Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012

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Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
E4542

3/4 – 2012

             Muslime in Deutschland
             Lebenswelten und Jugendkulturen
Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung

                                                       HEFT 3/4 – 2012, 3. UND 4. qUARTAL, 38. JAHRGANG

»Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale
für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB)
                                                       Inhalt
herausgegeben.

heRaUSgeBeR
Lothar Frick, Direktor                                 Editorial                                                                                  1
CheFReDaKTeUR                                          Geleitwort des Ministeriums
Dr. Reinhold Weber                                     für Kultus, Jugend und Sport                                                              2
reinhold.weber@lpb.bwl.de
                                                       Autoren dieses Heftes                                                                     2
ReDaKTioNSaSSiSTeNZ
Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de
Madeleine Hankele, Tübingen
                                                       Unterrichtsvorschläge                                                               3 – 23
aNSChRiFT DeR ReDaKTioN                                Einleitung                                                                                3
Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart
                                                       Baustein A:     Muslime in Deutschland                                                   12
Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77
                                                       Baustein B:     Leben als Muslime in Deutschland                                         15
ReDaKTioN
Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin,                Baustein C:     Muslimische Jugendkulturen                                               17
Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule              Glossar                                                                                  21
für Elektrotechnik), Stuttgart
Dipl.-Päd. Martin Mai, Wilhelm-Lorenz-Realschule,      Literaturhinweise                                                                        23
Ettlingen
Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat,              Texte und materialien                                                            25 – 67
Pädagogische Hochschule Heidelberg
Dr. Wibke Renner-Kasper, Konrektorin der Grund-,       Baustein A:          Muslime in Deutschland                                              26
Haupt- und Realschule Illingen
                                                       Baustein B:          Leben als Muslime in Deutschland                                    38
Angelika Schober-Penz, Studienrätin,
Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule),           Baustein C:          Muslimische Jugendkulturen                                          56
Kornwestheim

geSTalTUNg TiTel                                       Einleitung:          Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch (ufuq.de)
Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm       Baustein A:          Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch,
www.bertron-schwarz.de
                                                                            Madeleine Hankele und Nadine Karim
DeSigN UND DiDaKTiK                                    Baustein B:          Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch und
Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a.N.,
www.8421medien.de
                                                                            Madeleine Hankele
                                                       Baustein C:          Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch
VeRlag
Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1,
78050 Villingen-Schwenningen                           Baustein C wird gefördert durch die
Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger
Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50
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Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005.     Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter
DRUCK
                                                       www.politikundunterricht.de/3_4_12/muslime.htm
PFITZER GmbH & Co. KG, Benzstraße 39,                  Hier finden Sie auch eine Filmografie und kommentierte Internet-
71272 Renningen
                                                       hinweise zum Thema dieses Heftes.
Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich.
Preis dieser Doppelnummer: 6,40 EUR                    Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier mit Zellstoff aus nachhaltiger Forst-
Jahresbezugspreis: 12,80 EUR                           wirtschaft und Recyclingfasern gedruckt.
Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich
mit je 3,20 EUR in Rechnung gestellt.

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Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit
Genehmigung der Redaktion.

Titelfoto: Veit Mette, Bielefeld
Auflage dieses Heftes: 21.000 Exemplare
                                                       Kommunikation und Politik
Redaktionsschluss: 30. Oktober 2012
ISSN 0344-3531
Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Editorial
Etwa vier Millionen Muslime leben in Deutschland – keiner      werden die Kernelemente islamischen Glaubens und die Viel-
kennt ihre Zahl genau, denn eine amtliche Erfassung gibt       falt der Glaubensrichtungen innerhalb des Islam ebenso wie
es nicht. Damit ist der Islam nach dem Christentum die         die Alltagserfahrungen muslimischer Jugendlicher zwischen
Glaubensrichtung mit den zweitmeisten Anhängern im Land.       Anerkennung und Diskriminierung. Gleichzeitig sollen aber
Derzeit bekennen sich etwa fünf Prozent der Bevölkerung        auch die Herausforderungen durch extremistische Rander-
in Deutschland zum Islam. Muslime leben, arbeiten, lernen      scheinungen wie etwa die Salafisten nicht verschwiegen
und beten hier, sie sind in Vereinen aktiv, engagieren sich    werden.
in unserer Gesellschaft und gehören längst zu Deutschland.
Aber viel wissen wir nicht über die Religion und die Ge-       Das vorliegende Heft ist hervorgegangen aus einer Koope-
bräuche unserer muslimischen Mitschüler, Nachbarn oder         ration von »Politik & Unterricht« mit dem Projekt »Team
Arbeitskollegen. Vorurteile sind weit verbreitet, das zeigen   meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus« und dem Ber-
zahlreiche Umfragen und Studien. Die Medien verzerren allzu    liner Verein ufuq.de. Unser Dank geht an Regina Bossert
oft unsere Wahrnehmung, denn nur »bad news are good            und Nadine Karim vom »Team meX«. Dank gebührt auch der
news«. Überprüfen Sie bitte selbst einmal: Wenn in Medien      Baden-Württemberg Stiftung für die finanzielle Unterstüt-
von Muslimen berichtet wird, finden wir dann nicht über-       zung des Projekts.
wiegend Abbildungen von Frauen mit Kopftuch oder von
finster dreinblickenden Männern mit Bart? Entspricht dies
dem Alltag der Muslime in Deutschland? Werden wir damit
der Vielfalt innerhalb des Islam gerecht? Sicherlich nicht.

In den Bildungsplänen des Landes Baden-Württemberg
werden die Themenfelder »Muslime in Deutschland« und
das »Neben- und Miteinander der Kulturen« genannt. Mit
der vorliegenden Ausgabe von »Politik & Unterricht« wollen
wir den Lehrerinnen und Lehrern der Fächer und Fächer-
verbünde um Politik, Religion und Ethik praxisnahe und
didaktisch aufbereitete Arbeitsmaterialien zur Verfügung
stellen, die das gegenseitige Kennenlernen von Muslimen
und Nichtmuslimen vorwiegend aus der lebensweltlichen          Lothar Frick                Dr. Reinhold Weber
Perspektive von Jugendlichen unterstützen. Thematisiert        Direktor der LpB            Chefredakteur

Politik & Unterricht • 3/4-2012                                                                                        1
Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport
In Baden-Württemberg sind rund 650.000 Muslime beheima-          Deutschland zu entwickeln, die einem einseitig negativ ge-
tet. Sie gestalten seit mehr als 50 Jahren die Lebens- und       färbten Bild entgegentritt. Denn allzu oft ist unser Bild
Arbeitswelt des Landes mit und sind aus ihr nicht mehr           von muslimischen Mitbürgern im Land von Klischees und
wegzudenken. Gleiches gilt für die Schulen des Landes,           Vorurteilen geprägt.
denen nicht mehr nur muslimische Mitschülerinnen und Mit-
schüler angehören, sondern immer häufiger auch Lehrkräfte        Mit der aktuellen Ausgabe von »Politik & Unterricht« ermu-
muslimischen Glaubens. Längst hat religiöse Vielfalt, ein-       tigt und unterstützt die Landeszentrale für politische Bildung
hergehend mit sprachlicher und kultureller Vielfalt, an Ba-      Lehrkräfte dabei, sich an die Aufarbeitung eines sensiblen
den-Württembergs Schulen Einzug gehalten – eine Entwick-         Themas im Schulunterricht heranzuwagen. Dabei geht es oft
lung, die für die Schulen Bereicherung und Herausforderung       um ganz persönliche Dinge – um Glauben, Kultur, Familie,
zugleich ist. Die Vermittlung interkultureller Kompetenz         Tradition – generell um Identität. Es gilt also, Berührungs-
ist daher heute eine zentrale Aufgabe der Bildungseinrich-       ängste zwischen den verschiedenen Glaubensgruppen ab-
tungen, um die Schülerinnen und Schüler für ihr zukünftiges      zubauen und muslimischen Schülerinnen und Schülern im
Leben und Wirken in einer immer stärker von Heterogenität        Unterrichtsalltag Raum und Anerkennung für ihre Identität
geprägten Gesellschaft zu befähigen.                             und auch für ihre Probleme zu geben – sei es im Politik-,
                                                                 Geschichts-, Ethik-, Religions- oder Deutschunterricht. Vor
Die aktuelle Ausgabe von »Politik & Unterricht« bietet eine      dem Hintergrund, dass die Bedeutung des Erlernens von
exzellente Grundlage, um diese interkulturellen Lernvor-         Toleranz und Respekt gegenüber anderen Haltungen und
gänge zu unterstützen. So wird über eine methodisch breit-       Lebensentwürfen in einer Welt der fortschreitenden Globa-
gefächerte Auswahl an Materialien die Vielfalt muslimischer      lisierung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann,
Lebensentwürfe und Lebensformen in Deutschland aufge-            danken wir der Landeszentrale für politische Bildung für die
zeigt. Wie gestalten Muslime ihren Alltag in Deutschland?        gelungene Zusammenstellung der Materialien.
Fühlen sie sich als Deutsche? Und finden sie als solche An-
erkennung in der Mehrheitsgesellschaft? Welchen Diskrimi-        Gernot Tauchmann
nierungen und Vorurteilen sehen sie sich in Freizeit, Schule     Ministerium für Kultus, Jugend und Sport
und auf dem Arbeitsmarkt gegenüber? Welche Rolle spielen         Baden-Württemberg
die Medien im Integrationsprozess? Durch die Beleuchtung
dieser und vieler weiterer Fragen wird die Möglichkeit ge-
boten, mit den Schülerinnen und Schülern eine sachliche
und differenzierte Sichtweise auf muslimisches Leben in

