Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz

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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
Swing is the Thing! - Mitteilungsblatt aus Leipzig für Freunde swingender Musik in aller Welt

                                                                            Günter Kiesant
 JFSG | Nummer 33 | März 2021

                                                                            J o s e p h i n e B a ke r
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                                                                            Charles Mingus
                                www.jazzfan24.de/FJS

                                                                            D u ke E l l i n g t o n
 EST. 2013

                                                                            … and all that JAZZ
JUST FOR SWING GAZETTE | März 2021                                                                       1
Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
IST DAS JAZZ ODER KANN DAS AUS:

              Günter      Kiesant—Schlagzeuger in Ost und West (1)                         Seite 04
              Bill   Ramsey—zum 90. Geburtstag                                             Seite 10
              Charleston        in the Netherlands 1924-1929                               Seite 13
              Memories         dank Fundstücken (5)                                        Seite 15
              Jazz    in Hannover—Gerhard Evertz (1)                                       Seite 16
              Jazz    in Rostock der fünfziger Jahre                                       Seite 20
              Titel   und ihre Geheimnisse (19)                                            Seite 21
              Josephine        Baker—eine neue Biografie                                   Seite 22
              Ich    war Buddy Boldens Band Boy                                            Seite 24
              Desert      Island Discs (5)                                                 Seite 28
              Mit    Volldampf zur Performance                                             Seite 30
              Charles      Mingus in Bremen 1964 und 1975                                  Seite 32
              Ist   das Jazz oder kann das AUS?                                            Seite 34
              The     Rufus Temple Orchestra                                               Seite 37
              Historically          Listening—Duke Ellington                               Seite 38
              Contemporary             Listening—Peter Fulda                               Seite 39
              Bücher,      Bücher, Bücher                                                  Seite 40
              Call    & Response unter Freunden                                            Seite 42

Jazz ist, wenn man alles selber machen muss!
                                                      Der Herausgeber

                                        TITELBILD:
                                        Günter Kiesant in der Leipziger Oper,
                                        Jazztage 1996,
                                        Archiv Thomas Moritz, LeipJAZZig
                                        Fotos: © by Thomas Camphausen
                                        links: v.l.n.r. Ecki Gleim, Thomas Moritz, Günter
                                        Kiesant, Michael Arnold, ?, Henry Walther.
                                        rechts: das Jackett war dann doch zu viel…

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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
Die Welt steht Kopf! Liebe Jazzfreunde,               Swingjahre jung, ebenso Günter Kiesant
                                                      im darauffolgenden.
Als ich Fotos für die Ausgabe suchte, fiel
mir die Kunst-Installation mit Ampeln in              Siegfried Schmidt-Joos erklärt, warurm
die Hände. Sie ersetzt ausnahmsweise das              Bill Ramsey kein Schlagerclown war, wie
herkömmliche Editorial-Foto. (Das sag ich             das häufig lanciert wurde. Das abgedruckte
nur, weil der Mensch bekanntlich Verände-             Nachwort für die erste Bill Ramsey-
rungen nicht mag.) Meine Tochter hatte                Biografie hat er in Stein gemeißelt und
Anfang des Jahrtausends dieses Foto in                wird vorab und exklusiv in der Gazette
London gemacht, bevor sie in Ray‘s Jazz               veröffentlicht. (Die Beiden haben übrigens
Cafe in der Charing Cross Road für ihren              am selben Tag Geburtstag und rufen sich
alten Herrn die neuesten Jazzplatten und –            dann immer an. Das nur so als feuilletonis-
bücher als Dank dafür kaufen musste, weil             tischen Tratsch eingestreut) Zurück zum
ich kurz vor Abflug in Leipzig ihr noch den           Buch über Bill Ramsey. Weil Sigi so schön
vergessenen Pass mit Blaulicht zum Flugha-            über Bill im Nachwort schreibt, heißt das
fen bringen musste. Ich finde das Foto                nicht, dass man das Buch nun nicht kaufen
symptomatisch für unsere Gegenwart. Kei-              braucht. Im Gegenteil: Biografien lesen
ner weiß, wohin die Reise in naher Zukunft            sich stets mit Gewinn. Das gilt auch für
gehen wird. „Rückkehr zur Normalität“ ist             eine weitere Neuerscheinung über die Sän-
eine Floskel, die häufig verwendet wird.              gerin und Entertainerin Josephine Baker.
Nur: Was ist Normalität? Das „Höher,                  Diese Biografie stellt richtig, was woan-
Schneller, Weiter“ einer Wirtschaftspolitik,          ders über die Diva geschrieben ein wenig
die sich für Klimaschutz nur interessiert,            an der Wahrheit vorbeirauschte.
wenn sich damit Geld verdienen lässt und              Ein Jazzfreund, der sich lebenslänglich für
für Musik höchstens für Werbespots der                diese Musik engagiert, kann jedoch lange                E D I TO R I A L
Autoindustrie? Der neuseeländische Jazz-              warten, dass jemand vorbeikommt und
Pianist Mike Nock schrieb in seiner Auto-             fragt, ob er mal eine Biografie schreiben
biografie, dass unsere Welt besser aussähe,           darf. Das muss der schon selber machen.
wenn der Kultur so viel Geld wie dem Sport            Während für Politiker gilt: „Zwischen dem            geringer Beachtung seitens der Politik dafür
zur Verfügung stehen würde. Die Erkennt-              Reden und dem Handeln liegt bekanntlich              stark machen. (Die Arbeit von medizini-
nis ist nicht neu. Wir müssen sie uns nur             das Meer“, hat Gerhard Evertz aus Hanno-             schem Personal kann man sowieso nicht
immer mal wieder ins Gedächtnis rufen.                ver viel für den Jazz in seiner Heimatstadt          hoch genug würdigen!)
Die Beschäftigung mit Musik bewirkt ein               getan und darf darüber gemäß „Tu Gutes               Besonders bedanke ich mich für zahlreiche
erfülltes Leben. Das zeigen Beiträge über             und rede darüber“ auch schreiben. Das hat            und teils großzügige Spenden, die unsere
Musiker und von Musikliebhabern in der                er schon oft getan, wie über die Leipziger           finanzielle Basis für Druck– und Versand-
ersten Ausgabe des Jahres. Es ist überfällig,         Jazzpianistin Jutta Hipp, aber nicht über            kosten festigen. Es tut gut zu wissen, dass es
einen Musiker zu Wort kommen zu lassen,               sich selbst. In den nächsten Gazetten tut er         Gleichgesinnte wie Euch gibt, denen unsere
dessen Leben die Jazz-Geschichte beider               das. Und das ist richtig so!                         Arbeit etwas bedeutet!
deutscher Staaten tangiert und der in diver-          Übrigens Siegfried Schmidt-Joos hat auch             Danke! Спасибо, Thanks, Merci, Gracias!
sen Publikationen konsequent übersehen                wieder ein Buch geschrieben. Es trägt den
wird. Mit dem Schlagzeuger Günter                                                                          Jetzt will ich Euch nicht länger von der
                                                      schönen Titel „Es muss nicht immer Free              Arbeit abhalten. Die erste Aufgabe heißt
„Emmes“ Kiesant habe ich mehrere Telefo-              Jazz sein“. Steht in der Gazette! Suchen!
nate geführt und über seine Musikerlebnisse                                                                „Zwei Jazzer im Gespräch“ und steht auf
                                                      Und da eine Musikzeitschrift ohne Musik              Seite 26. Ihr habt bis zum 30. April 2021
gesprochen. Oral-History im besten Sinne              nur eine Zeitschrift ist, gibt es noch mehr
der Geschichtsschreibung! Ich hoffe, das                                                                   Zeit für witzige Kommentare :-)
                                                      Interessantes zur Frage „Ist das Jazz oder
Ergebnis liest sich so gut, wie Emmes er-             kann das AUS?“ zu lesen. Und da ein Le-              Viel Vergnügen wieder mit der Jazztüre!
zählen kann, weil: Die Unterbrechungen                ser aus Frankfurt/ Main kürzlich am Tele-            Bleibt gesund und lasst von euch hören!
durch lautes Lachen sind im Text nicht ent-           fon schwor, die Gazette wäre das einzige             Keep swingin‘ & singin‘
halten. Als er die Namen auf dem Titelblatt           Jazz-Magazin, das er von Anfang bis Ende
sah, erinnerte er sich, dass er in den Fünfzi-                                                             Detlef A. Ott
                                                      liest, brauch ich jetzt nicht alles auflisten,
gern einen jungen Sänger, der als amerika-            was Ihr sowieso lesen werdet, wie ich an-
nischer GI in D-Land stationiert war, maß-            nehmen darf.
voll swingend begleitet hatte. Emmes war
da der Schlagzeuger aus dem Osten im Mi-              Da will ich an dieser Stelle wenigstens
chael Naura Quartett aus‘m Westen. Und                noch all jenen meine Wertschätzung aus-
der Sänger war...? Richtig, Bill Ramsey.              sprechen, die sich trotz allgemeiner Kultur-
Bill wird am 17. April dieses Jahres 90               stille weiterhin für die Wahrnehmung von
                                                      Kunst und Musik einsetzen und sich trotz
                                                                                                           Gefunden im Schaufenster der Connewitzer Ver-
 IMPRESSUM                                                                                                 lagsbuchhandlung in der Leipziger Innenstadt.
 JUST FOR SWING ist eine Non-Profit Organisation zur Verbreitung des Swing-Virus
 Redaktion: Detlef A. Ott (Herausgeber) | c/o JFSG | Karl-Rothe-Straße 1 | 04105 Leipzig | Germany
 Mitarbeit an dieser Ausgabe: Bodo Buchholz, Karl–Heinz Böhm, Christine Brigl, Dr. Thomas Brückner, Thomas Camphausen, Peter J.
 Colev, Gerhard Evertz, Günter Kiesant, Gerhard Klußmeier, Kerstin Ott, Hendrik Ott-Loffhagen, Thomas Moritz, Klaus D. Pott, Freddy
 Schauwecker, Dr. Thomas Schinköth, Siegfried Schmidt-Joos, Klaus Schneider
 T: +49 (0)341 5 61 43 62 | E: Detlef.Ott@kabelmail.de | W: www.jazzfan24.de/JFS/ (kostenloser Download)
 Die Gazette erscheint vierteljährlich Anfang März, Juni, September, Dezember und wird durch ehrenamtliche Mitarbeiter gestaltet. Für unaufgefordert einge-
 sandtes Material besteht keine Rückgabepflicht. Alle Beiträge sowie das Bildmaterial sind urheberrechtlich geschützt. Namentlich gekennzeichnete Beiträge
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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
LEIPZIGER JAZZGESCHICHTE(N)
G ü n t e r K i e s a n t Te i l 1 : D i e f r ü h e n J a h r e
               Im Westen hieß er Eminenz Roberts, im Osten Günter Kiesant.

