FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV

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FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
Heft 106 / 2020

GEGEN VERGESSEN
FÜR DEMOKRATIE

                                                             Gegen Vergessen

                                          FÜR DEMOKRATIE
                                          Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

Schwerpunktthema:
Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft
weitere Themen:   ■ 40 Jahre Bildkunst in der DDR
                  ■ 150 Jahre Reichsgründung
                  ■ „Rechte“ Gewalt: Wir brauchen einen neuen Plan

Informationen zur politischen Bildungsarbeit
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
EDITORIAL

                Liebe Freundinnen und Freunde von
                Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.!

                2020 wird wahrscheinlich vorrangig als das Jahr der Corona-                              hin habe ich diese Aufgabe als Vorsitzender mehr als fünf Jahre
                Pandemie in unsere Geschichte eingehen. Diese Pandemie ist                               wahrgenommen. Mir war immer wichtig, dass die Zeitschrift
                für uns nicht weniger als eine Prüfung für unsere Fähigkeit zu                           stets offen bleibt für die vielfältigen aktuellen Fragen, Probleme
                solidarischem Handeln auf der Basis des Grundgesetzes, eine                              und Diskussionen, die mit den Grundanliegen unseres Vereins
                Fähigkeit, die wir auch noch nach dem hoffentlich baldigen                               in Beziehung stehen: historische Erfahrungen ernst zu nehmen
                Abklingen der Pandemie (durch Impfungen und andere Mittel)                               und für unsere Demokratie und ihr Selbstverständnis fruchtbar
                bei der Bewältigung der Folgen dieser unvergleichlichen Krise                            zu machen. So ist die Zeitschrift nicht nur ein Forum für The-
                benötigen werden.                                                                        men, Methoden, Veranstaltungen, Aktionen und Projekte des
                                                                                                         Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., sondern auch
                Das Jahr 2020 lässt sich freilich nicht völlig auf dieses Geschehen                      ein Ort des Diskurses über Erinnerungskultur, Geschichtspolitik
                reduzieren. Wir haben uns mit vielen anderen Fragen beschäfti-                           und politische Kultur in Deutschland (und Europa). Wir wollen
                gen müssen: mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit                              aufklären über Geschichte, vor diesem Hintergrund gegenwärti-
                Antisemitismus und Rassismus, mit krisenhaften Entwicklungen                             ge Verhältnisse und Tendenzen analysieren, um zur Orientierung
                großer Demokratien, mit der partiellen Enthumanisierung von                              und differenzierten Urteilsbildung beizutragen und die Praxis
                Sprache und Denken.                                                                      wehrhafter Demokratie anzuregen.
                Wir sind jedoch in den verschiedenen Problembereichen nicht                              Zuletzt möchte ich allen danken, die an den Heften der vergan-
                untätig geblieben, etwa in der Frage, wie wir künftig unsere                             genen Jahre mitgearbeitet haben, insbesondere der Redaktion
                Migrationsgesellschaft gestalten wollen. Zu dem Thema bringt                             für ihre unermüdliche engagierte Arbeit. Ich wünsche ihnen,
                dieses Heft unter dem Stichwort „Kompetenznetzwerk für                                   doch auch allen Mitgliedern, Freundinnen und Freunden des
                das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“ einen                                Vereins für ihre weitere Arbeit und für ihr persönliches Wohl-
                Schwerpunkt. Es gilt in einen Dialog darüber einzutreten, wie                            ergehen viel Erfolg und alles Gute!
                in unserer vielfältigen Gesellschaft chancengerechte Teilhabe
                aussehen kann, wie mit Konflikten und Ängsten umgegangen                                 Mit den besten Grüßen und dem Wunsch:
                werden sollte und wie hierbei die im Grundgesetz verbrieften                             „Bleiben Sie gesund!“
                demokratischen Werte gelebt und vermittelt werden können. Es
                kommt sehr darauf an, wie wir die notwendigen Diskussionen                               Ihr / Euer
                zur Migrationsgesellschaft führen.
                                                                                                                 Bernd Faulenbach
                Schließlich noch einige persönliche Sätze. Dieses Editorial soll
                das letzte sein, das ich für diese Zeitschrift schreibe – immer-

                 Die Einschränkungen infolge des Covid-19-Virus‘ machen es notwendig, dass viele Tätigkeiten der Geschäftsstelle weiterhin im
                 Homeoffice erledigt werden. Sie errei-chen uns zuverlässig über info@gegen-vergessen.de. Falls das Telefon einmal nicht besetzt
                 sein sollte, können Sie gern auf den Anrufbeantworter sprechen. Wir rufen zurück.

                IMPRESSUM
                Herausgegeben von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin
                Telefon (0 30) 26 39 78-3, Telefax (0 30) 26 39 78-40, info@gegen-vergessen.de, www.gegen-vergessen.de
                Bankkonto: Sparkasse KölnBonn · IBAN DE45 3705 0198 0008 5517 07 · BIC COLSDE33XXX

                Titel: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jungen Islam Konferenz 2019 (siehe Seite 11). Foto: Astrid Piethan

                Redaktion: Liane Czeremin, Dr. Dennis Riffel, Theresa Ostertag, Dr. Michael Parak (V.i.S.d.P.)
                Lektorat: Ines Eifler, Görlitz
                Gestaltung: Atanassow-Grafikdesign, Dresden
                Druck: B&W MEDIA-SERVICE Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH
                Die Zeitschrift wird klimaneutral auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt.
                Die Herausgabe dieser Zeitschrift wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.
                Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen keine Meinungsäußerung der Redaktion oder des Vereins dar.
                Wir bemühen uns allgemeinverständlich zu schreiben und verzichten daher zugunsten der Lesbarkeit auf gendergerechte Sprache. Bei Autorenbeiträgen
                überlassen wir die Entscheidung den Verfasserinnen und Verfassern.
                ISSN 2364-0251

            2   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
INHALT
Inhaltsverzeichnis
Die Themen in dieser Ausgabe

SCHWERPUNKTTHEMA
Die Arbeit für Demokratie und Vielfalt langfristig gestalten                                         4
Im Kompetenznetzwerk für die Migrationsgesellschaft                                                  7
Interview: „Wir wirken entlang der Gemeinsamkeiten.“                                                 9
Haltung statt Herkunft                                                                             11
Histories2gether: Gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte                                      13

WEITERE THEMEN
Bildkunst in der DDR                                                                               15

BLOG DEMOKRATIEGESCHICHTEN.DE
Besuch im Jüdischen Museum Berlin                                                                  20

ANALYSE UND MEINUNG
150 Jahre Reichsgründung – 30 Jahre Wiedervereinigung                                              22
Rechtsextreme Gewalt: Wir brauchen einen neuen Plan!                                               26

AUS UNSERER ARBEIT
Zur Vereinsentwicklung der vergangenen Jahre – Bernd Faulenbach zieht Bilanz                       29
Straßenkampagne zur Vereinigung: Und da stand die Mauer                                            31
RAG Südhessen: Wer beherrscht die Welt?                                                            33
RAG Münsterland: Problematische Schullektüre                                                       35
LAG Schleswig-Holstein: Erstmals „Jugendpreis gegen das Vergessen“ verliehen                       37
LAG Baden-Württemberg: Waldkirch zur NS-Zeit – Mehr als nur Stadtgeschichte                        38
Rahel-Straus-Preis 2020 geht an die Ideenwerkstatt Waldkirch in der NS-Zeit.                       40

NAMEN UND NACHRICHTEN
Fluchtpunkt Saargebiet – Lebenswege verfolgter Menschen früher und heute                           41

REZENSIONEN
Ernst-Jürgen Walberg bespricht – eine Sammelrezension:                                             43
Die Gespenster von Demmin.
Annette, ein Heldinnenepos.
180 Grad – Geschichten gegen den Hass.
Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde.

IMPRESSUM                                                                                            2
VORSTAND UND BEIRAT                                                                                47

                                              Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020   3
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA

                       Michael Tetzlaff

                       Die Arbeit für Demokratie und Vielfalt
                       langfristig gestalten
                       Gastbeitrag: Zur Idee der Kompetenznetzwerke und -zentren im Bundesprogramm
                       „Demokratie leben!“
                       Unsere Demokratie muss jeden Tag neu mit Leben gefüllt werden. Sie braucht Menschen, die sie erhalten und gestalten
                       und sich aktiv für sie einsetzen. Mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ fördert das Bundesministerium für Fami-
                       lie, Senioren, Frauen und Jugend deshalb seit 2015 zivilgesellschaftliches Engagement für ein vielfältiges und demokrati-
                       sches Miteinander und die Arbeit gegen Radikalisierungen und Polarisierungen in der Gesellschaft.

