Goethe, Frauen um Astrid Seele - Leseprobe aus: Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier.
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Leseprobe aus: Astrid Seele Goethe, Frauen um Mehr Informationen zum Buch finden Sie hier. (c) 2005 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
Frauen um Goethe – Goethe und die Frauen Johann Wolfgang von Goethes Drang, sich selbst darzustellen, über sich selbst Rechenschaft abzulegen, ist bekannt. Seine dichterischen Werke bezeich- nete er selbst einmal als «Bruch- stücke einer großen Konfes- sion» 1. Gegen seine Absicht le- gitimierte diese Äußerung den oft platten Biographismus sei- ner Ausleger. Deutlicher auto- biographische Zeugnisse sind jedoch seine zahlreichen erhaltenen Briefe, von denen weit über ein Zehntel an die Seelenfreundin Charlotte von Stein gerichtet sind. Hinzu kommen die Tagebücher, die autobiographischen Fragmente und die im Alter niedergeschriebenen Erinnerungen in «Dichtung und Wahrheit». Eine Biographie, die Goethes Le- ben aus seiner eigenen Sicht darstellen möchte, kann sich somit auf eine ungeheure Materialfülle stützen. Anders sieht es mit den Frauen um Goethe aus. Versucht man herauszufinden, wie die Frauen, die von dem Dichter einst verehrt oder geliebt wurden, nun ihrerseits ihre Beziehung zu Goethe interpretierten, was sie ihnen bedeutete, so fehlt es häu- fig gänzlich an Selbstzeugnissen. Dies mag zum einen an der zu- fälligen Ungunst der Überlieferung liegen, beruht bisweilen je- doch auf der ganz bewussten Vernichtung wertvollen Quellen- materials. Nicht nur hat Goethe selbst in einem großen Autodafé 1797 alle bis 1792 erhaltenen Briefe verbrannt, sondern schon Jahre zuvor, nach ihrem Bruch mit Goethe, hat Charlotte von Stein etwa ihre Briefe an Goethe zurückgefordert und ver- nichtet. So ergibt sich im Falle gerade dieser für Goethe so wich- 7
« Goethe auf dem Eise », während seiner Frankfurter Zeit 1771 – 1775. Aus : Goethe-Galerie, nach Original-Cartons von Wilhelm von Kaulbach von 1862, München 1857 – 1864 (vorn sitzend : Maximiliane von LaRoche-Brentano) 8
tigen Beziehung die eigenartige Situation, dass uns von Goethes Dialog mit Frau von Stein während seines ersten Weimarer Jahr- zehnts lediglich die eine Hälfte überliefert ist, die Antworten der geliebten Freundin jedoch unbekannt geblieben sind. Auch sonst, bei Charlotte Buff-Kestner etwa oder Lili Schönemann-von Türckheim, setzen Selbstzeugnisse häufig erst in einer Zeit ein, in der ihre Beziehung zu Goethe längst abgeklungen ist. So ge- winnt der Interpret oft nur aus vielfältigen Brechungen oder, um einen Ausdruck Goethes zu verwenden, aus «wiederholten Spie- gelungen» seine Eindrücke und muss aus indirekten Quellen Rückschlüsse zu ziehen suchen, welche Bedeutung Goethe im Leben der jeweiligen Frauen besaß. «Frauen um Goethe» – aus dieser Formulierung wird be- reits deutlich, dass Goethe der Fokus ist, an dessen Biographie auch die Frauenviten sich zunächst einmal orientieren müssen. Die goethezentrierte Betrachtungsweise, die einst in der deut- schen Geistesgeschichte Programm war (Goethe als die alles be- herrschende Sonne, deren Strahlen den Menschen in ihrem Um- kreis erst Licht verliehen), scheint damit zunächst einmal auch in diesen biographischen Skizzen zwar beibehalten, ist hier aber durch die Einsicht bedingt, dass die Quellenlage in einigen Fäl- len kein anderes Verfahren zulässt: Die einseitige und verzerren- de Perspektive der Überlieferung erlaubt einen Blick auf die Frauen um Goethe oft nur aus der Sicht Goethes. Diese Einsicht wiederum führt einerseits dazu, dass die ‹ero- tische Biographie› des