen Sie mit zentriert, sondern auf die Bot- ich an Gott denke, denke ich an Mel Gibson Die Passion Christi der Dornenkrone auf dem schaft. Und damit war ich sehr das Gute. Er ist meine Inspirati- und Pier Paolo Pasolini Das Kopf das Kreuz durch die zufrieden. on. Es gibt auch Menschen, die 1. Evangelium nach Matthäus ge- Straßen der süditalienischen Welche Botschaft ist das? mich inspirieren, Karl Marx, dreht hatten, wollte Milo Rau Stadt Matera. Statisten spie- Die Botschaft auch an Christen, Nelson Mandela, Che Guevara. einen Film über das Ende von len den wütenden Mob, der dass es nicht reicht, zur Messe zu Sie ermutigen mich in meiner Jesus Christus machen. Dann Ihnen beziehungsweise Jesus gehen, die Bibel zu lesen und politischen Arbeit, aber Gott be- entdeckte er die Ghettos der folgt. Wie war das für Sie als sich zu bekreuzigen. Das Drehen lebt das Gute in mir. Erntehelfer. Er sah, wie hier, Nicht-Schauspieler? war auch eine politische Aktion, Beten Sie? rund um die Europäische Kul- Die Kreuzigung und der Weg ein Protest gegen das Wirt- Ich bete zu Hause mit meiner turhauptstadt 2019, Migranten dorthin waren richtig hart. Es schaftssystem, das Ungleichheit Frau und meiner Tochter, ich ohne Wasser und Strom lebten war kalt, ich bekam Peitschen- zwischen Menschen und Völ- bete in der Kirche, ich bitte um kern schafft. Für Gott gäbe es Schutz und Hilfe und Verge- keine Einwanderer, keine Men- bung. Was haben Sie gedacht, als »FÜR GOTT GÄBE ES schen ohne Papiere, keine Aus- grenzung von Menschen auf- KEINE EINWANDERER, der Regisseur Milo Rau grund ihrer Herkunft oder eines Ihnen die Rolle des Jesus Passes. angeboten hat? Der Film folgt Ihnen, wie Sie Ich bin Christ. Ich stamme aus einer katholischen Familie und ich gehe mit meiner Familie hier KEINE MENSCHEN in die heruntergekommenen Unterkünfte der Erntehelfer gehen und ihnen erklären, zur Messe. Ich habe Jesus immer schon für das bewundert, was er OHNE PAPIERE« dass sie sich nicht ausbeuten lassen dürfen. So haben Sie 16 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
Links: Eine Filmszene aus Das ja wirklich angefangen, im neue Evangelium, aber auch Jahr 2011. Wie kam es dazu? eine Szene aus Yvan Sagnets Ich wollte Ingenieur werden und wahrem Leben. Der Film be- studierte in Turin. Ich brauchte gleitet den Jesus-Darsteller bei seiner Arbeit als Aktivist. Geld, suchte nach einem Job für den Sommer und hörte, dass Das Logo der Tomatenpflücker gebraucht wer- Organisation den. Ich habe 16 Stunden gear- No Cap. Das beitet, und oft hatte ich abends Motto lautet: nichts. Null Euro. Wasser kostete »Wir alle haben einen Vor- 1,50 Euro. Das Sandwich: 3,50 arbeiter zu Euro. Hin- und Rückfahrt: fünf bekämpfen.« Euro. Eine volle Kiste Tomaten, das sind 300 bis 400 Kilo Toma- ten, bringen 3,50 Euro. Ich habe Rechts: Für eine Kiste mit 300 bis 400 Kilo vier Kisten geschafft, manchmal Tomaten bekommt ein illegaler Erntehelfer in fünf, aber das meiste Geld war Italien drei bis vier Euro. Oro rosso, rotes gleich wieder weg. Wenn du das Gold, nennen sie in Apulien die Tomaten. erlebst, weinst du. Ich habe abends geweint. Haben Sie in einem dieser Ghettos gewohnt? Ja, bei Nardò. Es gibt so viele da- Yvan von. Dort schlafen 50 Menschen Sagnet auf ein