                       Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlich-                                                                                 mokratie zu (er)leben. Dies hat auch dazu

                                                                                                                                  Foto: BMFSFJ
                       keit – auf diesen Werten beruht ein gu-                                                                                   beigetragen, dass sowohl im Großen als
                       tes und solidarisches Zusammenleben                                                                                       auch im Kleinen Menschen offen über Dis-
                       von Menschen unterschiedlicher Her-                                                                                       kriminierung, Rassismus und weitere Phä-
                       kunft, Kultur und Überzeugung. Leider                                                                                     nomene Gruppenbezogener Menschen-
                       müssen wir feststellen, dass diese Werte                                                                                  feindlichkeit sprechen und ihre eigenen
                       bei uns nicht mehr unangefochten sind.                                                                                    Vorurteilsstrukturen hinterfragen konnten.
                       Menschen- und Demokratiefeindlichkeit
                       hat dabei viele Gesichter: Sie reicht von                                                                                 Gleichzeitig stehen wir im Ministerium
                       Rechtsextremismus über Antisemitismus,                                                                                    kontinuierlich vor der Herausforderung,
                       Homosexuellen- und Transfeindlichkeit,                                                                                    wie die wertvollen und innovativen
                       islamistischem Extremismus, Islam- und                                                                                    Ansätze verstetigt und in Regelstruk-
                       Muslimfeindlichkeit, Rassismus sowie An-                                                                                  turen überführt werden können. Aus
                       tiziganismus bis zu linkem Extremismus.                                                                                   den Erfahrungen der letzten Jahre, in
                       Abwertung von vermeintlich „Anderen“,                                                                                     denen eine Reihe von Organisationen –
                       Ausgrenzung und Diskriminierung sind für                                                                                  darunter auch „Gegen Vergessen Für
                       Viele im Land tagtäglich erfahrene Reali-                                                                                 Demokratie e.V.“ – in ihrer Strukturent-
                       tät. Die Morde von Hanau und Halle ha-                                                                                    wicklung zum bundeszentralen Träger
                       ben zudem auf furchtbare Art und Weise           Michael Tetzlaff, Abteilungsleiter im Bundesministerium                  unterstützt wurden, entstand für die
                       verdeutlicht, wohin menschenverachtende          für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.                                neue Förderperiode von „Demokratie
                       Einstellungen im extremsten Fall führen.                                                                                  leben!“ das Vorhaben, etablierte Träger
                                                                        zentren in allen 16 Bundesländern werden                                 in verschiedenen Themenfeldern – allein
                       Die vor allem präventiv-pädagogische Ar-         Maßnahmen zur Stärkung von Demokra-                                      oder gemeinsam mit weiteren Partnern –
                       beit von „Demokratie leben!“ setzt daher         tie und Vielfalt und gegen Extremismus                                   in Kompetenznetzwerken bzw. -zentren
                       so früh wie möglich an und verfolgt eine         in den jeweiligen Ländern gebündelt und                                  zu fördern. Diese Netzwerke und Zentren
                       proaktive Demokratieförderung und eine           Angebote der mobilen Beratung, der Op-                                   haben die Aufgabe, aktiv die präventiv-
                       nachhaltige Präventionsarbeit in Zusam-          ferberatung sowie der Distanzierungs-                                    pädagogische Praxis in den jeweiligen The-
                       menarbeit mit Kommunen, Ländern und              und Ausstiegsberatung gestaltet. Darüber                                 menfeldern zu gestalten und ihre Expertise
                       der Zivilgesellschaft. Einem ganzheitlichen      hinaus entwickeln und erproben gemein-                                   weiteren Programmakteuren, staatlichen
                       Ansatz folgend, werden im Bundespro-             nützige Träger in über 150 Modellprojek-                                 Institutionen und der breiten Öffentlichkeit
                       gramm „Demokratie leben!“ die Bedarfe            ten innovative Ansätze für die Förderung                                 zur Verfügung zu stellen und darüber hi-
                       der Präventionsarbeit in den verschiede-         von Demokratie, für die Gestaltung von                                   naus einen Transfer von erfolgreichen Prä-
                       nen sozialräumlichen Strukturen und für          Vielfalt und zur Extremismusprävention.                                  ventionsansätzen in Bundes-, Landes- und
                       unterschiedliche Zielgruppen adressiert:                                                                                  kommunale Strukturen zu gewährleisten.
                       Im Rahmen der Partnerschaften für Demo-          Das Bundesprogramm „Demokratie le-
                       kratie haben Kommunen und Landkreise             ben!“ – ausgestattet mit derzeit 115,5 Mil-                              In einer Förderlandschaft, in der sich viele
                       die Möglichkeit, Strategien zu entwickeln,       lionen Euro – hat in den letzten Jahren viele                            zivilgesellschaftliche Organisationen um
                       um zielgerichtet und beteiligungsorientiert      gute und neue pädagogische Ansätze her-                                  die Gestaltung unserer Gesellschaft küm-
                       vor Ort zu agieren und flexibel auf lokale       vorgebracht, die für Kinder und Jugendliche                              mern, die aber oftmals auch von Kon-
                       Herausforderungen zu reagieren. Durch            sowie für ihre Bezugspersonen Möglich-                                   kurrenzen um finanzielle Mittel geprägt
                       die Förderung von Landes-Demokratie-             keiten schaffen, sich einzubringen und De-                               ist, stellt ein solches gemeinschaftliches

                   4   Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA
                                                                  Arbeiten alle Akteure vor neue Herausfor-     generell das Repräsentationsdefizit von
                                                                  derungen, birgt aber zugleich auch große      Menschen mit Migrationsgeschichte aufge-
                                                                  Potenziale: Unterschiedliche Zielgruppen-     hoben werden? Welche Möglichkeiten gibt
                                                                  zugänge können genutzt und Synergien          es, um Menschen, die der Idee der Migra-
                                                                  geschaffen, Fachwissen und langjährige        tionsgesellschaft skeptisch gegenüberste-
                                                                  Erfahrungen eingebracht und gemeinsam         hen, ihre Vorbehalte und Ängste zu neh-
                                                                  neue Strategien entwickelt werden.            men? Fragen auf die wir als Gesellschaft
                                                                                                                gemeinsam Antworten finden müssen.
                                                                  Das Kompetenznetzwerk „Zusammenle-
                                                                  ben in der Einwanderungsgesellschaft“         Dazu ist es nötig, lokale Ansätze mit Fach-
                                                                  zeigt exemplarisch, wie fünf Träger mit       debatten, modellhaftes Erproben mit Re-
                                                                  unterschiedlicher Ausrichtung und Ge-         gelstrukturen und Expert*innen mit staat-
                                                                  schichte zusammengefunden haben, um           lichen Institutionen zu verbinden. Mit den
                                                                  gemeinsam dafür einzutreten, dass mi-         insgesamt 14 thematischen Kompetenz-
                                                                  grantische Perspektiven verstärkt Gehör       zentren und -netzwerken im Bundespro-
                                                                  finden und kontinuierlich daran arbeiten,     gramm „Demokratie leben!“ schaffen wir
                                                                  dass sich unsere Gesellschaft als Migrati-    dafür neue Möglichkeiten. Gesellschaft-
                                                                  onsgesellschaft versteht.                     licher Wandel kann nur gelingen, wenn
                                                                                                                Zivilgesellschaft, Wissenschaft und staat-
                                                                  Wie müssen Rahmenbedingungen aus-             liche Akteure zusammenwirken und es
                                                                  sehen, damit Menschen, die vor kurzem         mehr gemeinsames Tun gibt. ■
                                                                  nach Deutschland gekommen sind –
                                                                  seien es bspw. Geflüchtete oder EU-           Informationen: www.demokratie-leben.de
                                                                  Zuwander*innen aus Osteuropa – nicht
                                                                  nur in Deutschland leben, sondern dieses
Quelle: BMFSFJ