Dichters als chronologischer Leitfaden durch die Lebensgeschichten der einzelnen Frauen dient; sie soll andererseits keineswegs verhindern, dass der Lebensweg dieser Frauen auch über die Zeit ihres Umgangs mit dem Dichter weiter verfolgt wird. Wo immer dies möglich ist, soll durch die Wieder- gabe überlieferter Zeugnisse und Selbstzeugnisse auch diesen Frauen Gerechtigkeit widerfahren, sollen sie gleichsam aus dem Bannkreis Goethes herausgelöst und als die unabhängigen Per- sönlichkeiten charakterisiert werden, die sie waren. Unabhängige Persönlichkeiten einerseits, typische Vertrete- rinnen der Frauen der Goethezeit andererseits: dies waren sie allesamt, die Goethe auf ihrem Lebensweg begegneten. Die Ge- 9
Die Mutter des Dichters : Katharina Elisabeth Goethe. Pastell von Georg Oswald May, 1776 neration seiner Eltern (Goethes patente Mutter), seine Altersge- nossinnen (frühe Freundinnen wie Friederike Brion, Charlotte Buff, Lili Schönemann) und schließlich die Generation seiner Kinder (zu einem solchen ‹Kind› stilisierte sich insbesondere Bettine Brentano-von Arnim gern): Sie alle waren jeweils beson- dere Persönlichkeiten, trugen zugleich jedoch auch an den typi- schen Frauenproblemen der Goethezeit, die ihnen allen gemein- sam waren. Das wichtigste Kennzeichen, nicht nur alle Generationen, sondern auch alle Stände durchziehend, stellte sicherlich der Kinderreichtum dar, verbunden mit einer nach heutigen Begrif- fen kaum vorstellbar hohen Kindersterblichkeit. Betrachten wir die Viten der Beamtengattin Charlotte Buff-Kestner (zwölf Kin- der, davon zwei im Kindesalter gestorben), der Kaufmannsgattin Maximiliane von LaRoche-Brentano (dreizehn Kinder; Maxe selbst stirbt nach der Geburt ihres dreizehnten Kindes im Alter 10
von erst siebenunddreißig Jahren), der Bankiersgattin Lili Schö- nemann-von Türckheim (sechs Kinder, davon eines im Kindesal- ter gestorben), der adligen Hofdame Charlotte von Stein (sieben Kinder, davon vier im Kindesalter gestorben), der Christiane Vul- pius (fünf Kinder, davon vier im Kindesalter gestorben) und auch noch der Dichtersgattin und nachmaligen Schriftstellerin Bettine Brentano-von Arnim (sieben Kinder), so muten deren Le- benswege zunächst gleichförmig an: Der ständige und zermür- bende Wechsel von anstrengenden Schwangerschaften über die Freude am Nachwuchs und seine Taufe bis hin zum Kinderbe- gräbnis bestimmte den Familienalltag häufig weit mehr als ein Jahrzehnt, oft zwei Jahrzehnte lang. Der zweite Frauentypus, der nämlich der unverheiratet ge- bliebenen Frauen, begegnet uns auffallend häufig in Goethes Biographie – oft (freilich nicht notwendigerweise) entsprach die- ser Frauentypus dem einer unnahbaren «Äbtissin». Der Keim hierzu mag in Goethes intensiver, latent inzestuöser Beziehung zu seiner Schwester Cornelia gelegt worden sein, von der er im achtzehnten Buch von «Dichtung und Wahrheit» selbst sagt: «Aufrichtig habe ich zu gestehen, daß ich mir, wenn ich manch- mal über ihr Schicksal phantasierte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin, als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besaß alles, was ein solcher höherer Zu- stand verlangt, ihr fehlte, was die Welt unerläßlich fordert.» 2 Seine Jugendliebe Friederike Brion starb unverheiratet, ge- liebt und geachtet zwar als ‹Tante› zahlreicher Patenkinder, aber ohne ihr Glück in einer sinnlichen Beziehung gefunden zu ha- ben. Minchen Herzlieb starb in einer psychiatrischen Heilan- stalt, nachdem eine von Anfang an unlustig eingegangene Ehe sie ähnlich wie Cornelia in die Katastrophe gestürzt hatte. Auch Ulrike von Levetzow, Goethes letzte Liebe, starb als hochbetagtes Stiftsfräulein in Böhmen. Nur die Hand, um die Goethe einst an- gehalten hatte, küsste man ihr ehrfurchtsvoll. Ulrike von Levetzows Biographie spiegelt den typischen Le- benslauf einer unverheirateten Dame von Adel wider. Während einfachere junge Frauen wie Friederike Brion oft keine andere Wahl hatten, als ein Leben in völliger Zurückgezogenheit zu füh- 11
