Muslime in Deutschland - Lebenswelten und Jugendkulturen 3/4 2012
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Zeitschrift für die Praxis der politischen Bildung HEFT 3/4 – 2012, 3. UND 4. qUARTAL, 38. JAHRGANG »Politik & Unterricht« wird von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) Inhalt herausgegeben. heRaUSgeBeR Lothar Frick, Direktor Editorial 1 CheFReDaKTeUR Geleitwort des Ministeriums Dr. Reinhold Weber für Kultus, Jugend und Sport 2 reinhold.weber@lpb.bwl.de Autoren dieses Heftes 2 ReDaKTioNSaSSiSTeNZ Sylvia Rösch, sylvia.roesch@lpb.bwl.de Madeleine Hankele, Tübingen Unterrichtsvorschläge 3 – 23 aNSChRiFT DeR ReDaKTioN Einleitung 3 Stafflenbergstraße 38, 70184 Stuttgart Baustein A: Muslime in Deutschland 12 Telefon: 0711/164099-45; Fax: 0711/164099-77 Baustein B: Leben als Muslime in Deutschland 15 ReDaKTioN Judith Ernst-Schmidt, Oberstudienrätin, Baustein C: Muslimische Jugendkulturen 17 Werner-Siemens-Schule (Gewerbliche Schule Glossar 21 für Elektrotechnik), Stuttgart Dipl.-Päd. Martin Mai, Wilhelm-Lorenz-Realschule, Literaturhinweise 23 Ettlingen Dipl.-Päd. Holger Meeh, Akademischer Rat, Texte und materialien 25 – 67 Pädagogische Hochschule Heidelberg Dr. Wibke Renner-Kasper, Konrektorin der Grund-, Baustein A: Muslime in Deutschland 26 Haupt- und Realschule Illingen Baustein B: Leben als Muslime in Deutschland 38 Angelika Schober-Penz, Studienrätin, Erich-Bracher-Schule (Kaufmännische Schule), Baustein C: Muslimische Jugendkulturen 56 Kornwestheim geSTalTUNg TiTel Einleitung: Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch (ufuq.de) Bertron.Schwarz.Frey, Gruppe für Gestaltung, Ulm Baustein A: Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch, www.bertron-schwarz.de Madeleine Hankele und Nadine Karim DeSigN UND DiDaKTiK Baustein B: Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch und Medienstudio Christoph Lang, Rottenburg a.N., www.8421medien.de Madeleine Hankele Baustein C: Dr. Jochen Müller, Dr. Götz Nordbruch VeRlag Neckar-Verlag GmbH, Klosterring 1, 78050 Villingen-Schwenningen Baustein C wird gefördert durch die Anzeigen: Neckar-Verlag GmbH, Uwe Stockburger Telefon: 07721/8987-71; Fax: -50 anzeigen@neckar-verlag.de Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2 vom 1.5.2005. Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter DRUCK www.politikundunterricht.de/3_4_12/muslime.htm PFITZER GmbH & Co. KG, Benzstraße 39, Hier finden Sie auch eine Filmografie und kommentierte Internet- 71272 Renningen hinweise zum Thema dieses Heftes. Politik & Unterricht erscheint vierteljährlich. Preis dieser Doppelnummer: 6,40 EUR Politik & Unterricht wird auf umweltfreundlichem Papier mit Zellstoff aus nachhaltiger Forst- Jahresbezugspreis: 12,80 EUR wirtschaft und Recyclingfasern gedruckt. Unregelmäßige Sonderhefte werden zusätzlich mit je 3,20 EUR in Rechnung gestellt. Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers und der Redaktion wieder. Für unaufgefordert eingesendete Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Thema im FolgeheFT Nachdruck oder Vervielfältigung auf elektronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: Veit Mette, Bielefeld Auflage dieses Heftes: 21.000 Exemplare Kommunikation und Politik Redaktionsschluss: 30. Oktober 2012 ISSN 0344-3531
Editorial Etwa vier Millionen Muslime leben in Deutschland – keiner werden die Kernelemente islamischen Glaubens und die Viel- kennt ihre Zahl genau, denn eine amtliche Erfassung gibt falt der Glaubensrichtungen innerhalb des Islam ebenso wie es nicht. Damit ist der Islam nach dem Christentum die die Alltagserfahrungen muslimischer Jugendlicher zwischen Glaubensrichtung mit den zweitmeisten Anhängern im Land. Anerkennung und Diskriminierung. Gleichzeitig sollen aber Derzeit bekennen sich etwa fünf Prozent der Bevölkerung auch die Herausforderungen durch extremistische Rander- in Deutschland zum Islam. Muslime leben, arbeiten, lernen scheinungen wie etwa die Salafisten nicht verschwiegen und beten hier, sie sind in Vereinen aktiv, engagieren sich werden. in unserer Gesellschaft und gehören längst zu Deutschland. Aber viel wissen wir nicht über die Religion und die Ge- Das vorliegende Heft ist hervorgegangen aus einer Koope- bräuche unserer muslimischen Mitschüler, Nachbarn oder ration von »Politik & Unterricht« mit dem Projekt »Team Arbeitskollegen. Vorurteile sind weit verbreitet, das zeigen meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus« und dem Ber- zahlreiche Umfragen und Studien. Die Medien verzerren allzu liner Verein ufuq.de. Unser Dank geht an Regina Bossert oft unsere Wahrnehmung, denn nur »bad news are good und Nadine Karim vom »Team meX«. Dank gebührt auch der news«. Überprüfen Sie bitte selbst einmal: Wenn in Medien Baden-Württemberg Stiftung für die finanzielle Unterstüt- von Muslimen berichtet wird, finden wir dann nicht über- zung des Projekts. wiegend Abbildungen von Frauen mit Kopftuch oder von finster dreinblickenden Männern mit Bart? Entspricht dies dem Alltag der Muslime in Deutschland? Werden wir damit der Vielfalt innerhalb des Islam gerecht? Sicherlich nicht. In den Bildungsplänen des Landes Baden-Württemberg werden die Themenfelder »Muslime in Deutschland« und das »Neben- und Miteinander der Kulturen« genannt. Mit der vorliegenden Ausgabe von »Politik & Unterricht« wollen wir den Lehrerinnen und Lehrern der Fächer und Fächer- verbünde um Politik, Religion und Ethik praxisnahe und didaktisch aufbereitete Arbeitsmaterialien zur Verfügung stellen, die das gegenseitige Kennenlernen von Muslimen und Nichtmuslimen vorwiegend aus der lebensweltlichen Lothar Frick Dr. Reinhold Weber Perspektive von Jugendlichen unterstützen. Thematisiert Direktor der LpB Chefredakteur Politik & Unterricht • 3/4-2012 1
Geleitwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport In Baden-Württemberg sind rund 650.000 Muslime beheima- Deutschland zu entwickeln, die einem einseitig negativ ge- tet. Sie gestalten seit mehr als 50 Jahren die Lebens- und färbten Bild entgegentritt. Denn allzu oft ist unser Bild Arbeitswelt des Landes mit und sind aus ihr nicht mehr von muslimischen Mitbürgern im Land von Klischees und wegzudenken. Gleiches gilt für die Schulen des Landes, Vorurteilen geprägt. denen nicht mehr nur muslimische Mitschülerinnen und Mit- schüler angehören, sondern immer häufiger auch Lehrkräfte Mit der aktuellen Ausgabe von »Politik & Unterricht« ermu- muslimischen Glaubens. Längst hat religiöse Vielfalt, ein- tigt und unterstützt die Landeszentrale für politische Bildung hergehend mit sprachlicher und kultureller Vielfalt, an Ba- Lehrkräfte dabei, sich an die Aufarbeitung eines sensiblen den-Württembergs Schulen Einzug gehalten – eine Entwick- Themas im Schulunterricht heranzuwagen. Dabei geht es oft lung, die für die Schulen Bereicherung und Herausforderung um ganz persönliche Dinge – um Glauben, Kultur, Familie, zugleich