Kritische Annäherung an den "Islam" und die heutige Moderne

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Mohammed Arkoun

Kritische Annäherung an den „Islam" und die heutige Moderne*
                       "An diesem Tag habe ich für Euch Eure Religion vervollkommnet
                                     und meine Gunst bei Euch vollendet,
                     und ich habe als Religion für Euch den Islam bestimmt..." (Koran, 5,3)

                         "Die Moderne: ein unvollendetes Projekt" (Jürgen Habermas)

Ist es möglich, auf der einen Seite alle Definitionen, Grenzen, Widerstände, Eigenartigkeiten, Programme, die
sich auf Religion beziehen, und auf der anderen Seite die Moderne zu überschreiten? Kann man die traditionelle,
konformistische Problematik von Religion und Säkularismus von der polemischen, politischen Konkurrenz
abrücken, die zwischen theologischen Ausformungen aller Kirchentypen bestehen, die als Machtinstitutionen
gelten? Kann man das mit den neuen Formen, die von den Staaten nach dem Sieg der Vernunft der Aufklärung
angenommen wurden, nämlich hin zu einem neuen Raum des Denkens, wo Verstand und Rationalität nicht
willkürlich mit theologischen oder historischen Postulaten verbunden sind? Diese Konkurrenz entwickelte sich
seit dem 18. Jh. größtenteils im westlichen Europa; sie enthält philosophische Probleme, die fortwährend im
historischen Kontext der westlichen Gesellschaften besprochen werden; aber die politische Konkurrenz zwischen
der christlichen – größtenteils katholischen – Kirche und dem säkularisierten Staat wurde schon während der
Kolonialherrschaft als das Modell begründet, das von allen Gesellschaften verfolgt werden musste, die Erfolg,
Emanzipation, Wissen, Technologie und soziale Wohlfahrt teilen wollten, da sie nur leben können, wenn
Vernunft in eine moderne Haltung verwandelt wird.

In dieser historischen Perspektive befassten sich Soziologen und Politikwissenschaftler mit kontro-
versen philosophischen Postulaten. Sie nutzten ihre Vorrangstellung in der Kontrolle des gesamten
zeitgenössischen Wissens und setzten Konzepte wie „Rückkehr der Religion“, „Rückkehr des
Heiligen“, „Rache Gottes“ ... durch, genauso rücksichtslos wie die Intellektuellen des 18. Jahrhunderts,
die die Aufklärung stützten. Dies betraf die große Menge von noch ungelösten, ungedachten oder noch
nicht einmal erwähnten Streitfragen, für die man keine ernsthaft vergleichende Religionsgeschichte,
keine religiös-kulturelle Anthropologie noch eine historische Psychologie bemühte. Bevor wir zum Kern
des Themas kommen, muß ich auf der Notwendigkeit bestehen, die drei Disziplinen, die ich gerade
erwähnt habe, zu praktizieren. Sehr wenige Islamwissenschaftler versuchen die neue Wissbegierde,
die bis jetzt auf das Studium des Christentums und der westlichen Gesellschaften angewendet wird, in
ihre Arbeit zu integrieren.

Ich zögere wiederum, die führende Gestalt eines Denktypus zu erwähnen, den ich das zeitgenössische
intellektuelle Hegemonialdenken nenne: Samuel P. Huntington, der die Theorie des Clash of
Civilizations einführte. Der Islam wird nicht nur als ein historisches Hindernis im Blick auf den
Fortschritt eines allgemeinen Konzeptes der Menschenrechte interpretiert, sondern auch als eine
Bedrohung gegen die Erfolge, die im Westen in der Linie eines allgemeinen Humanismus schon
erreicht wurden. Die Postulate, die implizit in diesem Streit stecken, sind enorm; sie wurden von
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mehreren Autoren besprochen. Aber es gibt einen Bedarf, die kritische Analyse in beiden Sphären:
Religion und Politik, zu vertiefen, und über alle vererbten Rahmenbedingungen des Denkens,
Bewertens und Theorie-Bildens hinauszugehen.

Die Herausforderungen von politischen Wissenschaftlern auf der einen Seite, die radikalen gewalttätigen
"Antworten" von fundamentalistischen Bewegungen auf der anderen Seite schaffen mehr Verantwortung für
kritische Denker, die darauf aus sind, keinen Aspekt bzw. keine Ebene der Gegenüberstellung von "Islam" und
der Moderne zu vernachlässigen, zu unterminieren und über zu bewerten. Zu diesem Zweck werde ich mit einer
kritischen Wertbestimmung von Moderne anfangen, um die relevanten konzeptuellen Werkzeuge und die
Positionen für die Wissensbegründung zu bestimmen, die von einer radikalen Kritik gefordert werden, die ich vor
einigen Jahren islamische Vernunft nannte.