paar Quadratmetern, sie haben kein Licht, kein Wasser, es ist schmutzig. Sie werden von Caporali (ein Caporale ist ein Vor- Fotos: Armin Smailovic/Fruitmarket/Langfilm/Agentur Focus (2), mauritius images/Dino Fracchia/Alamy, Simona Granati/Corbis via Getty Images Der Film und arbeiter, Anm. d. Red.) angeheu- das Leben ert, alles illegal. Die Landwirt- schaft in Italien lebt von der Ausbeutung der Migranten. Eine Million Arbeiter sind es insge- samt, die Hälfte davon wird aus- gebeutet und schlecht behan- delt, wie Sklaven. Von den Caporali? Ja, aber von manchen Bauern genauso. Die Caporali sind auch nur ihre Vertretung, und sie sind brutal, sie zahlen schlecht, sie kassieren Geld für die Unterbrin- gung in den Ghettos und für die Fahrt zu den Erntefeldern, sie quetschen 20 Leute in einen winzigen Bus, alle müssen sich ducken, damit sie nicht gesehen Yvan Sagnet im Juni 2017 bei der Präsentation seines Vereins »No Cap«, neben ihm Massimiliano werden. Es gibt ständig Unfälle, Bernini, der damals dem Landwirtschaftsaus- aber das interessiert natürlich schuss des italienischen Parlaments angehörte. kaum jemanden. Wir reden von Tomaten- feldern? Ja, aber auch von Orangen, Salat, In Matera gedreht: Der Einzug in Jerusalem in Artischocken, Brokkoli, Pepe- Das neue Evangelium. Der Milo-Rau-Film ist ab roni, Fenchel, von all dem Ge- 17. Dezember als Kino on Demand verfügbar. müse und Obst aus Italien, das Auf dasneueevangelium.de klickt man ein Kino an und kauft ein Ticket, um den Film zu Hau- in den Supermärkten in Europa, se zu sehen. Die Kinos sind an den Einnahmen in den USA, überall auf der Welt beteiligt, Tickets erhältlich ab 1. Dezember. liegt. SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 17
Sie haben damals zum Streik aufgerufen. Warum Sie? Ich hatte das Glück, studiert zu haben und zu wissen, was meine Rechte sind. Ich habe gesehen, dass mir meine Rechte auf den Tomatenfeldern genommen wur- den, dass sie jedem Menschen dort genommen werden. Auch Menschen, die nicht wissen, dass sie überhaupt Rechte haben. Hatten Sie Angst? Klar hatte ich Angst. Die illega- len Immigranten waren die schwächsten. Die Caporali dro- hen ganz klar, wenn du nicht tust, was wir sagen, zeigen wir dich an, und du kehrst nach Hause zurück. Aber auch andere haben oft keine Wahl. In Italien erledigen die Ausländer die Ar- beiten, die die Italiener nicht er- ledigen möchten, es ist die ein- zige Möglichkeit zu überleben. Wie haben Sie es geschafft, die Arbeiter trotz der Angst vom Streik zu überzeugen? Ich habe Versammlungen organi- siert. Ich habe geredet. Ich habe gesagt, wir können so nicht leben. Ich habe gesagt, wir kön- nen so nicht arbeiten, wir sind Menschen, das ist nicht men- schenwürdig. Wir müssen unse- re Würde verteidigen. Wir müs- sen protestieren. Sie haben ge- sagt, du hast recht, aber wir haben Angst. Erst haben sich kaum welche getraut mitzuma- chen. Ich habe die Straßen blo- ckiert, die vom Ghetto zu den Feldern führten, mit Ästen und Felsbrocken, sodass die Caporali mit ihren Bussen nicht durch- kamen. Irgendwann haben sich mehr Menschen getraut. Am ers- ten Tag des Streiks waren wir mehr als 1000, fast alles Bewoh- ner des Ghettos. Yvan Sagnet wusste, der Streik wäre vorüber, sobald die Men- schen Hunger und Durst leiden würden. Mit der Bitte um Spen- den wandte er sich an die Öffent- lichkeit. Die Leute aus der Um- gebung brachten Reis, Milch und Brot, aber auch Menschen Sagnet lebt von wenig Geld. Er hält sich mit kleinen Spenden über Wasser, er wird auf Konferenzen eingeladen, um aus dem ganzen Land spendeten Vorträge über seine Arbeit zu halten, und seine Reisen unterstützt der Verein »No Cap«. 18 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