Cornelia Goethe. Handzeichnung von Goethe auf einem Korrekturbogen der Erstausgabe des « Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand», 1773 ren, abhängig zu sein davon, dass verheiratete Schwestern oder andere Verwandte ihnen Kost und Logis gewährten, fanden Da- men von Adel ihr neues Zuhause häufig in einem Stift, einer reli- giösen Institution, die vom Landadel eigens zu diesem Zweck ge- gründet worden war und in der die Stiftsdamen zwar ähnlich wie Nonnen lebten, an eine klösterliche Regel oder gar ein Gelübde jedoch nicht gebunden waren. Manchmal konnte es geschehen, dass ein solches Stiftsfräulein doch noch heiratete und dann aus dem Stift wieder auszog. Diesen Weg ging etwa Goethes Briefver- traute Auguste zu Stolberg, die im Jahre 1783 im für damalige Be- 12
1794 1806 griffe hohen Alter von vierunddreißig Jahren den Grafen An- dreas Peter von Bernstorff ehelichte. Meistens jedoch bedeutete, wie im Falle der Ulrike von Levetzow, die teure Aufnahme in ein Stift so viel wie ‹lebenslänglich›.3 Neben die sozialen Gemeinsamkeiten (hier der Kinderreich- tum der verheirateten Frauen, dort die Einsamkeit der Stiftsfräu- lein) treten die zeitgeschichtlichen Geschehnisse, insbesondere die für die Goethezeit so ungemein prägende Französische Revo- lution und die Ära Napoleons, die auch auf die Frauen um Goethe Auswirkungen zeitigen sollten. Wir werden sehen, wie Revolutionskriege und Feldzüge Na- poleons zunächst 1794 Lili von Türckheim betrafen, die in Straß- burg dem Geschehen natürlich am nächsten war und aufgrund der politischen Ereignisse mit ihrer Familie ins Exil gehen muss- te, wie sie sodann Charlotte Kestner erreichten, die ein ganzes Jahrzehnt lang, von 1803 bis 1813, in Hannover unter französi- schen Einquartierungen zu leiden hatte, wie sie schließlich auch Weimar und Jena heimsuchten, wo französische Soldaten nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt von 1806 plündernd durch die Städte zogen. Charlotte von Stein etwa verlor als Dreiundsechzigjährige einen großen Teil ihres Besitzes. Christiane Vulpius hielt tapfer zu ihrem Lebensgefährten, der es ihr noch während der Belage- rung von Weimar damit dankte, dass er sie nach achtzehn ge- meinsamen Jahren zu seiner legitimen Ehefrau machte – mit der Begründung, dass man in friedlichen Zeiten die Gesetze sehr wohl umgehen, in Zeiten politischer Wirren und chaotischer Zustände aber umso mehr sie achten müsse. Johanna Schopen- hauer, gerade erst zugezogen in Weimar, bestand nach einem Diktum Goethes ihre Feuertaufe glänzend, da sie zahlreichen Betroffenen Hilfe und Trost gewährte. Hier geht es jedoch nicht in erster Linie um eine exemplari- sche Studie über Frauen der Goethezeit. Auch und vor allem interessiert uns das Thema «Goethe und die Frauen». Die Bio- graphie des Dichters fungiert somit nicht nur als historisches Ge- rüst, als chronologischer Leitfaden durch die Frauenviten. Viel- mehr geht es gleichzeitig um Goethes prekäres Verhältnis zu den 13