    autoren dieses Heftes
    Dr. Jochen Müller und Dr. Götz Nordbruch sind Gründer        Regina Bossert leitet bei der Landeszentrale für poli-
    des Vereins ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische    tische Bildung Baden-Württemberg das Projekt »Team
    Bildung in der Einwanderungsgesellschaft (www.ufuq.de).      meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus«.
    Der Verein arbeitet u. a. in Schulen und Jugendeinrich-
    tungen mit Jugendlichen sowie in Fortbildungen von           Nadine Karim ist bei der Landeszentrale für politische
    Multiplikatoren zu den Themen Islam, Islamismus und          Bildung Baden-Württemberg Projektassistentin im Pro-
    Demokratie. Die Mitarbeiter des Vereins sind Islamwissen-    jekt »Team meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus«.
    schaftler und Pädagogen, die seit Jahren im Bereich der
    politischen Bildungsarbeit und der Migrationsforschung       Madeleine Hankele studiert Politikwissenschaft und An-
    aktiv sind – u. a. in Kooperationen mit der Bundeszentrale   glistik an der Universität Tübingen. Sie ist freie Mitar-
    für politische Bildung, dem Berliner Senat, der Ham-         beiterin der Landeszentrale für politische Bildung Baden-
    burger Hochschule für angewandte Wissenschaften, der         Württemberg.
    Polizei, dem Bundesministerium für Familie, Senioren,
    Frauen und Jugend, dem Netzwerk Schule ohne Rassismus
    oder der Landeszentrale für politische Bildung Baden-
    Württemberg.

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Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Muslime in Deutschland
             lebenswelten und Jugendkulturen

                      EinlEitung                                           noch einmal, bis sich die Politik durchringen konnte, sie auch
                                                                              offiziell anzuerkennen. In der Zwischenzeit aber hat sich das
                                                                              Gesicht des Landes verändert: Man werfe nur einen Blick in
                                                                              die Schulklassen vieler Groß- und Mittelstädte, wo oft die
                                                                              Mehrheit der Schüler einen Migrationshintergrund hat. Für
             Am 3. Oktober 2010 wollte der damals neu gewählte Bundes-        viele Menschen sind das – zumal diese Prozesse nicht ohne
             präsident Wulff ein Zeichen setzen: »Der Islam«, so erklärte     Probleme und Konflikte vonstatten gehen – bisweilen irri-
             er, »gehört inzwischen auch zu Deutschland«. Am Tag darauf       tierende und verunsichernde Erfahrungen, auch weil ihnen
             konterte die BILD-Zeitung: »Wie viel Islam verträgt Deutsch-     nicht ausreichend vermittelt wurde, dass Migranten inzwi-
             land?« Das Magazin Focus wählte als Aufmacher ein stereo-        schen selbstverständlich dazugehören. Vor diesem Hinter-
             types Bild von Wulff als älterem Türken mit Schnurrbart und      grund kann die Sarrazin-Debatte als eine verspätete Ausei-
             Häkelmütze. Beide Zeitungen brachten damit das bestehende        nandersetzung über das nationale Selbstverständnis und die
             Unbehagen eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber           notwendige Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft
             dem Islam und Muslimen zum Ausdruck. Zwar hatte bereits          betrachtet werden.
             2006 Wolfgang Schäuble als Innenminister ganz ähnlich
             formuliert (»Der Islam ist ein Teil unseres Landes«) wie vier    Noch bis in die 1990er Jahre war in den Auseinanderset-
             Jahre später Wulff – seinerzeit hatte Schäuble aber kaum für     zungen um Einwanderung und Integration zunächst vor
             Aufsehen gesorgt. Dann kam Sarrazin. Und mit der Debatte         allem von »Gastarbeitern« und später von »Ausländern« die
             um dessen Thesen über Migranten im Allgemeinen und Mus-          Rede. Heute drehen sich die Debatten vor allem um »die
             lime im Besonderen wurde vor allem eines deutlich: So weit       Muslime«. Deshalb fragte die BILD-Zeitung nach dem Islam
             ist es noch nicht her mit dem deutschen Selbstverständnis,       bzw. danach, wie viele Muslime Deutschland denn »vertra-
             eine Einwanderungsgesellschaft zu sein.                          gen« könne. Deutlich werden hier Argwohn und Skepsis
                                                                              gegenüber einer Religion und ihren Angehörigen, obwohl
             »Deutschland schafft sich ab« lautet der Titel des Bestsellers   diese in Deutschland längst zu Hause sind. Denn: Etwa vier
             von Thilo Sarrazin. Aus ihm spricht die Angst vor Verände-       Millionen Muslime – die genaue Zahl kennt niemand – leben
             rung. Tatsächlich war die sich seit den 1960er Jahren in         in Deutschland, viele von ihnen bereits in der dritten Ge-
             Deutschland vollziehende Entwicklung zur Einwanderungs-          neration. Sie (oder ihre eingewanderten Eltern und Großel-
             gesellschaft lange Zeit ignoriert worden und es dauerte dann     tern) stammen aus so unterschiedlichen Regionen der Welt

                                                                                                 In seinem Projekt »Generation Üç«
                                                                                                 zeigt der Bielefelder Fotograf
                                                                                                 Veit Mette die Lebenswelten von
                                                                                                 Jugendlichen mit meist türkischem
                                                                                                 Migrationshintergrund. Die dritte
                                                                                                 Generation der einstigen »Gast-
                                                                                                 arbeiterfamilien« – die Generation Üç
                                                                                                 (üç = drei) – lebt den Spagat zwischen
                                                                                                 Tradition, Schule, Moschee, Disko und
                                                                                                 Straße.
Veit Mette

             Politik & Unterricht • 3/4-2012                                                                                              3
Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Einleitung