Moderne heute

In seinem sehr bekannten Buch Der philosophische Diskurs der Moderne verbindet Jürgen Habermas
eine klare historische Analyse der Moderne mit den verschiedenen Aspekten ihrer Auswirkung und
ihrem Zusammenprallen aus einer westlichen Perspektive. Er zeigt z.B. die philosophischen Grenzen
modernen Verstehens, besonders wenn es um die Ersetzung einer positivistischen Philosophie der
Geschichte durch eine Theologie der Geschichte geht, wie sie seit dem Mittelalter im christlichen
Kontext vorherrschte. Aber typisch für so viele westliche Denker integriert er in seine Vorstellung nicht
die ganze Geschichte des Denkens in ihren syrischen, arabischen, hebräischen, lateinischen
Ausdrücken, die über die Mittelmeerrouten als Vermittler von Athen nach Alexandria, Antiochien,
Bagdad, Kairo, Kairouan, Fès, Córdoba, Toledo, Montpellier, Bologna, Paris, Oxford führten ... Man
mag einwenden, dass die Moderne mit ihren Gegenaspekten noch nicht zu der Zeit, in der die
arabische Philosophie und Theologie blühte, auftauchte. Wenn wir einig sind, dass die Moderne
letztendlich das ununterbrochene Streben der Vernunft nach ihrer freien, autonomen Tätigkeit ist,
können wir nicht die wichtigen Erfolge vernachlässigen, die im islamischen Kontext zwischen 622 und
1400 erreicht wurden. Ich kann mich hier nicht auf eine vollständige historische Aufzählung des
Kampfes der Vernunft und des Auftauchens konkurrierender Rationalität im klassischen islamischen
Kontext einlassen.

Zwei Beobachtungen müssen zur Situation von islamischen Studien gemacht werden: die erste ist,
dass die große Mehrheit von zuverlässigen Büchern und Monographien, die bis jetzt geschrieben
wurden, ignoriert und sehr selten von westlichen Gelehrten benutzt werden und zwar diejenigen, die
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sich mit westlicher Geschichte und Kultur beschäftigen. Es gibt sehr wenig ernsthafte Versuche, die
arabische Episode des Denkens in ihren islamischen Kontext zu integrieren, wenn wir uns die
langfristige Perspektive anschauen, die mit dem antiken Mittleren Osten beginnt und den ganzen
Raum von Indus bis zum Atlantik umfasst, um die sozialen, kulturellen und politischen Zustände zu
identifizieren, die zu verschiedenen Ebenen und Typen der Moderne führten oder die ihr Auftauchen
leugneten.

Die zweite Beobachtung ist, dass die Moderne nur mit europäischer Geschichte verbunden wird,
insofern das Christentum von einflussreichen Historikern als die eine einzige Religion interpretiert wird,
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deren Prinzipien und Lehren helfen, von der Religion loszukommen. Alle anderen Kulturen und
Systeme des Denkens werden mehr oder weniger wahrgenommen, interpretiert und mit dem
begrifflichen Rahmen der erkenntnistheoretischen Postulate bewertet, die von der Moderne als ein
Erkenntniskonstrukt vorgelegt werden. Dies ist der Hauptgrund, warum wir methodologisch und
epistemologisch, mit einer kritischen Bewertung der Moderne als einem unvermeidlichen, universellen
Erkenntniskonstrukt anfangen müssen.

Um konkreter, empirischer zu sein, lesen wir den folgenden Absatz:

"Ich behaupte, dass übereinstimmende Textgrundlagen (text of agreement) gefälscht wurde. Sie zeigen manche
Kennzeichen, die an die Vokabeln, den Stil, die Reinheit der Sprache und die Beredsamkeit der Araber jener Zeit
erinnern; denn ihre Sprache und ihr Stil sind so gut bekannt, dass, wenn ein moderner Schriftsteller versucht, sie
zu imitieren, die Fälschungen einem Experten – in einem langen Gedicht oder einer ausgedehnten Rede oder
sogar in einem Brief oder einer Abhandlung – in jedem Fall unverkennbar klar sind. Die Fälschung ist jedoch
schwieriger in einem kürzeren Gedicht oder in ein paar Worten zu erkennen. Aber dieses Textkonglomerat
enthält unelegante, schwache, frivole und vulgäre Ausdrücke und Stellen, die eine Unkenntnis des Arabischen
zeigen und die von einer sehr schlechten Qualität sind. Was den Text sogar noch verdächtiger macht, sind die
abweichenden Versionen, die von den Khârijiten und den Schiiten aufrechterhalten werden und die Zusätze und
Auslassungen, die von den Syrern und Irakern gemacht wurden, um nichts von der Schwäche der Quellen und
dem Status seiner Vermittler zu sagen, die in den Augen der Traditionalisten unsere religiösen und historischen
Traditionen und [die gesetzlichen Maßnahmen] auf das Gesetzliche und Ungesetzliche beziehen ... Keiner der
Vermittler, der diesen Text unter seiner Autorität herausgibt, hat den Ruf lobenswert, zuverlässig, oder
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annehmbar zu sein."

Wer hat diesen Text geschrieben? Ein moderner Historiker, ausgebildet in philologischer Kritik der
historischen Quellen? Ein rationalistischer Denker, der eine strenge Linie zwischen gefälschten
Dokumenten durchhält, um falsche Glaubensweisen und echte zuverlässige Berichte einer
umstrittenen Vergangenheit aufzubauen? Beide intellektuellen Haltungen werden deutlich in diesem
Text dargestellt, der von einem sehr modernen Schriftsteller und Denker (aus der Gruppe der
Mutaziliten – Mu‘tazila, Anm. d. Red.), al-Jâhiz, geschrieben wurde, der von 776/77 bis 868/69 in Basra
und Bagdad lebte, eine Zeit, die von westlichen Historikern Mittelalter genannt wird.