1767 Frauen, zu Fragen also wie: Zu welchem Frauentypus fühlte sich Goethe hingezogen? Welcher Frau neigte er sich wann zu und warum? Welche weiblichen Eigenschaften schätzte er in wel- cher Phase seines Lebens? Beschreibt man anhand exemplarischer Frauenschicksale den ‹erotischen Werdegang› Goethes, so ergibt sich als natür- liche Zäsur dieselbe, die auch jede Goethe-Biographie anerkennt, Goethes Reise nach Italien nämlich, von der er als ein ganz ande- rer zurückkam. Nicht nur verändert in seinen Kunstanschauun- gen, sondern auch bereichert um eine sinnliche Liebeserfah- rung, die ihm – erst jetzt – die Aufnahme einer dauerhaften Be- ziehung ermöglichte. Zuvor war Goethe immer wieder vor einer allzu intensiven Bindung zurückgeschreckt, möglicherweise aufgrund eines geheimen Bandes, das ihn an die Schwester Cor- nelia fesselte (wir werden sehen, dass es nicht zuletzt Cornelias Murren war, das ihn seiner einzigen Verlobten Lili Schönemann entfremdete), möglicherweise auch aufgrund seiner Scheu, eine Bindung einzugehen, die ihn in seiner dichterischen Entwick- lung zurückgehalten hätte, vielleicht auch – psychoanalytische Deutungen seiner Schriften haben dies nahe gelegt – aufgrund einer sexuellen Hemmung, von der ihn erst das befreiende Ita- lien-Erlebnis erlöste. Aus Leipzig flieht er vor Käthchen Schön- kopf, aus Sesenheim vor Friederike Brion, aus Wetzlar vor Char- lotte Buff, aus Frankfurt vor Lili Schönemann, aus Weimar vor Charlotte von Stein. Durch die Briefe an die jeweiligen Vertrauten seiner Liebes- nöte, an Ernst Wolfgang Behrisch in Leipzig, an den Aktuarius Jo- hann Daniel Salzmann in Straßburg, an Lottes Bräutigam Johann Christian Kestner in Wetzlar oder an die schwesterliche Beicht- mutter Auguste zu Stolberg in der Zeit seines Verlöbnisses mit Li- li Schönemann und danach zieht sich wie ein roter Faden das Bild von der «Wetterfahne», als die der hin- und hergerissene junge Dichter sich selbst charakterisiert: «Das ist ein trauriger Brief, ein rechter ängstlicher Ton gegen meine launigen, närri- schen Briefe. So ist’s. Eine Wetterfahne, die sich dreht, immer dreht.» 4 (An Behrisch am 2. November 1767) – «Der Kopf steht mir wie eine Wetterfahne, wenn ein Gewitter heraufzieht und 14
1771 1807 / 08 1828 die Windstöße veränderlich sind.» 5 (An Salzmann am 29. Mai 1771) – «Ich wandere in Wüsten, da kein Wasser ist, meine Haa- re sind mir Schatten und mein Blut mein Brunnen.» 6 (An Kest- ner im April 1773) – «Unseliges Schicksal, das mir keinen Mittel- zustand erlauben will. Entweder auf einem Punkt fassend, fest- klammernd oder schweifen gegen alle vier Winde.» 7 (An Auguste zu Stolberg am 3. August 1775) Verglichen mit diesen stürmischen Gemütsaufwallungen, von denen die Korrespondenzen des jungen Goethe glaubhafte- res Zeugnis ablegen als die aus distanzierter Perspektive abge- fasste Autobiographie «Dichtung und Wahrheit», hat Goethe nach seiner italienischen Reise in der Tat Stabilität gefunden, nicht zuletzt in seiner Beziehung zu Christiane Vulpius. Zwar fühlte er sich auch während dieser achtundzwanzig Jahre andau- ernden Lebensgemeinschaft zu anderen Frauen hingezogen, zu Minchen Herzlieb etwa, die er 1807 / 08 in Sonetten verherrlich- te, zu Bettine Brentano, nachmals Meine Idee von den Frauen von Arnim, deren Zudringlichkeit er ist nicht von den Erschei- sich freilich oft genug zu erwehren nungen der Wirklichkeit ab- hatte, oder zu Marianne von Wille- strahiert, sondern sie ist mir angeboren oder in mir ent- mer, die als Suleika in seinem «West- standen, Gott weiß wie. östlichen Divan» verewigt wurde, Goethe am 22. Oktober 1828 zu Eckermann dennoch konnte keine dieser Bezie- hungen die seelische Balance Goe- thes so ernsthaft gefährden, wie dies in seiner Jugend der Fall ge- wesen war. Erst sieben Jahre nach dem Tod seiner Frau Christia- ne flammt in dem alten Dichter noch einmal eine Leidenschaft zu der jungen Ulrike von Levetzow