             wie der selbst überaus heterogenen Türkei, aus Pakistan,        rige der Ahmadiyya. Ein Drittel von ihnen gibt an, täg-
             Indonesien, dem Nahen Osten oder nordwestafrikanischen          lich zu beten, mehr als ein Drittel betet selten oder nie.
             Staaten. Knapp die Hälfte von ihnen sind deutsche Staats-       70 Prozent der Muslime begehen religiöse Feste und über
             bürger, mehr als die Hälfte sind Mitglied in einem deutschen    50 Prozent erklären, die Fastenregeln zu beachten. Viele sind
             Verein. Sie leben in Dörfern und Großstädten – zu 98 Prozent    aber auch »Ramadanmuslime«, wie man sie in Anlehnung an
             in den alten Bundesländern und in Berlin. Etwa 650.000          die »Weihnachtschristen« nennen könnte. 78 Prozent der
             Muslime leben in Baden-Württemberg. Sie sind Angestellte        Frauen zwischen 16 und 25 Jahren tragen kein Kopftuch.
             und Arbeiter, Anwälte, Pflegekräfte, Ärzte, IT-Spezialisten
             oder Händler, Gastronomen und Hartz-IV-Empfänger – wie          Und was vielleicht noch bedeutsamer ist: All dies sind keine
             andere Menschen in Deutschland auch.                            festen Größen, sondern die Zahlen spiegeln dynamische
                                                                             Prozesse wider. Entgegen vielen Vermutungen ist nämlich
                                                                             auch der Islam nicht statisch. Vielmehr ändern sich die
             Signale der anerkennung: anmerkungen                            Formen, in denen Muslime ihre Religion denken und leben,
             zur Pädagogik mit jungen muSlimen in                            ständig und überall – sehr zum Graus von Fundamentalisten
             Schule und jugendarbeit                                         jeglicher Couleur. So unterscheiden sich das Freizeitverhal-
                                                                             ten vieler Jugendlicher, ihre Kleidung, ihr Medienkonsum,
             Oft vergessen: Muslimische Vielfalt                             aber auch ihre Wertvorstellungen etwa in Bezug auf Ge-
             Es ist hier nicht der Raum, die verschiedenen Glaubens-         schlechterrollen, Sexualität und Heirat vom Weltbild ihrer
             formen innerhalb des Islam zu beschreiben. Ebensowenig          Eltern und Großeltern, das (je nach Herkunft und sozialer
             soll hier ein Versuch unternommen werden, »den Islam« als       Schicht) oft sehr traditionalistisch geprägt ist (sich aber
             Religion in ein paar Sätzen zu erläutern. Wissen und Infor-     häufig kaum von dem ihrer nichtmuslimischen Altersgenos-
             mationen dazu lassen sich schnell in Handbüchern oder auf       sen unterscheidet). Hier finden auch innerhalb von Familien
             seriösen Websites finden. Ohnehin ist oft fraglich, was damit   oft unbemerkt rasante Entwicklungen statt, die nicht ohne
             gewonnen wäre, denn die Gefahr ist groß, dass statt Vielfalt    Konflikte verlaufen.
             in Religion und Religiosität zu akzeptieren und zu prakti-
             zieren, doch wieder vermeintliche Fundamente reproduziert       Ein Beispiel: Nie würden sie einen Mann gegen den Willen
             würden. Die von Nichtmuslimen, aber auch von vielen mus-        ihrer Väter heiraten, erklärten uns in einem Workshop reli-
             limischen Jugendlichen immer wieder gestellte Frage »Wie        giöse muslimische Schülerinnen einer Oberstufe in Berlin-
             ist es denn nun im Islam?« muss in den meisten Fällen           Neukölln kurz vor dem Abitur. Somit hat die Familie bei
             unbeantwortet bleiben. Vielmehr lautet die Gegenfrage an        der Auswahl des Ehepartners das letzte Wort. Aber auf die
             die Jugendlichen, wie richtiges Verhalten für sie selbst in     Frage, wie sie denn ihre Kinder einmal erziehen wollten,
             diesem oder jenem Fall aussieht.                                meinten sie: »Die sollen schon selber entscheiden können.«
                                                                             Deutlich wird hier, wie loyal diese jungen Frauen einerseits
             Von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden sich Muslime        zu ihren Familien stehen. Andererseits unterscheiden sich
             vor allem durch ihre Religion. Dabei leben sie selbst ihre      ihre Werte und Einstellungen sehr von denen ihrer Eltern
             Religion sehr unterschiedlich. So leben in Deutschland          und Großeltern. In solchen und ähnlichen Spannungsfeldern
             unter anderem Sunniten, Schiiten, Aleviten und Angehö-          leben längst nicht alle, aber doch sehr viele Jugendliche –

                                                                                                Schülerinnen und Schüler der Markt-
                                                                                                schule im nordrhein-westfälischen
                                                                                                Brackwede: Lebensmittelpunkt
                                                                                                Deutschland.
Veit Mette

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Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Einleitung

             und es erscheint uns wichtig, sie nicht der einen oder ande-      und ihre Kinder großziehen wollen. »Was soll ich denn noch
             ren Seite zuordnen oder gar auf die eine oder andere Seite        machen, um deutsch zu sein?«, rief eine von ihnen. Worauf
             hinüberziehen zu wollen.                                          Thilo Sarrazin antwortete: »Solange Sie ein Kopftuch tragen,
                                                                               werden Sie in Deutschland nie das Gefühl haben, integriert
             Das zeigt: Auch wenn diese Jugendlichen als Muslime be-           zu sein.«
             zeichnet werden, unterscheidet sie doch oft mehr, als sie
             verbindet. Und das gilt eben auch für ihre Religion. In           Solche Positionen und eine ganze Reihe aktueller Debatten
             seinem sehr lesenswerten Buch »Wer ist wir? Deutschland           geben vielen Muslimen – unabhängig davon, ob sie religiös
             und seine Muslime« beschreibt Navid Kermani die Rolle             sind oder nicht – das Gefühl, nicht dazuzugehören und letzt-
             von Religion und Religiosität für sich folgendermaßen: »Ich       lich unerwünscht zu sein. Dazu beigetragen hat aber auch
             sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr – aber            die Geschichte der Einwanderung: Von den »Gastarbeitern«
             gleichzeitig blende ich damit tausend andere Dinge aus, die       der 1950er und 1960er Jahre wurde erwartet, dass sie eines
             ich auch bin.« Genauso blendet die in Politik, Medien und         Tages in die Heimat zurückkehren würden (zumal sie selbst
             Wirtshäusern noch immer oft geführte Rede von »den Mus-           meist nur einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland
             limen« meist mehr aus, als dass sie vom Leben und Denken          geplant hatten). Sie blieben am Rande der Gesellschaft,
             von rund vier Millionen Muslimen in Deutschland beschreibt.       auch als viele in den 1970er Jahren ihre Familien nach-
             Paradoxerweise ist es aber die Rede von »den Muslimen«            holten, in den ökonomisch schwieriger werdenden 1980er
             selbst, welche die Muslime bei all ihrer Unterschiedlichkeit      Jahren die Arbeitslosigkeit stieg und »Ausländer« für viele
             verbindet, schafft sie doch häufig erst das Bewusstsein, als      »Deutsche« zum Problem wurden. Mit einer »Rückkehrprä-
             Muslim einer besonderen und irgendwie »anderen« Gruppe            mie« sollten Anfang der 1980er Jahre die einst ins Land Ge-
             anzugehören. So wird vielen Jugendlichen oft erst in der          rufenen unter der Regierung Kohl nun dazu bewegt werden,
             Schule deutlich, dass sie als Muslime gesehen werden – und        dieses doch bitte wieder zu verlassen. Der Einigungsprozess
             viele beginnen erst hier, sich für ihre Religion zu interessie-   in den 1990er Jahren hat diese Stimmung noch verstärkt
             ren und einzusetzen.                                              und teils zugespitzt – rassistische Ausschreitungen wie die
                                                                               in Hoyerswerda sind dafür zum Symbol geworden.
             Wie aus Ausländern Muslime wurden
             Die deutsche Gesellschaft lässt sich nicht mehr ohne Islam,       Je mehr in der Folge aber »Menschen mit Migrationshin-
             Muslime und andere Migranten mit ihren unterschiedlichen          tergrund« ebenso wie »Herkunftsdeutsche« trotz alledem
             Biografien, Religionen und Traditionen denken. Wer es den-        realisierten, dass der Einwanderungsprozess unumkehrbar
             noch versucht, der schließt Teile der Bevölkerung aus – und       war, dass Integration zum Alltag, Migranten und Multikul-
             sollte sich nicht wundern, wenn diese sich in der Folge           turalität zur Normalität gehörten, desto mehr drehte sich
             nicht zugehörig, sondern diskriminiert fühlen. Das wurde          der Identitätsdiskurs um tatsächliche oder vermeintliche
             etwa in einem Gespräch muslimischer Jugendlicher in einer         Unterschiede. In diesem Zuge wurde »der Islam« entdeckt
             Neuköllner Schule mit Thilo Sarrazin deutlich: Ihr größtes        und zum Erklärungsmuster für eine Vielzahl von Fragen und
             Anliegen war es, dem Politiker und Autor zu zeigen, dass          Problemen erhoben, zur Besonderheit und zum Unterschei-
             sie als Muslime in Deutschland leben, ihre Sprache Deutsch        dungsmerkmal. Aus »Ausländern« wurden »Muslime«; immer
             ist, dass sie hier – wo denn auch sonst – Karriere machen         häufiger wird nun die Religionszugehörigkeit betont und von