Jâhiz betont, wie viele andere Denker, Wissenschaftler, Historiker seiner Zeit, einen Gesichtspunkt,
der im 18./19. Jh. in der europäischen Moderne wichtig wurde. Ich meine das Streben des Verstandes
nach einer Rationalität, die wesentlich auf historischer Kritik aufbaut, die sich gegen religiöse
Rationalität richtet, die auf einer gegenhistorischen mythischen Beziehung zu einer Wahrheit
gegründet ist, die sich in der wichtigen Anfangszeit des Prophet-Seins und der Menschwerdung Gottes
in einen menschlichen, physischen Körper (Jesus Christus) oder in einem göttlichen Logos (Koran)
offenbart.

Jâhiz verdächtigt die Zuverlässigkeit der Übermittler, die die tatsächlichen Ereignisse und Lehren
erzählen, die aus der entscheidenden Anfangszeit der Wahrheit (610-632) stammten, gefolgt von der
Zeit des Bürgerkriegs, al-Fitna-l-kubrâ (632-661).

Statt von der "Rückkehr des Islams" zu reden, wäre es erhellender, aus der Perspektive einer
historischen Neu-Auswertung der Moderne im Sinne einer wiederkehrenden Positionsbestimmung der

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Vernunft in verschiedenen sozialen-kulturellen-politischen Kontexten folgendes zu beachten: Es geht
um die bestimmenden Faktoren, um die Formen und um die Folgen der Reaktivierung des alten
Gegenüber zwischen religiöser Vernunft und kritischer Vernunft, oder religiös-mythischer Darstellung
der letzten Wahrheit und historischen, soziologischen, ideologischen Konstruktionen von sich
ändernden, relativen Wahrheiten in modernen "muslimischen" Gesellschaften.

Mehrere Fragen, bis jetzt von Historikern und Philosophen oberflächlich betrachtet, nötigen zu dieser
Perspektive :

1) Warum sehen wir die Reaktivierung der alten Spannung, die sich heute in muslimischen Gesell-
schaften abspielt als Form eines gewalttätigen, politischen Protestes an, und ignorieren ausdrücklich
den hoch entwickelten, intellektuellen Rahmen, der bis ins 14. Jh. von Jâhiz und vielen anderen
gebraucht wurde, ja weisen ihn sogar zurück? Die hohe Spezialisierung in den Sozialwissenschaften
läßt nicht genug Raum für diesen Typ von Untersuchungen: Politische Wissenschaftler und Soziologen
begrenzen ihre Annäherung auf die kurzfristige Perspektive; Historiker bevorzugen weiter den langen
Zeitraum. Die auf das Wissen bezogene Diskontinuität zwischen dem mittelalterlichen kognitiven
System und den sich ändernden modernen kognitiven Strategien hat in der historischen Entwicklung
von "muslimischen" und europäischen Gesellschaften weder dieselben Gründe, noch dieselben
Wirkungen. Die Unterschiede beziehen sich nicht auf den Islam als Religion, sondern auf eine Anzahl
struktureller und damit verbundener Faktoren, die genau das Subjekt der historischen und
anthropologischen Nachforschung sein sollen.

2) Wie erklärt man historisch das totale und dauernde Versagen der kritischen Vernunft seit dem 14.
Jh. im islamischen Kontext und seinen kontinuierlichen Erfolg, seinen wachsenden Einfluss (impact)
im christlichen Europa, das seit dem 12./13. Jh. durch diesen Kampf in das gegenwärtige,
säkularisierte, moderne Europa verwandelt wurde? Historiker bestanden hauptsächlich auf dem
Einfluss des arabischen Denkens und der arabischen Wissenschaft auf Europa im Spätmittelalter.
Aber sie zeigten wenig Interesse daran, ein neues Feld der Untersuchung über die Soziologie des
Denkens, des Wissens, und der Kultur vom 13. bis zum 20. Jh. in jeder der "muslimischen"
Gesellschaften zu eröffnen.

Ich schlug vor mehreren Jahren dringend vor, eine Untersuchung über die Soziologie des Versagens nach dem
Denken des Averroës im islamischen Kontext zu eröffnen und sie mit der Soziologie des Erfolges nach
demselben Denken im christlichen Kontext zu vergleichen. Leider fand ich selbst nie die Zeit, dieses umfassende
Projekt auszuführen.

3) Wie wurde die intellektuelle und kulturelle Moderne seit dem 19. Jh. in die "muslimischen"
Gesellschaften übertragen? Es gibt hier auch ein dringendes Bedürfnis nach einer
Rezeptionssoziologie der Moderne in jeder einzelnen der willkürlich gemeinsam betrachteten
Gesellschaften. Bisher geschah dies unter dem unakzeptablen Stichwort „Islam“. Mit der
Rezeptionssoziologie beziehe ich mich auf dieselbe Methodologie und Problematik, wie bei der
Rezeption der literarischen Kritik durch die Frankfurter Schule. Wir können dann entdecken, wie eine
begrenzte, aber sehr aktive soziologische Gruppe wichtige Fragmente der Moderne während des
"liberalen Zeitalters" (1830-1940) erhielt; und wie nationalistische Befreiungsbewegungen nach 1945
eine Kampf-Ideologie gegen Imperialismus und Kolonialismus aufbauten, die heute vom
fundamentalistischen "Islam" gegen den Westen als ganzen fortgeführt wird und zur Eliminierung
(zumindest auf populistischem Niveau) der vorigen, gewiss unsicheren Elemente der Aufklärung
führte. Dieses Phänomen illustriert die Tatsache, dass das Fortschreiten in emanzipierter Rationalität
in der Evolution der Gesellschaft nicht unwiderruflich ist.