auf, deren Intensität sie sei- nen Aufwallungen zu den Geliebten seiner voritalienischen Zeit vergleichbar macht. Sieht man einmal von jenem rätselhaften Frankfurter «Gret- chen» ab, das Goethe in seiner Autobiographie, vermutlich stark literarisierend, beschreibt, so erfährt Goethe seine erste Liebe als Leipziger Student in seiner Beziehung zu der Wirtstochter Käth- chen Schönkopf, die er 1766 kennen gelernt hat. All die typi- schen Momente, die die Liebesverhältnisse des jungen Goethe kennzeichnen, sind hier bereits vorhanden: die intensive Liebe 15
Anna Katharina (Käthchen) Schön- kopf, verh. Kanne. Undatierter Stahlstich von A. Hüssener nach einer zeitgenössischen Miniatur zu Beginn der Bekanntschaft, die sich sogleich in Dichtungen niederschlägt (das «Buch Annette» verherrlicht seine Beziehung zu Käthchen), sodann eine Periode der Schwankungen, in der Goethe sich mit einer Wetterfahne im Wind vergleicht und schließlich die Flucht. Anna Katharina Schönkopf, 1746 geboren und damit drei Jahre älter als Goethe, wird von Goethes Freund Johann Adam Horn als «wohl gewachsen, obgleich nicht sehr groß» geschil- dert, sie habe «ein rundes, freundliches, obgleich nicht außeror- dentlich schönes Gesicht», «eine offne, sanfte, einnehmende Miene», «viel Freimütigkeit ohne Koketterie» und «einen sehr artigen Verstand, ohne die größte Erziehung gehabt zu haben».8 Goethe, so fährt Horn fort, liebe das Mädchen zärtlich, ob- wohl er wisse, dass sie nie seine Frau werden könne. In seiner Dichtung besingt Goethe die Geliebte, freilich noch ohne sich 16
1811 – 1813 von den vorgegebenen lyrischen Traditionen des Rokoko lösen zu können. («Warum sollt’ ich, Annette / Die Du mir Gottheit, Muse / Und Freund mir bist und alles / Dies Buch nicht auch nach Deinem / Geliebten Namen nennen?») Dass Goethe in Wirklich- keit das Verhältnis zu Käthchen durch unnötige Eifersuchtsan- fälle belastet habe, berichtet er selbst in seiner Darstellung der Leipziger Zeit im siebten Buch von «Dichtung und Wahrheit». Literarischen Niederschlag hat diese Episode in Goethes frü- hem Drama «Die Laune des Verliebten» gefunden, auch dies – wie so oft bei Goethe – eine poetische Beichte. Aus den Briefen an Ernst Wolfgang Behrisch spricht all dies unmittelbarer noch, auch die heftige Gemütsbewegung, die Goethe immer dann zu überkommen pflegte, wenn ein Verhält- nis ihn zu ängstigen begann. Die Korrespondenz mit Behrisch dokumentiert eben diese zweite Phase in seinem Verhältnis zu Käthchen: «Liebe ist Jammer, aber jeder Jammer wird Wollust, wenn wir seine klammernde, stechende Empfindung, die unser Herz ängstigt, durch Klagen lindern.» 9 Auch die dritte Phase – die Flucht vor dem Gegenstand der Liebe – können wir in dersel- ben Korrespondenz belegen. Kurz vor seinem endgültigen Bruch schreibt Goethe an Behrisch: «Höre Behrisch, ich kann, ich will das Mädchen nie verlassen, und doch muß ich fort, doch will ich fort [. . .]. Kann sie einen rechtschaffnen Mann kriegen, kann sie ohne mich glücklich leben, wie fröhlich will ich sein.» 10 Und bald darauf kann er dem Freund berichten: «Genug sei dir’s, Net- te, ich, wir haben uns getrennt, wir sind glücklich.» 11 Dass «An- nette» ihn verlassen habe, wie Goethe in «Dichtung und Wahr- heit» an anderer Stelle behauptet 12, scheint somit eine durch Goethes Briefe an Behrisch widerlegbare Darstellung der Ereig- nisse zu sein. Mehr noch aber wird diese Umkehrung der wahren Verhältnisse dadurch widerlegt, dass die folgenden Liebeserleb- nisse des jungen Goethe exakt den gleichen Verlauf zeigen wie seine Leipziger Erfahrung. Wir werden dies beobachten, wenn wir uns nach Sesenheim wenden.