                                                                  Land auch mitgestalten können? Wie kann

                                                                  Michael Tetzlaff ist Abteilungsleiter „Demokratie und Engagement“ im Bundes-
                                                                  ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
                 Aufbau des Bundesprogramms „Demokratie leben!“

                  Die Partner von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. im Kompetenznetzwerk
                  für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft

                                                                                        Der Bundesverband russischsprachiger
                                                                                        Eltern e.V. (BVRE) ist eine bundesweite
                                                                                        Dachorganisation gemeinnütziger Vereine,
                  Die Türkische Gemeinde in Deutschland e.V. (TGD) arbeitet             die in vielen unterschiedlichen sozialen, kul-
                  mit ihren Landesverbänden bundesweit für Teilhabe, Gleichstel-        turellen und Bildungsbereichen aktiv sind.
                  lung und Diversitätsorientierung. Die TGD nutzt ihre Geschäfts-       Innerhalb des Netzwerkes ist der BVRE
                  stellen zur Beratung und Förderung von anderen Migrantenorga-         für die thematische Richtung „Ängste und
                  nisationen sowie zur Vernetzung miteinander, mit der etablierten      Konflikte“ zuständig und koordiniert die
                  Zivilgesellschaft, mit Politik und Verwaltung, um die Einwande-       entsprechenden Maßnahmen. Der BVRE übernimmt die Entwick-
                  rungsgesellschaft auf allen föderalen Ebenen effektiv zu gestalten.   lung und Vermittlung der Expertise über die Zielgruppe der „be-
                                                                                        weglichen Mitte“ mit dem Schwerpunkt „Ängste und Konflikte
                  Die TGD wird im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Maßnahmen              in der Einwanderungsgesellschaft“ durch verschiedene Formate,
                  entwickeln, um die bestehende gesellschaftliche Diversität in Be-     wie z.B. Multiplikator*innenschulungen, Fachaustausch und Pub-
                  zug auf ethnische Herkunft in Planungs- und Entscheidungspro-         likationen.
                  zessen insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe durch migranti-
                  sche Expert*innen zu erhöhen. Die Expert*innen sollen empowert,       Darüber hinaus ist der BVRE als eine Migrant*innenorganisation
                  qualifiziert und den Entscheider*innen bekannt gemacht werden.        dafür zuständig, dass die Expertise und Erfahrungen der Mitglieds-
                  Darüber hinaus sollen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft für   organisationen im Bereich der politischen Bildung allen relevanten
                  die notwendige Bereitschaft zum aktiven Powersharing sensibilisiert   Strukturen und Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe zur Ver-
                  werden. Die Ängste und Konflikte im Kontext einer angemessenen        fügung stehen.
                  Repräsentanz in der Einwanderungsgesellschaft erfahren in der Ar-
                  beit der TGD besondere Berücksichtigung. Die Türkische Gemeinde
                  in Deutschland koordiniert die Arbeit des gesamten Kompetenz-
                  netzwerkes Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft.                                                                                     »

                                                                                                    Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020       5
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
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                       » Die Partner von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. im Kompetenznetzwerk
                         für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft

                         Die neuen deutschen organisatio-                                                  Die Schwarzkopf-Stiftung
                         nen e.V. sind ein bundesweites Netz-                                              Junges Europa fördert jun-
                         werk von über 100 postmigrantischen                                               ge Menschen in 40 europäi-
                         Organisationen und Initiativen, die                                               schen Ländern darin, sich mit
                         sich für chancengerechte Teilhabe,                                                internationalen Perspektiven,
                         Sichtbarkeit und gegen Rassismus einsetzen. Mit ihren Positionen                  Demokratie und Teilhabe auseinanderzusetzen. Durch Peer-Netz-
                         und Inhalten bringen sie sich in gesellschaftliche Debatten ein und               werke, Stipendien, Seminare und Dialogformate fördert sie
                         sorgen so für eine inklusivere und gerechtere Gesellschaft.                       Begegnungen und stärkt junge Menschen darin, an politischen
                                                                                                           Diskursen teilzuhaben.
                         Im Rahmen des Kompetenznetzwerks unterstützen und beraten
                         sie Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Koopera-                       Im Rahmen des Kompetenznetzwerks Zusammenleben in der
                         tionspartner*innen im Bundesprogramm „Demokratie leben!“                          Einwanderungsgesellschaft setzt sie sich insbesondere dafür ein,
                                                                                                           die politische Teilhabe von Kindern und Jugendlichen unabhängig
                         Mit ihrer Fachexpertise, Öffentlichkeitsarbeit und ihrem Knowhow,                 ihrer Herkunft zu fördern. Dafür schafft sie Beratungs-, Qualifizie-
                         wie eine offene Migrationsgesellschaft gestaltbar ist, schaffen sie               rungs- und Dialogangebote für Fachkräfte, Multiplikator*innen
                         auf verschiedenen Ebenen Räume für einen Austausch sowie eine                     und Ehrenamtliche der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext von
                         nachhaltige Sensibilisierung und Qualifizierung.                                  Pluralismus und Differenz. Ziel dessen ist es, jungen Menschen un-
                                                                                                           terschiedlicher Hintergründe als aktiven Bürger*innen einer plu-
                                                                                                           ralistischen, inklusiven und demokratischen Migrationsgesellschaft
                                                                                                           Gehör zu verschaffen.

                                                                                                                                                                                             Screenshot: Liane Czeremin

                         Das Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft versteht sich als Zusammenschluss von Trägern, die das Zusammenleben in
                         einer offenen Gesellschaft in Vielfalt durch die Entwicklung eines inklusiven Selbstverständnisses und die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe und Repräsen-
                         tanz in der Migrationsgesellschaft fördern und gestalten wollen. Mehr Infos unter kn-zusammenleben.de

                   6    Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA
Michael Parak

Im Kompetenznetzwerk für die
Migrationsgesellschaft
Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. ist 1993 im Kontext der rechtsextremen und rassistischen Anschläge in Mölln und
zahlreichen anderen Orten der Bundesrepublik entstanden. Das Postulat „Nie wieder!“ ist seitdem für die meisten unserer
Mitglieder und Mitarbeiter Ansporn, sich zu engagieren: gegen Extremismus, gegen jegliche Diktaturen. Im Namen un-
serer Vereinigung ist aber auch eine positive Wendung angelegt, wofür wir wirken wollen: die Stärkung der Demokratie
in Deutschland. Dafür bedarf es der praktischen Teilhabe an der res publica und damit des Handelns für Bürgerinnen und
Bürger. Die im Grundgesetz festgeschriebenen Werte, Rechte und Pflichten bieten den Rahmen, in dem sich die Weiterent-
wicklung der Demokratie in Deutschland vollziehen soll.

Den Aspekt „Für Demokratie“ füllen wir

                                                                                                                                                              Foto: konzeptautoren
zum Beispiel mit der Vermittlung unserer
Demokratiegeschichte und mit dem Plä-
doyer für eine offene Gesellschaft in Viel-
falt. Die Mitgliedschaft im Kompetenz-
netzwerk für das Zusammenleben in der
Einwanderungsgesellschaft bietet nun
seit Anfang 2020 die Möglichkeit, den
positiven Ansatz des Vereins weiter zu
stärken. Im Folgenden soll skizziert wer-
den, welche Aufgaben und Ziele mit dem
Kompetenznetzwerk verbunden sind.

Der bisherige Schwerpunkt der Geschäfts-
stelle im Zusammenhang mit dem Bundes-
programm „Demokratie leben!“ und ähn-
lichen Programmen lag in der Extremismus-
prävention. Die „Online-Beratung gegen
Rechtsextremismus“, „BeInterNett“ und
das „ARGUTRAINING WIeDERSPRECHEN
FÜR DEMOKRATIE“ sind erfolgreiche Bei-
spiele dafür, ebenso wie das „Präventi-
onsnetzwerk gegen religiös begründeten
Extremismus“, das wir gemeinsam mit
der Türkischen Gemeinde in Deutschland
aufgebaut haben. Aber wir beschäftigen
uns seit längerer Zeit auch mit Themen der
Migrationsgesellschaft. So haben wir für
die Bundeszentrale für politische Bildung
schon vor acht Jahren Bildungsmaterialien
zur „Praktischen Geschichtsvermittlung in
der Migrationsgesellschaft“ erstellt.