»BEI 39 CENT FÜR EINE großzügig. Dann berichteten Sie können aber keine Wun- Zeitungen, so wurde der Auf- der vollbringen und illegalen stand von Nardò zum ersten Einwanderern legale Arbeit großen Streik migrantischer Ar- beitskräfte in Italien. DOSE TOMATEN BRAUCHT vermitteln, oder? Wir müssen uns an das Gesetz DER BAUER SKLAVEN« halten. Wir gehen in die Ghet- Sind Sie bedroht worden? tos, rufen die Leute zusammen Praktisch die ganze Zeit. Wir und sagen, wir können nur die haben immerhin zwei Monate nehmen, die Papiere haben. lang gestreikt, in der Zeit lebte arbeitet und dann ein eigenes soundso viel für deine Orangen Aber diese gesetzliche Untertei- ich im Ghetto. Die Caporali ha- Netzwerk gegründet. bekommst und der Supermarkt lung der Einwanderer in legale ben mich bedroht, du stiftest Nämlich den Verein »No soundso viel Tonnen deiner und illegale begünstigt die Aus- hier nur Unfrieden, verzieh dich, Cap«. Das Logo »No Cap« auf Orangen nimmt, könntest du beutung. sonst werden wir dir zeigen, wie einer Tomatendose bedeu- deine Arbeiter anstellen? Wie geht es Ihnen damit, das hier läuft! Sie haben auch tet, dass die Ware ohne An wen treten Sie heran, an dass Sie so vielen nicht hel- versucht, mich zu diskreditieren. die Mitwirkung von Caporali die Geschäftsführung einer fen können? Wie das? gepflückt wurde. Lidl-Filiale oder eher eines Wir können nicht alle retten. Sie haben die anderen gegen Genau. Da, wo »No Cap« drauf- Biomarkts? Aber je mehr mitmachen, je mich aufgestachelt, haben ge- steht, wurde ohne Ausbeutung An beide. Erst kürzlich habe ich mehr Supermärkte sich bereit sagt, ich sei in Wahrheit ein Ge- geerntet. Aber in den vergange- den Verantwortlichen des Unter- erklären, »No Cap«-Produkte in schäftsmann und würde sie um nen Jahren habe ich mehr und nehmens Aspiag Despar kennen- ihre Regale zu stellen, desto ihr Geld bringen. Sie haben ver- mehr verstanden, dass das Pro- gelernt, einen Teil der Handels- mehr werden wir retten können. sucht, den Spieß umzudrehen. blem natürlich ein viel größeres gruppe Spar – dank des Films Milo Rau hat gesagt, ein Satz Werden Sie heute noch ist. Anfangs habe ich gegen die von Milo Rau übrigens, der Film von Jesus in der Bibel sei für bedroht? Caporali gekämpft. Doch die hat schon viel bewirkt. Und ihn der wichtigste für diesen Wenn du diese Art von Arbeit Caporali sind ja auch nur kleine in den italienischen Megamark- Film: »Glaubt nicht, ich sei machst, lebst du mit dem Risiko. Fische, sie sind nur ein Symptom Supermärkten stehen unsere gekommen, um das Gesetz Es ist nicht leicht, sich gegen die und nicht die Ursache. Wenn ein Produkte schon im Regal. aufzuheben…« Caporali und die Mafia zu stel- Caporale weg ist, ist am nächs- Sie führen all diese Verhand- »… sondern um es zu