  S
           eine Geschichte ist die des Jazz beider deutscher          Der Verein Leipziger Jazzmusiker LeipJazzig ernannte ihn zu
           Staaten. Der Schlagzeuger Kiesant ist nicht nur in der     Recht zum Ehrenmitglied. 2022 feiert Günter Kiesant seinen
           Leipziger Jazzszene eine Hausnummer. Spricht man           90. Geburtstag. Anlass genug, um mit ihm ein wenig über
           mit hiesigen Jazzmusikern, dauert es nicht lange, da       dessen Leben zu sprechen und darüber, was ihn am meisten
  fällt sein Name. Selbst der Amerikaner Adam Nussbaum                geprägt hat. Der gebürtige Potsdamer wohnt heute in Berlin-
  spricht mit Hochachtung über ihn, seitdem sich beide                Charlottenburg. Was der Jazzgitarrist Thomas Buhé (1920-
  Schlagzeuger während eines Workshops 1983 in Rothenburg             2015) für die ostdeutsche Szene war, kann man ohne lange
  kennenlernten. Nussbaum war von Kiesant so beeindruckt,             nachzudenken dem Schlagzeuger Günter Kiesant zugestehen.
  dass er dessen Namen immer dann im Munde führte, wenn es            Beide Lebensläufe weisen gewisse Parallelen auf. Auch
  in einem Gespräch um Schlagzeuger hinter dem Eisernen               Kiesant pendelte wie Thomas Buhé als Musiker in den
  Vorhang ging. Bis heute stehen beide im Kontakt.                    fünfziger Jahren zwischen Ost und West. Beide blieben der
                                                                      ostdeutschen Szene verbunden und übten langjährige
  Das digitale Gedächtnis der Menschheit Wikipedia vermerkt:          Lehrtätigkeiten aus, Kiesant an der Hochschule in Leipzig,
  „Er gilt als Nestor des ostdeutschen Jazzdrummings.“ Der            Buhe an der Musikhochschule in Weimar. Beide verfassten
  Journalist Hans Hielscher überschrieb einen Beitrag im              Standardwerke zur Musik, Kiesant zum Schlagzeugspiel,
  Spiegel vom 24. 11. 1997 mit „Günter Kiesant - Ein Name für         Buhé zur Plektrumgitarre. Günter „Emmes“ Kiesant hat nach
  den Osten, ein anderer für den Westen - der Jazzer machte in        einer langen Karriere das Schlagzeugspiel vor fünf Jahren aus
  beiden Teilen Deutschlands Karriere und gilt noch heute als         gesundheitlichen Gründen aufgegeben.
  Eminenz.“ und nannte ihn einen „Phantom-Schlagzeuger“ der
  deutschen Jazzgeschichte. Im Jazz Podium gab es in all den          Ich habe mit Emmes im November und Dezember 2020
  Jahren nur einen einzigen Beitrag über ihn (April 2012).            mehrere längere Telefonat geführt. Dabei wurde mir schnell
  Kiesant hat Spuren in der hiesigen Jazzlandschaft hinterlassen.     klar, dass am Ende der Leitung jemand saß, der bis an den
  Wer „Emmes“, wie er von seinen Freunden liebevoll genannt           Rand mit Jazzgeschichte(n) gefüllt ist und stundenlang über
  wird, je live erlebt hat, wurde immer Zeuge einer Sternstunde       seine Erfahrungen als Jazzmusiker mit Euphorie und viel
  des Schlagzeugspiels. Bescheiden und verschmitzt lächelnd           Witz reden kann. Ein Traum für jeden Interviewer! Am
  war er der Ruhepol der Band. Stilistisch vielfältig galt er nicht   Schluss unseres Gesprächs hatte ich Stoff für ein Buch und es
  nur als ein sicherer Time-Keeper, sondern als kreativer Solist      blieben immer noch Fragen offen.
  und guter Zuhörer seiner Mitmusiker, der auf jede Wendung
  des musikalischen Geschehens eine angemessene Reaktion
  zeigen konnte, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

  „AUCH EIN SCHLAGZEUGER MUSS NOTEN
  LESEN KÖNNEN.“
  Als ich den Beitrag im Jazz Podium erwähnte, in dem Gerhard
  Conrad ein dichtes Porträt des Lebenswegs von Günter
  Kiesant entwarf und sein Schlagzeugspiel anhand
  verschiedener Aufnahmen detailliert analysierte, meinte
  Kiesant, dass er zu viel Lobhudelei nicht mag und dass es in
  diesem Beitrag auch Aussagen gäbe, die ihm nicht gefallen
  haben, wie die Feststellung, dass er auch Noten lesen könne.
  Kiesant: „Unter anderem schrieb Gerhard, dass ich als
  Schlagzeuger auch Noten lesen könne. Für mich ist das doch
  überhaupt die Voraussetzung, um in einer Big Band zu
  spielen! Andere wie die großen Stars Buddy Rich, Charlie
  Antolini oder Daniel Humair, die bekanntlich keine guten
  Notenleser waren, mussten sich die Arrangements merken.
  Der Trompeter John McNeil, der bei Buddy Rich gespielt
  hatte, erzählte mir über Rich folgende Geschichte. Weil der
  schlechte Notenkenntnisse hatte, ließ er sich die einzelnen
  Titel von Studenten vorspielen, die bessere Notenleser waren.
  Das hat er sich eingeprägt und konnte noch das ein oder
  andere hinzufügen. Als ich McNeil gegenüber erwähnte, dass
  ich Rich immer sehr bewundert habe, meinte er, dass er ein
  Akrobat gewesen sei und dass er bessere Drummer
  kennengelernt habe. Rich soll sehr eitel gewesen sein. Wenn
  er ein Schlagzeugsolo hatte, mussten alle zu ihm aufmerksam
  hingucken. Wenn das einer nicht machte, den hat er gleich
  rausgeschmissen.“                                                            Günter Kiesant während einer Probe für eine
  Das Gerücht, dass Kiesant keine Noten lesen könne, habe der                  Fernsehsendung im „Haus zur heiteren Muse“
  Schlagzeuger Fips Fleischer in die Welt gesetzt, als Kiesant                 in Leipzig 1977
  zu Kurt Henkels nach Leipzig kam.
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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
Präsentation der Biografie über Kurt Henkels auf der Leipziger Buchmesse
Günter Kiesant am Schlagzeug in der Henkels Band 1958 im           März 2011. v.l.n.r.: Rolf Kühn, Marion Schröder (Tochter von Henkels), Dr.
Berliner Jahn-Stadion vor tausenden begeisterten Zuhörern.         Heinemann vom Olms Verlag, Walter Eichenberg (sitzend), Günter
                                                                   Kiesant, Gerhard Conrad (Autor des Buches)