In der neuen Förderphase des Bundespro-
gramms „Demokratie leben!“ bieten nun-
mehr die Kompetenznetzwerke und -zent-
ren den Rahmen für bundesweit agierende
Teilnehmer des Programms. Die Träger in
unserem Netzwerk sind sehr unterschied-
lich aufgestellt, sie vertreten verschiedene
                                               Straßenszene in Berlin während der Fußball-Europameisterschaft von 2016. Im Kompetenznetzwerk für das Zu-
Teile der Gesellschaft, verfolgen unter-       sammenleben in der Einwanderungsgesellschaft trägt Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. zu einem Selbstver-
schiedliche Ansätze und Arbeitsweisen.         ständnis Deutschlands als Migrationsgesellschaft bei.                                                          »

                                                                                         Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020                                  7
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA

                                                                                                                                                                                     Foto: Florian Gaertner / photothek.net
                       » Dies führt zu einem hohen Abstimmungs-
                         bedarf, wenn es um gemeinsame Veran-
                         staltungen geht. Doch es gibt auch ein
                         großes Potenzial, die eigenen Perspektiven
                         zu erweitern und voneinander zu lernen.
                         Auch diese Zeitschrift hat davon schon
                         profitiert. So sind in mehreren Ausgaben
                         bereits Autorenbeiträge von Kollegen der
                         Türkischen Gemeinde in Deutschland und           Die Mitglieder im Kompetenznetzwerk präsentierten ihre Arbeit im Januar 2020 bei einer Auftaktveranstal-
                         dem Bundesverband russischsprachiger El-         tung mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey.
                         tern erschienen. Im vorliegenden Heft be-
                         richten Mitarbeiterinnen der Schwarzkopf         jährige Erfahrung und Expertise in der                den Start gehen, außerdem ist eine Bro-
                         Stiftung Junges Europa und der „neuen            Gestaltung eines konstruktiven Dialogs                schüre zur Ansprache von Zielgruppen
                         deutschen organisationen“ von ihrer Ar-          für das gesellschaftliche Zusammenle-                 in der Mitte der Gesellschaft geplant.
                         beit und ihren Anliegen.                         ben sowie auf ein breites Netzwerk an                 Vom 23. bis 27. November wird es eine
                                                                          Kooperationspartnern in der ganzen                    Fachkonferenz in Form einer digita-
                         Gemeinsames Leitbild                             Bundesrepublik zurückgreifen. Mit dem                 len Themenwoche geben, die alle fünf
                                                                          historischen Ansatz kann der Verein dazu              Netzwerk-Partner gemeinsam organisie-
                         Die Blickwinkel unserer Netzwerkpartner          beitragen, dass über die Beschäftigung                ren und gestalten. Wir laden auch alle
                         sind für uns manchmal neu und an eini-           mit positiven Beispielen aus der Ge-                  Mitglieder von Gegen Vergessen – Für
                         gen Stellen sind wir anderer Meinung.            schichte ein neues Selbstverständnis von              Demokratie e.V. ein, an den öffentlichen
                         Die Chance des Kompetenznetzwerks                Deutschland als Migrationsgesellschaft                Formaten teilzunehmen.
                         liegt darin, trotz dieser Unterschiede zu-       entstehen kann.
                         sammenzuwirken, denn gemeinsam bil-                                                                    Kontinuität in der
                         den wir beachtliche Teile der vielfältigen       Eine besondere Herausforderung be-                    Demokratieförderung
                         Gesellschaft ab: bezogen etwa auf unter-         steht darin, Ansätze aufzuzeigen, wie
                         schiedliche parteiliche Präferenzen und          Menschen für eine offene Gesellschaft                 Historische Erinnerungsarbeit mit dem
                         Bildungsansätze, west- und ostdeutsche           gewonnen werden können, die der Mig-                  konkreten Einsatz für die Demokratie zu
                         Hintergründe, das Geschlecht und Alter,          ration bislang gleichgültig oder skeptisch            verbinden: Das ist und bleibt das zentrale
                         auch besonders die Herkunftsgeschichte.          gegenüberstehen. Auch der Zusammen-                   Anliegen und gleichzeitig die besondere
                         Somit spiegeln sich gesellschaftliche Kon-       hang von Migrationsgesellschaft und                   Botschaft von Gegen Vergessen – Für
                         flikte und ihre Lösungsmöglichkeiten im          Transformationsgesellschaft nach der                  Demokratie e.V. Wenn wir uns mit den
                         Kleinen auch in unserem Netzwerk.                Friedlichen Revolution bildet für uns ei-             Diktaturen des 20. Jahrhunderts beschäf-
                                                                          nen thematischen Schwerpunkt. Gegen                   tigen, stellen wir uns immer auch die Fra-
                         Als gemeinsames Leitbild hinter den Be-          Vergessen – Für Demokratie e.V. möchte                ge: Was können wir in der Demokratie
                         mühungen des neuen Netzwerks steht               im Kompetenznetzwerk dazu beitragen,                  heute aus diesen bitteren gesellschaftli-
                         eine Kultur der Gleichwertigkeit, wie sie        einen Dialog zu ermöglichen, der Kon-                 chen Erfahrungen lernen? Andersherum
                         in den Artikeln des Grundgesetzes und            flikte aushält, aber auch Gemeinsames                 bleibt die historische Perspektive eine
                         der EU-Grundrechte-Charta verankert ist.         betont.                                               wichtige, wenn wir uns mit heutigen Fra-
                         Für das Kompetenznetzwerk stehen dabei                                                                 gen der Demokratieentwicklung beschäf-
                         vor allem zwei Ziele im Mittelpunkt: das         Servicestelle für andere Projektträger                tigen. Es geht darum, Demokratie in ihren
                         Selbstverständnis Deutschlands als Migra-                                                              verschiedenen Facetten zu verstehen, zu
                         tionsgesellschaft zu fördern und auf eine        In vorderster Linie sind die bundesweiten             erleben, eine Haltung zu gewinnen und
                         angemessene Repräsentanz sowie gleich-           Träger dafür da, als eine Art Servicestel-            danach zu handeln. Verschiedene demo-
                         berechtigte Teilhabe in der Migrationsge-        le ihr Wissen an die Modellprojekte und               kratiebejahende Einstellungen sollen sich
                         sellschaft hinzuwirken. Denn ein friedvol-       lokalen Partnerschaften für Demokratie                zu einem größeren Ganzen, einem Be-
                         les Miteinander kann nur gelingen, wenn          des Bundesprogramms sowie an Träger                   wusstsein für Demokratie bündeln. Dies
                         alle einen Platz in der Gesellschaft finden      der Kinder- und Jugendhilfe weiterzuge-               soll dann in eine demokratische Haltung
                         können, die hier leben, und wenn alle die        ben. Es ist aber auch gewollt, dass daraus            münden.
                         Chance erhalten und dazu motiviert wer-          Impulse für die gesellschaftliche Debatte
                         den, sich einzubringen.                          gesetzt werden.                                       Dies gilt auch für das Themenfeld Migra-
                                                                                                                                tion. So, wie wir die Vermittlung unserer
                         Konstruktive Dialoge gestalten                   Erste konkrete Angebote und Veran-                    Demokratiegeschichte als wichtiges Mit-
                                                                          staltungen für diese Zielgruppen stehen               tel zur Förderung demokratischer Denk-
                         Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.            bereits fest. So wird in Kürze unser neu-             weisen und Identitäten in die Politik und
                         kann für diese Aufgaben auf eine lang-           er Blog „Migrationsgeschichten.de“ an                 Gesellschaft eingebracht haben, so wol-
                                                                                                                                len wir auch bei Fragen der Gestaltung
                         Dr. Michael Parak ist Historiker und Geschäftsführer von Gegen Vergessen – Für                         unserer Migrationsgesellschaft aus der
                         Demokratie e. V.                                                                                       Geschichte lernen. ■

                   8     Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA
Interview

„Wir wirken entlang der Gemeinsamkeiten.“
Die Kultur- und Sozialwissenschaftlerin Meral El ist Geschäftsführerin der „neuen deutschen organisationen“ (ndo), einem
postmigrantischen Netzwerk, das sich 2015 gegründet hat. Die ndo sind einer der Partner von Gegen Vergessen – Für De-
mokratie e.V. im Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft. Wir sprachen mit Meral
El über die Arbeit der ndo.