erfüllen«, len. Manche lassen sich entmu- ten Tag ein anderer da. Man lungen selbst? ja. Weil es nicht befolgt wird. Es tigen und geben auf. Aber ich muss also das System ändern. Ja, so wissen wir, wer dabei ist, gibt Gesetze, die gerecht sind, habe mich daran gewöhnt. Ich Sehen Sie, es ist wie eine Pyrami- und behalten die Kontrolle. und das Gesetz, dass jedem, der bin sehr entschlossen. de, ganz unten die Arbeiter, da- Wer ist wir? arbeitet, ein Arbeitsvertrag und Wir führen dieses Interview rüber die Caporali, darüber die Wir sind jetzt um die 30 Akti- würdige Arbeitsbedingungen auf Französisch, in der Lan- Landwirte, darüber die Industrie visten in Italien und auch darü- zustehen, ist für mich ein gutes dessprache Kameruns. Im und schließlich, ganz oben, die ber hinaus. Ein richtiges Netz- Gesetz – das ziemlich oft nicht Film sprechen Sie sehr gut Supermärkte, die Handelskon- werk. Wir arbeiten mit einer an- angewendet wird. Also arbeite Italienisch. Konnten Sie die zerne. Die großen Caporali, das deren Gruppe zusammen, die ich daran, dass es angewendet Sprache auch, bevor Sie nach sind Lidl, Carrefour, Auchan, sie den Kontakt zu den Bauern her- wird. Es gibt aber auch Gesetze, Turin zum Studium gingen? drücken die Preise. Wenn eine stellt. Wir haben inzwischen 400 die ungerecht sind. Ein Gesetz, Nicht sehr gut, aber an der Uni Dose Tomaten 39 Cent kostet, Menschen in legale Arbeit ge- das den Menschen verbietet, Er- habe ich sie schnell gelernt. Ich braucht der Bauer Sklaven, das bracht, die vorher für Caporali trinkende aus dem Meer zu ret- war in Kamerun zur Schule ge- schafft er nicht mit rechtmäßig gearbeitet haben. Wir müssen das ten, ist für mich ein ungerechtes gangen, hatte dort einen Ab- Angestellten. für Hunderttausende schaffen. Gesetz, für das ich mich nicht schluss gemacht. Bildung ändert Welche Rolle spielt der Kon- Was heißt legale Arbeit einsetzen würde. alles. Meine Bildung hat mir sument? genau? Mit wie vielen Landwirten Kraft und Mut gegeben. Und ich Der Konsument ist sehr wichtig Die Leute bekommen einen Ver- arbeiten Sie bisher zusam- wusste, ich kann kämpfen, aber am Ende der Wertschöpfungs- trag. Der Arbeitgeber organi- men? ich kann auch zurück zur Uni kette. Mit »No Cap« versuchen siert, dass sie anständig wohnen. Ungefähr 30. Von vielleicht einer gehen, wenn ich möchte. wir, alle zusammenzubringen, Sie arbeiten sechs Stunden am Million, von denen vielleicht 70 Sie wurden allerdings nicht die Arbeiter, die Bauern, die Tag. Sie bekommen 50 Euro am Prozent legale Arbeitsverträge Ingenieur, sondern Aktivist. Supermärkte und die Konsu- Tag, nicht 20, nicht 15 – sondern umgehen. Es gäbe also genügend Ich habe 2013 meinen Abschluss menten. Wir fragen den Bauern, 50. Sie müssen zum Arzt gehen Arbeitgeber für genügend Arbei- als Ingenieur für Telekommuni- wie viel er für ein Kilo Orangen können, wenn es ihnen nicht gut ter, in einer gerechten Welt, in kation gemacht, aber ich habe braucht, um Arbeiter anzustel- geht. Wir unterstützen sie mit der alle fair miteinander um- nie in dem Beruf gearbeitet. Der len. Wir fragen den Supermarkt, Häusern, die wir hergerichtet gehen. Streik von 2011 hat mein Leben wie viel ein Kilo Orangen kosten haben, und mit Bussen und Au- Was erzählen Sie den Bau- verändert. Ich habe fünf Jahre kann. Dann gehen wir zurück tos, denn die Wege zu den Plan- ern, um sie zu überzeugen, für die Gewerkschaft CGIL ge- zum Bauern und sagen, wenn du tagen sind oft weit. mehr Geld auszugeben? SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN 19
