Grundrechtsschutz durch Legal Tech (Teil I) - Wie smarte Tools bei der Grundrechtsdurchsetzung helfen - Legal Revolution 2020

 
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Grundrechtsschutz durch Legal Tech (Teil I)
Wie smarte Tools bei der Grundrechtsdurchsetzung helfen

Davide Rauhe | Gründer | Jurikon
11. September 2020
LR 2020, Seiten 235 bis 240 (insgesamt 6 Seiten)

    Die digitale Transformation stellt das Recht im Allgemeinen und die Grundrechte im                 1
    Besonderen vor neue Herausforderungen. Freilich haben Neuerungen auch stets
    positive Seiten. So kann die Digitalisierung des Rechts auch dabei behilflich sein,
    effektiven Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Dies hat zuletzt die Entwicklung der
    Corona-Warn-App eindrücklich demonstriert, mit deren Hilfe das Leben und die
    körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG), aber auch andere Grundrechte wie
    etwa die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 GG) oder die Berufsfreiheit
    (Art. 12 I 1 GG) geschützt werden sollen. Im folgenden Beitrag soll ein Überblick über
    bereits vorhandene Möglichkeiten für die Durchsetzung von Grundrechten mithilfe von
    (Legal) Tech gegeben werden und dabei auch einige Akzente gesetzt werden, wie
    zukünftige Tools dabei helfen könnten, Grundrechte zu schützen bzw. zu stärken.

    Access to justice

    Das erste gängige Problem, bei dem Legal Tech im Allgemeinen, aber auch speziell im                2
    Grundrechtsbereich, helfen kann, wird unter dem Terminus „Access to justice“ – dem
    (fehlendem) Zugang zum Recht – zusammengefasst. Es wird geschätzt, dass bis zu 5
    Milliarden Menschen auf der Welt kaum oder gar keinen Zugang zu
    Rechtsdienstleistungen haben.1 Theoretisch existiert also ein riesiger Markt für Access-
    to-justice-Anwendungen. Access to justice wird insbesondere durch zwei Elemente
    bestimmt: Zum einen durch die (fehlende) Kenntnis vom Bestehen der eigenen Rechte.
    Verklausulierte Sprache und die schiere Menge an Rechten und Pflichten machen es
    insbesondere juristischen Laien schwer nachzuvollziehen, welche Rechte sie gegenüber
    dem Staat oder gegenüber Privaten haben. Indes stellt sich die zweite Problematik des
    „Access to justice“ in der Regel erst später: Wenn man bereits weiß, was für ein Recht
    man hat – wie setzt man es durch und was kostet es, Recht zu bekommen? Legal Tech
    kann hier bei beiden Elementen – auch gerade bezogen auf Grundrechte – Abhilfe
    schaffen.

1
    www.independent.co.uk/voices/world-justice-forum-legal-protection-universal-hague-a8890851.html.

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1. Kenntniserlangung durch (Legal) Tech

    War die Polizeikontrolle, die mir widerfuhr, rechtswidrig? Verstieß die Auflösung meiner               3
    Demonstration gegen meine Versammlungsfreiheit? Darf mein Chef mir verbieten, ein
    Kopftuch zu tragen? Alles Fragen, die Legal Tech mittelfristig für die meisten
    Rechtsuchenden schneller beantworten dürfte – zumindest für eine erste Einschätzung,
    um etwaige weitere rechtliche Schritte besser beurteilen zu können.

    Legal Tech-Unternehmen wie Bryter2 haben es beispielsweise geschafft, Geflüchteten in                  4
    der völlig überfüllten „Unterkunft“ Moria auf Lesbos in Griechenland dabei zu helfen,
    schneller Asyl zu beantragen und somit auch ihr Asylgrundrecht aus Art. 16a I GG
    durchzusetzen.3 Bryter bietet eine No-Code-Lösung an, mit der man
    Entscheidungsstrukturen automatisiert auf seinen Webseiten darstellen kann. Durch
    die virtuelle Abfrage eines Entscheidungsbaums basierend auf Bryter durch die NGO
    European Lawyers in Lesbos, die sich um die Asylanträge der Geflüchteten kümmert,
    konnte sie die einzelnen Fälle der Geflüchteten schneller und effizienter verarbeiten,
    was den gesamten Prozess beschleunigt und vereinfacht haben dürfte. Die
    Einsatzbereiche für Programme wie Bryter sind mannigfaltig und könnten etwa die
    Feststellung, ob man in seinen Grundrechten verletzt ist, in vielen verschiedenen
    Bereichen vorantreiben und das „Durchkämpfen“ von bürokratischen Prozessen
    erleichtern.4