4) Mit allen diesen aufgeführten, großen Defiziten, müssen wir auf einen noch größeren Streitpunkt
kommen: Die klassische Moderne mit ihren altmodischen Ausdrücken, die auf den Vernunftbegriff der
Aufklärung zurückgehen. Dieser Gesichtspunkt ist mehr und mehr veraltet, und von der postmodernen
(ich sage lieber metamodernen) Kritik überholt. "Muslimische" Gesellschaften entfalten sich nicht
rückwärts hin zu den positiven spirituellen Werten und der kulturellen Kreativität in ihrer klassischen
Tradition. Sie bauen vielmehr eine populistische Darstellung ihrer Zukunft auf, die sie in Bezug zu einer
phantasiereichen eingebildeten Vergangenheit setzen, die sie von der Geschichte des Islam und von
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den relevantesten Mitteln der klassischen Moderne abschneiden. Wie kann man die wachsende Kluft
zwischen populistischen Ideologien (die in sog. Revolutionen und metamodernen Zivilisationen
aktualisiert wurden) überbrücken? Es handelt sich um eine Zivilisation, die in alle satellitenhaft
abhängige Gesellschaften die Strukturkrisen und die daraus resultierenden Kräfte exportiert hat, die
schon seit dem 19. Jh. in westlichen industrialisierten Gesellschaften wirken. Wie erkennt man in
diesem weltweiten Prozess Horizonte der Hoffnung, humanistischen Fortschritt, zuverlässige
Rationalität einerseits, Zeichen der Zerstörung, kollektive Gewalt und Versagen andererseits ...? Die

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totale Unangemessenheit des veralteten internationalen Gesetzeskodex zeigt deutlich, dass das
metamoderne Denken weit davon entfernt ist, eine weltumspannende, zusammenhängende
Bewegung hin auf neue Antworten für neue Probleme zu sein; politisches und juristisches Denken, wie
es in den sieben großen Hegemonie-Nationen funktioniert, ist weit hinter den Herausforderungen der
zeitgenössischen kollektiven Tragödien in der Welt zurück:
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Während der klassischen Epoche des von mir so genannten arabischen Humanismus unterstützten
politische Philosophen wie Al-Fârâbi (gest. 950) - in der Linie von Platon und Aristoteles – die Idee,
dass es keinen Weg gibt, eine ideale, tugendsame Stadt (madîna fâdila) ohne einen in Philosophie
ausgebildeten Herrscher zu bauen. In unserem modernen Denken würden wir eher sagen, dass jede
Politik – gut oder schlecht – notwendig auf philosophischen Postulaten basiert. Wir können z. B.
sagen, dass das internationale Recht seit 1945 als Basis für die Forderung steht, dass die meisten
fortgeschrittenen Länder das Recht haben, die politischen Grenzen durch Gewalt zu sichern, wie sie
dies mit dem Golf-Krieg taten und wie es seit dem 19. Jh. üblich ist. Ein neues Internationales Recht
wurde während dieses Krieges versprochen; der Bedarf danach ist noch dringender als nach dem
Zusammenbruch der Jalta-Ordnung. Aber juristisches Engagement und philosophische Kritik scheinen
so erschöpft zu sein, dass trotz der Kenntnis dieses Bedarfs in den meisten liberalen Demokratien
"pragmatisch" auf die Verteidigung des nationalen Interesses und auf Manöver zum Stimmenfang bei
Wahlen gesetzt wird. Die Erschöpfung der politischen Phantasie wirkt sicherlich auf kulturelle und
intellektuelle Ausdrucksformen des metamodernen Denkens genauso sehr, wie das bruchstückartige,
hochspezialisierte Wissen die politische Vernunft unfähig in ihren Versuchen macht, neue
Weltanschauungen auszuarbeiten, die all diejenigen Probleme umfassen, die durch Jahrzehnte des
Kalten Krieges und des wilden Liberalismus entstanden.

Trotz dieser eindeutigen Schwäche fordert der politische Diskurs im Westen von allen abhängigen
Gesellschaften (satellized societies), demokratische Macht-Strukturen einzuführen und die
Menschenrechte zu respektieren. Es gibt sogar eine arrogante, verachtende Haltung, die sich unter
Politikern, Journalisten, Intellektuellen gegenüber manchen Staaten manifestiert, die zur selben Zeit
von führenden westlichen Nationen auf Kosten der unterdrückten Völker und der Befreiungs-
bewegungen unterstützt werden. Politische und soziale Wissenschaften sorgen bei allen diesen
Verirrungen für "wissenschaftliche" Beweisführung. Diese Verirrungen zeigen sich in dem Willen zur
Macht. Sie kommen unter dem Deckmantel der Menschenrechte daher. Die darin ebenfalls
verborgene Suche nach Bedeutung wird von einer pragmatischen, funktionalistischen Philosophie
verdreht, geleugnet oder sogar verneint. Damit unterstreicht diese Philosophie den Triumph der
Marktwirtschaft.