ist. Die Vermittlung interkultureller Kompetenz Tradition – generell um Identität. Es gilt also, Berührungs- ist daher heute eine zentrale Aufgabe der Bildungseinrich- ängste zwischen den verschiedenen Glaubensgruppen ab- tungen, um die Schülerinnen und Schüler für ihr zukünftiges zubauen und muslimischen Schülerinnen und Schülern im Leben und Wirken in einer immer stärker von Heterogenität Unterrichtsalltag Raum und Anerkennung für ihre Identität geprägten Gesellschaft zu befähigen. und auch für ihre Probleme zu geben – sei es im Politik-, Geschichts-, Ethik-, Religions- oder Deutschunterricht. Vor Die aktuelle Ausgabe von »Politik & Unterricht« bietet eine dem Hintergrund, dass die Bedeutung des Erlernens von exzellente Grundlage, um diese interkulturellen Lernvor- Toleranz und Respekt gegenüber anderen Haltungen und gänge zu unterstützen. So wird über eine methodisch breit- Lebensentwürfen in einer Welt der fortschreitenden Globa- gefächerte Auswahl an Materialien die Vielfalt muslimischer lisierung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, Lebensentwürfe und Lebensformen in Deutschland aufge- danken wir der Landeszentrale für politische Bildung für die zeigt. Wie gestalten Muslime ihren Alltag in Deutschland? gelungene Zusammenstellung der Materialien. Fühlen sie sich als Deutsche? Und finden sie als solche An- erkennung in der Mehrheitsgesellschaft? Welchen Diskrimi- Gernot Tauchmann nierungen und Vorurteilen sehen sie sich in Freizeit, Schule Ministerium für Kultus, Jugend und Sport und auf dem Arbeitsmarkt gegenüber? Welche Rolle spielen Baden-Württemberg die Medien im Integrationsprozess? Durch die Beleuchtung dieser und vieler weiterer Fragen wird die Möglichkeit ge- boten, mit den Schülerinnen und Schülern eine sachliche und differenzierte Sichtweise auf muslimisches Leben in autoren dieses Heftes Dr. Jochen Müller und Dr. Götz Nordbruch sind Gründer Regina Bossert leitet bei der Landeszentrale für poli- des Vereins ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische tische Bildung Baden-Württemberg das Projekt »Team Bildung in der Einwanderungsgesellschaft (www.ufuq.de). meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus«. Der Verein arbeitet u. a. in Schulen und Jugendeinrich- tungen mit Jugendlichen sowie in Fortbildungen von Nadine Karim ist bei der Landeszentrale für politische Multiplikatoren zu den Themen Islam, Islamismus und Bildung Baden-Württemberg Projektassistentin im Pro- Demokratie. Die Mitarbeiter des Vereins sind Islamwissen- jekt »Team meX. Mit Zivilcourage gegen Extremismus«. schaftler und Pädagogen, die seit Jahren im Bereich der politischen Bildungsarbeit und der Migrationsforschung Madeleine Hankele studiert Politikwissenschaft und An- aktiv sind – u. a. in Kooperationen mit der Bundeszentrale glistik an der Universität Tübingen. Sie ist freie Mitar- für politische Bildung, dem Berliner Senat, der Ham- beiterin der Landeszentrale für politische Bildung Baden- burger Hochschule für angewandte Wissenschaften, der Württemberg. Polizei, dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dem Netzwerk Schule ohne Rassismus oder der Landeszentrale für politische Bildung Baden- Württemberg. 2 Politik & Unterricht • 3/4-2012
Muslime in Deutschland lebenswelten und Jugendkulturen EinlEitung noch einmal, bis sich die Politik durchringen konnte, sie auch offiziell anzuerkennen. In der Zwischenzeit aber hat sich das Gesicht des Landes verändert: Man werfe nur einen Blick in die Schulklassen vieler Groß- und Mittelstädte, wo oft die Mehrheit der Schüler einen Migrationshintergrund hat. Für Am 3. Oktober 2010 wollte der damals neu gewählte Bundes- viele Menschen sind das – zumal diese Prozesse nicht ohne präsident Wulff ein Zeichen setzen: »Der Islam«, so erklärte Probleme und Konflikte vonstatten gehen – bisweilen irri- er, »gehört inzwischen auch zu Deutschland«. Am Tag darauf tierende und verunsichernde Erfahrungen, auch weil ihnen konterte die BILD-Zeitung: »Wie viel Islam verträgt Deutsch- nicht ausreichend vermittelt wurde, dass Migranten inzwi- land?« Das Magazin Focus wählte als Aufmacher ein stereo- schen selbstverständlich dazugehören. Vor diesem Hinter- types Bild von Wulff als älterem Türken mit Schnurrbart und grund kann die Sarrazin-Debatte als eine verspätete Ausei- Häkelmütze. Beide Zeitungen brachten damit das bestehende nandersetzung über das nationale Selbstverständnis und die Unbehagen eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber notwendige Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft dem Islam und Muslimen zum Ausdruck. Zwar hatte bereits betrachtet werden. 2006 Wolfgang Schäuble als Innenminister ganz ähnlich formuliert (»Der Islam ist ein Teil unseres Landes«) wie vier Noch bis in die 1990er Jahre war in den Auseinanderset- Jahre später Wulff – seinerzeit hatte Schäuble aber kaum für zungen um Einwanderung und Integration zunächst vor Aufsehen gesorgt. Dann kam Sarrazin. Und mit der Debatte allem von »Gastarbeitern« und später von »Ausländern« die um dessen Thesen über Migranten im Allgemeinen und Mus- Rede. Heute drehen sich die Debatten vor allem um »die lime im Besonderen wurde vor allem eines deutlich: So weit Muslime«. Deshalb fragte die BILD-Zeitung nach dem Islam ist es noch nicht her mit dem deutschen Selbstverständnis, bzw. danach, wie viele Muslime Deutschland denn »vertra- eine Einwanderungsgesellschaft zu sein. gen« könne. Deutlich werden hier Argwohn und Skepsis gegenüber einer Religion und ihren Angehörigen, obwohl »Deutschland schafft sich ab« lautet der Titel des Bestsellers diese in Deutschland längst zu Hause sind. Denn: Etwa vier von Thilo Sarrazin. Aus ihm spricht die Angst vor Verände- Millionen Muslime – die genaue Zahl kennt niemand – leben rung. Tatsächlich war die sich seit den 1960er Jahren in in Deutschland, viele von ihnen bereits in der dritten Ge- Deutschland vollziehende Entwicklung zur Einwanderungs- neration. Sie (oder ihre eingewanderten Eltern und Großel- gesellschaft lange Zeit ignoriert worden und es dauerte dann tern) stammen aus so unterschiedlichen Regionen der Welt In seinem Projekt »Generation Üç« zeigt der Bielefelder Fotograf Veit Mette die Lebenswelten von Jugendlichen mit meist türkischem Migrationshintergrund. Die dritte Generation der einstigen »Gast- arbeiterfamilien« – die Generation Üç (üç = drei) – lebt den Spagat zwischen Tradition, Schule, Moschee, Disko und Straße. Veit Mette Politik & Unterricht • 3/4-2012 3