Kiesant: „Ein Dresdner Musikredakteur, der mich vom Harry           Kiesant: „Walter Eichenberg erzählte mir später mal, dass
Seeger Quintett1 her kannte, sagte mal zu mir, wenn der Fips       Henkels ihn zweifelnd gefragt habe, ob ich wirklich der
Fleischer von Kurt Henkels weggehen sollte, wäre ich der           richtige wäre, weil ich nicht so wie Fleischer agierte. Da
richtige Mann am Schlagzeug in dessen Orchester. Ich war           sagte Walter zu Henkels: 'Wer denn sonst, Herr Henkels? Ein
davon nicht überzeugt. aber eines Tages rief er mich               Showman hatten wir! Jetzt brauchen wir mal einen richtigen
tatsächlich an und teilte mir mit, dass Fleischer gekündigt        Schlagzeuger.'“
habe. Er hatte meinen Namen Henkels gegenüber erwähnt,             Walter Eichenberg übernahm das Orchester von Henkels am
nachdem dieser einige Drummer ausprobiert hatte und                1. 1. 1961, nachdem Henkels 1959 über West-Berlin die
unzufrieden war. Da fuhr ich nach Leipzig und traf auf dem         Flucht aus der DDR ergriffen hatte und Kneifel für kurze Zeit
Weg ins Orchesterbüro zufällig Fips Fleischer wieder. Ich          die Band leitete. Er blieb 28 Jahre dessen Leiter. Kiesant war
hatte ihn zwei Jahre zuvor 1954 kennengelernt, als ich mit der     schließlich dem Orchester 35 Jahre lang bis zum bitteren
West-Berliner Bigband von Lubo D'Orio als Vertreter in             Ende verbunden. Die letzten Jahre leitete es der heute
Ostberlin spielte. Wir traten im Jahn-Stadion mit dem              85jährige Eberhard Weise, bevor es dann im Sommer 1992
Trompeter Macky Kasper2, Fips Fleischer als Sänger und der         abgewickelt wurde. Auch wenn Kiesant hier mehr Tanzmusik
Sängerin Sonja Siewert auf. Fips bewunderte mein                   spielen musste, fand er oft Gelegenheit, Jazz zu spielen. Den
Schlagzeugspiel, weil ich im Gegensatz zu ihm, der bei             Swing-Virus hatte er sich schon von frühester Kindheit
manchem Titel immer nur die kleine Trommel verwendete,             eingefangen.
das ganze Schlagzeug nutzte. Als wir uns nun zwei Jahre
später wieder trafen, breitet er theatralisch die Arme aus und     BEGEISTERUNG FÜR SWINGMUSIK
ruft: 'Günter! Lubo D'Orio in Leipzig!'. Ich sagte: 'Nein, ich     Günter Kiesant wurde am 8. März 1932 in Potsdam geboren,
komme zum Vorspielen her, weil Du gekündigt hast'. Da              in einer Zeit, in der Kinder schnell erwachsen wurden. Er
wollte mich Fleischer gleich abwerben und erzählte mir, dass       wuchs in einem Elternhaus auf, wo Musik eine große Rolle
er eine Jazz Big Band gründen wolle und dass er schon              spielte. Sein Onkel war Stabsmusikmeister in Potsdam. Sein
verschiedene Leute aus Prag von Karel Vlach habe. Er wollte        Vater hatte schon zu Stummfilmzeiten in Potsdam ein
mir unbedingt abraten, zu Henkels zu gehen.                        Orchester. Während des 2. Weltkrieges war er Musiker im
Als Schlagzeuger war noch der Erich Röhner von der Alo             Infanterieregiment „Graf von Neuen“. Wenn er abends
Koll Big Band von Fips Fleischer vorgesehen, während               nachhause kam, hörte er heimlich BBC.
Walter Eichenberg und das Orchester mich wollten. Walter           Kiesant: „Den Sender habe ich mir gemerkt. Wenn ich aus
schlug vor, dass wir die gleichen Titel spielen sollten, um eine   der Schule kam, habe ich den auf Kurzwelle gesucht und
Entscheidung herbeizuführen. Da trommelte ich also in              hörte Swingmusik von Charlie Barnet, Jimmy und Tommy
zweieinhalb Stunden 25 Stücke aus der Notenmappe und               Dorsey, Duke Ellington und Count Basie. Da war ich 11
erfuhr später, dass ich den Job bekommen hätte. Ich trat           Jahre.“
meine Stelle als Schlagzeuger bei Henkels zum 1. April 1957
an, sollte aber schon eine Woche vorher auf Honorarbasis3          Auf Wunsch des Vaters erlernte er zunächst die Violine, weil
spielen. Von den Kollegen erfuhr ich später, dass Fips             der Piano spielende Vater sich in Günter einen späteren
Fleischer über mich nicht gut sprach und dass er nach dem          Begleiter erhoffte.
Vorspiel Zweifel unter den Kollegen streuen wollte: 'Was           Kiesant: „Mein Vater arbeitete damals am Volkstheater
wollt ihr denn mit dem aus Berlin? Der kann doch gar keine         Potsdam, wo er auch nach dem Krieg als Dirigent eingesetzt
Noten lesen'. Seine Kollegen waren empört, weil ich gerade         wurde. Mein Lehrer war einer der Geiger im Orchester
zwei Stunden vom Blatt gespielt hatte. Auch später erzählte        meines Vaters und kam aus Chemnitz. Er fragte mich immer
Fips Fleischer viele Anekdoten, die nicht stimmten, aber in        vor dem Unterricht in seinem sächsischen Dialekt: 'Na, mei
seinem Buch erwähnt werden.“                                       Gienter, was hammer denn heute?' Ich habe ihm dann die
Freunde wurden Fleischer und Kiesant nicht. Fleischer spürte       Etüden mehr schlecht als recht vorgespielt, worauf er mich
intuitiv, dass er Kiesant nicht das Wasser reichen konnte. Er      mal fragte: 'Wie ofd iebste denn? Was machsde denn, wenn
war eben mehr ein Showman und kaschierte dadurch sein              Du nach Hause gommsd?' Da habe ich ihm geantwortet, dass
mittelmäßiges Schlagzeugspiel. Henkels gefiel das durchaus,        ich dann die Geige in die Ecke stelle und erst wieder
dass Fleischer auch ein bisschen Show machte. Aber andere          hervorhole, wenn ich zu ihm kommen würde. Irgendwann hat
Musiker legten da keinen Wert drauf.                               er meinem Vater gesagt, dass die Geige wohl nicht das