Die Verwalter der sakralisierten Moderne, die die Verwalter des Heiligen nach dem Ausdruck von Max
Weber ersetzten, werden alle vorhergehenden Beobachtungen ablehnen, weil sie zu offensichtlich mit
dem islamischen Diskurs der "West-Toxikation" (Vergiftung durch den Westen) verbunden sind. Es
gibt keinen Bedarf, mit denen über die Moderne zu diskutieren, die sie ablehnen und nie zu ihrer
Ausarbeitung beitrugen.

Ich musste persönlich diesen brutalen Zusammenbruch der Kommunikation mit westlichen Zuhörern ansehen.
Sie hörten mir nicht als einem Gelehrten zu, der sich mit den brennenden, intellektuellen Streitfragen beschäftigt,
sondern als Mohammed Arkoun, einem Muslim, der notwendigerweise durch islamischen Glauben und politische
Optionen konditioniert ist, und zwar in den von der westlichen Phantasie gegebenen Formen. Diese
psychologische Lage verursachte in der westlichen Meinung bestenfalls Arroganz, Ablehnung, oder
Gleichgültigkeit; gewalttätige Militanz oder/und tiefe Erniedrigung mit dem harten Gefühl einer verlorenen Sache
auf der muslimischen Seite.

Gehen wir jetzt zur islamischen Frage. Meine kritische Darstellung der Moderne wird sicherlich offenbaren, wie
ich der Priorität der Suche nach Bedeutung gegenüber jedem Willen zur Macht den Vorzug gebe, bzw. sehe ich
die emotionale Notwendigkeit, ein System von Glaubensanschauungen und Nicht-Glaubensanschauungen zu
bewahren, die jede Religion definieren.

Islam und Moderne im Widerspiel

Beide Islam und Moderne beanspruchen universale Botschaften zu sein, die höchstrelevante
Antworten auf alle Bedürfnisse und auf die menschliche Existenz betreffende Probleme bereithalten.
Andere gut etablierte Religionen halten denselben Eifer durch, um Lehren zu liefern, die in einer
absoluten, ontologischen Wahrheit verwurzelt sind und alle anderen konkurrierenden Wahrheiten
ausschließen, besonders diejenigen, die seit dem 18. Jh. durch die Moderne als Alternative
hervortraten.

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Es wäre irreführend, das Widerspiel (interface) zwischen dem Islam und der Moderne in diesem rein
ideologischen Rahmen zu untersuchen, indem man unkritisierte Systeme des Glaubens und des Nicht-
Glaubens benutzt. Es gibt ein Bedürfnis nach einer Theorie der Religion als Dimension menschlicher
Existenz und Geschichte. Leider ist eine solche von der wissenschaftlichen Gemeinschaft einmütig
akzeptierte Theorie noch im Prozess der Erarbeitung.

Es gibt noch nicht einmal eine vollständige Übereinstimmung beim Namen des zuständigen Wissenszweiges,
der diese Theorie absichern soll; Ausdrücke wie Geschichte der Religionen, Geschichte der Religion,
Wissenschaft der Religionen, soziale Wissenschaften der Religionen, vergleichende Religionsgeschichte werden
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alle diskutiert. Alle Religionen, einschließlich des Christentums, das aus den aufeinanderfolgenden
wissenschaftlichen und politischen Revolutionen in Europa Nutzen zog, bleiben auf der Suche nach Legitimität
unter der Kontrolle der Verwalter des Heiligen (Geistliche, Rabbiner, Imame, Gurus), oder unter dem Druck der
kollektiven psychologischen, rituellen Forderungen der Völker, der Manipulationen der Staaten oder des
offiziellen Atheismus, der während des Sieges der kommunistischen Regime durchgesetzt wurde.

Der Islam leidet teilweise unter dem konzentrierten Druck aller dieser Kräfte, besonders seit den
nationalistischen Befreiungskämpfen, die auf der Höhe des Kalten Krieges begannen und sich weiter
entwickelten. Die jetzige, fundamentalistische Gewalt ist die Verschärfung der radikalen Positionen, die
im großen populären Maßstab durch nationalistische Bewegungen, unter der Führung von Michel
'Aflaq, Jamâl 'Abd al-Nâsir (Nasser), Muhammed 'Ali Jinâh, Habîb Bourguiba, 'Allâl al-Fâsî, 'A. Ben
Badis, Rahîd Rida, A.A. Mawdûdi, Hasan al-Bannâ und vielen anderen gefördert wurden. Sie selbst
waren mehr oder weniger säkularisiert oder religiös. Bis in die siebziger Jahre bewirkte der
säkularisierte Trend, die sogenannte salafi oder die reformistische Bewegung zu vereinnahmen. Nach
dem Tod Nassers, dem Aufstieg der sogenannten islamischen Revolution zur Macht im Iran, dem
Ausbruch von politischer Gewalt in Algerien, Ägypten, Sudan, Pakistan, gibt es keinen Ort mehr für
irgendwelche intellektuelle Kritik und keine wissenschaftliche Neu-Einschätzung des Islam als Religion
mir seinen vielfältigen traditionellen Ausformungen. Tatsache ist, dass die westliche Gelehrsamkeit,
die sich diesen sehr komplexen Entwicklungen in islamischen Kontexten widmet, kein intellektuelles
Interesse daran zeigt, den Islam als ein reiches Beispiel zu integrieren, um in der gegenwärtigen
Bemühung eine identifizierbare, zuverlässige, autonome Religionswissenschaft zu erarbeiten. Viele
neue, diesem Interesse gewidmete Bücher konzentrieren ihre Analyse weiter getrennt auf das
Christentum oder das Judentum und schließen den Islam regelmäßig aus, weil das Theoretikern fremd
oder überflüssig und deshalb auch unerheblich erscheint, wie Paul Ricoeur einmal in der Zeitung Le
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Monde behauptete.