Einleitung wie der selbst überaus heterogenen Türkei, aus Pakistan, rige der Ahmadiyya. Ein Drittel von ihnen gibt an, täg- Indonesien, dem Nahen Osten oder nordwestafrikanischen lich zu beten, mehr als ein Drittel betet selten oder nie. Staaten. Knapp die Hälfte von ihnen sind deutsche Staats- 70 Prozent der Muslime begehen religiöse Feste und über bürger, mehr als die Hälfte sind Mitglied in einem deutschen 50 Prozent erklären, die Fastenregeln zu beachten. Viele sind Verein. Sie leben in Dörfern und Großstädten – zu 98 Prozent aber auch »Ramadanmuslime«, wie man sie in Anlehnung an in den alten Bundesländern und in Berlin. Etwa 650.000 die »Weihnachtschristen« nennen könnte. 78 Prozent der Muslime leben in Baden-Württemberg. Sie sind Angestellte Frauen zwischen 16 und 25 Jahren tragen kein Kopftuch. und Arbeiter, Anwälte, Pflegekräfte, Ärzte, IT-Spezialisten oder Händler, Gastronomen und Hartz-IV-Empfänger – wie Und was vielleicht noch bedeutsamer ist: All dies sind keine andere Menschen in Deutschland auch. festen Größen, sondern die Zahlen spiegeln dynamische Prozesse wider. Entgegen vielen Vermutungen ist nämlich auch der Islam nicht statisch. Vielmehr ändern sich die Signale der anerkennung: anmerkungen Formen, in denen Muslime ihre Religion denken und leben, zur Pädagogik mit jungen muSlimen in ständig und überall – sehr zum Graus von Fundamentalisten Schule und jugendarbeit jeglicher Couleur. So unterscheiden sich das Freizeitverhal- ten vieler Jugendlicher, ihre Kleidung, ihr Medienkonsum, Oft vergessen: Muslimische Vielfalt aber auch ihre Wertvorstellungen etwa in Bezug auf Ge- Es ist hier nicht der Raum, die verschiedenen Glaubens- schlechterrollen, Sexualität und Heirat vom Weltbild ihrer formen innerhalb des Islam zu beschreiben. Ebensowenig Eltern und Großeltern, das (je nach Herkunft und sozialer soll hier ein Versuch unternommen werden, »den Islam« als Schicht) oft sehr traditionalistisch geprägt ist (sich aber Religion in ein paar Sätzen zu erläutern. Wissen und Infor- häufig kaum von dem ihrer nichtmuslimischen Altersgenos- mationen dazu lassen sich schnell in Handbüchern oder auf sen unterscheidet). Hier finden auch innerhalb von Familien seriösen Websites finden. Ohnehin ist oft fraglich, was damit oft unbemerkt rasante Entwicklungen statt, die nicht ohne gewonnen wäre, denn die Gefahr ist groß, dass statt Vielfalt Konflikte verlaufen. in Religion und Religiosität zu akzeptieren und zu prakti- zieren, doch wieder vermeintliche Fundamente reproduziert Ein Beispiel: Nie würden sie einen Mann gegen den Willen würden. Die von Nichtmuslimen, aber auch von vielen mus- ihrer Väter heiraten, erklärten uns in einem Workshop reli- limischen Jugendlichen immer wieder gestellte Frage »Wie giöse muslimische Schülerinnen einer Oberstufe in Berlin- ist es denn nun im Islam?« muss in den meisten Fällen Neukölln kurz vor dem Abitur. Somit hat die Familie bei unbeantwortet bleiben. Vielmehr lautet die Gegenfrage an der Auswahl des Ehepartners das letzte Wort. Aber auf die die Jugendlichen, wie richtiges Verhalten für sie selbst in Frage, wie sie denn ihre Kinder einmal erziehen wollten, diesem oder jenem Fall aussieht. meinten sie: »Die sollen schon selber entscheiden können.« Deutlich wird hier, wie loyal diese jungen Frauen einerseits Von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden sich Muslime zu ihren Familien stehen. Andererseits unterscheiden sich vor allem durch ihre Religion. Dabei leben sie selbst ihre ihre Werte und Einstellungen sehr von denen ihrer Eltern Religion sehr unterschiedlich. So leben in Deutschland und Großeltern. In solchen und ähnlichen Spannungsfeldern unter anderem Sunniten, Schiiten, Aleviten und Angehö- leben längst nicht alle, aber doch sehr viele Jugendliche – Schülerinnen und Schüler der Markt- schule im nordrhein-westfälischen Brackwede: Lebensmittelpunkt Deutschland. Veit Mette 4 Politik & Unterricht • 3/4-2012
Einleitung und es erscheint uns wichtig, sie nicht der einen oder ande- und ihre Kinder großziehen wollen. »Was soll ich denn noch ren Seite zuordnen oder gar auf die eine oder andere Seite machen, um deutsch zu sein?«, rief eine von ihnen. Worauf hinüberziehen zu wollen. Thilo Sarrazin antwortete: »Solange Sie ein Kopftuch tragen, werden Sie in Deutschland nie das Gefühl haben, integriert Das zeigt: Auch wenn diese Jugendlichen als Muslime be- zu sein.« zeichnet werden, unterscheidet sie doch oft mehr, als sie verbindet. Und das gilt eben auch für ihre Religion. In Solche Positionen und eine ganze Reihe aktueller Debatten seinem sehr lesenswerten Buch »Wer ist wir? Deutschland geben vielen Muslimen – unabhängig davon, ob sie religiös und seine Muslime« beschreibt Navid Kermani die Rolle sind oder nicht – das Gefühl, nicht dazuzugehören und letzt- von Religion und Religiosität für sich folgendermaßen: »Ich lich unerwünscht zu sein. Dazu beigetragen hat aber auch sage von mir: Ich bin Muslim. Der Satz ist wahr – aber die Geschichte der Einwanderung: Von den »Gastarbeitern« gleichzeitig blende ich damit tausend andere Dinge aus, die der 1950er und 1960er Jahre wurde erwartet, dass sie eines ich auch bin.« Genauso blendet die in Politik, Medien und Tages in die Heimat zurückkehren würden (zumal sie selbst Wirtshäusern noch immer oft geführte Rede von »den Mus- meist nur einen vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland limen« meist mehr aus, als dass sie vom Leben und Denken geplant hatten). Sie blieben am Rande der Gesellschaft, von rund vier Millionen Muslimen in Deutschland beschreibt. auch als viele in den 1970er Jahren ihre Familien nach- Paradoxerweise ist es aber die Rede von »den Muslimen« holten, in den ökonomisch schwieriger werdenden 1980er selbst, welche die Muslime bei all ihrer Unterschiedlichkeit Jahren die Arbeitslosigkeit stieg und »Ausländer« für viele verbindet, schafft sie doch häufig erst das Bewusstsein, als »Deutsche« zum Problem wurden. Mit einer »Rückkehrprä- Muslim einer besonderen und irgendwie »anderen« Gruppe mie« sollten Anfang der 1980er Jahre die einst ins Land Ge- anzugehören. So wird vielen Jugendlichen oft erst in der rufenen unter der Regierung Kohl nun dazu bewegt werden, Schule deutlich, dass sie als Muslime gesehen werden – und dieses doch bitte wieder zu verlassen. Der Einigungsprozess viele beginnen erst hier, sich für ihre Religion zu interessie- in den 1990er Jahren hat diese Stimmung noch verstärkt ren und einzusetzen. und teils zugespitzt – rassistische Ausschreitungen wie die in Hoyerswerda sind dafür zum Symbol geworden. Wie aus Ausländern Muslime wurden Die deutsche Gesellschaft lässt sich nicht mehr ohne Islam, Je mehr in der Folge aber »Menschen mit Migrationshin- Muslime und andere Migranten mit ihren unterschiedlichen tergrund« ebenso wie »Herkunftsdeutsche« trotz alledem Biografien, Religionen und Traditionen denken. Wer es den- realisierten, dass der Einwanderungsprozess unumkehrbar noch versucht, der schließt Teile der Bevölkerung aus – und war, dass Integration zum Alltag, Migranten und Multikul- sollte sich nicht wundern, wenn diese sich in der Folge turalität zur Normalität gehörten, desto mehr drehte sich nicht zugehörig, sondern diskriminiert fühlen. Das wurde der Identitätsdiskurs um tatsächliche oder vermeintliche etwa in einem Gespräch muslimischer Jugendlicher in einer Unterschiede. In diesem Zuge wurde »der Islam« entdeckt Neuköllner Schule mit Thilo Sarrazin deutlich: Ihr größtes und zum Erklärungsmuster für eine Vielzahl von Fragen und Anliegen war es, dem Politiker und Autor zu zeigen, dass Problemen erhoben, zur Besonderheit und zum Unterschei- sie als Muslime in Deutschland leben, ihre Sprache Deutsch dungsmerkmal. Aus »Ausländern« wurden »Muslime«; immer ist, dass sie hier – wo denn auch sonst – Karriere machen häufiger wird nun die Religionszugehörigkeit betont und von Vielen Jugendlichen wird oft erst in der Schule deutlich, dass sie als Muslime gesehen werden – und viele beginnen erst hier, sich für ihre Religion zu interessieren und einzusetzen. Veit Mette Politik & Unterricht • 3/4-2012 5