Z e i t ta f e l ber: Hochzeit von Goethes Schwester Cornelia mit Johann Georg Schlosser. 1742 25. Dezember: Charlotte von 1774 9. Januar: Hochzeit der Maxi- Schardt, später von Stein, vermut- miliane von LaRoche mit Peter lich in Eisenach geboren. Anton Brentano. «Die Leiden des 1746 Käthchen Schönkopf in jungen Werthers», «Clavigo». Leipzig geboren. 1775 Bekanntschaft Goethes mit 1749 28. August: Johann Wolf- Lili Schönemann. April: Verlo- gang Goethe in Frankfurt am bung. Herbst: Lösung des Verlöb- Main geboren. nisses. «Stella», «Lili-Lieder», 1750 7. Dezember: Goethes «Egmont» begonnen. November: Schwester Cornelia geboren. Ankunft in Weimar. Bekannt- 1752 Friederike Brion in Nieder- schaft mit Charlotte von Stein. rödern geboren. 1776 «Verse an Lida», «Die Ge- 1753 Charlotte Buff in Wetzlar schwister». geboren. 1777 8. Juni: Tod von Goethes 1758 23. Juni: Anna Elisabeth Schwester Cornelia. Schönemann (Lili) in Frankfurt 1778 25. August: Hochzeit Lili am Main geboren. Schönemanns mit Bernhard 1764 8. Mai: Hochzeit der Charlot- Friedrich von Türckheim. te von Schardt mit Gottlob Ernst 1779 «Iphigenie auf Tauris» Josias Friedrich Freiherrn von (Prosafassung). – September: Be- Stein. such Goethes bei Friederike Brion 1765 1. Juni: Christiane Vulpius in Sesenheim und bei Lili von in Weimar geboren. Türckheim in Straßburg anläss- 1765 – 1768 Goethe studiert lich seiner zweiten Schweizer in Leipzig. Bekanntschaft mit Reise. Käthchen Schönkopf. «Das Buch 1783 – 1786 Frau von Steins Annette», «Die Laune des Ver- jüngster Sohn Fritz lebt in liebten». Goethes Haus und wird von 1770 Hochzeit von Käthchen Goethe erzogen. Schönkopf mit Dr. jur. Christian 1784 20. November (?): Marianne Karl Kanne. Jung (später Marianne von Wille- 1770 / 71 Goethe studiert in Straß- mer) vermutlich in Linz an der burg. Bekanntschaft mit Friede- Donau geboren. rike Brion in Sesenheim. «Friede- 1785 4. April: Bettine Brentano in rike-Lieder». Frankfurt am Main geboren. 1772 Mai – September: Goethe ist 1786 – 1788 Goethes Italien-Reise. Praktikant am Reichskammerge- Unter anderem Umarbeitung der richt in Wetzlar. 9. Juni: Bekannt- «Iphigenie auf Tauris» in Verse. schaft mit Charlotte Buff auf «Egmont» abgeschlossen. einem Ball in Volpertshausen. 1788 12. Juli: Bekanntschaft 11. September: Goethe reist heim- Goethes mit Christiane Vulpius lich aus Wetzlar ab. 29. / 30. Okto- in Weimar. Bald darauf Beginn ber: Selbstmord Karl Wilhelm ihrer Lebensgemeinschaft. Jerusalems in Wetzlar. «Römische Elegien». 1773 4. April: Hochzeit von Char- 1789 22. Mai: Wilhelmine Herz- lotte Buff und Johann Christian lieb in Züllichau geboren. Kestner, Übersiedlung der Kest- 25. Dezember: Goethes Sohn ners nach Hannover. 1. Novem- August geboren. 173
1793 Tod des Freiherrn von Stein. in Weimar. Häufige Begegnun- Frau von Stein verfasst ihr fünf- gen mit Goethe. 13. September: aktiges Trauerspiel «Dido». Streit Bettine von Arnims mit 1798 Übersiedlung der Wilhelmi- Christiane von Goethe. Goethes ne Herzlieb von Züllichau nach vorläufiger Bruch mit Bettine. Jena mit ihren Pflegeeltern Fried- «Dichtung und Wahrheit», erster rich und Johanna Frommann. Teil. 1800 Bekanntschaft Marianne 1812 «Dichtung und Wahrheit», Jungs mit Johann Jakob von zweiter Teil. Willemer. Aufnahme in die Fami- 1813 Friederike Brion in Meißen- lie Willemer als Pflegetochter. heim gestorben. 