Viele Konferenzen, Kolloquien, Aufsätze griffen dieses unterschiedlich besetzte Thema auf: Islam und
Moderne. Die bis jetzt zusammengestellten Bibliographien bestätigt meine Bemerkung über den
Mangel eines theoretischen Rahmens, in den der Islam miteinbezogen würde. Alles, was wir finden, ist
die langweilige, konformistische Wiederholung der traditionellen Einstellungen und Glaubensweisen,
wie sie von Muslimen selbst ausgedrückt und aktualisiert werden. Sie reproduzieren die Aussagen der
klassischen Texte, in denen orthodoxe islamische Doktrinen fixiert sind, oder Streitpunkte zeitge-
nössischer "muslimischer" Stimmen (Imame, 'ulama’, politische Autoritäten gleich welchen Niveaus
oder der Art der Legitimität, die sie beanspruchen). Von muslimischen Autoren und vielen
Islamwissenschaftlern wird dies als die sicherste Objektivität betrachtet. Kein Versuch wird gemacht,
die erkenntnistheoretische Kritik der islamischen Diskurse und die sozial-historischen Konstruktionen
der Doktrinen differenziert zu betrachten. In seinem letzten Hauptwerk betonte Josef van Ess die
Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Theologie während der Entstehungsphase des Islam.
Trotzdem bestimmte er nicht die intellektuellen Folgen dieser Einstellung zu Grundpositionen wie
Offenbarung, Erkenntnisniveau des Korans, prophetische Tradition, göttlicher Ursprungs des
Gesetzes, Wissenschaft der fundamentalen Quellen ('ilm al usûl) als eines formalen, deduktiven
Systems der Sakralisierung und Ontologisierung des als göttlich angesehenen Gesetzes und des auf
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das Kalifat und das Imamat bezogenen Staates.

Muslimische Wissenschaftler dagegen haben dagegen eher die Neigung, den Islam als eine
Komponente der nationalen Identitäten zu bewahren, und alle die sakralisierten Texte, Werte,
Institutionen, Darstellungen mit besonderen Typisierungen, Postulaten, zu desakralisieren, Kategorien,
die genau die Eigenschaften haben, die ich als islamische Vernunft (Islamic reason) beschrieben habe.
Orientalisten erklären ausdrücklich, dass diese Kritik, angewendet auf den Kern des islamischen
Glaubens, die exklusive Verantwortung der Muslime selber sei. Entweder ignorieren sie die verlangten
konzeptuellen Instrumente der Erkenntnis-Kritik, sofern man sie auf die auf Religion anwendet, oder
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sie bleiben lieber bei dem statischen, unveränderbaren Ausdruck der islamischen Doktrinen.

Wir sehen deutlich, wie ein hochgeschätzter, moderner Historiker, Claude Clahen, eine der kontroversesten
Erkenntnis-Postulate als gegeben aufnimmt, nämlich, dass eine Religion als entscheidender Faktor der

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revolutionären Bewegungen dargestellt werden kann. Wir erwarten aber eher von einem Historiker, Claude
Clahen, dass er das psycho-soziale-kulturelle Verfahren erklärt, durch das der Islam als Religion in eine
kollektive Darstellung eines Ideal-Modells verwandelt wird, das eine legitime Herrschaft und ein gutes
historisches Verhalten inspiriert. War die Verwandlung schon zwischen 740-755 vollendet, oder ist sie eine bloße
Projektion eines ideologischen Konstrukts, das von Juristen und Theologen präzise ausgeführt wurde, um den
politischen Sieg der Abbâsidischen Bewegung zu legitimieren? Wie es auch sein mag, so ist die Bemerkung von
Claude Clahen für unsere Absicht hier sehr wichtig: Wenn der Islam ständig als ideale Konstruktion herbeizitiert
wird, um die Legitimität eines Aufstands gegen eine Regierung zu betonen, die für illegitim erklärt wurde, dann
hat dieses Verhalten seit der Abbâsidenepoche seine Wurzeln in der kollektiven Phantasie im Blick auf ein
solches ideologisches Konstrukt. Dies geschah unter ähnlichen Umständen mit Khomeini im Iran, und es
geschieht heute in Algerien und anderen Gesellschaften.