Einleitung »Muslimen« auch dann gesprochen, wenn es eigentlich um Heitmeyer (2010) erklärten 26 Prozent der Befragten, man soziale Konflikte geht. Die dabei häufig auftretenden Stereo- solle die Zuwanderung von Muslimen untersagen; 76 Prozent type sind nicht neu: In der Rede von den »Türken vor Wien« meinten, »dass die muslimischen Ansichten über Frauen un- hatten sich bereits im 17. Jahrhundert Furcht und Fantasie seren Werten widersprechen« und 30 Prozent (2009: 21 %) vermischt – Wahrnehmungen, für die der amerikanisch-pa- äußerten Überfremdungsängste: »Durch die vielen Muslime lästinensische Literaturwissenschaftler Edward Saïd in den fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land«. 1970er Jahren den Begriff des »Orientalismus« geprägt hat. 67 Prozent halten die Werte des Islam für unvereinbar mit Mit dem Ende des Kalten Krieges erhielt dieser Diskurs eine den eigenen (bzw. denen der »westlichen Welt«). 46 Prozent neue und gleichzeitig alte Funktion: Als vermeintlich mono- erklärten den Islam für rückständig (2003) und 14,8 Pro- lithischer Block dient »der Islam« als kulturelles Gegenbild zent befürworteten, dass Muslimen in Deutschland die Re- zur Begründung »westlicher« Identität, das Fremdbild zur ligionsausübung untersagt werden solle (2005). Oft fallen Bestätigung eigener Überlegenheit und Fortschrittlichkeit – solche Zahlen umso höher aus, je weniger Muslime in einer etwa in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte oder die Region leben bzw. je weniger die Befragten mit Muslimen Geschlechterverhältnisse. Dieser Diskurs gewann nach dem zu tun haben. 11. September 2001 an Schärfe, wobei nun insbesondere das Bild vom Islam als gewalttätiger und kriegerischer Religion All dies heißt nicht, dass es keine Fragen, Probleme und in den Vordergrund trat. All dies kann in rassistische Posi- Konflikte gibt, die es im Kontext von Migration und mit tionen münden, die auf den Islam und die Muslime zielen. Muslimen auszuhandeln gilt. Zu nennen wären etwa die Ab- So sind Diffamierungen, Abwertungen, Hetz- und Hasspro- wertung von Frauen oder Andersgläubigen, Antisemitismus, paganda sowie Verschwörungstheorien auf einer Vielzahl radikale politische Ideologien, Zwangsheiraten, autoritäre einschlägiger Internetseiten anzutreffen. Erziehungsstile, traditionalistische Ehrbegriffe oder gewalt- legitimierende Männlichkeitsnormen. Fraglich ist allerdings, Die direkt oder indirekt Betroffenen könnten mit Ablehnung, ob und in welcher Form diese jeweils tatsächlich religiös Abwertung und Hass leichter umgehen, wenn sie wüssten, begründet oder bedingt sind, wie häufig behauptet wird – dass es sich bei den Trägern dieser Ressentiments lediglich mitunter auch von Muslimen selbst (»Das ist bei uns so«). um eine kleine radikale Minderheit handelte. Islamfeind- Die Gefahr besteht, dass teils jahrhundertealte Bilder vom schaft und Vorurteile gegen Muslime sind aber nicht nur Islam reproduziert, pauschal auf alle Muslime übertragen eine Sache des rechten Randes, sondern reichen weit in die und diese damit qua Religionszugehörigkeit unter General- Mitte der Gesellschaft. Laut Untersuchungen des Instituts verdacht gestellt werden. Die Botschaft, die muslimischen für Demoskopie in Allensbach (2006) nimmt die Ansicht Deutschen und Muslimen in Deutschland mit solchen Bildern zu, dass ein friedliches Zusammenleben mit Muslimen auf und Stereotypen vermittelt wird, lautet: »Wenn ihr anerkannt Dauer unmöglich sei. 83 Prozent der Befragten verbinden werden und dazugehören wollt, müsst ihr so werden wie wir. den Islam mit Fanatismus und rund 60 Prozent sind der Und dazu müsst ihr erstmal eure Religion ablegen.« Meinung, Islam und Demokratie vertrügen sich nicht. Einer Untersuchung der Universität Münster zufolge (2010) haben Es sind nicht zuletzt Erwartungen wie diese, die Unter- etwa 60 Prozent der Befragten eine negative Haltung ge- schiede – das vermeintliche »Anderssein« von Muslimen – genüber dem Islam. Und nach den Studien von Wilhelm betonen und einseitige Veränderungen als Voraussetzung »Muslim Girls« hat sie die Schrift- stellerin Sineb El Masrar in ihrem gleichnamigen Buch genannt, in dem sie Einblicke in die vielfältige Lebensrealität von jungen musli- mischen Frauen gibt, die längst in Deutschland angekommen sind, auch wenn die öffentliche Wahrnehmung bisweilen eine andere ist. Veit Mette 6 Politik & Unterricht • 3/4-2012
Einleitung für Anerkennung betrachten, die Integrations- bzw. Norma- recht« wenden sich in der Folge nicht wenige von ihnen lisierungsprozessen im Wege stehen. Solche Stimmen tragen nun ihrem vermeintlichen »Anderssein« mit besonderer Auf- in Politik, Medien oder in der Schule selbst entscheidend merksamkeit zu: Bei ihnen avancieren Religion und/oder zu dem bei, was sie teils lauthals beklagen: Segregati- Herkunft zum zentralen Bestandteil von Identität. Nicht onserscheinungen. Dabei spielt es zunächst eine unterge- selten begeben sie sich dabei in eine Verteidigungshaltung. ordnete Rolle, ob entsprechende Aussagen nun rassistisch Dann werden Religion und Herkunft gegen tatsächliche und und islamfeindlich zu nennen sind, ob es sich um gezielte vermeintliche Vorwürfe behauptet – und zwar auch von »Islamkritik« (im Sinne von Religionskritik) handelt, wie Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, die gar nicht son- es viele Vertreter der oben skizzierten Bilder vom Islam für derlich religiös sind, sich aber in ihrer Identität infrage sich in Anspruch nehmen, oder ob sie »nur« Ausdruck von gestellt sehen. Vorurteilen und Unkenntnis über Islam und Muslime sind. Entscheidend ist vielmehr, dass solche Aussagen und Erwar- Das kann durchaus emanzipatorische Züge annehmen. So tungshaltungen von Muslimen in Deutschland subjektiv als engagieren sich einige junge Muslime individuell oder in diskriminierend erfahren werden, sie sich zurückgestoßen, Vereinen gegen Diskriminierung und dafür, dass Islam und nicht zugehörig fühlen und viele in der Folge in einer Art Muslime in Deutschland mehr Anerkennung finden. Frei Gegenbewegung ihre Religion, Tradition