»DAS SOLIDARI- Ich erzähle ihnen, wie es den Ar- zu können. Und ich habe zwei beitern auf den Feldern geht. Ich Jahre dafür gearbeitet und ge- sage ihnen, ich bringe eure Wa- spart, nach Italien gehen zu kön- ren in Supermärkte nach Rom, Mailand oder München, wenn ihr die Arbeiter anstellt und an- nen. Meine Großmutter hat mich dazu erzogen, studieren zu wollen. Sie hat mir beigebracht, SCHE UND SOZIALE ständig behandelt. Ich habe in München noch den Menschen mit Respekt zu begegnen, mir christliche Werte EUROPA IST EINE WUNSCHVORSTELLUNG« kein Produkt mit Ihrem Logo vermittelt. Sie hat mich zu dem gesehen. Menschen gemacht, der ich bin. In Deutschland verkaufen wir Lebt Ihre Großmutter noch? bisher nur über sogenannte soli- Nein, sie ist seit 15 Jahren tot. darische Einkaufsgruppen. Aber Warum eigentlich Italien? erschüttert das nicht mehr, ich wieder erklärt, dass ich Aktivist das wird sich ändern. Ich bin Als ich fünf Jahre alt war, nahm habe verstanden, wie es läuft. bin. Es hat gedauert, aber nun zuversichtlich. Kamerun an der Fußball-Welt- Aber ich finde, es muss vieles ge- verstehen sie, was ich mache, Ein Klassiker in deutschen meisterschaft teil. Die WM war radegerückt werden. und akzeptieren, wer ich bin. Regalen sind Dosentomaten in Italien. Deutschland wurde Ihnen schwebt also eine sehr Stellen Sie sich vor, je nach der Firma Mutti. Schlimm? Weltmeister, Lothar Matthäus, viel größere Revolte vor? Kamerun zurückzukehren? Auf jeden Fall nicht »No Cap«. Jürgen Klinsmann. Kamerun Als ich meinen Kumpels gesagt In ein freies Afrika, ja, ohne Was haben Sie bisher noch war die größte Mannschaft aus habe, es ist gut, wenn wir strei- Konflikte, Korruption und erreicht? Afrika, und sie kamen zum ers- ken, und als ich sie habe streiken Kriege. Wenn die Ungerechtig- Die Schritte sind klein. Alles dau- ten Mal weiter. Wenn sie spiel- sehen, wusste ich, das ist der keiten, die mit der Kolonisation ert ewig. Wir haben es geschafft, ten, waren bei uns die Läden richtige Weg. Eine friedliche Re- begonnen haben, benannt und dass ein Gesetz gegen die Capo- geschlossen, alle haben zuge- volution. Aufzustehen gegen das bekämpft werden. Allein die rali verabschiedet wurde. Der schaut. Ich war klein, ich sah System, es lahmzulegen, um sei- Handelsabkommen, die Afrika erste große Prozess mit mehreren die Spieler, sie sahen toll aus, so ne Ansprüche geltend zu ma- wirtschaftlich benachteiligen Angeklagten, Caporali und Bau- wollte ich werden. Ich sang den chen: So setzt man seine Waffen und dazu führen, dass europä- ern, hatte 2013 begonnen, da gab WM-Song, notti magiche (Der am wirkungsvollsten ein und ische Produkte in Afrika ver- es das Gesetz noch nicht. Sie Song heißt »Un’ estate Italiana«, begegnet Menschen mit Re- schleudert werden. wurden verurteilt, gingen in Re- notti magiche war Teil des Re- spekt, wie meine Großmutter es Sie meinen, italienische, sub- vision und wurden freigespro- frains, Anm. d. Red.), ich