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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
richtige Instrument für mich wäre, eher Trompete oder            angetan und fragte mich, ob ich nicht Zeit hätte und bei ihm
Schlagzeug.“                                                     spielen könne. Bei meinem Vater sprang dann für mich ein
Als Kiesant zum Jungvolk musste und bald von den                 Amateur ein und ich war von November 1952 bis Mai 1953
Geländespielen und Prügeleien dort angewidert war, gab ihm       bei Schneider.“5
sein Vater den Rat, sich zum Fanfarenzug zu melden. Ein          WIE AUS GÜNTER KIESANT ERST„TOM ROBERTS“
älterer Schüler, der mit 14 Jahren der Hitlerjugend beitreten    UND DANN „EMINENZ“ WURDE
musste und den Fanfarenzug verließ, gab ihm sein Instrument.
Von da an entzog sich Kiesant den rauen Spielen des              „Mit den Spree City Stompers spielten wir u.a. im Titania
Jungvolkes durch Musik. Als im Januar 1945 der Fanfarenzug       Palast und dem Festsaal am Funkturm. Weihnachten 1952
wegen undisziplinierten Verhaltens aufgelöst wurde und der       hatten wir einen Auftritt, wofür Programme gedruckt wurden
Krieg dem Ende entgegen ging, widmete sich Kiesant dem           und auf denen auch die Namen der Musiker stehen sollten. Da
Erlernen des Schlagzeugspiels. Mit Genehmigung der               habe ich zu Schneider gesagt: 'Um Gottes Willen. Mein Name
Behörden in Potsdam durfte er später von 1948–51 Musik am        darf da nicht drauf. Da bekomme ich Schwierigkeiten. Der
Städtischen Konservatorium in West-Berlin Unterricht             Name Kiesant ist durch meinen Vater in Potsdam bekannt wie
nehmen, weil es im Osten noch keine Musikhochschule gab.         ein bunter Hund.‘ Man durfte zwar zu jener Zeit in West-
Kiesant: „Ich hatte eine klassische Ausbildung bei einem der     Berlin studieren, aber nicht spielen. Das war übrigens auch
Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker Kurt Ladentin.          nicht im Sinne der West-Berliner Musiker. Ich sagte zu
Der brachte 1948 von der ersten Tournee mit den Berliner         Schneider: ‚Schreib hin, was Du willst, aber nicht meinen
Philharmonikern in England die Gene Krupa Schule mit.            Namen.‘ Da schrieb er dann: 'Tom Roberts'.
Dadurch war er ein begehrter Schlagzeuglehrer. Als ich nach
                                                                 Kurz darauf lernte ich Lern Arcon kennen. Er war ein
der Aufnahmeprüfung die Liste meiner Lehrer bekam, sagten
                                                                 bekannter Tenorsaxophonist und Arrangeur fürs RIAS
mir meine Mitstudenten, dass ich das große Los gezogen
                                                                 Tanzorchester und fürs Orchester von Kurt Widmann. Der
hätte, weil ich bei Kurt Ladentin Unterricht hätte. Er hat uns
                                                                 liebäugelte mit mir und fragte mich, ob ich nicht auch mal bei
zwar nicht stilistisch unterrichtet, hat uns aber aus der Gene
                                                                 ihm spielen könnte. Als ich 1953 zu ihm ging, hatte ich mir
Krupa Schule die Techniken gelehrt. Das Stilistische haben
                                                                 extra einen grauen Anzug anfertigen lassen, so wie die
wir uns später selbst beigebracht.“
                                                                 Musiker der Les Brown Big Band sie trugen. Wir hatten ja das
Bald spielte er in der Unterhaltungskapelle seines Vaters        Glück gehabt, die Big Band zu hören, als uns ein Saxophonist
Schlagzeug und begann sich bedingt durch die Nähe zu West-       vom RIAS Orchester in eine Veranstaltung mitnahm, die
Berlin in der dortigen Jazzszene umzutun.4 Er lernte einen       eigentlich nur für amerikanische GI‘s bestimmt war. Les
jungen Mann, Thomas Keck, kennen.                                                      Browns Band hat uns umgehauen. Er
Der studierte Medizin und spielte bei                                                  selbst trug eine schwarze Strickkrawatte,
den Spree City Stompers in West-
Berlin Schlagzeug. Sein Vater war
                                           Hallo, was spielt da für                    die mir gefiel und die ich mir dann auch
                                                                                       gekauft habe. Als ich mit der Krawatte
Franzose, die Mutter Bulgarin.             ein Mensch? Kiesant?                        in die Badewanne kam, rief Lern Arcon
Kiesant: „Thomas hatte mich während        Kenne ich nicht. Dort                       laut: ' Ach, da kommt ja seine Eminenz.'
                                                                                       So hieß ich dann Tom ‚Eminenz‘
eines       Auftritts     zu       einem
Abiturientenball kennengelernt. Die        spielt Eminenz.                             Roberts. Später haben sie dann das
                                                                                       'Tom' weggelassen und ich hieß nur
Band meines Vaters bestand aus drei                                                    noch ‚Eminenz‘, was als ‚Emmes‘
Saxophonisten, zwei Trompetern, einem Posaunisten,               abgekürzt wurde. Viele kannten mich ausschließlich unter dem
Pianisten, Bassisten und mir am Schlagzeug. Von einem der        Namen ‚Eminenz‘. Da gibt es noch eine kleine Anekdote: Zum
Saxophonisten, der aus amerikanischer Gefangenschaft             Saxophonisten Horst Reipsch vom Henkels Orchester sagte
gekommen war, hatten wir gedruckte Arrangements, sodass          ich eines Tages, dass er mal abends in die Nürnberger Straße
wir Nummern von Glenn Miller, Count Basie und auch               zum Jazzclub Badewanne gehen soll, wenn er in Ost-Berlin
Tommy Dorsey spielen konnten. Sogar Stan Kentons „The            sei. Dort spielte Helmut Brandt mit einem tollen Quintett und
Peanut Vendor“ war darunter. Thomas war von der Musik            mit Conny Jackel6 an der Trompete. Ich selbst war damals bei
begeistert und lud mich zu sich ein. Bei ihm hörte ich           Coco Schumann im Studio 22. Dort spielten wir immer bis
Schellackplatten, die er von Verwandten aus Frankreich           morgens 4 Uhr. In der Badewanne war aber halb zwei
erhalten hatte. Da lernte ich all die Bebop Bands kennen und     Schluss. Da sollte Reipsch den Jackel ansprechen und ihn
war von der Musik begeistert. Als Thomas im November 1952        fragen, ob er ihn mit dem Auto mitnimmt, weil der gleich um
mit seiner Mutter für vier Monate nach Sofia ging, empfahl er    die Ecke wohnte und im Studio 22 immer noch einen Absacker
mich dem Leiter der Spree City Stompers Hawe Schneider als       zu sich nahm. Reipsch fragte also den Jackel: 'Kiesant spielt
Ersatz für diese Zeit. Hawe hatte schon verschiedene             im Studio 22 bei Coco Schlagzeug. Kannst Du mich mit
Schlagzeuger angesprochen, aber war mit keinem zufrieden.        Deinem Auto mitnehmen?‘ Da antwortete der Jackel in
Thomas lud mich daraufhin zum nächsten Auftritt in den           seinem schwäbischen Dialekt: 'Hallo, was spielt da für ein
Jazzclub ‚Die Badewanne‘ ein, wo die Spree City Stompers         Mensch? Kiesant kenne ich nicht. Dort spielt Eminenz.'
einmal in der Woche für die Band vom Johannes Rediske
spielten, der dadurch anderen Verpflichtungen beim SFB oder      Mit Coco Schumann spielte Kiesant, als jener kurz zuvor aus
RIAS nachgehen konnte. Thomas machte mich bekannt und            Australien wieder gekommen war. An der Trompete war
schlug vor, dass ich trommeln sollte. Schneider wollte das       damals Peter Rückert aus Halle. Auch über diese Zeit
zunächst nicht. Als Thomas jedoch in der Ecke einen Mann         schreibt Herbert Flügge: „Nach Studium und Privatunterricht
von der bulgarischen Botschaft sitzen sah, wo er kürzlich sein   erhielt Kiesant in seiner Heimatstadt Potsdam schließlich von
Visum beantragt hatte, gab er mir schnell die Stöcke in die      einer Prüfungskommission seinen Ausweis als Berufsmusiker.
Hand und schob mich hinters Schlagzeug. Er durfte auf            Natürlich war damit das Verbot, im »Westen« aufzutreten,
keinen Fall von dem erkannt werden. So trommelte ich für         nicht aufgehoben, aber er hatte als Profi im Westen wie im
Schneiders Band. Ich kannte die ganzen Dixieland-Titel wie       Osten größere Chancen. Während er im Raum Potsdam in
‚Muskrat Ramble‘ aus dem Radio und wusste, wo die Breaks         Kapellen zumeist die herkömmliche, oft auch veraltete
gemacht wurden mussten. Plötzlich war Hawe Schneider ganz        Tanzmusik spielen musste, jazzte er in West-Berlin u.a. mit

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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
MEMORIES
                                                                     Mit dem Michael Naura Quartett in der „Badewanne“ in West-
                                                                     Berlin, Frühjahr 1956. Michael Naura (p), Klaus Marmulla (as),
                                                                     Hajo Lange (b), „Eminenz“ Roberts alias G. Kiesant (dr). Diese
                                                                     Formation spielte am 21. Mai 1956 zum 4. Deutschen Jazz
                                                                     Festival 1956 in Frankfurt/ Main

      Frank „Big Boy“ Goudie‘s
            GJC All Stars
in den Columbia Studios in Berlin-Zehlendorf
am 13. April 1953: Frank Goudie (ts, cl, voc),
Gabriel Döres (tp), H. W. Schneider (tb),
Helmuth Wernicke (p), Wolf van Well (g),
Teddy Lenz (b), „Eminenz“ Roberts alias
Günter Kiesant (dr)

  Mit dem Coco Schumann Quartett im Februar 1957 im „Studio 22“ in
  Berlin-Charlottenburg. Coco Schumann (g), Peter Rückert (tp),
  „Mumien-Ede“ (p), Günter Kiesant (dr)

                                                                          Im September 1954 kam die Illinois Jaquet Band in den
                                                                          Jazzclub „Studio 22“ in West-Berlin. Osie Johnson setzte
                                                                          sich ans Schlagzeug von Günter Kiesant und hatte bald
                                                                          Probleme mit der zu hart eingestellten Fußmaschine.
                                                                          Thomas Keck dolmetschte zwischen Kiesant und Johnson.
                                                                          Am Ende spielte Kiesant mit der Band von Illinois Jaquet!