und Herkunft stär- nach dem Vorbild »proud to be black« ist »proud to be ker betonen als zuvor. Muslim« eine der Losungen solchen Engagements. In den vergangenen Jahren ist hier eine kleine Szene von Jugend- Junge Muslime auf der Suche: Anerkennung, lichen und jungen Erwachsenen entstanden, die sehr religiös Identität und Ideologie ist und gleichzeitig ganz modern orientiert. Diese Szene hat Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene sind sensibel im Zuge der Diskursverschiebungen nach dem 11. September für solche Vorbehalte und Vorhaltungen, da sie ohnehin 2001 an Bedeutung gewonnen und ist unter dem Begriff auf der Suche nach Identität, Zugehörigkeit, Anerkennung »Pop-Islam« in die öffentliche Debatte eingegangen. Sie ist und Stärke sind. Vor diesem Hintergrund sind sie besonders Ausdruck von Suchbewegungen religiöser junger Muslime, empfindsam für unterschiedlichste Formen der Ablehnung die nach Anerkennung, Zugehörigkeit und einer eigenen und Abwertung – auch wenn diese eventuell gar nicht »so« Identität streben. Zu ihr gehören verschiedene Organisati- oder gar »bös gemeint« sein mögen. Das gilt um so mehr onen oder Labels wie Styleislam®, Initiativen wie das Zahn- für Jugendliche, die aufgrund ihrer Herkunft »zwischen den räder-Netzwerk oder Musiker wie der Sänger Sami Yussuf, Welten« unterwegs sind und sich auf der Suche nach Orien- weltweit ein Idol vieler junger religiöser Muslime. Hinzu tierungen befinden, die sowohl die Geschichte und Kultur kommt eine Vielzahl von Internetplattformen und -foren. ihrer Familien berücksichtigen, als ihnen auch alle Optionen für das Leben in dem Land eröffnen, das ihr Geburts- und Heimatland ist. 1,6 bis 1,8 Millionen junger Muslime unter 25 Jahren leben in Deutschland – und tatsächlich geben viele von ihnen an, sich ausgegrenzt, fremd, benachteiligt und diskriminiert zu fühlen: durch »komische Blicke« in der Öffentlichkeit, im Unterricht oder durch Darstellungen in den Medien. Sie beklagen Vorurteile gegenüber dem Islam, mangelnde Anerkennung und fehlenden Respekt. »Die Deut- schen«, erklären Jugendliche immer wieder, »werden mich in 100 Jahren noch fragen, wo ich herkomme, nur weil ich schwarze Haare habe.« Nun mögen – gerade bei Jugendlichen und jungen Erwach- senen – Übersensibilitäten und Verschwörungstheorien bei solchen Wahrnehmungen durchaus eine Rolle spielen. Nicht selten projizieren Jugendliche etwa schlechte schulische Leistungen oder die Absage eines Ausbildungsplatzes allein darauf, wegen ihrer Religion und Herkunft diskriminiert zu werden. Oder sie legitimieren extreme, provokative oder auch aggressive Denk- und Handlungsformen mit dem Ver- weis auf ihre Religion und Kultur: »Das ist bei uns so.« Dennoch: Vorurteile und Unwissenheit über Islam und Mus- lime sowie eine weitverbreitete Islamfeindschaft tragen wesentlich dazu bei, dass gerade bei jungen Muslimen und Migranten die Selbstverständlichkeit abnimmt, mit der sie sich als Deutsche und in Deutschland zu Hause fühlen. Viele Veit Mette Jugendliche machen dabei die Medien für das schlechte Bild vom Islam verantwortlich. Und nach dem Motto »Jetzt erst Politik & Unterricht • 3/4-2012 7
Einleitung All diese realen oder virtuellen Gemeinschaften können für verbreitet antidemokratische Positionen und Einstellungen Jugendliche und junge Erwachsene Alternativen zu den oft unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich für sehr traditionell geprägten Moscheegemeinden, Dachver- den Islam interessieren, und beeinflusst sie auf diese Weise bänden oder Organisationen darstellen, in denen viele ihrer in ihrer persönlichen und beruflichen Entwicklung. Eltern und Großeltern sich zu Hause fühlen. Ein Beispiel: In einem Workshop in einer Schulklasse mit Die Einstellungen dieser eher kleinen, aber sehr agilen und fast ausschließlich muslimischen Jugendlichen stellten wir explizit religiösen Szene sind in der Regel wertkonservativ: fest, dass diese beinahe alle behaupteten, der Islam sei Sexualität vor und außerhalb der Ehe wird meist abgelehnt, ihnen sehr wichtig. Auf Nachfrage hatte aber kaum einer der ebenso laszive Darstellungen und Freizügigkeit, Alkohol und Jugendlichen eine konkretere Vorstellung von eben diesem andere Drogen. Sie empfinden die bestehende Gesellschaft Glauben. Es zeigte sich, dass das Bedürfnis nach Wissen als zu materialistisch, sind oft sehr sozial orientiert und und Auseinandersetzung unter den Jugendlichen groß ist, setzen sich – sehr jugendtypisch – gegen Ungerechtigkeiten weil sie den Islam zunehmend als wichtigen Bestandteil ein. Es sind junge, deutsche, sehr religiöse, wertkonserva- ihrer Identität begreifen – islamkritische Diskurse in der tive und gleichzeitig moderne und selbstbewusste Muslime, Öffentlichkeit und in der Schule spielen dabei eine große die sagen: »Ich bin deutsch und ich bin Muslim. Als Muslim Rolle. Bei Eltern und in Moscheen, deren Imame oft mit will ich hier leben. Wo ist das Problem?« Und oft erfolgt der Sprache und Lebenswirklichkeit der Jugendlichen nichts diese Suche nach eigenen Antworten in Abgrenzung zu anzufangen wissen, kommen die Jugendlichen aber meist Eltern, die sich stärker ihren Herkunftsregionen verbunden nicht weit. Und bei ihren Internetrecherchen stoßen sie fühlen, zu denen sie selbst kaum Bezug haben. So lehnen dann zwangsläufig auf Salafisten, die das Netz mit ihren sich einige etwa dagegen auf, dass sie den Vorstellungen deutschsprachigen Angeboten und ihrem rigiden und ein- ihrer Familien gemäß Ehepartner aus der »eigenen« Region seitigen Islamverständnis dominieren. So kannten fast alle heiraten sollen. Auch ihr Islamverständnis ist häufig anders in der besuchten Schulklasse den salafistischen Prediger als das ihrer Eltern: So wird das Kopftuch hier in vielen Pierre Vogel. Fällen gegen deren Willen getragen – nicht als Symbol der Unterdrückung, sondern ganz freiwillig als Ausdruck von Zwar sind den allermeisten muslimischen deutschen Ju- Identität, Stolz, Emanzipation, Bildung, Intellektualität und gendlichen die Salafisten peinlich. Ihnen ist unangenehm, Selbstbewusstsein. dass diese bizarren Figuren das Bild des Islam in der Öf- fentlichkeit so stark prägen. Dennoch erfahren Salafisten Allerdings können solche Suchbewegungen auch radikale Zuspruch unter vornehmlich männlichen Jugendlichen und Formen annehmen – zum Beispiel, wenn sich Jugendliche jungen Erwachsenen zwischen 15 und 35 Jahren. Diese und junge Erwachsene türkischer Herkunft ultranationa- finden hier, was viele von ihnen in ihrem Alltag vermissen: listischen Organisationen wie den »Grauen Wölfen« an- Anerkennung, Zugehörigkeit, Gemeinschaft und ein Gefühl schließen. Solche und ähnliche Formen von Selbstethni- von Stärke. All das gilt im Besonderen auch für die große sierung finden sich auch unter Jugendlichen libanesischer, Zahl der erst zum Islam konvertierten jungen Salafisten