Wenn Politik-Wissenschaftler fundamentalistische Bewegungen heute analysieren, beziehen sie sich
auf den „Islam“, genau wie Claude Clahen das mit der Abbâsidischen Revolution tut. Ich will hier nicht
nur die Kontinuität einer tiefer gewurzelten und weit ausgedehnten muslimischen Phantasie betonen,
die den Islam als ideologische Konstruktion benutzt, sondern auch die Kontinuität einer falschen
erkenntnistheoretischen Einstellung, die es ablehnt, in den radikalsten kritischsten Formen über zwei
Hauptgesichtspunkte nachzudenken:

1. Können wir ernsthaft erwägen, dass alle historischen Religionen schon von ihrer Gründung an eine
   ideologische Konstruktion sind, die an die kollektive Phantasie adressiert ist, und von ihr als ein
   Instrument der Legitimierung und als ein Sprungbrett für das Ergreifen von Macht und Autorität
   angenommen wird?
2. Haben wir in diesem Fall das Recht zu sagen, dass säkulare Ideologien „Religionen“ ohne Gott
   sind, und erfüllen sie dieselbe ideologische Rolle? Wo bleibt dann die Moderne und macht einen
   radikalen Unterschied?

Diese Fragen richtig zu beantworten, würde alle die von den Muslimen gesammelte, apologetische
Literatur ad absurdum führen, aber auch all die statischen Beschreibungen und Erzählungen aller
Islamwissenschaftler, seien sie Historiker, Soziologen, Politik-Wissenschaftler oder Anthropologen.
Seitdem Saudi-Arabien es ablehnte, die Universal Declaration of Human Rights zu unterschreiben, die
von den Vereinten Nationen 1948 herausgegeben wurde, (die Katholische Kirche lehnte sie auch mit
einer ähnlichen Beweisführung über Gottesrechte ab), behaupteten immer wieder sogenannte
muslimische Regime, die von führenden Intellektuellen und der Ulama unterstützt wurden, den
Gegensatz zwischen der universalen, göttlichen Gültigkeit der "islamischen Werte", der "islamischen
Kultur", der "islamischen Prinzipien", dem "islamischen" göttlichen Gesetz und dem Anspruch des
Westens, an demselben universalen Import festhalten, den sie westliche säkularisierte Werte,
Prinzipien, Kultur, Zivilisation, nennen. Auf beiden Seiten bleibt die Debatte ideologisch und politisch,
durch zwei konstruierte, alte, aber wirksame Phantasien gesteuert:

1. Muslime können überzeugt wiederholen, dass der Islam eine ganzheitliche Lehre über Religion,
   Politik und Gesellschaft (Dîn, Dawla, Dunyâ) sei, dass er Demokratie initiierte und Frauen
   emanzipierte; dass er die Vernunft mehr als alle anderen Philosophien lobt.
2. Diese Schlagworte werden in europäische Sprachen übersetzt und präsentiert als die vom Islam
   abgeleiteten Standpunkte von zeitgenössischen Muslimen. Es wird kaum versucht, die ideologische
   Absicht und die psychologischen Funktionen solcher Phantasie-Visionen abzubauen.

Wir können dann verstehen, warum die Korrelation zwischen dem Islam und der Moderne eine
undenkbare Position für die große Mehrheit der Muslime und sogar bisher ungedacht (vielleicht auch
undenkbar) für viele Orientalisten bleibt. Muslimische Minderheiten in europäischen Gesellschaften
genießen die demokratische Freiheit, um ihre eigene Religion zu praktizieren. Aber demokratische
Staaten bauen keine Lern- und Forschungsinstitutionen auf, wo die wissenschaftliche Konfrontation
zwischen dem Islam und der intellektuellen Moderne systematisch entwickelt würde, wie es im Fall des
Judentums, protestantischer und katholischer Christen ist. Europa, Nord- und Südamerika, wo sich
bedeutende muslimische Minderheiten angesiedelt haben, könnten die besten Orte sein, um die
notwendige Gegenüberstellung in die Wege zu leiten, die in zeitgenössischen muslimischen
Gesellschaften verzögert und verboten wird oder von materiellen, kulturellen, wissenschaftlichen
Ressourcen ausgeschlossen wird.

Diese Bemerkungen bedeuten zusammenfassend gesagt, dass die Gesichtspunkte der Moderne nicht
von der politischen Vision und Umsetzung getrennt werden können, die in den demokratischen
Gesellschaften vorherrschen, in denen sich die Moderne optimal entwickeln kann. Intellektuellen,
Künstlern, Schriftstellern, Wissenschaftlern (von manchen wichtigen Ausnahmen abgesehen) scheint
eine solche Trennung bequem zu sein, besonders, wenn sie sich auf muslimische Länder und Dritte-

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Welt-Gesellschaften bezieht. Demokratie, Menschenrechte, Säkularismus sind Werte, die von Europa
für Europa erfunden wurden; ihre Logik ist, dass Völker ihre eigene Werte und Institutionen erfinden
müssen, damit sie selber die eventuellen tragischen Folgen ihrer eigenen Fehler oder Unfähigkeiten
akzeptieren. Hinter dieser vorherrschenden Beweisführung (seit dem Ende der Konkurrenz mit der
Sowjetunion) gibt es das historische Versagen kolonialer Erfahrung, wodurch Europa seinen
humanistischen Willen erklärte, die Erlösungs-Mission der Moderne in Übersee zu verbreiten!