 Mit Musikern der Gustav Brom Big Band September
 1966. V.l.n.r.: Günter Kiesant (dr), Ludek Hulan (b),
 Hubert Katzenbeier (tb), Karel Danda (tp) Günter Hörig
                                                                 Umtrunk mit Kurt Henkels in einer Leipziger Gaststätte 1957.
 (p). Davor kniet Karel Krautgartner vom Orchester
 Karel Vlach.                                                    Günter Kiesant (links)

   JUST FOR SWING GAZETTE | März 2021                                                                                                 7
Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
dem amerikanischen Klarinettisten/Saxophonisten Frank »Big      dortigen Studenten Big Band kennen, der im benachbarten
Boy« Goudie, dem Saxophonisten Lem Arcon und dem                Rothenburg Workshops mit Jamey Aebersold, dem Erfinder
Gitarristen Coco Schumann. 1956 spielte er beim Deutschen       der Play Along Methode, durchführte. Da sollte ich
Jazz-Festival in Frankfurt am Main und ging mit dem             mitmachen und wurde dabei mit dem Trompeter Art Farmer,
Michael Naura Quintett auf Tournee durch die                    dem Saxophonisten David Liebman uvm. bekannt. Besonders
Bunderepublik. […] Unbestritten ist Günter Kiesant der          war ich begeistert von Mike Tracy9, einem Saxophonisten, der
prominenteste Jazzmusiker aus Potsdam.“                         wie Stan Getz spielte. Als Drummer war Ed Soph dabei, der
Auch in späteren Jahren, Anfang der sechziger Jahre, als        zu Anfang einen sehr arroganten Eindruck auf mich machte.
Kiesant schon in Leipzig tätig war, kam er nach Potsdam         Ich kannte ihn von einer Kassette mit der Clark Terry Big
zurück. So spielte er mit der sogenannten Radio-DDR-            Band und war von seiner Schlagzeugkunst begeistert. Beim
Combo, die sich aus Mitgliedern des Rundfunktanzorchesters      zweiten Workshop 1984 kam auch Adam Nussbaum als
Leipzig zusammensetzte: Eberhard Weise (p), Henry Walther       Schlagzeuger. Slide Hampton war an der Posaune, wieder Art
(tb), Günter Kloss (ts), Peter Sterzel (b) und Günter Kiesant   Farmer an der Trompete und der Saxophonist Herb Geller
(dr).                                                           war dabei. Der Gitarrist aus West Coast Zeiten Howard
                                                                Roberts war auch da. Aebersold veranstaltete verschiedene
Auch Karlheinz Drechsel erinnert sich an seine erste            Workshops mit mehr als 500 Teilnehmern. Ich sollte Ed Soph
Begegnung mit Kiesant in seiner Biografie und schrieb: „In      zur Seite gehen und dessen Anweisungen ins Deutsche
der »Badewanne« habe ich damals bei einer Session auch den      übertragen. Dadurch kamen wir uns etwas näher. Eines
Schlagzeuger Günter Kiesant erlebt, der nach seinem             Tages wurde ich gebeten, mit einer der Bands zu spielen, weil
Musikstudium in Potsdam in West-Berlin arbeitete. Weil das      man festgestellt hatte, dass zwei Drummer fehlten. Ich kam in
im Osten nicht publik werden durfte, trat er unter dem          die Band von Ron McCLure, dem bekannten Bassisten, der
Pseudonym »Seine Eminenz Roberts« in Erscheinung, woraus        mit Charles Lloyd und Jack DeJohnette gespielt hatte.
noch heute der ihm gegenüber oft gebrauchte Spitzname           McClure war anfangs nicht sehr begeistert, weil alle anderen
»Emmes« resultiert. »Eminenz Roberts« ist u. a. auf frühen
Plattenaufnahmen mit dem Michael Naura Quintett, das
seinen Start in West-Berlin hatte, zu hören.“ 7
„GÜNTER AUS LIPSIA,
LIPSIA HINTERM VORHANG“
Kiesants musikalische Vita hat längst den Grad des
Überschaubaren überschritten. Er spielte in unzähligen
Formationen und mit berühmten Musikern wie Sahib Shihab,
Rolf Kühn, Illinois Jacquet und Band, Nelson „Cadillac“
Wilson, Henry Walther, Larry Coryell, Slide Hampton,
George Gruntz, Bobby Watson, Jiggs Wigham, Ack van
Rooyen, Hal Galper, Joachim Kühn, Peter Herbolzheimer,
Ference Snetberger, Hans Koller, Wolfgang Schlüter, Ed
Thigpen, Adam Nussbaum u.v.a..
Kiesant: „Ein ganz besonderes Erlebnis für mich begann mit
einem Auftritt 1978 zur Sendereihe ‚Zauber der Musik‘, die
zuerst als Rundfunkproduktion und später als TV Produktion
aufgezeichnet wurde. Da wurden wir als Tanzorchester
hinzugezogen, weil neben klassischen Sachen auch Musical-
und Operettenmelodien gespielt wurden. Zu einer dieser
Sendungen in Cottbus war die schwedische Sängerin Sylvia
Vrethammar8 angekündigt und die kurz zuvor eine Platte mit
dem holländischen Arrangeur und Trompeter Rob Pronk
gemacht hatte, auf der auch Herb Geller von der NDR
Bigband zu hören ist. Die Sängerin brachte ihre eigene
Rhythmusgruppe mit. Ich hatte zuvor schlechte Erfahrungen
mit anderen Rhythmusgruppen gemacht, die mein Schlagzeug
verwendeten. Ein Schlagzeuger hatte mir sogar meine
amerikanischen Stöcke und Filzschlegel, die mir mal Thomas
Paiste geschenkt hatte, entwendet. Danach hatte ich
                                                                Musiker viel jünger waren. Er sagte kurz die Titel an und gab
beschlossen, keinen mehr an mein Schlagzeug zu lassen. Mit
                                                                mir Anweisungen, wie ich in den einzelnen Chorussen zu
der Sängerin kam der amerikanische Schlagzeuger Ed
                                                                agieren hätte. Als er mich hörte, fand er immer mehr Gefallen
Thigpen. Ich dachte mich trifft der Schlag! Und ich hatte
                                                                an meinem Spiel. Sein Gesicht wurde freundlicher. Am Ende
ausgerechnet mein miesestes Schlagzeug mitgebracht, weil
                                                                war er sehr zufrieden. Das hatte sich schnell
ich ja nicht wollte, dass jemand anderes an mein Schlagzeug
                                                                herumgesprochen, dass der Schlagzeuger aus Ostdeutschland
geht! Walter Eichenberg bat mich, mit der Vrethammar und
                                                                „gar nicht so schlecht war“. Da war ich plötzlich einer von
ihrem Mann ins Gespräch zu kommen, weil er gern in
                                                                ihnen. Mit Adam Nussbaum im zweiten Jahr war das ähnlich.
Dresden eine Veranstaltung mit der Sängerin machen wollte.
                                                                Da gab es am Ende eine tolle Sessionband, in der ich ein
Ihr Mann sprach gut Deutsch und erzählte mir, dass Silvia
                                                                sogenanntes Night-Concert mitspielen sollte. So wurde ich
auch in Ostberlin mit Günter Gollasch aufnimmt. Ed Thigpen
                                                                Schlagzeuger in einer tollen Gruppe mit dem
würde in dieser Zeit nach West-Berlin fahren, um Heinz von
                                                                Altsaxophonisten Bobby Watson und Hal Galper am Piano.
Moisy zu besuchen. Da sagte ich ihm, dass Heinz mein
                                                                Am Bass war Todd Coleman, der Mitglied von Lionel
Nachfolger im Michael Naura Quintett wäre und er sollte ihn
                                                                Hamptons Big Band war und gerade aus Tokio von einer
grüßen. So kamen Heinz von Moisy und ich wieder in
                                                                Konzerttour kam. Dabei waren auch Howard Roberts an der
Kontakt, woraufhin dieser mich 1983 nach Tübingen zu den
                                                                Gitarre, der Posaunist Slide Hampton und ein Posaunist John
Percussiontagen einlud. Dort lernte ich den Leiter der