palästinensischer, bosnischer oder kurdischer Herkunft. Sie deutscher Herkunft, die den Salafismus in Deutschland stark sind nicht zuletzt Ausdruck des übersteigerten Bedürfnisses prägen und die vielfach brüchige und schwierige Biogra- nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Diese Bedürfnisse fien aufweisen. Und noch etwas spielt bei der Attraktivität stehen auch hinter einem weiteren aktuellen Trend: Jugend- des Salafismus für junge Menschen eine wichtige Rolle: die liche und junge Erwachsene, die sich dem Salafismus zuwen- Möglichkeit, gegen gefühlte und erfahrene Ohnmacht, Un- den. Diese islamistische Strömung richtet sich insbesondere gerechtigkeit und Diskriminierung protestieren und sich für an junge Muslime (migrantischer oder deutscher Herkunft), eine vermeintlich gerechte Sache einsetzen zu können. Denn verspricht ihnen den »wahren Islam« und spielt dabei ganz das ist ein Hauptbestandteil salafistischer Propaganda: be- bewusst auf der Klaviatur von Ausgrenzungs-, Diskriminie- stehende Diskriminierungen von Muslimen zuzuspitzen und rungs- und Entfremdungserfahrungen. Diese instrumenta- diese ideologisch zu instrumentalisieren. So suggeriert der lisieren sie zur Propaganda in eigener Sache, indem sie Kölner Pierre Vogel, der nächste »Holocaust« drohe den Mus- junge Muslime aufrufen, sich zusammenzuschließen und limen. Er schloss die Aufforderung an, die Muslime müssten von Nichtmuslimen fernzuhalten. Jugendlichen und jungen sich gegen eine ihnen feindlich gesinnte Umwelt in ihrem Erwachsenen wird hier eine Heimat angeboten. Etwa 4.000 Glauben eng zusammenschließen. junge Muslime zählt der Verfassungsschutz deutschlandweit zum Kreis der Salafisten. Einige hundert von ihnen gelten Deutlich wird daran auch, dass die Attraktion, die vom als militant und ein paar Dutzend als »Gefährder«, von Salafismus und seinen Predigern ausgeht, ganz von dieser denen Terroranschläge verübt werden könnten. Das mögen Welt ist: Orientierung, Gemeinschaft, Anerkennung, Überle- im Verhältnis zu den vier Millionen in Deutschland leben- genheit, Protest gegen Ungerechtigkeit sowie Provokation. den Muslimen verschwindend geringe Zahlen sein, dennoch Das sind allesamt Angebote, die typischen Bedürfnissen sollte man – neben der von ihnen im Einzelfall ausgehenden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen entsprechen. Für Sicherheitsgefährdung – ihren Einfluss nicht unterschätzen: manch einen Jugendlichen mag der Salafismus eine Attitüde Der Salafismus trägt stark zum negativen Image des Islam in maximaler Abgrenzung darstellen: Alle schauen auf mich, der Öffentlichkeit bei. Und: Auch der »moderate« Salafismus alle halten mich für gefährlich. Auf diese Weise erfahren 8 Politik & Unterricht • 3/4-2012
Einleitung sie das, wonach viele am meisten suchen: Aufmerksamkeit. zu thematisieren und sie auch muslimischen (ebenso wie Hinzu kommen der absolute Wahrheitsanspruch der Sala- nichtmuslimischen) Jugendlichen vor Augen zu führen, weil fisten sowie die extreme Abgrenzung von der pluralistischen sie dies vor Stereotypen, Vereinnahmungen und Ideologien oder – wie sie sagen – verkommenen, dekadenten und ma- kollektiver Identität schützen kann. terialistischen Welt, die anziehend wirken könnten. Mit dem Islam als Religion hat das kaum noch etwas zu tun. Ver- Anerkennung thematisch signalisieren: Gerade in der Schule gleichbare Motive sind es denn auch, die Jugendliche dazu ist es wichtig, die kulturelle und religiöse Vielfalt nicht nur führen können, sich rechtsextremen Milieus anzuschließen. stillschweigend hinzunehmen oder vorauszusetzen. Vielmehr können Anerkennung und Zugehörigkeit durchaus betont Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis und damit Signale an Jugendliche und ihre Eltern gesetzt Welche Schlüsse können aus diesen hier nur skizzierten werden. Denn Augenhöhe und Partnerschaft sind für diese Aspekten der unterschiedlichen Lebens- und Glaubens- im Alltag vielfach alles andere als selbstverständlich und welten von Muslimen und »muslimischer« Jugendkulturen werden in der Regel genau registriert und positiv aufgenom- in Deutschland für die Praxis von Pädagogik und politischer men. Die Möglichkeiten dazu sind zahlreich. So können in Bildung gezogen werden? Ziel muss es ja unter anderem den jeweiligen Fächern inhaltliche Akzente gesetzt werden, sein, Integration als wechselseitigen Prozess zu fördern, die deutlich machen, dass Religion, Kultur und Herkunft der Islamfeindlichkeit (bei Nichtmuslimen) zu begegnen und is- Jugendlichen integriert werden. Beispielsweise können die lamistischen Ideologien vorzubeugen. Im Folgenden sollen türkische Nationalgeschichte, der Israel/Palästinakonflikt anhand einer Zweiteilung in »Inhalte« (der pädagogischen oder die Migrationsgeschichte anhand der Biografien von Arbeit) und »Haltungen« (von Pädagogen) einige Aspekte Eltern und Großeltern thematisiert und Letztere auf diese kurz beschrieben werden. Zunächst zu den Inhalten: Weise gewürdigt werden. Die Anerkennung, die Personen und ihrer Geschichte gilt, ist die Voraussetzung dafür, sich gege- Die Vielfalt der Jugendlichen muslimischer Herkunft: Sie benenfalls kritisch mit ihren Positionen, Einstellungen und kommen aus Familien und Elternhäusern mit sehr unter- Lesarten dieser Geschichte auseinandersetzen zu können. schiedlichem sozialem Status, mit sehr unterschiedlichem Bildungshorizont und mit sehr unterschiedlichen Formen Lebenswelten der Jugendlichen einbeziehen: »Wie willst von Religiosität. Während die einen gar nicht religiös sind, du leben?« lautet eine Grundfrage, die Jugendlichen in ist die Religion für die anderen Bestandteil ihrer Identität vielerlei Kontexten dabei helfen kann, eigene Positionen und Herkunft. Wieder andere sind – gerade in der Migra- zu entwickeln. Dabei geht es weniger darum, spezifische tion – sehr religiös geworden. In vielen Familien spielen Inhalte zu vermitteln oder konkrete Lernziele zu verfol- die Migrationsgeschichte und die Traditionen aus den Her- gen. Wesentlicher ist es, so nachzufragen, dass die Jugend- kunftsgesellschaften eine wichtige Rolle – in anderen nicht. lichen sich eigene Gedanken machen können, es lernen, Die Lebenswelten der Jugendlichen mögen Besonderheiten die Perspektiven zu wechseln und miteinander ins Gespräch aufweisen, sie sind aber in vielerlei Hinsicht identisch mit kommen. Dieses Gespräch gelingt am besten, wenn es um denen ihrer nichtmuslimischen Altergenossen. Der Versuch, Alltagsfragen (z. B. Bestrafung von Handydiebstahl in der diese Vielfalt mit dem Etikett »Muslime« abzubilden, zielt Klasse) oder jugendkulturelle Phänomene geht – gerade ins Leere – im Gegenteil erscheint es sinnvoll, Diversität auch bei Themen wie Sexualität (»Kennt ihr jemanden, der »Wie willst du leben?« lautet eine Grundfrage, die Jugendlichen in vielerlei Kontexten dabei helfen kann, eigene Positionen zu entwickeln. Veit Mette Politik & Unterricht • 3/4-2012 9