    In den USA gibt es insbesondere für strafrechtliche und gefahrenabwehrrechtliche                       5
    Auseinandersetzungen mit der Polizei bereits eine dementsprechend zugeschnittene
    App namens Legal Swipe.5 In ihr werden die wichtigsten Fragen und Antworten zu
    Polizeikontrollen, Ingewahrsamnahmen und Ähnlichem beantwortet, sodass man sich
    selbst in der jeweiligen Situation entsprechend angemessen verhalten kann und – bis
    zu einem gewissen Grad – selbst beurteilen kann, ob der Beamte rechtens handelt.

    Aber auch einfache E-Learning-Plattformen und digitale Informationskampagnen6, die                     6
    so mehr Menschen schneller und einfacher erreichen können als analoge
    Informationswege, können das Wissen der Bevölkerung über ihre Rechte stärken.
    Beispielhaft sei hier Law Genius7 erwähnt. Diese Seite verwendet die Infrastruktur von
    genius.com, – einer Plattform, die eigentlich dafür bekannt ist, dass Nutzer über
    Musiktexte diskutieren können – um Gesetze u.Ä. von der Community besprechen zu
    lassen. Dies bietet die Möglichkeit, zum einen direkt über Sinn und Zweck von Gesetzen
    zu diskutieren, aber auch die Möglichkeit, sich den Sinn und Zweck der Gesetze

2
  www.bryter.io.
3
  www.bryter.io/success-stories/bryter-automation-on-lesvos/.
4
  Ähnliche Tools sind Visaright und Asylhelper, die allerdings auf ausgewählte Prozesse beschränkt sind.
5
  www.legalinnovationzone.ca/startup/legalswipe/.
6
  Z.B. die Kampagne des Bundesjustizministeriums: www.wir-sind-
rechtsstaat.de/WebS/WSR/DE/Home/home_node.html.
7
  www.genius.com/tags/law.

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gegenseitig zu erklären. Eine Art interaktiver Online-Kommentar, dessen Nutznießer
    allen voran juristische Laien sein dürften. Auch die Womenshumanrights-App8 informiert
    über bestehende Frauen-Rechte und bietet unter anderem hunderte Definitionen für
    frauenrechtliche Begriffe an. So können sich Frauen (und vor allem auch Männer) über
    den insbesondere international geltenden Frauenrechtsstandard informieren, was
    insbesondere für Frauen aus Ländern mit prekären frauenrechtlichen Situationen
    wichtig sein dürfte.

    Die UN-Human-Rights-App9 informiert hingegen über die aktuelle Menschenrechtslage          7
    in verschiedenen Regionen und trägt auch damit dazu bei, dass Menschen über
    Menschenrechte und ihre Durchsetzung gebildet werden. Im Hinblick auf solche
    Erklärungstools dürften in Zukunft auch gerade „Gamification“-Angebote an Beliebtheit
    gewinnen. Solche würden durch spielerische Nuancen wie z.B. ein Belohnungssystem,
    Ranglisten oder Animationen versuchen, dem Nutzer Spaß am Lernen zu ermöglichen.
    Vor allem Laien dürften selbst elementare Rechtsthemen wie Grundrechte als eher
    trocken empfinden – ein spielerischer Ansatz könnte hier die Bereitschaft, sich mit
    seinen Rechten zu befassen, steigern.

    Alle bisher genannten Tools setzen aber voraus, dass die jeweilige Person jedenfalls den   8
    schädigenden Sachverhalt kennt, ohne ihn ggf. rechtlich einordnen zu können – der Laie
    weiß zumeist, dass ihm etwas Schlechtes widerfahren ist, was seinem Verständnis nach
    nicht rechtens sein kann oder darf. Problematisch wird es, wenn man gar nicht weiß,
    dass seine Grundrechte verletzt werden – man weiß etwa schlicht nicht immer, welche
    Informationen über die eigene Person wo im Internet zu finden sind. Die
    niederländische Firma Web-IQ10 hat sich dem Ziel verschrieben, dieses Problem – in
    Teilen – zu lösen, indem es eine Technologie zur Verfügung stellt, die Kindesmissbrauch
    im Internet erkennen soll, d.h. Missbrauchsvideos beispielsweise im Dark Net ausfindig
    machen kann. Diese Technologie ermöglicht es etwa Ermittlungsbehörden, einfacher
    an Beweismittel zu kommen und so die Täter anzuklagen. Solche Programme könnten
    durchaus auch auf andere Bereiche ausgeweitet werden und eventuell auch
    Grundrechtsverletzungen, die sich nicht auf die sexuelle Selbstbestimmung
    beschränken, identifizieren. So könnte Software auch Urheberrechtsverletzungen i.S.d.
    Art. 14 GG vorzeitig erkennen. Insbesondere, wenn man sich auf die Ebene von sog.
    Upload-Filtern bewegt, bleibt hierfür aber die Voraussetzung einer vollumfänglichen
    Funktionalität, um Grundrechte anderer wie die Presse-, Kunst- und Meinungsfreiheit
    nicht unnötig zu beschränken.11 Es muss also sichergestellt sein, dass das Programm
    nicht fehleranfällig ist.