JUST FOR SWING GAZETTE | März 2021                                                                                         8
Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
Leisenring von der Kansas City Philharmonie, der ein großer            „Freie Töne – Die Jazzszene in der DDR“
Jazzfreund war und mit Thad Jones und bei Woody Herman                 - (Hrsg. Rainer Bratfisch, Chr. Links
als Aushilfe gespielt hatte. Es gibt leider nur einen schlechten       Verlag, 2005, ISBN 3-86153-370-7, S.
                                                                       278 ff) Hrsg. Rainer Bratfisch, Chr. Links
privaten Mitschnitt vom „C Jam Blues“, der knapp eine halbe            Verlag, 2005, ISBN 3-86153-370-7, S.
Stunde dauerte. Aebersold kündigte mich an diesem Abend als            278 ff
„Günter aus Lipsia hinterm Vorhang“ an. Nussbaum und
                                                                       2
Soph schauten mir nun von der Bühnenseite zu. Als Watson                Macky Kasper war ein Jazz Trompeter
auf seinem Saxophon eine lange Phrase mit Zirkularatmung               und Orchesterleiter (* 17. Februar 1922 in
blies und diese plötzlich abbrach, bin ich im nächsten Takt            Breslau; † 14. April 1968 in Berlin)
sofort darauf eingestiegen und habe das auf dem Schlagzeug             3
                                                                        “Im Buch über Kurt Henkels steht, dass
fortgesetzt, sodass Nussbaum vor Begeisterung vom Stuhl                ich schon ein Jahr früher bei ihm angestellt
gesprungen ist. Am nächsten Tag machte er alle Teilnehmer              war. Diese Daten stimmen nicht.“ Conrad,
des Workshops auf mein Schlagzeugspiel aufmerksam.                     Gerhard - Kurt Henkels: Eine Musiker-
Seitdem sind wir eng befreundet..“                                     Biographie mit ausführlicher Diskographie.
>>> FORTSETZUNG TEIL 2 IM JUNI 2021                                    Olms Verlag 2010
                                                                       4
                                                                        Im Kapitel „Potsdam: »Schlager-Messen«
                                                                       und (fast) ein Jazzclub“ im Buch „Freie
                                                                       Töne – Die Jazzszene in der DDR“ (Hrsg.
                                                                       Rainer Bratfisch, Chr. Links Verlag, 2005,
                                                                       ISBN 3-86153-370-7, S. 278 ff) schreibt
                                                                       Herbert Flügge über diese Zeit: “[…]
                                                                       Regelmäßig passierten die Potsdamer
                                                                       Jazzenthusiasten     trotz    Verbots    der
                                                                       ostzonalen Behörden die Sektorengrenze,
                                                                       um in der »Badewanne« oder der
                                                                       »Eierschale« dabei zu sein. Musiker aus
                                                                       Potsdam spielten sogar in »Westbands«
                                                                       mit, so der Klarinettist Peter Strohkorb und
                                                                       die Schlagzeuger Thomas Keck und Günter
                                                                       Kiesant. Die beiden Ersteren siedelten
                                                                       schließlich nach West-Berlin über. Günter
                                                                       Kiesant blieb aus familiären Gründen in
                                                                       Potsdam, studierte aber in West-Berlin und
                                                                       was für ihn noch wichtiger war spielte auch
                                                                       mit West-Berliner Bands.
                                                                       5
    Wiedersehen mit dem Schlagzeuger Adam Nussbaum 1996 in Leipzig      Über die kurze Zeit mit den legendären
                                                                       Spree City Stompers aus West-Berlin
                                                                       schrieb der Posaunist und Leiter der Spree
Ausgewählte LP- bzw. CD-Einspielungen                                  City Stompers Hawe Schneider in seinen
mit Günter Kiesant:                                                    Memoiren „…und abends swing – Ein
                                                                       Buch voll Jazz, nicht nur für
         1956 „Jazz From Berlin“ – Michael Naura Quintett,            Fans“ (Gerhard Schilling Verlag, 1985
          Metronome                                                    ISBN 3-924838-03-8, S. 115) im Kapitel
                                                                       „Die Schlagzeuger“: „In Berlin spielte
         1955 „Deutsches Jazzfestival Frankfurt“ – Michael            dann Fritz Krull Drums, der sich aber bei
          Naura Quartett / Johannes Rediske Trio,                      öffentlichen Auftritten und schließlich total
         1962, Günter Oppenheimer-Trio – Love Is Just Around          von Thomas Keck ablösen ließ. Als dieser
          The Corner / Amiga-Jive / Herbstregen / Amiga-Blues,         sich eine längere Zeit in Sofia, der Heimat
          AMIGA – 5 50 163                                             seiner Mutter aufhielt, empfahl er uns
         1966, Chor Günter Oppenheimer & Orchester Günter             ‚Eminenz‘ (weil er immer so gekonnt
          Oppenheimer – Chor In Swing, AMIGA – 8 50 071                ‚Eminenz‘ Witze erzählte!) Roberts, ein
         Prinz Norodom Sihanouk/ Rundfunk-Tanzorchester               sehr     guter   Ostberliner    Tanzmusik-
          Leipzig – Palmen Am Meer - Tanzmusik aus                     schlagzeuger, dessen Pseudonym ich nicht
                                                                       lüften möchte, weil er heute noch hinter
          Kambodscha, (Arrangements von Henry Passage)
                                                                       den Drums eines DDR-Rundfunkorchesters
          AMIGA 8 50 132                                               sitzt. Thomas kam nach einem halben Jahr
         1969, “Jazz Via Dresden”, AMIGA – 8 50 116                   zurück und spielte wieder bei uns, […]“
         1982 „Jumping At The Woodside“ – Radio BigBand               6
          Leipzig, AMIGA 8 55 961                                      Horst Konrad „Conny“ Jackel (* 30.
         1986 „Living Transition“ – Radio BigBand Leipzig             August 1931 in Offenbach am Main; † 28.
                                                                       April 2008 in Bad Nauheim)
          unter George Gruntz, AMIGA 8 56 339
                                                                       7
         2000 „Swing Away“ – Swinging Way, LeipJAZZig                  ULF    DRECHSEL,       Zwischen    den
                                                                       Strömungen — Karlheinz Drechsel —
                                                                       Mein Leben mit dem Jazz, Buch + CD 978-
Anmerkungen:                                                           3-9814852-2     jazzwerkstatt    Berlin-
                                                                       Brandenburg
1
 Herbert Flügge stellte im Kapitel „Potsdam: »Schlager-Messen«         8
und (fast) ein Jazzclub im Buch „Freie Töne – Die Jazzszene in der      LP Sylvia Vrethammar – Libertango,
DDR“ fest, dass der einzige „echte“ Jazz in Potsdam 1956 von der       Sonet – T-10045
Harry Seeger Quintett geboten wurde. Ihm gehörten Harry Seeger         9
                                                                        Mike Tracy ist heute der Direktor des
(p), Klaus Marmulla (cl, as), Werner Pauli (g), Hajo Lange (b) und     Jamey Aebersold Jazz Studies Program an
Günter Kiesant (dr) an. Sie spielten Eigenkompositionen im Stile des   der University of Louisville School of
modernen Jazz, der Einflüsse des Bebop und Cool Jazz erkennen ließ     Music in Louisville, Kentucky
und bestachen „in einer stilistischen Geschlossenheit, wie man sie
damals kaum hörte.“

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Günter Kiesant Josephine Baker Bill Ramsey Charles Mingus Duke Ellington - That Jazz
Nicht nur ein Schlager-Clown
Zum 90. Geburtstag von Bill Ramsey am 17. April 2021 erscheint
eine längst überfällige Biografie des Sängers.
von Siegfried Schmidt-Joos