bekam mir beigebracht hat. ventionierte Dosentomaten chen, dagegen haben wir wiede- ein Trikot mit der Nummer 19 Aber Ihre Großmutter war werden nach Ghana ge- rum in nächster Instanz Ein- von meinem Vater, weil ich keine Marxistin, oder? schafft, sind dort billiger als spruch eingelegt, und nun Schillaci bewunderte. Ich hatte Absolut nicht. Trotzdem gibt es die einheimischen, die Klein- warten wir auf die Aufhebung quasi zwei Heimmannschaften, Überschneidungen zwischen ih- bauern gehen pleite und ver- dieses erbärmlichen Urteils. Seit Kamerun und Italien. Seitdem rer und meiner Überzeugung. lassen ihr Land? Kennen Sie es das Gesetz gibt, wurden aber hatte ich Italien im Kopf. Man muss den Ausbeutern be- Leute, denen das passiert ist? mehrere Caporali und Bauern Spielen Sie Fußball? wusst machen, dass sie ausbeu- Ich kenne viele, die in ihrer afri- angeklagt. Nein, aber ich bin großer Fan. ten. Aber man muss auch den kanischen Heimat in der Land- Denken Sie manchmal, wenn Wie sehen Sie Europa heute? Ausgebeuteten bewusst machen, wirtschaft gearbeitet haben und alles so langsam geht und Der Traum ist ausgeträumt. Es dass sie ausgebeutet werden. Je- jetzt in Italien Tomaten ernten. mühsam ist – wäre ich doch gibt zu viele Ungerechtigkeiten, der kann eine Wahl haben. Auch einfach Ingenieur geworden? die Moral ist auf dem Nullpunkt als Konsument kann man sich So ticke ich nicht. Das Leben ist, angelangt. Die Gleichgültigkeit Fragen stellen wie: Woher kom- wie es ist. Und ich bin stolz auf der Leute gegenüber den Men- men diese Tomaten? Wie sind sie das, was ich mache. schenrechten ist erschreckend, geerntet worden? Möchte ich GABRIELA HERPELL Wie war Ihre Vorstellung und besonders gegenüber dem moderne Sklaverei unterstützen? von Europa, bevor Sie hier- Schicksal der Einwanderer. Eu- Ist das christlich? Oder kann ich herkamen? ropa wird von den Banken be- etwas anderes kaufen und christ- Es erschien mir wie das Paradies. herrscht, von der Finanzwelt, von licher handeln? Dieses Bewusst- Zivilisiert. Ein Ort, an dem die den multinationalen Konzernen. sein kann etwas bewirken. ging am Abend in Rom eine Pizza es- Menschenrechte galten. Und ein Das solidarische und soziale Eu- Was sagen Ihre Eltern über sen. Pizza Marinara, wie gut das klang, Gesundheitssystem, das für je- ropa ist eine Wunschvorstellung. das, was Sie tun? sie freute sich schon auf die Muscheln den zugänglich ist. Ein Prozent der Weltbevölke- Anfangs haben sie nicht ver- und Sardellen darauf – da kam eine Wie war Ihr Leben in Kame- rung besitzt neunzig Prozent des standen, was ich machte. Sie hat- Pizza mit Tomatensauce und Orega- no. Keine Meeresfrüchte, nicht mal run? Reichtums. Die Reichen nutzen ten ihre Vorstellungen, entweder Käse. Die Pizza Marinara, das weiß Meine Familie ist nicht reich, ihre wirtschaftliche Macht, um man ist Ingenieur oder man ist Herpell jetzt, heißt so, weil sie ein Es- wir lebten bescheiden, ich habe die Politik zu bestimmen und Politiker, das heißt so etwas wie sen der armen Fischer und Seefahrer gearbeitet, um zur Schule gehen noch reicher zu werden. Mich Minister. Ich habe ihnen immer war, mit gut haltbaren Zutaten. 20 SÜDDEUTSCHE ZEITUNG MAGAZIN
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