       2. Durchsetzung von Rechten durch (Legal)Tech

8
  www.womenshumanrights.ch/overview.html.
9
  www.ohchr.org/EN/AboutUs/Pages/MobileApp.aspx.
10
   www.web-iq.com.
11
   Zu solchen Filtertechnologien Müller-Terpitz, ZUM 2020, 365.

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Kennt man jedoch bereits seine Rechte, folgt bald darauf die Frage, wie man sein Recht     9
 durchsetzen kann. Im nicht-grundrechts-relevanten Bereich bietet ebenjene
 Problematik die (zurzeit) wohl meisten Anwendungsfälle für Legal Tech-Lösungen.
 Plattformen      wie     flighright.de12,    compensation2go13,        meinbafoeg.de14,
 daselterngeld.de15, lawio.de16, wenigermiete.de17 oder viele mehr bieten schnelle,
 kostengünstige Lösungen für Rechtsprobleme an, die vorher von Anwälten kaum gelöst
 worden sind, weil sie sich für letztere finanziell einfach nicht lohnten oder es für die
 Mandanten zu teuer war, einen Anwalt zu engagieren, um Ansprüche von einigen
 hunderten Euro geltend zu machen. Die Programme stellen durch Abfrage von
 bestimmten Informationen fest, ob ein Anspruch besteht. Falls dem so ist, tritt der
 Kunde den Anspruch an die Plattform ab, die ihn dann (gerichtlich) für ihn durchsetzt.
 Der Kunde erhält dann entweder einen Anteil des durch die Plattform erzielten Erlöses
 oder sogar eine sofortige Kompensation.

 Im grundrechtlichen Bereich hingegen existiert für dieses Problem keine vergleichbar       10
 große Anzahl von Anbietern, die entsprechende Lösungen anbieten. Freilich gibt es aber
 auch hier schon einige Anwendungen, die bei der effektiven Durchsetzung und dem
 Schutz von Grundrechten behilflich sein können. So verspricht die Plattform
 dickstinction.com18 – wie der verheißungsvolle Name bereits andeutet – schneller
 Strafanzeigen gegen unerwünscht geschickte Fotos der (meist männlichen)
 Geschlechtsteile stellen zu können. Eine Methode, die in der Regel ungeahndet bleibt,
 auch weil Betroffene ein Vorgehen für aussichtslos hielten. Plattformen wie
 Eviscreen.com19 können im Zusammenspiel dabei helfen, die in solchen Fällen als
 Beweismittel relevanten Screenshots auch rechtssicher aufzunehmen – eviscreen lässt
 den Nutzer fälschungssichere Screenshots aufnehmen, so dass einer Nutzung im
 Prozess nichts im Wege stehen dürfte. Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung
 können mithilfe dieser Tools also schneller, anonym und unkomplizierter entgegnet
 werden. Ein Angebot mit einem anderen Fokus – aber mit ähnlichem Konzept – ist dabei
 die App eyeWitness,20 die einen Dienst anbietet, mit dem Bilder von Kriegs- und
 Menschenrechtsverletzungen gemacht werden können, die auch vor Gericht als
 Beweismittel genutzt werden können – dies wird berwerkstelligt durch die gleichzeitige
 Erhebung des Standorts durch GPS, des Standorts von Objekten in der Nähe wie Wi-Fi-

12
   www.flightright.de.
13
   www.compensation2go.com.
14
   www.meinbafoeg.de.
15
   www.daselterngeld.de.
16
   www.lawio.de.
17
   www.wenigermiete.de.
18
   www.dickstinction.com.
19
   www.eviscreen.com/#about.
20
   www.eyewitness.global.