                                                                                                  Vielen Jugendlichen wird oft erst in der
                                                                                                  Schule deutlich, dass sie als Muslime
                                                                                                  gesehen werden – und viele beginnen
                                                                                                  erst hier, sich für ihre Religion zu
                                                                                                  interessieren und einzusetzen.
Veit Mette

             Politik & Unterricht • 3/4-2012                                                                                                 5
Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Einleitung

             »Muslimen« auch dann gesprochen, wenn es eigentlich um          Heitmeyer (2010) erklärten 26 Prozent der Befragten, man
             soziale Konflikte geht. Die dabei häufig auftretenden Stereo-   solle die Zuwanderung von Muslimen untersagen; 76 Prozent
             type sind nicht neu: In der Rede von den »Türken vor Wien«      meinten, »dass die muslimischen Ansichten über Frauen un-
             hatten sich bereits im 17. Jahrhundert Furcht und Fantasie      seren Werten widersprechen« und 30 Prozent (2009: 21 %)
             vermischt – Wahrnehmungen, für die der amerikanisch-pa-         äußerten Überfremdungsängste: »Durch die vielen Muslime
             lästinensische Literaturwissenschaftler Edward Saïd in den      fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land«.
             1970er Jahren den Begriff des »Orientalismus« geprägt hat.      67 Prozent halten die Werte des Islam für unvereinbar mit
             Mit dem Ende des Kalten Krieges erhielt dieser Diskurs eine     den eigenen (bzw. denen der »westlichen Welt«). 46 Prozent
             neue und gleichzeitig alte Funktion: Als vermeintlich mono-     erklärten den Islam für rückständig (2003) und 14,8 Pro-
             lithischer Block dient »der Islam« als kulturelles Gegenbild    zent befürworteten, dass Muslimen in Deutschland die Re-
             zur Begründung »westlicher« Identität, das Fremdbild zur        ligionsausübung untersagt werden solle (2005). Oft fallen
             Bestätigung eigener Überlegenheit und Fortschrittlichkeit –     solche Zahlen umso höher aus, je weniger Muslime in einer
             etwa in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte oder die           Region leben bzw. je weniger die Befragten mit Muslimen
             Geschlechterverhältnisse. Dieser Diskurs gewann nach dem        zu tun haben.
             11. September 2001 an Schärfe, wobei nun insbesondere das
             Bild vom Islam als gewalttätiger und kriegerischer Religion     All dies heißt nicht, dass es keine Fragen, Probleme und
             in den Vordergrund trat. All dies kann in rassistische Posi-    Konflikte gibt, die es im Kontext von Migration und mit
             tionen münden, die auf den Islam und die Muslime zielen.        Muslimen auszuhandeln gilt. Zu nennen wären etwa die Ab-
             So sind Diffamierungen, Abwertungen, Hetz- und Hasspro-         wertung von Frauen oder Andersgläubigen, Antisemitismus,
             paganda sowie Verschwörungstheorien auf einer Vielzahl          radikale politische Ideologien, Zwangsheiraten, autoritäre
             einschlägiger Internetseiten anzutreffen.                       Erziehungsstile, traditionalistische Ehrbegriffe oder gewalt-
                                                                             legitimierende Männlichkeitsnormen. Fraglich ist allerdings,
             Die direkt oder indirekt Betroffenen könnten mit Ablehnung,     ob und in welcher Form diese jeweils tatsächlich religiös
             Abwertung und Hass leichter umgehen, wenn sie wüssten,          begründet oder bedingt sind, wie häufig behauptet wird –
             dass es sich bei den Trägern dieser Ressentiments lediglich     mitunter auch von Muslimen selbst (»Das ist bei uns so«).
             um eine kleine radikale Minderheit handelte. Islamfeind-        Die Gefahr besteht, dass teils jahrhundertealte Bilder vom
             schaft und Vorurteile gegen Muslime sind aber nicht nur         Islam reproduziert, pauschal auf alle Muslime übertragen
             eine Sache des rechten Randes, sondern reichen weit in die      und diese damit qua Religionszugehörigkeit unter General-
             Mitte der Gesellschaft. Laut Untersuchungen des Instituts       verdacht gestellt werden. Die Botschaft, die muslimischen
             für Demoskopie in Allensbach (2006) nimmt die Ansicht           Deutschen und Muslimen in Deutschland mit solchen Bildern
             zu, dass ein friedliches Zusammenleben mit Muslimen auf         und Stereotypen vermittelt wird, lautet: »Wenn ihr anerkannt
             Dauer unmöglich sei. 83 Prozent der Befragten verbinden         werden und dazugehören wollt, müsst ihr so werden wie wir.
             den Islam mit Fanatismus und rund 60 Prozent sind der           Und dazu müsst ihr erstmal eure Religion ablegen.«
             Meinung, Islam und Demokratie vertrügen sich nicht. Einer
             Untersuchung der Universität Münster zufolge (2010) haben       Es sind nicht zuletzt Erwartungen wie diese, die Unter-
             etwa 60 Prozent der Befragten eine negative Haltung ge-         schiede – das vermeintliche »Anderssein« von Muslimen –
             genüber dem Islam. Und nach den Studien von Wilhelm             betonen und einseitige Veränderungen als Voraussetzung

                                                                                                »Muslim Girls« hat sie die Schrift-
                                                                                                stellerin Sineb El Masrar in ihrem
                                                                                                gleichnamigen Buch genannt, in
                                                                                                dem sie Einblicke in die vielfältige
                                                                                                Lebensrealität von jungen musli-
                                                                                                mischen Frauen gibt, die längst in
                                                                                                Deutschland angekommen sind, auch
                                                                                                wenn die öffentliche Wahrnehmung
                                                                                                bisweilen eine andere ist.
Veit Mette

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Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Einleitung

für Anerkennung betrachten, die Integrations- bzw. Norma-                   recht« wenden sich in der Folge nicht wenige von ihnen
lisierungsprozessen im Wege stehen. Solche Stimmen tragen                   nun ihrem vermeintlichen »Anderssein« mit besonderer Auf-
in Politik, Medien oder in der Schule selbst entscheidend                   merksamkeit zu: Bei ihnen avancieren Religion und/oder
zu dem bei, was sie teils lauthals beklagen: Segregati-                     Herkunft zum zentralen Bestandteil von Identität. Nicht
onserscheinungen. Dabei spielt es zunächst eine unterge-                    selten begeben sie sich dabei in eine Verteidigungshaltung.
ordnete Rolle, ob entsprechende Aussagen nun rassistisch                    Dann werden Religion und Herkunft gegen tatsächliche und
und islamfeindlich zu nennen sind, ob es sich um gezielte                   vermeintliche Vorwürfe behauptet – und zwar auch von
»Islamkritik« (im Sinne von Religionskritik) handelt, wie                   Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die gar nicht son-
es viele Vertreter der oben skizzierten Bilder vom Islam für                derlich religiös sind, sich aber in ihrer Identität infrage
sich in Anspruch nehmen, oder ob sie »nur« Ausdruck von                     gestellt sehen.
Vorurteilen und Unkenntnis über Islam und Muslime sind.
Entscheidend ist vielmehr, dass solche Aussagen und Erwar-                  Das kann durchaus emanzipatorische Züge annehmen. So
tungshaltungen von Muslimen in Deutschland subjektiv als                    engagieren sich einige junge Muslime individuell oder in
diskriminierend erfahren werden, sie sich zurückgestoßen,                   Vereinen gegen Diskriminierung und dafür, dass Islam und
nicht zugehörig fühlen und viele in der Folge in einer Art                  Muslime in Deutschland mehr Anerkennung finden. Frei
Gegenbewegung ihre Religion, Tradition und Herkunft stär-                   nach dem Vorbild »proud to be black« ist »proud to be
ker betonen als zuvor.                                                      Muslim« eine der Losungen solchen Engagements. In den
                                                                            vergangenen Jahren ist hier eine kleine Szene von Jugend-
Junge Muslime auf der Suche: Anerkennung,                                   lichen und jungen Erwachsenen entstanden, die sehr religiös
Identität und Ideologie                                                     ist und gleichzeitig ganz modern orientiert. Diese Szene hat
Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene sind sensibel                    im Zuge der Diskursverschiebungen nach dem 11. September
für solche Vorbehalte und Vorhaltungen, da sie ohnehin                      2001 an Bedeutung gewonnen und ist unter dem Begriff
auf der Suche nach Identität, Zugehörigkeit, Anerkennung                    »Pop-Islam« in die öffentliche Debatte eingegangen. Sie ist
und Stärke sind. Vor diesem Hintergrund sind sie besonders                  Ausdruck von Suchbewegungen religiöser junger Muslime,
empfindsam für unterschiedlichste Formen der Ablehnung                      die nach Anerkennung, Zugehörigkeit und einer eigenen
und Abwertung – auch wenn diese eventuell gar nicht »so«                    Identität streben. Zu ihr gehören verschiedene Organisati-
oder gar »bös gemeint« sein mögen. Das gilt um so mehr                      onen oder Labels wie Styleislam®, Initiativen wie das Zahn-
für Jugendliche, die aufgrund ihrer Herkunft »zwischen den                  räder-Netzwerk oder Musiker wie der Sänger Sami Yussuf,
Welten« unterwegs sind und sich auf der Suche nach Orien-                   weltweit ein Idol vieler junger religiöser Muslime. Hinzu
tierungen befinden, die sowohl die Geschichte und Kultur                    kommt eine Vielzahl von Internetplattformen und -foren.
ihrer Familien berücksichtigen, als ihnen auch alle Optionen
für das Leben in dem Land eröffnen, das ihr Geburts- und
Heimatland ist. 1,6 bis 1,8 Millionen junger Muslime unter
25 Jahren leben in Deutschland – und tatsächlich geben
viele von ihnen an, sich ausgegrenzt, fremd, benachteiligt
und diskriminiert zu fühlen: durch »komische Blicke« in der
Öffentlichkeit, im Unterricht oder durch Darstellungen in
den Medien. Sie beklagen Vorurteile gegenüber dem Islam,
mangelnde Anerkennung und fehlenden Respekt. »Die Deut-
schen«, erklären Jugendliche immer wieder, »werden mich
in 100 Jahren noch fragen, wo ich herkomme, nur weil ich
schwarze Haare habe.«