Neue Verfahren, neue pädagogischen Methoden zu erfinden, um die Moderne als die Haltung des
menschlichen Geistes zu verbreiten, und niemals als eine Eroberungsideologie, ist die historische
Herausforderung, auf die alle Gesellschaften im kommenden Jahrhundert antworten müssen. Gewiss
wird diese Herausforderung mehr und mehr verlangen, die Grenzen zu überschreiten, die sowohl von
den Religionen als auch von den klassischen Metaphysiken und der positivistischen, empirischen,
funktionellen Erkenntnistheorie der menschlichen, sozialen, und politischen Wissenschaften vererbt
wurden. Viele Wege sind schon in dieser Richtung offen. Um schnellere Schritte in der kürzesten Zeit
zu machen, brauchen wir jedoch dringend eine neue weltpolitische Vision, die auf einer klaren
historischen Solidarität der Völker basiert, nicht mehr auf geopolitischen Strategien, um alte
Hierarchien und mächtigen Hegemonien im Namen der nationalen Interessen zu konsolidieren. Wir
können uns nicht auf die willkürliche Ansprüche konservativer Gemeinschaften rückbeziehen, die in
sich geschlossen sind und versuchen den Vorrang ihrer "Identitäten" durchzusetzen. Die Berufung der
Moderne heißt: Eine befreiende Interpretation aller beherrschten, geschwächten, an den Rand
geschobenen Gesellschaften oder Individuen zu ermöglichen.

Anmerkungen
∗ Die Übersetzung (von Melanie Bruyers) und redaktionelle Bearbeitung (von Sybille Fritsch-Oppermann und
  Reinhard Kirste) beziehen sich auf die englische Textvorlage für den Vortrag A critical approach of „Islam“
  and modernity today und Gespräche im Rahmen einer Tagung der Ev. Akademie Loccum vom 16.-
  19.5.1995. Die Tagung, bei der dieses Referat gehalten wurde, hieß: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in
  einem dunklen Wort“ – Wirklichkeitskonstruktiver Pluralismus und die Sehnsucht nach Wahrheit. Mohammed
  Arkoun trug seine Gedanken in etwas abgewandelter Form am 19. Mai vor.
  Mit dieser Thematik befasste er sich dann auch auf einer Konferenz „Euro-Islam“, die vom 15.–17.06.1995 in
  Stockholm vom „Swedish Institute“ veranstaltet wurde. Der Titel seines dortigen in Englisch gehaltenen
  Referats: „Approach to Islam and modernity today“. Abgedruckt in: LINDÉN, Thomas (Hg.): Euro-Islam. A
  conference on relations between European and Islamic cultures and the position of Muslims in Europe.
  Special reports. Stockholm 1995, S.57-61

1. Ich beziehe mich besonders auf Ann E. Mayer, Universal versus Islamic human rights: A clash of cultures or
    a clash with a construct? In: Michigan Journal of International Law 1994, 15,2.
2. Wir können Namen wie D. Goitein, G. von Grunebaum, Marshall G.S. Hogdson, Richard Bulliet, P. Crone und
    M. Cook (Hagarism), A. de Libera, J. Jolivet u.a. erwähnen.
3. Diese Theorie (religion de la sortie de la religion) wird besonders durch L’Marcel Gauchets: Le
    désenchantement du monde. Paris: Gallimard, 1985, verteidigt.
4. Charles PELLAT (Hg.) :Jâhiz in: The life and works of Jâhiz. London 1969, S. 68-69
5. In meinem Buch „L’islam, hier, demain“ (Paris: Buchet-Chatel 1978) spüre ich einen klaren Unterschied
    zwischen der klassischen Moderne und dem neuen Denken des „prefigurative age“ gemäß einem seit
    Jahrzehnten von Margaret Mead verwendeten Ausdruck.
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6. Vrin: L’humanisme arabe au IVe/Xe siècle.1982
7. Für diese Diskussion vgl. den neuen Beitrag von Christian Jungo: Le torticolis de Janus. Identité et
    sciencedes religions. In: Scholarly approaches to Religion. Interreligious perceptions and Islam. Hg.: Jacques
    Waardenburg, Bern u.a.: Peter Lang 1995, S. 7-46
8. Ich beziehe mich auf die gut bekannte französische Zeitung „Archives des sciences sociales des religions“;
    auf zwei wichtige Bücher von Danièle Hervieu-Léger: La religion pour mémoire. Paris: Cerf 1994;
    „Christianisme et modernité. Centre Thomas Moore. Paris: Cerf 1990.
    Das Buch, gerade von Jacques Waardenburg veröffentlicht, spezifisch gewidmet für „Interreligious
    perceptions and Islam (op. cit.) ist eine gute Illustration der Schwäche, der Lücken, der Irrelevanz, immer
    wenn der Islam betrachtet wird.
9. Ess, Jan van: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jh. der Hidschra, Bd. I-V. Berlin: Walter de Gruyter
    1991-1993.
10. z.B. nach der Devise: „Die Mängel und Schwierigkeiten des Omayyaden-Regimes wurden als Folgen des
    ungenügenden Respekts für den Islam empfunden.“ In: Points de vue sur la „Révolution Abbâside“
    in: Les Peuples musulmans dans l’histoire médiévale. Damaskus 1977, S. 130.

Zuerst erschienen in: Reinhard Kirste / Paul Schwarzenau / Udo Tworuschka (Hg.): Wertewandel und religiöse
Umbrüche. Religionen im Gespräch Bd. 4 (RIG 4). Balve: Zimmermann 1996, S. 350-364

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