E
          in Buch wie dieses gab es bislang                                                    wurden, zitierte ich mich, der Not
          kaum in unserem Land. Natürlich                                                      gehorchend, in dem Zweispalter „Go, Man“
          kennen wir Zitatensammlungen                                                         in Heft 21/1966 einfach selbst: „Siegfried
          wie Walter Kempowskis „Echolot“                                                      Schmidt-Joos, Jazz-Experte von Radio
oder die von Nat Hentoff und Nat Shapiro                                                       Bremen, kündigte Ramseys neue Songs und
herausgegebene, von Werner Burkhardt                                                           Lieder als bisher beste in Deutschland
übersetzte Anthologie „Hear Me Talking to                                                      produzierte Jazz-Vocal-Platte an.“ Ich hatte
Ya“ („Jazz erzählt“). Doch das „Echolot“                                                       auch recherchieren können, unter welchen
betraf die Lebensumstände im Zweiten                                                           Bedingungen       „Ballads    and     Blues“
Weltkrieg, „Jazz erzählt“ an vielen                                                            entstanden war: „Erst als Ramsey sich
Beispielen das ganze Wesen der swingenden                                                      entschloss, das finanzielle Risiko einer
Musik. Dieses Buch gilt einer einzelnen                                                        Qualitätsproduktion teilweise selbst zu
Person. Wie es zustande kam, kann ich mir                                                      tragen - er und sein Pianist Paul Kuhn
nach den Angaben des Autors wie folgt                                                          verzichteten auf die Hälfte der ihnen
vorstellen:      Mehrere      Kartons    mit                                                   zustehenden Lizenzen - , stellte Electrola
persönlichen Briefen, Belegen, Berichten                                                       ihm ein Aufnahmestudio zur Verfügung. Für
und Dokumenten auskippen, aufsammeln,                                                          eine Herstellungssumme von 2.500 Mark,
ausschneiden, aufkleben, planlos, aber nicht                                                   dem üblichen Produktionspreis einer Single-
sinnlos auswerten, durch ausufernde Anrufe                                                     Platte mit zwei Titeln, lieferte der Sänger
ergänzen und das Resultat aufatmend                                                            seiner Firma die Langspielplatte ab. Als
akzeptieren. Greift nur hinein ins volle        Buches kommt sie zur Sprache.            Mit   Ramsey dann auch noch den Versand der
Menschenleben, und siehe, es ergibt sich ein    radikalen Jazzfans und Kritikern habe er       Rezensionsplatten übernahm, war die
vielschichtiges Kaleidoskop! Ein begnadeter     stets seine Probleme gehabt, erzählt da der    Electrola bereit, die Blues und Balladen auf
Entertainer tritt zu Tage, ein TV-Unterhalter   Künstler. Mit Big Bands wie denen von          den Markt zu bringen.“
und Film-Komödiant in großkariertem             Erwin Lehn oder Kurt Edelhagen habe er
                                                speziell für ihn arrangierte Jazz- und Swing   Die „Spiegel“-Story „Go, Man“ führte noch
Jackett, ein Schlager-Jazz-Swing-Soul-                                                         im gleichen Jahr zu einer 60 Minuten langen
Gospel-Bluessänger mit afroamerikanischem       -Aufnahmen gemacht. Aber die wurden erst
                                                nach Mitternacht gesendet und kaum             Fernsehsendung mit dem Titel „Nicht nur ein
Timbre, ein Tier- und Kinderfreund („Sing                                                      Schlagerclown. Bill Ramsey singt Folksongs
ein Lied mit Onkel Bill“), ein begeisterter     gehört. Wörtlich: „Die fanatischen Kritiker
                                                haben mich sehr, sehr abgelehnt. Das war       und Blues“. Sie wurde beim WDR in Köln
Erzähler von Musikerwitzen („Zwei Musiker                                                      aufgezeichnet und am 23. Dezember 1966 im
gingen an einer Kneipe vorbei“), ein            schwer, das habe ich nicht erwartet.“
                                                                                               Nachmittagsprogramm der ARD ausge-
Songautor         und       Hörfunkmoderator    Jahrelang hatte der aus Ohio stammende         strahlt. Wie auf der „Ballads“-LP hatten wir
(„Swingtime“ auf hr2), ein Gitarrist und        Amerikaner antichambrieren müssen, ehe         unter Leitung von Paul Kuhn an Klavier und
Pianist, ein generöser Gastgeber, ein Träger    ihm    seine     Firma   Electrola    zwei     Hammondorgel Spitzensolisten aus dem
des Bundesverdienstkreuzes, ein Anwohner        Langspielplatten    mit   einer    eigenen     Kurt Edelhagen-Orchester im TV-Studio:
der Hamburger Elbchaussee, ein treuer           Repertoire-Auswahl gestattete: „Ballads        Jimmy Deuchar (Trompete), Derek Humble
Freund, der an seine Nächsten im Frühling       and Blues“ und „Songs from Home“.              (Altsaxophon), Kurt Becker (Flöte und
Liebesbriefe mit dem Absender Maria Käfer                                                      Vibraphon), Johnny Fischer (Bass), Stuff
verschickt, und so weiter und so fort. Mehr     Bill war 35, ich fester Freier Mitarbeiter     Combe (Schlagzeug). Sie musizierten mit
Bill Ramsey geht eigentlich nicht. Und doch     des Hamburger Nachrichtenmagazins und          Bill in den Stücken „Tobacco Road“,
liegt über dem Text ein Hauch von               fand besonders die „Ballads“ sensationell.     „What´s New“, „Kansas City“, „The More I
Melancholie.                                    Da sich aber kein einziger meiner              See You“ und „But Not For Me“. Während
                                                journalistischen Kollegen zitierfähig zu der   ich ihn über seine Herkunft befragte,
Mit vollem Recht nennt Pit Klein sein Buch      LP geäußert hatte und „Spiegel“-
„Send in the Clown“. Bei einem                                                                 begleitete sich Bill im Folksong „Crawdad
                                                Geschichten damals noch nicht gezeichnet       Hole“ und im Blues „St. James Infirmary“
Komödianten, der kleinen und großen
Kindern mit Liedern wie „Wumba-Tumba                                                           selbst auf der Gitarre. Für eine längere
Schokoladeneisverkäufer“ oder „Zucker-                                                         Interviewpassage mit Ramsey und Paul
puppe aus der Bauchtanzgruppe“ so viel                                                         Kuhn hatte ich zusätzlich den damaligen
Freude gemacht hat, war der Titel                                                              Electrola-Vertriebschef Wilfried Jung in die
naheliegend.                                                                                   live aufgezeichnete Sendung eingeladen. Das
                                                                                               Gespräch wurde, wie im Fernsehen damals
Außerdem hat Bill auf der CD „Send in the                                                      vorgeschrieben, im „Sie“-Modus geführt.
Clowns“ (2005), nur von Jean-Louis                                                             Hier ein redigierter Ausschnitt aus dem
Rassinfosse am Kontrabass begleitet, eine                                                      Wortprotokoll:
einmalig originelle und überzeugende
Version dieses Klassikers von Stephen                                                          Siegfried Schmidt-Joos: Bill Ramsey singt
Sondheim vorgelegt. Aber wie es in                                                             schon seit 1951 in Deutschland Blues und
Sondheims Song-Lyrik aus dem Musical „A                                                        Jazz. Aber erst in diesem Jahr hat er die
Little Night Music“ um eine tragische,                                                         Möglichkeit bekommen, in diesem Idiom
unerfüllte  Liebesbeziehung geht,        so                                                    Schallplatten aufzunehmen. Immer wieder
schwingt in diesem Titel auch bei Bill                                                         hat er versucht, Platten mit Jazzstücken zu
Ramsey eine überspielte, aber tief sitzende                                                    besingen, aber es ist ihm nicht gelungen.
Enttäuschung mit. An einer Stelle des                                                          Warum ist das nicht geschehen, Herr Jung?