Frau El, können Sie kurz zusammen-                                                                             mitgeht, geht es mit – wenn nicht, dann

                                                                                         Foto: Barbara Dietl
fassen, was ein postmigrantisches                                                                              nicht. Dieses Prinzip führt zu großer Fle-
Netzwerk ist?                                                                                                  xibilität, viel Freiraum und Kreativität. Wir
                                                                                                               bieten einen Raum, der sich öffnet, wo in
Meral El: Im Jahr 2015 sind mehrere                                                                            der Unverbindlichkeit sehr viel Verbindli-
Vereine und Initiativen zum ersten Bun-                                                                        ches entsteht, viel Vernetzung und Syn-
deskongress der neuen deutschen organi-                                                                        ergie.
sationen zusammengekommen. Ziel war
es, Raum für Vernetzung und Austausch                                                                          Ein Beispiel: Sie haben einen Instagram-
zu schaffen. Hauptsächlich waren dies                                                                          Kanal und bedienen dort politische The-
Menschen, die Rassismuserfahrungen                                                                             men. Wenn Sie sich zur Vernetzung an
machen und in Deutschland geboren                                                                              einen klassischen Verband wenden woll-
wurden, seit Generationen in Deutsch-                                                                          ten, wüssten Sie erst einmal nicht: Wer ist
land leben oder den Großteil ihres Le-                                                                         im Vorstand? Wer ist sprechberechtigt?
bens in Deutschland sind. Diese haben                                                                          Können Sie hier mitmachen oder nicht?
sich in dem postmigrantischen Netzwerk                                                                         All diese Hürden gibt es bei uns nicht. Wir
„neue deutschen organisationen“ zu-                                                                            öffnen Begegnungs- und Dialogräume: in
sammengeschlossen. Aktuell besteht                                                                             unseren Veranstaltungen, durch unseren
das Netzwerk aus über 120 Initiativen,       ndo-Geschäftsführerin Meral El.                                   Newsletter und über unsere Social Me-
Vereinen und Dachverbänden. Unsere                                                                             dia-Kanäle.
Mitglieder sind People of Color (PoC)        sind. Unsere zweite Zielgruppe sind po-
oder Schwarz, Bindestrich-Deutsche oder      litische Akteur*innen, Einzelpersonen,                            Wie viele Leute kommen denn
eben anders. Unsere Gemeinsamkeit: Wir       Stiftungen, Politiker*innen, die sich für                         mittlerweile zu den Kongressen?
sehen uns als postmigrantische Bewe-         eine offene Gesellschaft engagieren. Und                          Ende Februar hatten wir bei unserem jähr-
gung gegen Rassismus und für ein inklu-      dann wollen wir auch direkt in die breite                         lichen Bundeskongress 396 Teilnehmen-
sives Deutschland.                           Gesellschaft hineinwirken und dort Im-                            de, wir mussten 150 Personen absagen.
                                             pulse setzen.                                                     Wir erreichen also sehr viele Menschen,
Wen möchten Sie mit dieser Perspek-                                                                            nur unter den Jüngeren könnten es noch
tive erreichen?                              Gibt es auch skeptische Stimmen                                   mehr sein. Für sie haben wir jetzt im Rah-
Wir möchten Menschen ansprechen, die         zu Ihrem Ansatz?                                                  men des Kompetenznetzwerks einen ei-
sich für eine gleichberechtigte Gesell-      Auf dem Gründungskongress 2015 wa-                                genen Jugendkongress einberufen, dafür
schaft für alle einsetzen. Das sind sowohl   ren einige der rund 60 dort vertretenen                           arbeiten wir wiederum mit verschiedenen
Menschen, die unter Rassismus- und           Verbände schon skeptisch und haben                                Initiativen zusammen, zum Beispiel mit
Diskriminierungserfahrungen leiden und       sich gefragt: Was ist das denn? Was ist                           den Sons of Gastarbeita aus NRW, dem
sich dagegen wehren möchten, als auch        neudeutsch? Was ist eine neue deutsche                            RomaTrial aus Berlin oder Curly Culture
Deutsche, die davon nicht selbst betrof-     Organisation? Sie haben das dann beob-                            aus Dresden. Später sollen noch Formate
fen sind und sich dafür einsetzen wollen,    achtet und den Austausch gesucht. Jahr                            speziell für junge Erwachsene folgen –
dass alle Bürger*innen dieselben Rechte      für Jahr haben sich mehr Initiativen ent-                         herkunftsübergreifend.
haben und niemand diskriminiert wird.        schieden, bei uns mitzumachen.
                                                                                                               Auch Vertreter*innen aus den politischen
Wir haben drei Ebenen der Ansprache.         Geholfen hat dabei unsere klare Ansage,                           Parteien nutzen den Raum, um in Kon-
Zum einen unser Netzwerk selbst, das         kein neuer Dachverband sein zu wollen.                            takt und Dialog zu kommen. Wohlge-
hauptsächlich aus Mitgliedsorganisati-       Wir wollten ein Netzwerk sein, das ge-                            merkt: Sie sitzen nicht als Referent*innen
onen besteht, in denen mindestens 60         meinsame Forderungen artikuliert, aber                            auf dem Panel. Sie kommen als Teilneh-
Prozent der Führungsebenen mit Schwar-       nicht mit klassischen Strukturen und                              mende. Wir haben darüber hinaus star-
zen Menschen, People of Color und Men-       Abstimmungsrichtlinien arbeitet. Wenn                             ke transatlantische und transeuropäische
schen mit Bindestrich-Identitäten besetzt    ein Netzwerkmitglied bei einem Thema                              Beziehungen geknüpft. In unserem Netz- »

                                                                               Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020                      9
FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
SCHWERPUNKTTHEMA

                                                                                                                                                                        Foto: Shaheen Wacker
                          Diskussionsrunde auf dem Bundeskongress der ndo in Berlin.