Einleitung schwul ist?«), Religion und Kultur (»Wie würdet ihr eure Kinder erziehen?«). Im Idealfall lenken Pädagogen solche Gespräche und Erzählungen nicht, sondern moderieren sie. Kontroversen und Perspektivwechsel sollten dabei offenge- legt bzw. angeregt werden. Wenn es um Religion geht, können auch nichtmuslimische Pädagogen eine Werteorientierung herausarbeiten: Gerech- tigkeit, Barmherzigkeit, soziale Verantwortung, Toleranz oder Nächstenliebe sind Werte, die selbstverständlich auch im Islam zu Hause sind. Weil sie aber in der Vermittlung von Religion an Jugendliche gegenüber Ritualen (Beten, Fasten, Essensvorschriften usw.) oft vernachlässigt werden, sind sie auch den religiösen Jugendlichen meist weniger präsent als äußerliche Unterschiede – womit auch die Parallelen zu anderen Religionen oder Weltanschauungen aus dem Blick geraten. Ein nach vielen Erfahrungen zentraler Aspekt ist es dabei, Islam nicht mit Islamismus zu verwechseln. Wenn Jugendli- che sich ausdrücklich religiös äußern und eine »islamische« Veit Mette Identität betonen, mag das – zumal für »unreligiöse« Be- obachter – nach Segregation klingen und fundamentalistisch anmuten. Es kann aber auch der Ausdruck von »Integration« sein – dem Bedürfnis nämlich, mit den eigenen Beson- derheiten als zugehörig anerkannt zu werden. Beunruhigte Intervenieren sollten Schulen und Jugendeinrichtungen also Reaktionen können dann – auch wenn sie »gut gemeint« nicht wegen religiöser Bekundungen, sondern erst wenn sind – bei den Jugendlichen den Anschein erwecken, ihre diese mit Druck und Zwang vertreten und verbreitet werden, Religion sei ein Grund zur Besorgnis. Das kann dazu führen, etwa wenn Bekleidungsformen wie das Kopftuch, das Einhal- dass sie sich zurückziehen und abwenden. ten des Fastens oder des Gebets durch einzelne Jugendliche zur Norm erhoben werden und Andersdenkende abgewertet oder gar unter Druck gesetzt werden. Hier geht es dann aber weniger darum, abstrakt einen vermeintlichen »Islamismus« zu thematisieren (den Begriff sollte man in der Arbeit mit Jugendlichen in der Regel ganz vermeiden), sondern beson- nen zu reagieren und vielmehr Sachfragen konkret anzuspre- chen und darüber zu diskutieren. Wichtiger als Inhalte (und meist Voraussetzung dafür, diese überhaupt vermitteln zu können) sind die Haltungen von Multiplikatoren, für die Jugendliche – und gerade solche mit Migrationshintergrund – meist sehr sensibel sind. »Pädago- gisch fruchtbar ist nicht die pädagogische Absicht, sondern die pädagogische Haltung«, sagt Martin Buber. Und auch hier sind es letztlich allgemeine pädagogische »Weisheiten«, die lediglich auf die Arbeit mit Jugendlichen mit (hier »musli- mischem«) Migrationshintergrund zu übertragen sind: Viele Multiplikatoren sind, um mit Max Weber zu sprechen, »religiös unmusikalisch«. Das heißt, sie sind nicht nur selbst unreligiös, sondern vielfach können sie mit Religion und Re- ligiosität wenig anfangen und begegnen ihr mit Skepsis und einer aufklärerischen Attitüde. Gerade solche Jugendliche, denen ihre Religion und Kultur besonders wichtig erschei- nen, nehmen diese Haltung oft als Nichtanerkennung und Respektlosigkeit wahr und begeben sich ihrerseits in eine Abwehr- oder Verteidigungshaltung. Es entstehen »Kampf- Veit Mette beziehungen«, die pädagogisch unfruchtbar sind und ver- mieden werden sollten. Die Jugendlichen sollen nicht »ver- 10 Politik & Unterricht • 3/4-2012
Einleitung ändert«, sondern motiviert werden, sich eigene Gedanken zu gendlichen. Sie fühlen sich anerkannt und ernst genommen machen und eigene Positionen zu erarbeiten. Die grundsätz- und sind auf dieser Basis viel leichter bereit, auch einmal liche Anerkennung von Religion, Kultur und Herkunft kann die eigenen Überzeugungen infrage zu stellen. dabei ein sehr hilfreiches Signal sein und im Weiteren die Grundlage auch für kontroverse Diskussionen darstellen. Welches Religionsverständnis? Es gilt also, deutlich und offen zu zeigen, dass Islam und Hier kann sich auch die überholte Kontroverse zwischen Muslime in Deutschland selbstverständlich und vorbehaltlos akzeptierender und konfrontierender Jugendarbeit auflö- dazugehören. Insbesondere Jugendliche und junge Erwach- sen und zu einer »zugewandt-hinterfragenden« verbun- sene – gleich ob sie religiös sind oder nicht – sollten nicht den werden. Die einzelne Person und ihre Wahrnehmungen durch Vorhaltungen und Erwartungen in eine Verteidigungs- werden dabei respektiert und akzeptiert, ihre Meinungen, haltung und zur Selbstbehauptung gezwungen werden. In Argumente und Handlungen jedoch hinterfragt und gege- vielen Fällen führt das erst in die Isolierung und macht benenfalls konfrontiert: »Ich halte nichts von dem, was einige junge Menschen anfällig für Radikalisierungen. Zu Du sagst, aber es interessiert mich, wie Du darauf kommst dieser Offenheit gehört es auch, die Kompatibilität von (...).« (Baer/Weilnböck/Wiechmann: Jugendarbeit in der Islam, Demokratie und moderner Gesellschaft aufzuzeigen, politischen Bildung, in APuZ, 27/2010 S. 32). statt diese – wie etwa in Medien und Politik – ein ums andere Mal infrage zu stellen. Hilfreich ist es in diesem Zusammenhang, sich den Posi- tionen und Überzeugungen der Jugendlichen und jungen Zu sehr noch sind Öffentlichkeit und auch sehr viele Mus- Erwachsenen mit einer offenen und fragenden Haltung an- lime selbst von einem normativen Religionsverständnis zunähern: »Bindung kommt vor Bildung«. Anerkennung und geprägt, das sich auf Rituale sowie Gebote und Verbote Zugewandtheit werden dabei signalisiert, indem vorbehalt- und die Betonung von Besonderheiten konzentriert. Gerade losem und interessiertem Zuhören genügend Raum gelassen Jugendliche stützen sich in ihren alters- und biografie- wird, bevor man »Ja, aber ...« sagt. Und neben die Dialog- typischen Suchbewegungen stark auf solche »Äußerlich- tritt die Prozessorientierung: Viele Jugendliche müssen (und keiten« zur Selbstfindung und Abgrenzung. Stärker als wollen) traditionelle Elternhäuser, zu deren Erwartungen bisher sollte daher auch in Schule und Jugendarbeit eine (v. a. Orientierung an Werten und Normen der Gemeinschaft) Werte- und Lebensweltorientierung im Mittelpunkt von sie sich in der Regel sehr loyal verhalten, mit den Anfor- Religionsvermittlung im Unterricht (Ethik- oder Politik- derungen von Schule und Gesellschaft verbinden, die von unterricht) stehen. Auf diese Weise können alle Beteiligten ihnen Individualität und Eigenverantwortung fordern. Sie Islamfeindschaft entgegenwirken und eine als wechselsei- erbringen dabei tagtäglich große Integrationsleistungen, tigen Prozess verstandene Integration befördern. Das zeigen die häufig ungesehen und ungewürdigt bleiben. Hier gilt unsere Erfahrungen aus der Arbeit mit Jugendlichen musli- es, Jugendliche in ihrer Suche nach einem Platz »zwischen mischer Herkunft: Viele