JUST FOR SWING GAZETTE | März 2021                                                                                                     10
Wilfried Jung: Schallplattenfirmen sind kommerzielle Unternehmen.       WJ: Man versucht natürlich immer schon vorher zu wissen, ob es ein
Gut verkauft, schlecht verkauft: Das sind die Maßstäbe. Bill Ramsey     Erfolg werden wird oder nicht. Aber leider ist der noch nicht geboren
als Sänger von „Pigalle“ und „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett     worden, der das im Voraus sagen kann. Man versucht also den Markt
- ein Bestseller, als Jazzsänger eine unbekannte Größe. Ein             zu analysieren und fragt sich, ob zum Beispiel eine solche Aufnahme
Experiment also, aber ein Experiment, das wir als Firma dann doch       von Bill Ramsey ankommen wird.
sehr gern übernommen haben.
                                                                        Man hört bei den Fachleuten herum, in den Einzelhandelsgeschäften:
SSJ: Warum nicht früher?                                                Ist das verkäuflich, glaubt ihr daran? Wenn man diese Erfahrungen
                                                                        dann bündelt, kann man zu dem Entschluss kommen, diese
WJ: Das entscheidet in einer Plattenfirma nie einer allein. Wir         Aufnahme zu machen. Ein bisschen Liebe und ein bisschen
mussten also für das Projekt Freunde sammeln. Ich gestehe gern,         Idealismus gehören aber ebenfalls stets dazu.
dass ich zu den ersten Freunden dieses Aufnahmeprojektes gehörte.
Es hat sehr lange gedauert, ja! Aber es ist schließlich doch immer      SSJ: Der Vorwurf ist erhoben worden, auch von mir selbst, dass
noch rechtzeitig in die Tat umgesetzt worden.                           viele Produzenten ihre Künstler immer auf ein bestimmtes Image
                                                                        zuschneiden wollen.
                                                                        Dass also, um das böse Wort einmal zu verwenden, Bill Ramsey als
                                                                        Schlagerclown abgestempelt ist und sein Produzent sagt: Ich möchte
                                                                        nicht, dass dieses Image gestört oder durch eine Aufnahme links oder
                                                                        rechts davon, die nichts damit zu tun hat, unterbrochen wird.
                                                                        WJ: Ich persönlich glaube nicht, dass Produzenten Künstler, mit
                                                                        denen sie arbeiten, festzulegen versuchen. Ich kann nur für unsere
                                                                        Produzenten sprechen, aber ich glaube, dass sie jedem, aber auch
                                                                        wirklich jedem Experiment aufgeschlossen gegenüber stehen.
                                                                        SSJ: Nun haben Sie, Paul Kuhn, Bill Ramseys „Ballads and Blues“
                                                                        ja selber produziert. Was ist aus der Sicht des Produzenten Ihre
                                                                        Meinung dazu?“
                                                                        PK: Ich glaube, dass „Ballads and Blues“ den Zuckerpuppen-
                                                                        Ramsey nicht stört. Ich glaube durchaus an eine zweigleisige Arbeit.
                                                                        SSJ: Und wie ist die Meinung von Bill Ramsey?
                                                                        BR: Ich weiß nicht! Ich habe immer gehört, man darf nichts anderes
                                                                        aufnehmen, als was man immer gemacht hat. Dagegen habe ich mich
                                                                        immer gesträubt. Ich durfte das im Rundfunk, leider nie auf
                                                                        Schallplatten. Dafür habe ich doch einen ziemlichen Kampf gehabt.
                                                                        Wie gesagt: Bei Konzerten in Zürich habe ich erst jetzt den Mut
                                                                        gefasst, es durchzuboxen. Aber es hieß immer: Dann tanzt du auf
                                                                        zwei Hochzeiten!
                                                                        SSJ: Das Publikum kennt Sie doch aber von Funk und Fernsehen her
                                                                        mit Blues und Jazzstücken schon mal splitterweise auf diesem
                                                                        anderen, ich möchte sagen: etwas gehobenem Niveau. Gab es denn
                                                                        beim Funk Zuschriften mit dem Wunsch, dass so etwas auch mal auf
                                                                        Schallplatten erhältlich ist?
                                                                        BR: Das kann ich nicht sagen. Ich bin aber sehr oft darauf
                                                                        angesprochen worden: „Du, das haben wir nicht gewusst, dass du
                                                                        auch Spirituals oder Blues singst.“ Oder vielmehr: „Sie, das haben
                                                                        wir nicht gewusst...“ Das freut mich natürlich viel mehr. Wenn ein
                                                                        Freund einem ein Kompliment macht, kommt das manchmal aus
                                                                        einem Vorurteil. Aber bei Taxifahrern, Menschen auf der Straße oder
                                                                        so ist das etwas anderes und sehr schön.
                                                                        SSJ: Eine Frage an jeden von Ihnen mit der Bitte um eine kurze
                                                                        Antwort: Sie glauben also nicht, dass Produzenten die Stars, die sie
Foto: Ursula Schmidt-Joos                                               betreuen, nicht voll zur Entfaltung kommen lassen und dass von
                                                                        Künstlern, die in Deutschland leben, mehr kommen könnte, aus
Paul Kuhn: Die Zeit war vielleicht einfach noch nicht reif. Es dauert   ihnen mehr werden könnte, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu
ja wohl immer einige Zeit, ehe man mit so etwas experimentieren         gäbe?
kann.
                                                                        WJ: Ich glaube es nicht. Es ist eher umgekehrt: Dass die Künstler
Bill Ramsey: Ich habe mir vielleicht auch nicht genügend Mühe           ihren Produzenten Grenzen setzen!
gegeben, mich nicht genügend mit der technischen Seite und der
Finanzierung beschäftigt. Ich habe immer nur darum gebeten. Aber        PK: Wie gesagt: Ich glaube an eine Zweigleisigkeit bei den
als ich jetzt in Zürich wieder mal ein paar Jazzkonzerte gegeben        Interpreten. Aber die ist eben leider nicht oft gegeben.
hatte, war mir klar: Ich muss das jetzt machen! Ich wollte Paul Kuhn    BR: Die Tendenz geht ganz sicher zur Eingleisigkeit.
als Producer dafür haben, der auch sofort zustimmte: Ja, wir machen
das! Zuerst dachten wir an eine Big Band, aber das war zu teuer.        SSJ: Ich bemerke in letzter Zeit bei zahlreichen Künstlern eine
                                                                        Tendenz,      die    Langspielplatten-Ebene     mit      richtigen
PK: Es wurde dann immer kleiner!                                        Albumproduktionen und nicht mehr nur mit Zusammenstellungen
BR: Doch es schlug zu unseren Gunsten aus, dass wir eine kleinere       von Hit-Singles anzustreben, also von vorn herein auf ein
Besetzung im Studio hatten. Die Big Band war gar nicht nötig.           anspruchsvolleres Publikum zu zielen. Ich bin überzeugt, dass die
                                                                        Popmusik in Deutschland langsam besser wird.
SSJ: Ich möchte das Gespräch gern noch ein wenig ausweiten zum
Thema Pop, Schlager und Jazzgesang und von Ihnen, Herr Jung, gern       PK: Die Qualität hebt sich. Da gebe ich Ihnen Recht.
hören, wer letzten Endes entscheidet, ob eine Produktion gemacht        SSJ: Wenn die Alben, die wir gerade musikalisch vorstellen, Erfolg
wird oder nicht.                                                        hätten, würde das ja in diese Richtung zielen. Haben Sie schon
                                                                        Umsatzerfahrungen mit „Ballads and Blues“ und „Songs from
                                                                        Home“, wie sie sich verkaufen?

JUST FOR SWING GAZETTE | März 2021                                                                                                       11
WJ: Um noch einmal auf das Vorige einzugehen: Man sollte nicht
so oft sagen: Der deutsche Schlager ist schlecht. Wenn das stimmt,
dann ist DER englische Schlager, DER französische Schlager, DER
amerikanische Schlager auch schlecht. Der deutsche Schlager ist
nicht schlecht. Wir haben phantastische Musiker, hervorragende
Produzenten, ausgezeichnete Interpreten. Bill darf ich nicht
ansprechen. Er ist Amerikaner...
BR: ...aber ein deutscher Sänger!
SSJ: Nochmal die letzte Frage: Wissen Sie schon, wie sich die
beiden Alben ungefähr verkaufen? Oder bestätigen die Umsätze
wenigstens das Risiko, das Sie damit eingegangen sind?
WJ: Sie bestätigen es.
Bill Ramsey beendete das Programm „Nicht nur ein Schlagerclown“
1966 zur Melodie des Songs „But Not For Me“ aus George und Ira
Gershwins Musical „Girl Crazy“ von 1930 mit einem eigenen
deutschen Vers:
Es gab Folklore und Jazz, doch nicht für mich.
Nur die Pigalle-Hatz, die gab´s für mich.
Ich bin zwar Komikus, doch sing ich auch gern Blues,
was man wohl wissen muss - auch das bin ich.
Nicht nur als Schlagerclown macht Ramsey Spaß.
Ballads und Blues sing ich, mir liegt auch das.
Und was der dicke Bill zum Schluss noch singen will,                      Bear Family RecordsBCD 15675 , 1992
ist Jazz. Jetzt swinge ich.
Eine vergleichbare TV-Sendung hat es erst 2016 wieder gegeben, als
der kenntnisreiche Hamburger DJ und Fernsehjournalist Kuno
Dreysse in seiner Serie „Kuno´s Storys aus Rock & Pop“ Bill
Ramsey eine halbe Stunde lang für die privaten Lokalsender
interviewte .Das Programm wurde seither landauf, landab vielfach
wiederholt. Ein paar Monate nach unserer Sendung traf ich Bill im
schweizerischen Hotel Rigi Kaltbad in stolzer Alpenhöhe über dem
Vierwaldstätter See. Es war nach einer Brandkatastrophe soeben
wieder eröffnet worden. Ich machte mit Frau und Tochter in dem
herrlichen Ambiente Urlaub. Das Foto mit dem Esel stammt von
dort. Der vielseitige Künstler lebte zu dieser Zeit in Zürich und hatte
soeben Musik und Texte für 14 Songs geschrieben, die er mit der
Rockband The Jay Five unter dem LP-Titel „Got a New Direction“
herausbrachte. Damit begann seine professionelle Tätigkeit als
Lyriker. Sein spätes Doppelalbum „My Words“ enthält nicht
weniger als 31 Stücke mit Songtexten von ihm, die er zwischen 1961
und 2016 mit Big Bands aufgenommen hat. Soweit ich weiß, hat
sich noch niemand analytisch damit beschäftigt.
Bill Ramseys musikalisches und schauspielerisches Werkverzeichnis
bei Wikipedia umfasst 43 Singles, 5 EPs, 16 LPs, 17 CDs und 16
Spielfilme. Bei der Internet-Plattform Discog sind es noch mehr. Pit
Klein hat Bills Leben und Wirken im vorliegenden Buch überaus
emotions- und anekdotenreich dargestellt. Eine seriöse
Auseinandersetzung mit Ramseys künstlerischem Lebenswerk steht
indes noch aus. Wir haben am selben Tag Geburtstag, und die
vorwurfsvolle Frage, an mich gerichtet, läge auf der Hand: „Warum         Bill Ramsey, My Words (2-CD) 85th Birthday Edition
schreibst du eigentlich dieses Buch nicht einfach selbst?“ Ich könnte
sie nur mit einem Spruch von meinem liebsten New Yorker
Kaffeebecher beantworten: „So Many Books, So Little Time.“
      Foto: Christine Brigl

                                                                           https://www.ramsey-shop.de/
Pit Klein
Bill Ramsey – Send in the Clown
Über den amerikanisch-deutschen Entertainer
Mit einem Nachwort von Siegfried Schmidt-Joos
272 Seiten mit zahlr. Abbildungen |
Gebunden mit Schutzumschlag | 28,00 EUR |
ISBN 978-3-943874-37-2 | seitenweise Verlag

JUST FOR SWING GAZETTE | März 2021                                                                                             12
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