Nun mögen – gerade bei Jugendlichen und jungen Erwach-
senen – Übersensibilitäten und Verschwörungstheorien bei
solchen Wahrnehmungen durchaus eine Rolle spielen. Nicht
selten projizieren Jugendliche etwa schlechte schulische
Leistungen oder die Absage eines Ausbildungsplatzes allein
darauf, wegen ihrer Religion und Herkunft diskriminiert zu
werden. Oder sie legitimieren extreme, provokative oder
auch aggressive Denk- und Handlungsformen mit dem Ver-
weis auf ihre Religion und Kultur: »Das ist bei uns so.«
Dennoch: Vorurteile und Unwissenheit über Islam und Mus-
lime sowie eine weitverbreitete Islamfeindschaft tragen
wesentlich dazu bei, dass gerade bei jungen Muslimen und
Migranten die Selbstverständlichkeit abnimmt, mit der sie
sich als Deutsche und in Deutschland zu Hause fühlen. Viele
                                                               Veit Mette

Jugendliche machen dabei die Medien für das schlechte Bild
vom Islam verantwortlich. Und nach dem Motto »Jetzt erst

Politik & Unterricht • 3/4-2012                                                                                                       7
Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
Einleitung

All diese realen oder virtuellen Gemeinschaften können für      verbreitet antidemokratische Positionen und Einstellungen
Jugendliche und junge Erwachsene Alternativen zu den oft        unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich für
sehr traditionell geprägten Moscheegemeinden, Dachver-          den Islam interessieren, und beeinflusst sie auf diese Weise
bänden oder Organisationen darstellen, in denen viele ihrer     in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung.
Eltern und Großeltern sich zu Hause fühlen.
                                                                Ein Beispiel: In einem Workshop in einer Schulklasse mit
Die Einstellungen dieser eher kleinen, aber sehr agilen und     fast ausschließlich muslimischen Jugendlichen stellten wir
explizit religiösen Szene sind in der Regel wertkonservativ:    fest, dass diese beinahe alle behaupteten, der Islam sei
Sexualität vor und außerhalb der Ehe wird meist abgelehnt,      ihnen sehr wichtig. Auf Nachfrage hatte aber kaum einer der
ebenso laszive Darstellungen und Freizügigkeit, Alkohol und     Jugendlichen eine konkretere Vorstellung von eben diesem
andere Drogen. Sie empfinden die bestehende Gesellschaft        Glauben. Es zeigte sich, dass das Bedürfnis nach Wissen
als zu materialistisch, sind oft sehr sozial orientiert und     und Auseinandersetzung unter den Jugendlichen groß ist,
setzen sich – sehr jugendtypisch – gegen Ungerechtigkeiten      weil sie den Islam zunehmend als wichtigen Bestandteil
ein. Es sind junge, deutsche, sehr religiöse, wertkonserva-     ihrer Identität begreifen – islamkritische Diskurse in der
tive und gleichzeitig moderne und selbstbewusste Muslime,       Öffentlichkeit und in der Schule spielen dabei eine große
die sagen: »Ich bin deutsch und ich bin Muslim. Als Muslim      Rolle. Bei Eltern und in Moscheen, deren Imame oft mit
will ich hier leben. Wo ist das Problem?« Und oft erfolgt       der Sprache und Lebenswirklichkeit der Jugendlichen nichts
diese Suche nach eigenen Antworten in Abgrenzung zu             anzufangen wissen, kommen die Jugendlichen aber meist
Eltern, die sich stärker ihren Herkunftsregionen verbunden      nicht weit. Und bei ihren Internetrecherchen stoßen sie
fühlen, zu denen sie selbst kaum Bezug haben. So lehnen         dann zwangsläufig auf Salafisten, die das Netz mit ihren
sich einige etwa dagegen auf, dass sie den Vorstellungen        deutschsprachigen Angeboten und ihrem rigiden und ein-
ihrer Familien gemäß Ehepartner aus der »eigenen« Region        seitigen Islamverständnis dominieren. So kannten fast alle
heiraten sollen. Auch ihr Islamverständnis ist häufig anders    in der besuchten Schulklasse den salafistischen Prediger
als das ihrer Eltern: So wird das Kopftuch hier in vielen       Pierre Vogel.
Fällen gegen deren Willen getragen – nicht als Symbol der
Unterdrückung, sondern ganz freiwillig als Ausdruck von         Zwar sind den allermeisten muslimischen deutschen Ju-
Identität, Stolz, Emanzipation, Bildung, Intellektualität und   gendlichen die Salafisten peinlich. Ihnen ist unangenehm,
Selbstbewusstsein.                                              dass diese bizarren Figuren das Bild des Islam in der Öf-
                                                                fentlichkeit so stark prägen. Dennoch erfahren Salafisten
Allerdings können solche Suchbewegungen auch radikale           Zuspruch unter vornehmlich männlichen Jugendlichen und
Formen annehmen – zum Beispiel, wenn sich Jugendliche           jungen Erwachsenen zwischen 15 und 35 Jahren. Diese
und junge Erwachsene türkischer Herkunft ultranationa-          finden hier, was viele von ihnen in ihrem Alltag vermissen:
listischen Organisationen wie den »Grauen Wölfen« an-           Anerkennung, Zugehörigkeit, Gemeinschaft und ein Gefühl
schließen. Solche und ähnliche Formen von Selbstethni-          von Stärke. All das gilt im Besonderen auch für die große
sierung finden sich auch unter Jugendlichen libanesischer,      Zahl der erst zum Islam konvertierten jungen Salafisten
palästinensischer, bosnischer oder kurdischer Herkunft. Sie     deutscher Herkunft, die den Salafismus in Deutschland stark
sind nicht zuletzt Ausdruck des übersteigerten Bedürfnisses     prägen und die vielfach brüchige und schwierige Biogra-
nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Diese Bedürfnisse           fien aufweisen. Und noch etwas spielt bei der Attraktivität
stehen auch hinter einem weiteren aktuellen Trend: Jugend-      des Salafismus für junge Menschen eine wichtige Rolle: die
liche und junge Erwachsene, die sich dem Salafismus zuwen-      Möglichkeit, gegen gefühlte und erfahrene Ohnmacht, Un-
den. Diese islamistische Strömung richtet sich insbesondere     gerechtigkeit und Diskriminierung protestieren und sich für
an junge Muslime (migrantischer oder deutscher Herkunft),       eine vermeintlich gerechte Sache einsetzen zu können. Denn
verspricht ihnen den »wahren Islam« und spielt dabei ganz       das ist ein Hauptbestandteil salafistischer Propaganda: be-
bewusst auf der Klaviatur von Ausgrenzungs-, Diskriminie-       stehende Diskriminierungen von Muslimen zuzuspitzen und
rungs- und Entfremdungserfahrungen. Diese instrumenta-          diese ideologisch zu instrumentalisieren. So suggeriert der
lisieren sie zur Propaganda in eigener Sache, indem sie         Kölner Pierre Vogel, der nächste »Holocaust« drohe den Mus-
junge Muslime aufrufen, sich zusammenzuschließen und            limen. Er schloss die Aufforderung an, die Muslime müssten
von Nichtmuslimen fernzuhalten. Jugendlichen und jungen         sich gegen eine ihnen feindlich gesinnte Umwelt in ihrem
Erwachsenen wird hier eine Heimat angeboten. Etwa 4.000         Glauben eng zusammenschließen.
junge Muslime zählt der Verfassungsschutz deutschlandweit
zum Kreis der Salafisten. Einige hundert von ihnen gelten       Deutlich wird daran auch, dass die Attraktion, die vom
als militant und ein paar Dutzend als »Gefährder«, von          Salafismus und seinen Predigern ausgeht, ganz von dieser
denen Terroranschläge verübt werden könnten. Das mögen          Welt ist: Orientierung, Gemeinschaft, Anerkennung, Überle-
im Verhältnis zu den vier Millionen in Deutschland leben-       genheit, Protest gegen Ungerechtigkeit sowie Provokation.
den Muslimen verschwindend geringe Zahlen sein, dennoch         Das sind allesamt Angebote, die typischen Bedürfnissen
sollte man – neben der von ihnen im Einzelfall ausgehenden      von Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsprechen. Für
Sicherheitsgefährdung – ihren Einfluss nicht unterschätzen:     manch einen Jugendlichen mag der Salafismus eine Attitüde
Der Salafismus trägt stark zum negativen Image des Islam in     maximaler Abgrenzung darstellen: Alle schauen auf mich,
der Öffentlichkeit bei. Und: Auch der »moderate« Salafismus     alle halten mich für gefährlich. Auf diese Weise erfahren