von ihnen stecken in einem Loyali- den Stühlen« zu unterstützen – und zwar, ohne diesen tätskonflikt, da ihnen sowohl in ihrer Community als auch Platz als defizitär zu betrachten. Vielmehr kann er einen seitens der Öffentlichkeit allzu häufig suggeriert wird, nur authentischen Ausdruck ihrer Biografie und ihrer Ressourcen eines sein zu können – islamisch und herkunftsbewusst oder darstellen, der nicht zuletzt Möglichkeiten und Chancen demokratisch und deutsch. Wird ihnen jedoch Anerkennung eröffnet. signalisiert und deutlich gemacht, dass sie sehr wohl beides sein können, sieht man manchmal förmlich, wie eine Last Anerkennung sollten dabei auch die Eltern finden. Diese von ihren Schultern fällt. stellen häufig hohe Bildungs- und Erfolgserwartungen an ihre Kinder, denen sie dabei vor dem Hintergrund ihrer eigenen Migrationsbiografie jedoch selbst nur wenig Un- terstützung bieten können. Die Schule soll es also richten. Diese wiederum setzt bei den Jugendlichen viel voraus – Voraussetzungen, die nur das Elternhaus erfüllen kann, womit viele Eltern aber überfordert sind. Dieser Widerspruch in den gegenseitigen Erwartungshaltungen von Eltern und Schule sollte Multiplikatoren bewusst sein – und sie sollten vor diesem Hintergrund um die Eltern werben. Eine »Aner- kennungskultur« in der Schule signalisiert: Wir sehen die Eltern als Partner und nicht als »Schuldige« für tatsächliche und vermeintliche »Defizite« ihrer Kinder. Selbst einmal die Perspektiven zu wechseln erleichtert es zum einen, die Bedeutung zu erkennen, die Familie, Religion und Herkunft für Jugendliche haben können (nicht müssen!). Zum anderen fördert eine Aussage wie »Aah, so habe ich das noch nie gesehen« erfahrungsgemäß die Offenheit der Ju- Politik & Unterricht • 3/4-2012 11
Baustein A Baustein a Hintergrundinformationen zur Fotocollage auf S. 27 DEutsCHlanD, DEinE MusliME muSlime in deutSchland Oben links: Ein Mann kniet in der Khadija-Moschee Deutschland ist ein Einwanderungsland – knapp sechzig Berlin beim Gebet (April 2012); oben rechts: Eine Jahre nach dem Abschluss der Anwerbeabkommen in den fußballbegeisterte junge Muslimin nimmt als Einlauf- 1950er Jahren hat sich diese Feststellung in der Öffentlich- kind am Bundesligaspiel 1. FC Kaiserslautern gegen keit langsam durchgesetzt. Aber was sagt dies aus über den FC St. Pauli teil (Dezember 2010); Mitte links: Die Platz der Muslime und des Islam in der Gesellschaft? Ist der junge Deutschtürkin und Berlinerin Melda Akbaş hat Islam ein Teil Deutschlands? An dieser Frage schieden sich ein Buch mit dem Titel »So wie ich will. Mein Leben in den vergangenen Jahren immer wieder die Geister. zwischen Moschee und Minirock« geschrieben; Mitte rechts: Ein Mitglied einer muslimischen Ortsgemeinde An den gesellschaftlichen Wirklichkeiten geht diese De- spricht während einer Demonstration von Muslimen in batte allerdings vorbei. Etwa vier Millionen religiöse wie Kiel im Februar 2006 gegen die Veröffentlichung der nichtreligiöse Muslime leben heute in Deutschland – und umstrittenen Mohammed-Karikaturen in der dänischen sie prägen diese Gesellschaft. Repräsentative Moscheen in Zeitung »Jyllands-Posten«; unten links: Muslimische Wohngegenden, muslimische Gräberfelder auf öffentlichen Kinder einer 5. Klasse nehmen am Islamkunde-Unter- Friedhöfen, als »halal« zertifizierte Produkte in Supermärk- richt der Freiherr-vom-Stein-Realschule in Bonn teil ten, Ramadan-Feiern in Kindergärten oder die Ernennung (Februar 2007); unten rechts: Eine Absolventin der eines muslimischen Wissenschaftlers in den Ethikrat – dies Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich- Wilhelm-Universität Bonn trägt bei ihrer Absolventen- feier ein Kopftuch unter ihrem Barett (Juli 2006). Lösungen zum Quiz auf S. 26: MusliME in DEutsCHlanD – Ein QuiZ sind nur einige wenige Beispiele dafür, wie Muslime die Frage 1: 3,8 bis 4,3 Millionen; Frage 2: drei Spie- deutsche Gesellschaft heute mitgestalten. Kurz gesagt: Das ler (Mesut Özil, Sami Khedira und Ilkay Gündogan); Gesicht Deutschlands hat sich verändert und Muslime haben Frage 3: Ende des Fastenmonats Ramadan; Frage 4: daran ihren Anteil. 78 Prozent; Frage 5: Im Jahr 1798 ließ König Friedrich Wilhelm III. für den verstorbenen Gesandten des Osma- Dennoch gibt es in der Öffentlichkeit weiterhin große Vor- nischen Reichs am Berliner Königshof, Ali Aziz Efendi, behalte dagegen, diese Realität anzuerkennen. In Umfragen ein Begräbnis nach islamischem Ritus ausrichten und äußern über 70 Prozent der Befragten Unbehagen über die stellte hierfür ein Gelände in der Tempelhofer Feldmark neue Sichtbarkeit des Islam im Alltag. Umso wichtiger ist zur Verfügung; Frage 6: »Halal« ist der arabische Be- es, über die Normalität dieser Entwicklungen zu informieren, griff für »erlaubt« oder »zulässig«. Als Ausdruck aus denn in vielen Fällen verläuft die Eingliederung des Islam der islamischen Rechtswissenschaft weist »halal« be- in die Gesellschaft ohne viel Aufhebens und ohne größere stimmte Verhaltensweisen, Speisen und Getränke als Konflikte. In Freundschaften, Nachbarschaften und im Ar- religiös zulässig aus. Demgegenüber steht der Begriff beitsleben spielt die Religion in der Regel keine Rolle. Aber »haram« für Verbotenes – wie etwa Schweinefleisch. Im natürlich gibt es auch Konflikte: im Schulalltag, in Kommu- Sprachgebrauch bezeichnet »haram« auch »unschick- nen, aber auch in grundsätzlichen Fragen, die die Verfassung liches Verhalten«. Mit den Nahrungsmittelgeboten und das Selbstverständnis der Gesellschaft berühren. Man gehen die meisten Muslime allerdings eher individuell denke nur an das Urteil eines Kölner Gerichtes über die um. Zudem weist auch die religiöse Rechtswissenschaft traditionelle islamische Beschneidung, das zuletzt wie kaum weitere Kategorien zwischen »Erlaubtem« und »Verbo- ein anderes Thema die öffentliche Meinung polarisierte. Das tenem« aus; Frage 7: 45 Prozent; Frage 8: Laut der Thema »Islam in Deutschland« gibt Anlass zu Diskussionen gemeinsam vom Bundesamt für Migration und Flücht- und als Lehrer kommt man kaum darum herum, sich auf diese linge sowie der Deutschen Islamkonferenz herausge- Diskussionen einzulassen. gebenen Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« aus dem Jahr 2009 leben 33,1 Prozent aller Muslime Die Materialien im Baustein A dieses Heftes liefern Hinter- in Deutschland in Nordrhein-Westfalen, 16,6 Prozent grundinformationen über Islam und Muslime in Deutschland in Baden-Württemberg und 13,2 Prozent in Bayern; und stellen einige Fragen vor, die damit in Verbindung Frage 9: Laut bundestag.de bekennen sich drei der 620 stehen. Bundestagsabgeordneten (Stand: Sommer 2012) zum Islam: Ekin Deligöz (Bündnis 90/Grüne), Serkan Tören (FDP) und Omid Nouripour (Bündnis 90/Grüne). Lösungswort: DEUTSCH UND MUSLIM 12 Politik & Unterricht • 3/4-2012
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