24. Mai: Tod Johann Christian 1814 «Dichtung und Wahrheit», Kestners. dritter Teil. Juli: Beginn der Ar- 1803 15. Oktober: Charlotte Kest- beit am «West-östlichen Divan». ner schreibt an Goethe und bittet Juli – Oktober: Goethes Reise in ihn um Protektion für ihren fünf- die Rhein- und Maingegend. ten Sohn Theodor (geboren 1779). August: Begegnung mit Marianne Frau von Steins Drama «Die zwey Jung. 27. September: Marianne Emilien» erscheint anonym bei Jung heiratet ihren Pflegevater Cotta. Johann Jakob von Willemer. 1804 4. Februar: Geburt der Ulrike 1815 Mai – Oktober: Goethes zwei- von Levetzow in Löbnitz (Sach- te Reise in die heimatliche Rhein- sen). und Maingegend. 26. September: 1806 Beginn der ausführlichen Letzte Begegnung Goethes mit Gespräche Bettine Brentanos mit Marianne von Willemer in Hei- Goethes Mutter über die Jugend delberg. ihres Sohnes. 14. Oktober: 1816 Tod Christiane von Goethes. Schlacht bei Jena und Auerstedt. September/ Oktober: Charlotte Besetzung Weimars. 19. Oktober: Kestner besucht mit ihrer Tochter Hochzeit Goethes mit Christiane Clara die Schwester Amalie Ridel Vulpius nach achtzehnjähriger in Weimar, bei dieser Gelegenheit Lebensgemeinschaft. am 25. September Wiederbegeg- 1807 23. April: Bekanntschaft nung Lottes mit Goethe. Goethes mit Bettine Brentano in 1817 6. Mai: Lili von Türckheim Weimar. November – Dezember: in Krautergersheim gestorben. Bekanntschaft Goethes mit Min- 17. Juni: Hochzeit August von chen Herzlieb im Frommann’- Goethes mit Ottilie von Pog- schen Haus in Jena. wisch. 1807 / 08 «Sonette» (im Rahmen 1818 9. April: Goethes Enkel des «Sonettenkrieges»). Walther geboren. 1808 13. September: Tod der Mut- 1819 Der «West-östliche Divan» ter Goethes. erscheint. 1809 «Wahlverwandtschaften». 1820 18. September: Goethes 1810 Käthchen Schönkopf gestor- Enkel Wolfgang geboren. ben. 11. August: Begegnung von 1821 Hochzeit von Minchen Herz- Goethe und Bettine Brentano in lieb mit Karl Wilhelm Walch. Teplitz. Juli – September: Goethe in Ma- 1811 11. März: Hochzeit von Bet- rienbad und Eger. Begegnung mit tine Brentano mit Achim von Ar- Ulrike von Levetzow. nim. 25. August – Mitte Septem- 1822 Juni – August: Goethe in Ma- ber: Das Ehepaar von Arnim weilt rienbad und Eger. Wiederum in- 174
tensiver Kontakt zur Familie von Nachricht schonend übermitteln Levetzow. zu lassen und sorgt für August 1823 Juli – September: Goethe in von Goethes Begräbnis. Marienbad, Eger und Karlsbad. 1832 22. März: Goethe gestorben. Erfolgloser Heiratsantrag an Ul- 1833 «Dichtung und Wahrheit», rike von Levetzow. «Marienbader vierter Teil, postum erschienen. Elegie». Bettine von Arnim be- 1835 Bettine von Arnim veröffent- ginnt mit ihrer Arbeit an einem licht «Goethes Briefwechsel mit Goethe-Denkmal. einem Kinde». 1827 6. Januar: Charlotte von 1859 20. Januar: Bettine von Ar- Stein gestorben. 29. Oktober: nim in Berlin gestorben. Goethes Enkelin Alma geboren. 1860 6. Dezember: Marianne von 1828 16. Januar: Charlotte Kestner Willemer in Frankfurt am Main in Hannover gestorben. gestorben. 1830 7. August: Tagebuchnotiz 1865 10. Juli: Minchen Herzlieb in Goethes: «Frau von Arnims Görlitz nach jahrzehntelanger Zudringlichkeit abgewiesen.» psychischer Krankheit gestorben. 26. Oktober: Goethes Sohn 1899 13. November: Ulrike von August in Rom gestorben. Char- Levetzow bei Teplitz in Böhmen lotte Kestners Sohn August küm- gestorben. mert sich darum, dem Vater die
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