8                                                                                                     Politik & Unterricht • 3/4-2012
Einleitung

             sie das, wonach viele am meisten suchen: Aufmerksamkeit.       zu thematisieren und sie auch muslimischen (ebenso wie
             Hinzu kommen der absolute Wahrheitsanspruch der Sala-          nichtmuslimischen) Jugendlichen vor Augen zu führen, weil
             fisten sowie die extreme Abgrenzung von der pluralistischen    sie dies vor Stereotypen, Vereinnahmungen und Ideologien
             oder – wie sie sagen – verkommenen, dekadenten und ma-         kollektiver Identität schützen kann.
             terialistischen Welt, die anziehend wirken könnten. Mit dem
             Islam als Religion hat das kaum noch etwas zu tun. Ver-         Anerkennung thematisch signalisieren: Gerade in der Schule
             gleichbare Motive sind es denn auch, die Jugendliche dazu      ist es wichtig, die kulturelle und religiöse Vielfalt nicht nur
             führen können, sich rechtsextremen Milieus anzuschließen.      stillschweigend hinzunehmen oder vorauszusetzen. Vielmehr
                                                                            können Anerkennung und Zugehörigkeit durchaus betont
             Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis                 und damit Signale an Jugendliche und ihre Eltern gesetzt
             Welche Schlüsse können aus diesen hier nur skizzierten         werden. Denn Augenhöhe und Partnerschaft sind für diese
             Aspekten der unterschiedlichen Lebens- und Glaubens-           im Alltag vielfach alles andere als selbstverständlich und
             welten von Muslimen und »muslimischer« Jugendkulturen          werden in der Regel genau registriert und positiv aufgenom-
             in Deutschland für die Praxis von Pädagogik und politischer    men. Die Möglichkeiten dazu sind zahlreich. So können in
             Bildung gezogen werden? Ziel muss es ja unter anderem          den jeweiligen Fächern inhaltliche Akzente gesetzt werden,
             sein, Integration als wechselseitigen Prozess zu fördern,      die deutlich machen, dass Religion, Kultur und Herkunft der
             Islamfeindlichkeit (bei Nichtmuslimen) zu begegnen und is-     Jugendlichen integriert werden. Beispielsweise können die
             lamistischen Ideologien vorzubeugen. Im Folgenden sollen       türkische Nationalgeschichte, der Israel/Palästinakonflikt
             anhand einer Zweiteilung in »Inhalte« (der pädagogischen       oder die Migrationsgeschichte anhand der Biografien von
             Arbeit) und »Haltungen« (von Pädagogen) einige Aspekte         Eltern und Großeltern thematisiert und Letztere auf diese
             kurz beschrieben werden. Zunächst zu den Inhalten:             Weise gewürdigt werden. Die Anerkennung, die Personen und
                                                                            ihrer Geschichte gilt, ist die Voraussetzung dafür, sich gege-
              Die Vielfalt der Jugendlichen muslimischer Herkunft: Sie     benenfalls kritisch mit ihren Positionen, Einstellungen und
             kommen aus Familien und Elternhäusern mit sehr unter-          Lesarten dieser Geschichte auseinandersetzen zu können.
             schiedlichem sozialem Status, mit sehr unterschiedlichem
             Bildungshorizont und mit sehr unterschiedlichen Formen          Lebenswelten der Jugendlichen einbeziehen: »Wie willst
             von Religiosität. Während die einen gar nicht religiös sind,   du leben?« lautet eine Grundfrage, die Jugendlichen in
             ist die Religion für die anderen Bestandteil ihrer Identität   vielerlei Kontexten dabei helfen kann, eigene Positionen
             und Herkunft. Wieder andere sind – gerade in der Migra-        zu entwickeln. Dabei geht es weniger darum, spezifische
             tion – sehr religiös geworden. In vielen Familien spielen      Inhalte zu vermitteln oder konkrete Lernziele zu verfol-
             die Migrationsgeschichte und die Traditionen aus den Her-      gen. Wesentlicher ist es, so nachzufragen, dass die Jugend-
             kunftsgesellschaften eine wichtige Rolle – in anderen nicht.   lichen sich eigene Gedanken machen können, es lernen,
             Die Lebenswelten der Jugendlichen mögen Besonderheiten         die Perspektiven zu wechseln und miteinander ins Gespräch
             aufweisen, sie sind aber in vielerlei Hinsicht identisch mit   kommen. Dieses Gespräch gelingt am besten, wenn es um
             denen ihrer nichtmuslimischen Altergenossen. Der Versuch,      Alltagsfragen (z. B. Bestrafung von Handydiebstahl in der
             diese Vielfalt mit dem Etikett »Muslime« abzubilden, zielt     Klasse) oder jugendkulturelle Phänomene geht – gerade
             ins Leere – im Gegenteil erscheint es sinnvoll, Diversität     auch bei Themen wie Sexualität (»Kennt ihr jemanden, der

                                                                                                »Wie willst du leben?« lautet eine
                                                                                                Grundfrage, die Jugendlichen in
                                                                                                vielerlei Kontexten dabei helfen
                                                                                                kann, eigene Positionen zu
                                                                                                entwickeln.
Veit Mette

             Politik & Unterricht • 3/4-2012                                                                                             9
Einleitung

             schwul ist?«), Religion und Kultur (»Wie würdet ihr eure
             Kinder erziehen?«). Im Idealfall lenken Pädagogen solche
             Gespräche und Erzählungen nicht, sondern moderieren sie.
             Kontroversen und Perspektivwechsel sollten dabei offenge-
             legt bzw. angeregt werden.