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Netzwerke und Funktürme sowie der Uhrzeit plus Datum beim Schießen des Fotos,
 sodass eine Zuordnung zweifelsfrei festgestellt werden kann.21

 Eine Möglichkeit, mittelbar auf die Durchsetzung von Grundrechten hinzuwirken, sind                 11
 hingegen Seiten wie abgeordnetenwatch.de22 und change.org.23 Durch direkte Einwirkung
 auf Abgeordnete der Bundes- und Landesparlamente kann auf die Legislative
 eingewirkt werden, Grundrechte ausreichend zu berücksichtigen - und dies sogar, bevor
 der Staat überhaupt gehandelt hat. Wenn ein Gesetzesentwurf unverhältnismäßige
 Eingriffe in Grundrechte vorsieht, gibt es in der Regel keinen prozessualen Rechtsschutz
 dagegen (ein Eingriff liegt in der Regel auch schon nicht vor). Ein präventiver Schutz
 durch das Einreichen von Petitionen und direkten Fragen an den zuständigen
 Abgeordneten via Mail können hier aber schnell und einfach Abhilfe schaffen. Dies
 befördert eine moderne            Art der       Auseinandersetzung mit politischen
 Führungspersonen. Seiten wie cashew.one ermöglichen es dabei, den Überblick über
 den legislatorischen Prozess zu behalten: Cashew24 ist eine Seite, in der nahezu alle
 öffentlichen Dokumente des Bundes und der Länder visuell ansprechend abrufbar sind
 und mit deren Hilfe man durch Abonnements auf Basis von Parteien, einzelnen
 Politikern oder Fraktionen immer die aktuellen Diskussionen verfolgen kann; auch
 solche Tools tragen zur Mitwirkung der Bürger am politischen Prozess bei.

 Vorstellbar wäre auch eine Art „Paypal-Käuferschutz“ für Grundrechte in den sozialen                12
 Netzwerken. Die großen Plattformen müssten automatisiert entscheiden: im Zweifel für
 das verletzte Grundrecht, bis geprüft wird, ob das verletzte Grundrecht nicht zurück zu
 stehen hat (im Falle PayPals muss der Verkäufer beispielsweise beweisen, dass er die
 Ware tatsächlich abgeschickt hat). Die Rolle des „Verkäufers“ würden hierbei oftmals die
 Plattformen selbst einnehmen, in anderen Fällen aber auch Dritte. Insbesondere im
 Bereich von Hate Speech sicherlich eine angenehmere Lösung, als darauf zu warten,
 dass im Zweifelsfall erst nach mehreren Tagen eine Antwort der Redaktion kommt – im
 Internet fast schon eine Ewigkeit. Das Problem hierbei erscheint in Gestalt der
 Grundrechte, auf die sich der Dritte eventuell selbst berufen kann (Beispielsweise beruft
 sich der eine Teil bei einem Post auf seine Meinungsfreiheit und der Dritte auf das Recht
 der Achtung seiner Ehre als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts). Der Ansatz „im
 Zweifel für das verletzte Grundrecht“ könnte gegebenenfalls für den Dritten eine
 Einschränkung in seinen eigenen Grundrechten bedeuten. Dadurch würde ein Wettlauf
 der Grundrechtsinhaber drohen: wer zuerst den Grundrechtsschutz beansprucht, hat –
 jedenfalls bis zum Beweis der Gegenansicht – die Möglichkeit sein Grundrecht effektiv
 durchzusetzen, während der Dritte jedenfalls temporär in seinem Grundrecht verletzt
 wäre. Ein solches System könnte somit allenfalls in eindeutigen Fällen schnelle Abhilfe

21
   In vergangenen Genozid-Prozessen kam anscheinend das Problem auf etwaige Beweismittel nicht
zweifelsfrei zu der richtigen Zeit und dem richtigen Ort zuordnen zu können, was eine Verurteilung
Beschuldigter verhinderte, mehr dazu unter www.eyewitness.global.
22
   www.abgeordnetenwatch.de.
23
   www.change.org.
24
   www.cashew.one/.

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schaffen, sollte aber mit äußerster Vorsicht benutzt werden, um den Grundrechtsschutz
nicht ad absurdum zu führen, wenn der Schutz gleichzeitig zum ungerechtfertigten
Eingriff führt. Auch müsste darauf geachtet werden, Ungleichheiten und Vorurteile nicht
in den Algorithmus einzubauen, sodass Aussagen von bestimmten gesellschaftlichen
Gruppen nicht automatisch schneller gelöscht werden würden, als die von anderen.

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