                        » werk und in unseren Zielgruppen gibt es              gut getan. Wir haben auf dem Kongress        Was erhoffen Sie sich von unserer
                          auch Zusammenschlüsse von Menschen,                  zusammen diskutiert, wir haben zusam-        gemeinsamen Arbeit im Kompetenz-
                          die ausschließlich im digitalen Raum exis-           men geweint, zusammen gelacht und am         netzwerk?
                          tieren.                                              Abend zusammen Party gemacht – und           Genauso wie das ndo-Netzwerk ist
                                                                               haben der Menschen in Hanau gedacht.         das Kompetenznetzwerk für mich eine
                          Seit der Gründung der ndo 2015 hat                                                                Möglichkeit, in einem breiten Bünd-
                          sich die Gesellschaft in Deutschland                 Ihr Netzwerk heißt „neue deutsche            nis eine große Wirkung zu erzielen, mit
                          noch einmal verändert, die AfD ist in                organisationen“. Ich kenne Familien,         Akteur*innen, die unterschiedliche An-
                          zahlreiche Parlamente eingezogen,                    die seit Generationen hier sind, in          sätze verfolgen und verschiedene Ziel-
                          rechtspopulistische Stimmen sind                     denen aber darüber gestritten wird,          gruppen erreichen. Wir können das, in-
                          „normaler“ geworden, es gab wieder                   ob man sich als Deutsche betrachten          dem wir Begegnungen und Dialogräume
                          Mordtaten. Was hat das für Auswir-                   sollte. Was sagen Sie denen?                 schaffen, indem wir unsere Zugänge ein-
                          kungen auf Ihre Netzwerke?                           Das geschieht, wenn dir aus der Gesell-      ander zugänglich machen und gegensei-
                          Die AfD, die Anschläge in Halle und Ha-              schaft heraus die ganze Zeit gesagt wird:    tig von unserer Expertise und Erfahrung
                          nau, die anhaltenden Nachwirkungen                   Du bist nicht deutsch! Darauf folgt oft      lernen. Genau das ist es, was wir jetzt
                          des NSU, jetzt Black Lives Matter: All die-          eine Gegenreaktion: Die anderen sehen        brauchen – uns selbst als auch Leute in
                          se Entwicklungen führen zu einer starken             uns nicht als Deutsche, warum sollen wir     der Praxis zu vernetzen, Räume zu schaf-
                          Politisierung und Aktivierung. Also auch             uns dann anbiedern? Aspekte der Iden-        fen und zu zeigen: Es ist eine inklusive
                          Menschen, die vorher nicht auf Demons-               tität sind jedoch sehr heterogen. Für uns    Migrationsgesellschaft, in der wir leben!
                          trationen, Konferenzen oder Veranstal-               steht momentan ganz klar eine andere         Wir haben unsere Themen, arbeiten dar-
                          tungen gegangen sind, suchen jetzt den               Frage im Vordergrund: Wie können wir         an und lassen uns nicht von rassistischen
                          Zusammenschluss und sagen: Ich bin                   hier sicher leben?                           oder rechtsextremistischen Diskursen ver-
                          noch alleine, ich bin in keinem Verein, in                                                        leiten. Wir setzen unsere Themen und
                          keiner Initiative, wo kann ich mitmachen?            Was motiviert Sie persönlich für die         führen unsere Diskurse. Wir agieren statt
                                                                               Arbeit bei den ndo?                          zu reagieren! ■
                          Sehr stark werden Fragen nach Sicherheit             2015 war ich selbst etwas skeptisch, ob
                          gestellt: Ich lebe hier, das ist mein Zuhau-         so ein lockeres Netzwerk nachhaltig sein     Die Fragen stellte Liane Czeremin.
                          se. Wie kann ich hier sicher leben? Was              kann. Hier treffen ja auch Akteur*innen
                          brauche ich dafür?                                   zusammen, die sehr unterschiedlich aus-
                                                                               gerichtet sind, von liberal-konservativ
                          Die Morde in Hanau geschahen drei Tage               über linksliberal bis linkskritisch. Aber
                          vor unserem Bundeskongress im Februar.               diese breit aufgestellte Plattform hat
                          Bei uns kamen mehrere E-Mails von Teil-              mich auch motiviert. Wir kommen ent-
                          nehmenden an, die sich nicht mehr trau-              lang der Gemeinsamkeiten zusammen:
                          ten, mit der Bahn zu dem Kongress zu                 für Chancengerechtigkeit, für Inklusion,
                          fahren. Wir haben diese mit anderen zu-              für Sichtbarkeit und gleichberechtigte
                          sammengebracht, die schließlich gemein-              Teilhabe. Das ist einfach etwas sehr, sehr
                          sam angereist sind. Das hat ihnen sehr               Wichtiges!

                   10     Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA
Theresa Singer

Haltung statt Herkunft
Zur Idee und Geschichte der Jungen Islam Konferenz
Zehn Jahre ist es her, dass Thilo Sarrazin den Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hat. Das Buch ver-
ankerte eine offen islamfeindliche Stimmung in der öffentlichen Debatte. Diskurse um Islam und Muslime in Deutsch-
land sind seither geprägt von Ausschlüssen und pauschalen Zuschreibungen, die eine Spaltung der Gesellschaft voran-
treiben. Rassistische Denkweisen wurden salonfähig.

Im Jahr nach dem Erscheinen von Sar-

                                                                                                                                                           Foto: Astrid Piethan
razins Buch kamen erstmals junge Men-
schen aus ganz Deutschland zusammen,
um ein Gegennarrativ zu entwerfen: die
Junge Islam Konferenz (JIK), initiiert von
der Humboldt-Universität zu Berlin und
der Stiftung Mercator. Die JIK vertritt
seitdem das Credo „Haltung statt Her-
kunft“. Dahinter steht die Grundhaltung,
dass pluralistische Lebenswelten als po-
sitive Realität wahrgenommen und als
Normalität gelebt werden. Bis dato hat-
te es in Deutschland kein herkunfts- und
religionsübergreifendes Forum für junge
Menschen gegeben, in dem sie über Is-
lam- und Muslimbilder in der Gesellschaft
reflektieren und diskutieren konnten.

Aus diesem Gründungsgedanken heraus          Teilnehmerin Aisha 2018 auf der Länderkonferenz der JIK in Nordrhein-Westfalen. Für sie ein Ort, an dem sie
hat sich die Junge Islam Konferenz (JIK)     neue Freundschaften schließen und mehr Selbstbewusstsein entwickeln konnte.

über die Jahre hinweg weiterentwickelt.
Im Wesenskern ist sie aber eine Dialog-      teln, die Pluralität als Chance versteht               deskonferenz in seinem Blogbeitrag so:
plattform für junge Menschen geblieben,      und als Normalität begreift. Einzige Vo-               „Ich wurde ziemlich rabiat aus meiner
die sich mit Fragen des konstruktiven und    raussetzung für die Teilnahme ist die                  badischen Wohlfühlblase herausgerissen
gleichberechtigten Zusammenlebens in         Offenheit für andere Erfahrungen und                   und vielleicht das erste Mal mit realen
der Migrationsgesellschaft auseinander-      Sichtweisen. Denn die Möglichkeit zum                  Rassismuserfahrungen konfrontiert. […]
setzen. Junge Menschen im Alter von 17       Perspektivwechsel ist ein Grundpfeiler                 Ich habe etwas gelernt, was so nahelie-
bis 25 Jahren kommen auf der Bundes-         der Veranstaltungen. Die jungen Teilneh-               gend erscheint, worüber ich aber vorher
konferenz, der Sommerakademie, den           menden starten von verschiedenen Punk-                 doch nie nachgedacht habe: Ich werde
JIK-Talks und verschiedenen Netzwerk-        ten. Buchstäblich, denn sie kommen aus                 von der Gesellschaft als weißer Mann
veranstaltungen zusammen und disku-          der ganzen Bundesrepublik zusammen.                    wahrgenommen und genieße damit Pri-
tieren über Themen wie Pluralität und        Vor allem jedoch aufgrund pluraler Bio-                vilegien. Von diesem Zeitpunkt an habe
Zugehörigkeit, unabhängig von Herkunft       grafien und unterschiedlicher Erfahrun-                ich begonnen, meinen Weg zu dieser
und Religionszugehörigkeit. Ziel ist es,     gen mit struktureller und individueller                Einsicht auf Instagram zu dokumentieren,
junge Menschen dazu zu befähigen, an         Diskriminierung.                                       und versuche damit, andere Menschen
gesellschaftlichen und politischen Diskur-                                                          zu erreichen […] War es richtig, sich das
sen teilzunehmen und eine inklusive und      Zum Selbstverständnis der Jungen Islam                 Leben schwerer zu machen? Definitiv!
friedvolle Gesellschaft mitzugestalten.      Konferenz gehört es, die Teilnehmenden                 Was bringt es uns, immer wegzuschauen.
                                             für sich selbst sprechen zu lassen. Anstatt            Auch das ist ein Privileg, das ich als wei-
Raum für Perspektivwechsel                   auf exklusiv geführte gesellschaftliche                ßer Mann habe. Menschen, die tagtäglich
                                             Debatten zu reagieren, teilt unser junges              Rassismus erleiden, können das nicht.“
Alle Angebote der JIK sind darauf aus-       Netzwerk in einem Blog ihre Perspektiven
gerichtet, ein positives Selbstverständnis   und Beweggründe. Erik schildert seine                  Die Erfahrungen, die Erik als Angehöriger
einer vielfältigen Gesellschaft zu vermit-   Erfahrungen und Eindrücke von der Bun-                 der Mehrheitsgesellschaft macht, unter- »

                                                                                      Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020                        11
SCHWERPUNKTTHEMA

                                                                                                                                                                              Foto: Astrid Piethan
                         Haltung statt Herkunft ist das Motto der Jungen Islam Konferenz. Mit im Bild Teilnehmer Erik (m.).