              Wenn es um Religion geht, können auch nichtmuslimische
             Pädagogen eine Werteorientierung herausarbeiten: Gerech-
             tigkeit, Barmherzigkeit, soziale Verantwortung, Toleranz
             oder Nächstenliebe sind Werte, die selbstverständlich auch
             im Islam zu Hause sind. Weil sie aber in der Vermittlung von
             Religion an Jugendliche gegenüber Ritualen (Beten, Fasten,
             Essensvorschriften usw.) oft vernachlässigt werden, sind sie
             auch den religiösen Jugendlichen meist weniger präsent
             als äußerliche Unterschiede – womit auch die Parallelen zu
             anderen Religionen oder Weltanschauungen aus dem Blick
             geraten.

              Ein nach vielen Erfahrungen zentraler Aspekt ist es dabei,
             Islam nicht mit Islamismus zu verwechseln. Wenn Jugendli-
             che sich ausdrücklich religiös äußern und eine »islamische«
                                                                            Veit Mette

             Identität betonen, mag das – zumal für »unreligiöse« Be-
             obachter – nach Segregation klingen und fundamentalistisch
             anmuten. Es kann aber auch der Ausdruck von »Integration«
             sein – dem Bedürfnis nämlich, mit den eigenen Beson-
             derheiten als zugehörig anerkannt zu werden. Beunruhigte                    Intervenieren sollten Schulen und Jugendeinrichtungen also
             Reaktionen können dann – auch wenn sie »gut gemeint«                        nicht wegen religiöser Bekundungen, sondern erst wenn
             sind – bei den Jugendlichen den Anschein erwecken, ihre                     diese mit Druck und Zwang vertreten und verbreitet werden,
             Religion sei ein Grund zur Besorgnis. Das kann dazu führen,                 etwa wenn Bekleidungsformen wie das Kopftuch, das Einhal-
             dass sie sich zurückziehen und abwenden.                                    ten des Fastens oder des Gebets durch einzelne Jugendliche
                                                                                         zur Norm erhoben werden und Andersdenkende abgewertet
                                                                                         oder gar unter Druck gesetzt werden. Hier geht es dann aber
                                                                                         weniger darum, abstrakt einen vermeintlichen »Islamismus«
                                                                                         zu thematisieren (den Begriff sollte man in der Arbeit mit
                                                                                         Jugendlichen in der Regel ganz vermeiden), sondern beson-
                                                                                         nen zu reagieren und vielmehr Sachfragen konkret anzuspre-
                                                                                         chen und darüber zu diskutieren.

                                                                                         Wichtiger als Inhalte (und meist Voraussetzung dafür, diese
                                                                                         überhaupt vermitteln zu können) sind die Haltungen von
                                                                                         Multiplikatoren, für die Jugendliche – und gerade solche mit
                                                                                         Migrationshintergrund – meist sehr sensibel sind. »Pädago-
                                                                                         gisch fruchtbar ist nicht die pädagogische Absicht, sondern
                                                                                         die pädagogische Haltung«, sagt Martin Buber. Und auch hier
                                                                                         sind es letztlich allgemeine pädagogische »Weisheiten«, die
                                                                                         lediglich auf die Arbeit mit Jugendlichen mit (hier »musli-
                                                                                         mischem«) Migrationshintergrund zu übertragen sind:

                                                                                          Viele Multiplikatoren sind, um mit Max Weber zu sprechen,
                                                                                         »religiös unmusikalisch«. Das heißt, sie sind nicht nur selbst
                                                                                         unreligiös, sondern vielfach können sie mit Religion und Re-
                                                                                         ligiosität wenig anfangen und begegnen ihr mit Skepsis und
                                                                                         einer aufklärerischen Attitüde. Gerade solche Jugendliche,
                                                                                         denen ihre Religion und Kultur besonders wichtig erschei-
                                                                                         nen, nehmen diese Haltung oft als Nichtanerkennung und
                                                                                         Respektlosigkeit wahr und begeben sich ihrerseits in eine
                                                                                         Abwehr- oder Verteidigungshaltung. Es entstehen »Kampf-
Veit Mette

                                                                                         beziehungen«, die pädagogisch unfruchtbar sind und ver-
                                                                                         mieden werden sollten. Die Jugendlichen sollen nicht »ver-

             10                                                                                                                 Politik & Unterricht • 3/4-2012
Einleitung

ändert«, sondern motiviert werden, sich eigene Gedanken zu      gendlichen. Sie fühlen sich anerkannt und ernst genommen
machen und eigene Positionen zu erarbeiten. Die grundsätz-      und sind auf dieser Basis viel leichter bereit, auch einmal
liche Anerkennung von Religion, Kultur und Herkunft kann        die eigenen Überzeugungen infrage zu stellen.
dabei ein sehr hilfreiches Signal sein und im Weiteren die
Grundlage auch für kontroverse Diskussionen darstellen.         Welches Religionsverständnis?
                                                                Es gilt also, deutlich und offen zu zeigen, dass Islam und
 Hier kann sich auch die überholte Kontroverse zwischen        Muslime in Deutschland selbstverständlich und vorbehaltlos
akzeptierender und konfrontierender Jugendarbeit auflö-         dazugehören. Insbesondere Jugendliche und junge Erwach-
sen und zu einer »zugewandt-hinterfragenden« verbun-            sene – gleich ob sie religiös sind oder nicht – sollten nicht
den werden. Die einzelne Person und ihre Wahrnehmungen          durch Vorhaltungen und Erwartungen in eine Verteidigungs-
werden dabei respektiert und akzeptiert, ihre Meinungen,        haltung und zur Selbstbehauptung gezwungen werden. In
Argumente und Handlungen jedoch hinterfragt und gege-           vielen Fällen führt das erst in die Isolierung und macht
benenfalls konfrontiert: »Ich halte nichts von dem, was         einige junge Menschen anfällig für Radikalisierungen. Zu
Du sagst, aber es interessiert mich, wie Du darauf kommst       dieser Offenheit gehört es auch, die Kompatibilität von
(...).« (Baer/Weilnböck/Wiechmann: Jugendarbeit in der          Islam, Demokratie und moderner Gesellschaft aufzuzeigen,
politischen Bildung, in APuZ, 27/2010 S. 32).                   statt diese – wie etwa in Medien und Politik – ein ums andere
                                                                Mal infrage zu stellen.
 Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, sich den Posi-
tionen und Überzeugungen der Jugendlichen und jungen            Zu sehr noch sind Öffentlichkeit und auch sehr viele Mus-
Erwachsenen mit einer offenen und fragenden Haltung an-         lime selbst von einem normativen Religionsverständnis
zunähern: »Bindung kommt vor Bildung«. Anerkennung und          geprägt, das sich auf Rituale sowie Gebote und Verbote
Zugewandtheit werden dabei signalisiert, indem vorbehalt-       und die Betonung von Besonderheiten konzentriert. Gerade
losem und interessiertem Zuhören genügend Raum gelassen         Jugendliche stützen sich in ihren alters- und biografie-
wird, bevor man »Ja, aber ...« sagt. Und neben die Dialog-      typischen Suchbewegungen stark auf solche »Äußerlich-
tritt die Prozessorientierung: Viele Jugendliche müssen (und    keiten« zur Selbstfindung und Abgrenzung. Stärker als
wollen) traditionelle Elternhäuser, zu deren Erwartungen        bisher sollte daher auch in Schule und Jugendarbeit eine
(v. a. Orientierung an Werten und Normen der Gemeinschaft)      Werte- und Lebensweltorientierung im Mittelpunkt von
sie sich in der Regel sehr loyal verhalten, mit den Anfor-      Religionsvermittlung im Unterricht (Ethik- oder Politik-
derungen von Schule und Gesellschaft verbinden, die von         unterricht) stehen. Auf diese Weise können alle Beteiligten
ihnen Individualität und Eigenverantwortung fordern. Sie        Islamfeindschaft entgegenwirken und eine als wechselsei-
erbringen dabei tagtäglich große Integrationsleistungen,        tigen Prozess verstandene Integration befördern. Das zeigen
die häufig ungesehen und ungewürdigt bleiben. Hier gilt         unsere Erfahrungen aus der Arbeit mit Jugendlichen musli-
es, Jugendliche in ihrer Suche nach einem Platz »zwischen       mischer Herkunft: Viele von ihnen stecken in einem Loyali-
den Stühlen« zu unterstützen – und zwar, ohne diesen            tätskonflikt, da ihnen sowohl in ihrer Community als auch
Platz als defizitär zu betrachten. Vielmehr kann er einen       seitens der Öffentlichkeit allzu häufig suggeriert wird, nur
authentischen Ausdruck ihrer Biografie und ihrer Ressourcen     eines sein zu können – islamisch und herkunftsbewusst oder
darstellen, der nicht zuletzt Möglichkeiten und Chancen         demokratisch und deutsch. Wird ihnen jedoch Anerkennung
eröffnet.                                                       signalisiert und deutlich gemacht, dass sie sehr wohl beides
                                                                sein können, sieht man manchmal förmlich, wie eine Last
 Anerkennung sollten dabei auch die Eltern finden. Diese       von ihren Schultern fällt.
stellen häufig hohe Bildungs- und Erfolgserwartungen an
ihre Kinder, denen sie dabei vor dem Hintergrund ihrer
eigenen Migrationsbiografie jedoch selbst nur wenig Un-
terstützung bieten können. Die Schule soll es also richten.
Diese wiederum setzt bei den Jugendlichen viel voraus –
Voraussetzungen, die nur das Elternhaus erfüllen kann,
womit viele Eltern aber überfordert sind. Dieser Widerspruch
in den gegenseitigen Erwartungshaltungen von Eltern und
Schule sollte Multiplikatoren bewusst sein – und sie sollten
vor diesem Hintergrund um die Eltern werben. Eine »Aner-
kennungskultur« in der Schule signalisiert: Wir sehen die
Eltern als Partner und nicht als »Schuldige« für tatsächliche
und vermeintliche »Defizite« ihrer Kinder.

 Selbst einmal die Perspektiven zu wechseln erleichtert es
zum einen, die Bedeutung zu erkennen, die Familie, Religion
und Herkunft für Jugendliche haben können (nicht müssen!).
Zum anderen fördert eine Aussage wie »Aah, so habe ich das
noch nie gesehen« erfahrungsgemäß die Offenheit der Ju-

Politik & Unterricht • 3/4-2012                                                                                           11
Baustein A

      Baustein a
                                                                  Hintergrundinformationen zur Fotocollage auf S. 27
                                                                         DEutsCHlanD, DEinE MusliME
muSlime in deutSchland
                                                                 Oben links: Ein Mann kniet in der Khadija-Moschee
Deutschland ist ein Einwanderungsland – knapp sechzig            Berlin beim Gebet (April 2012); oben rechts: Eine
Jahre nach dem Abschluss der Anwerbeabkommen in den              fußballbegeisterte junge Muslimin nimmt als Einlauf-
1950er Jahren hat sich diese Feststellung in der Öffentlich-     kind am Bundesligaspiel 1. FC Kaiserslautern gegen
keit langsam durchgesetzt. Aber was sagt dies aus über den       FC St. Pauli teil (Dezember 2010); Mitte links: Die
Platz der Muslime und des Islam in der Gesellschaft? Ist der     junge Deutschtürkin und Berlinerin Melda Akbaş hat
Islam ein Teil Deutschlands? An dieser Frage schieden sich       ein Buch mit dem Titel »So wie ich will. Mein Leben
in den vergangenen Jahren immer wieder die Geister.              zwischen Moschee und Minirock« geschrieben; Mitte
                                                                 rechts: Ein Mitglied einer muslimischen Ortsgemeinde
An den gesellschaftlichen Wirklichkeiten geht diese De-          spricht während einer Demonstration von Muslimen in
batte allerdings vorbei. Etwa vier Millionen religiöse wie       Kiel im Februar 2006 gegen die Veröffentlichung der
nichtreligiöse Muslime leben heute in Deutschland – und          umstrittenen Mohammed-Karikaturen in der dänischen
sie prägen diese Gesellschaft. Repräsentative Moscheen in        Zeitung »Jyllands-Posten«; unten links: Muslimische
Wohngegenden, muslimische Gräberfelder auf öffentlichen          Kinder einer 5. Klasse nehmen am Islamkunde-Unter-
Friedhöfen, als »halal« zertifizierte Produkte in Supermärk-     richt der Freiherr-vom-Stein-Realschule in Bonn teil
ten, Ramadan-Feiern in Kindergärten oder die Ernennung           (Februar 2007); unten rechts: Eine Absolventin der
eines muslimischen Wissenschaftlers in den Ethikrat – dies       Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-
                                                                 Wilhelm-Universität Bonn trägt bei ihrer Absolventen-
                                                                 feier ein Kopftuch unter ihrem Barett (Juli 2006).

             Lösungen zum Quiz auf S. 26:
        MusliME in DEutsCHlanD – Ein QuiZ
                                                               sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie Muslime die
  Frage 1: 3,8 bis 4,3 Millionen; Frage 2: drei Spie-          deutsche Gesellschaft heute mitgestalten. Kurz gesagt: Das
  ler (Mesut Özil, Sami Khedira und Ilkay Gündogan);           Gesicht Deutschlands hat sich verändert und Muslime haben
  Frage 3: Ende des Fastenmonats Ramadan; Frage 4:             daran ihren Anteil.
  78 Prozent; Frage 5: Im Jahr 1798 ließ König Friedrich
  Wilhelm III. für den verstorbenen Gesandten des Osma-        Dennoch gibt es in der Öffentlichkeit weiterhin große Vor-
  nischen Reichs am Berliner Königshof, Ali Aziz Efendi,       behalte dagegen, diese Realität anzuerkennen. In Umfragen
  ein Begräbnis nach islamischem Ritus ausrichten und          äußern über 70 Prozent der Befragten Unbehagen über die
  stellte hierfür ein Gelände in der Tempelhofer Feldmark      neue Sichtbarkeit des Islam im Alltag. Umso wichtiger ist
  zur Verfügung; Frage 6: »Halal« ist der arabische Be-        es, über die Normalität dieser Entwicklungen zu informieren,
  griff für »erlaubt« oder »zulässig«. Als Ausdruck aus        denn in vielen Fällen verläuft die Eingliederung des Islam
  der islamischen Rechtswissenschaft weist »halal« be-         in die Gesellschaft ohne viel Aufhebens und ohne größere
  stimmte Verhaltensweisen, Speisen und Getränke als           Konflikte. In Freundschaften, Nachbarschaften und im Ar-
  religiös zulässig aus. Demgegenüber steht der Begriff        beitsleben spielt die Religion in der Regel keine Rolle. Aber
  »haram« für Verbotenes – wie etwa Schweinefleisch. Im        natürlich gibt es auch Konflikte: im Schulalltag, in Kommu-
  Sprachgebrauch bezeichnet »haram« auch »unschick-            nen, aber auch in grundsätzlichen Fragen, die die Verfassung
  liches Verhalten«. Mit den Nahrungsmittelgeboten             und das Selbstverständnis der Gesellschaft berühren. Man
  gehen die meisten Muslime allerdings eher individuell        denke nur an das Urteil eines Kölner Gerichtes über die
  um. Zudem weist auch die religiöse Rechtswissenschaft        traditionelle islamische Beschneidung, das zuletzt wie kaum
  weitere Kategorien zwischen »Erlaubtem« und »Verbo-          ein anderes Thema die öffentliche Meinung polarisierte. Das
  tenem« aus; Frage 7: 45 Prozent; Frage 8: Laut der           Thema »Islam in Deutschland« gibt Anlass zu Diskussionen
  gemeinsam vom Bundesamt für Migration und Flücht-            und als Lehrer kommt man kaum darum herum, sich auf diese
  linge sowie der Deutschen Islamkonferenz herausge-           Diskussionen einzulassen.
  gebenen Studie »Muslimisches Leben in Deutschland«
  aus dem Jahr 2009 leben 33,1 Prozent aller Muslime           Die Materialien im Baustein A dieses Heftes liefern Hinter-
  in Deutschland in Nordrhein-Westfalen, 16,6 Prozent          grundinformationen über Islam und Muslime in Deutschland
  in Baden-Württemberg und 13,2 Prozent in Bayern;             und stellen einige Fragen vor, die damit in Verbindung
  Frage 9: Laut bundestag.de bekennen sich drei der 620        stehen.
  Bundestagsabgeordneten (Stand: Sommer 2012) zum
  Islam: Ekin Deligöz (Bündnis 90/Grüne), Serkan Tören
  (FDP) und Omid Nouripour (Bündnis 90/Grüne).
     Lösungswort: DEUTSCH UND MUSLIM

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