                        » scheiden  sich fundamental von denen                   geschichte und unterschiedlicher Religi-          Dialog, konstruktive Debatten und junge
                         anderer Teilnehmer*innen. Aisha bei-                    onszugehörigkeit kommen zusammen –                Perspektiven auf die Migrationsgesell-
                         spielsweise sieht sich in ihrem Alltag Mehr-            nicht um sich gegenseitig Vorurteile an           schaft.
                         fachdiskriminierungen ausgesetzt. An-                   den Kopf zu werfen, sondern um ein-
                         fangs befürchtete sie, auch bei der Jungen              ander zuzuhören, Fragen zu stellen und            2020 fand die Bundeskonferenz der JIK
                         Islam Konferenz keinen Raum zu haben,                   einen offenen Diskurs zu fördern. Für Ai-         aufgrund der aktuellen Umstände zum
                         wirklich gesehen und verstanden zu                      sha hat sich durch die Teilnahme an der           ersten Mal im digitalen Raum statt. Das
                         werden.                                                 Länderkonferenz in Nordrhein-Westfalen            Motto in diesem Jahr: „Achtung Haltung.
                                                                                 viel verändert:                                   Wie die Generation Postmigrantisch ihren
                         „Als Schwarze Muslima ist Diskriminie-                                                                    Platz in der Gesellschaft sichert.“ ■
                         rung für mich Alltag. Lange habe ich die                „Die JIK ist mehr als nur zwei Wochen-
                         Augen davor verschlossen, habe nach                     enden, an denen sich Menschen zu ei-              Mehr Infos zur Konferenz sowie die Bei-
                         Entschuldigungen gesucht, weshalb                       ner Konferenz zusammenfinden. Sie be-             träge der jungen Netzwerkmitglieder
                         Menschen andere Menschen diskrimi-                      gleitet mich jetzt ständig – in Form neu          zum Nachlesen unter:
                         nieren: Hatte die Person, die mich einen                gewonnener Freunde wie auch in einem              www.junge-islam-konferenz.de
                         ‚Scheißflüchtling‘ nannte, vielleicht nur               selbstbewussteren Auftreten. Größter
                         einen schlechten Tag oder gerade ihren                  Lerneffekt: Verdrängung ist auch keine
                         Job verloren? Diese Verdrängungstaktik                  Lösung.“
                         war bequem, machte mich aber stumm.
                         Doch während meiner Teilnahme an der                    Das Netzwerk der Jungen Islam Konfe-
                         Jungen Islam Konferenz in NRW fing ich                  renz versteht sich dabei auch als plurale
                         an, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich                Stimme einer postmigrantischen Gene-
                         sind, und Diskriminierung als solche zu                 ration. Saide formuliert in ihrem Beitrag
                         benennen.“                                              von 2018 sehr schön, worum es dabei
                                                                                 geht: „Die Jugend heutzutage existiert
                         Fragen statt Vorurteile                                 nur in ihrer Vielgestaltigkeit. Ist nicht eins,
                                                                                 sondern viel. Ist nicht gleich, sondern ver-
                         Gemeinsamkeiten stärken und Differen-                   schieden. Ist alles, was ihr abgesprochen
                         zen abbauen – darum geht es in allen                    wird zu sein.“ Die JIK will für diese jungen
                         Formaten der Jungen Islam Konferenz.                    Menschen, die postmigrantische Genera-
                         Jugendliche mit und ohne Migrations-                    tion, Verstärker sein und Plattform. Für

                         Theresa Singer ist die Kommunikationsmanagerin der Jungen Islam Konferenz (JIK)
                         und koordiniert damit die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Projekts. Die JIK ist
                         seit Oktober 2019 ein eigener Programmbereich der Schwarzkopf-Stiftung Junges
                         Europa und damit Teil des Kompetenznetzwerks Zusammenleben in der Einwande-
                         rungsgesellschaft.

                   12    Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA
                                                                     Janina Berkle und Rachel Dickstein

                                                                     Histories2gether: Gemeinsam für
                                                                     Demokratie und Menschenrechte
                                                                     Ehemalige DDR-Inhaftierte und heute politisch Verfolgte gestalten zusammen
                                                                     Seminare in Berlin-Hohenschönhausen.
                                                                     Die Integration von Geflüchteten in Deutschland und das friedliche Zusammenleben in einer vielfältigen, weltoffe-
                                                                     nen Gesellschaft sind bedeutende Herausforderungen der Gegenwart. Gedenkstätten als authentische Orte der Ge-
                                                                     schichtsvermittlung, der politischen Bildung und Demokratieerziehung können hierbei eine große Rolle spielen. Die
                                                                     Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen möchte mit neuen Bildungsangeboten ihren Beitrag dazu leisten.
                                                                     Aus diesem Grund hat die Stiftung mit dem Projekt Histories2gether besondere Tandemseminare entwickelt.

                                                                     Histories2gether bietet Tandems mit zwei                kommen oder wurden verletzt und erlebten       das von der Staatsministerin für Kultur
                                                                     Zeitzeug*innen an, die gemeinsam über                   in einem Stasi-Gefängnis wie dem in Berlin-    und Medien Monika Grütters geförderte
                                                                     ihre Erlebnisse sprechen. Der Titel des Pro-            Hohenschönhausen als politische Häftlinge      Projekt „Neue Vermittlungsangebote in
                                                                     jektes steht dabei nicht nur für die beiden             psychische Folter.                             der historisch-politischen Bildung“ durch.
                                                                     Referent*innen, für die Reise in die Vergan-                                                           Dieses Projekt dient der Integration und
                                                                     genheit und den Bezug zur Gegenwart,                    Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohen-        Inklusion bisher unterrepräsentierter Be-
                                                                     sondern bedeutet auch, dass Geschich-                   schönhausen hat den gesetzlichen Auftrag,      suchergruppen in der Gedenkstätte: Dazu
                                                                     te gemeinsam entdeckt wird und The-                     über die Geschichte des Haftortes und das      zählen Schüler*innen von Berufsschulen,
                                                                     men sichtbar werden, die alle verbinden.                System der politischen Justiz in der Deut-     Menschen mit Fluchterfahrung, Deutsche
                                                                                                                             schen Demokratischen Republik zu for-          mit Migrationsgeschichte und Menschen
                                                                     Die Idee zu Histories2gether                            schen sowie die Öffentlichkeit darüber zu      mit kognitiven Beeinträchtigungen wie zum
                                                                                                                             informieren. Mit ihren Angeboten regt sie      Beispiel Lernschwierigkeiten.
                                                                     Von der Gründung der DDR bis zum Fall der               zur Auseinandersetzung mit den Formen
                                                                     Berliner Mauer sind Millionen Menschen                  und Folgen politischer Verfolgung in der       Wenn man Wissen über Diktaturen, Un-
                                                                     aus der SED-Diktatur geflohen – teils unter             kommunistischen Diktatur an.                   terdrückung, Flucht und politische Haft in
                                                                     den schwierigsten Bedingungen und unter                                                                der Vergangenheit anschaulich vermitteln
                                                                     größter Gefahr. Mehr als tausend Men-                   Um diesen Auftrag für ein breiteres Pub-       will, ist es unerlässlich, einen Bogen zur
                                                                     schen sind bei ihrer Flucht ums Leben ge-               likum zu erfüllen, führt die Gedenkstätte      Gegenwart zu schlagen. Bezüge zu heu-
                                                                                                                                                                            tigen Schicksalen von Flucht und Verfol-
                                                                     Mohamad Khalil (r.) zeigt Zeitzeugin Monika Schneider (l.) seinen Fluchtweg.                           gung liegen daher nahe: Im Jahr 2015 sind
                                                                                                                                                                            viele Menschen aus Krisenregionen wie
                                                                                                                                                                            Syrien über das Mittelmeer nach Europa
Foto: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen / Collage: Megan Benson

                                                                                                                                                                            geflüchtet, beispielsweise um politischer
                                                                                                                                                                            Haft zu entgehen. Dabei sind viele ums Le-
                                                                                                                                                                            ben gekommen oder waren monatelang
                                                                                                                                                                            unterwegs.

                                                                                                                                                                            Histories2gether greift nun verschiedene
                                                                                                                                                                            dieser Schicksale auf. Entstanden sind Tan-
                                                                                                                                                                            demseminare, die gemeinsam von einem
                                                                                                                                                                            ehemaligen politischen Häftling der DDR
                                                                                                                                                                            sowie von einem Neuangekommenen mit
                                                                                                                                                                            aktueller Fluchterfahrung geleitet werden.
                                                                                                                                                                            In den Seminaren geht es zum einen um
                                                                                                                                                                            Integration von Menschen, die wegen po-
                                                                                                                                                                            litischer Verfolgung nach Europa geflohen
                                                                                                                                                                            sind, zum anderen auch um Demokratie-
                                                                                                                                                                            erziehung, wenn die Zeitzeug*innen ge-
                                                                                                                                                                            meinsam über Flucht, Haftorte und Dikta-
                                                                                                                                                                            turen berichten.                            »

                                                                                                                                                                Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020   13
SCHWERPUNKTTHEMA

                                        » Die Vorbereitungsphase                                                      scheiterte, er wurde gefasst und zu einem       ich erkennen konnte, dass die Aufnahme
                                                                                                                      Jahr und sieben Monaten Haft verurteilt.        von fremden Menschen, gerade aus Dik-
                                                                 Um mögliche Referent*innen und Zielgrup-             Heute führt er gemeinsam mit aktuell Ge-        taturen und Kriegsgebieten, in der Bilanz
                                                                 pen für die Tandemseminare zu erreichen,             flüchteten Histories2gether-Tandemsemi-         keine Last für unser Land bedeutet. Die
                                                                 hat das Team Kooperationen mit Vereinen              nare durch. Er sagt:                            Schicksale meiner Kollegen und deren
                                                                 und anderen Institutionen gesucht, die im                                                            heutiger Lebensweg in Deutschland hat
                                                                 Bereich Integration arbeiten. Dabei sind             „Meine Referentenkollegen in diesem Se-         meine Erkenntnis befördert, dass wir mehr
                                                                 zahlreiche wertvolle Verbindungen ent-               minar stammen aus Syrien und Afghanis-          dabei gewonnen haben, diesen mutigen,
                                                                 standen, wie zum Beispiel mit der WIPA-              tan. Ihre Lebenswege sind gekennzeichnet        intelligenten und kreativen Menschen
                                                                 Sprachschule, der Iranischen Gemeinde,               durch Kriege, die Zerstörung ihrer kulturel-    nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen
                                                                 dem Bundeszuwanderungs- und Integrati-               len Werte und fürchterliche Erlebnisse, die     zu haben.“
                                                                 onsrat, dem Oromo Horn von Afrika Zen-               sie bei ihrer Flucht durch Asien bis nach Eu-
                                                                 trum, dem Zentralverband des Deutschen               ropa hatten. Sie erzählen, wie ihre Angehö-     Einer der Kollegen von Erhard Neubert ist
                                                                 Handwerks und dem Interreligiösen Dialog             rigen vernichtet wurden oder alles verloren     Mohamad Khalil. Er ist 2015 aus Syrien ge-
                                                                 Reinickendorf.                                       haben. Sie erlitten Dinge, wie ich sie nicht    flüchtet und hat sich nun als Referent für
                                                                                                                      annähernd erlebt habe. Aber der Ausgangs-       Histories2gether zur Verfügung gestellt.
                                                                 Die intensive Vernetzung mit Akteuren im             punkt war immer eine brutale Diktatur, die      Khalil sagt:
                                                                 Bereich Integration hat geholfen, viele in-          das Leben Andersdenkender nicht respek-
                                                                 teressierte Menschen mit Fluchterfahrung             tiert und einen Willen zur Macht zeigt, der     „Das Projekt ist eine Gelegenheit, um das
                                                                 zu erreichen – zum Beispiel aus Syrien, Af-          auch nicht vor Kriegen Halt macht.              Zusammenleben in Deutschland zu stär-
                                                                 ghanistan und dem Iran. Sie berichten nun                                                            ken. Wenn ich mir die Erzählungen der
                                                                 über ihre Erlebnisse, insbesondere über die          Ich kann mich vor diesen Kollegen nur in        DDR-Zeitzeugen anhöre, dann denke ich an
                                                                 politische Verfolgung und Flucht.                    tiefem Respekt verbeugen. Ich bin stolz da-     meine eigene Geschichte. Obwohl es in ei-
                                                                                                                      rauf, mit diesen mutigen Menschen heute         nem ganz anderen Land passierte, fühle ich
                                                                 In der Vorbereitungsphase und in den kon-            ein solches Seminar durchführen zu dürfen.      diese Nähe und dass wir dasselbe Schicksal
                                                                 tinuierlichen gemeinsamen Gesprächen                 Gemeinsam ist uns, durch unser Erlebtes         haben. Mir ist es wichtig zu zeigen, dass wir
                                                                 zwischen DDR-Zeitzeug*innen und aktuell              der heutigen Generation aufzeigen zu wol-       aus der Geschichte lernen müssen.“
                                                                 Geflüchteten erleben wir, dass es ein hohes          len, dass sie niemals Ideologen und Popu-
                                                                 Maß an Verständnis und Sensibilität für die          listen, rechten wie extrem linken, Glauben      Die Erfahrungen
                                                                 Erlebnisse des jeweils anderen gibt.                 schenken sollten. Es gilt, Entwicklungen in
                                                                                                                      der Gesellschaft kritisch und aufrecht zu       Besonders zum Ende der Veranstaltun-
                                                                 Die Referenten                                       hinterfragen.                                   gen wird die Diskussion in den Seminaren
                                                                                                                                                                      oft sehr lebendig. Dann setzen sich beide
                                                                 Erhard Neubert unternahm 1964 einen                  Ich habe eine Menge in den Seminaren            Zeitzeug*innen gemeinsam für Demokratie
                                                                 Fluchtversuch aus der DDR. Die Flucht                gelernt. Das Wichtigste aber ist, dass          und Menschenrechte ein und versuchen
                                                                                                                                                                      den Jugendlichen deutlich zu machen,
                                                                 Außentor der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen.                                   wie wichtig es ist, mitzubestimmen und
                                                                                                                                                                      zu wählen. An dieser Stelle verstehen vie-
                    Foto: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

                                                                                                                                                                      le Schüler*innen genau, warum die beiden
                                                                                                                                                                      Geschichten gemeinsam in einem Seminar
                                                                                                                                                                      behandelt werden. Die Schüler*innen stel-
                                                                                                                                                                      len viele Fragen und die Erläuterungen der
                                                                                                                                                                      Zeitzeug*innen verdeutlichen ihnen, wie
                                                                                                                                                                      schnell ein Staat zu einem Unrechtsstaat
                                                                                                                                                                      werden kann, aus dem Menschen vor Krieg
                                                                                                                                                                      oder politischer Verfolgung fliehen müssen.

                                                                                                                                                                      Das neue digitale Angebot

                                                                                                                                                                      Auch wenn die Seminare wegen der glo-
                                                                                                                                                                      balen Pandemie durch Covid-19 zeitweilig
                                                                                                                                                                      in Stillstand geraten sind, hat das Team die
                                                                                                                                                                      Zeit genutzt, neue Vermittlungsformate zu
                                                                                                                                                                      konzipieren, vor allem Online-Seminare.
                                                                                                                                                                      Interessierte können eine Buchungsanfra-
                                                                                                                                                                      ge über die Internetseite http://histories2
                                                                                                                                                                      gether.de stellen oder eine E-Mail senden an:
                                                                 Janina Berkle und Rachel Dickstein sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der                       histories2gether@stiftung-hsh.de ■
                                                                 Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.

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WEITERE THEMEN
Jürgen Vits

Bildkunst in der DDR
Zwischen Utopie, Rebellion und Umbruch
Aus der langen und wechselvollen Geschichte der bildenden Kunst wissen wir, dass Künstlerschaft und Kunstschaffen
immer auch vom politischen und gesellschaftlichen Kontext beeinflusst werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die
Bildkunst aus der DDR. Ein vertiefter Blick offenbart allerdings eine alles andere als homogene und einheitliche ostdeut-
sche Kunstlandschaft, obwohl sie 40 Jahre lang einer repressiven, staatlich gelenkten Kulturpolitik ausgesetzt war. Viele
Künstlerinnen und Künstler erkundeten mit kreativen Mitteln Freiräume und visualisierten auf ganz eigenständige und
subtile Weise Widersprüche und Missstände in der DDR-Gesellschaft.

Kunstsystem und Kulturpolitik                                                                         bus in Fragen des Stils gab es nun nicht
in der DDR                                                                                            mehr, sofern die sozialistische Haltung er-
                                                                                                      kennbar blieb. Ironische Anspielungen und
Der gesamte Kunstbetrieb wurde in der                                                                 komplizierte Metaphorik in der Kunst er-
DDR staatlich reglementiert und kontrolliert.                                                         setzten zunehmend belehrende Eindeutig-
Das betraf die Kunstausbildung genauso                                                                keit. Insbesondere die Maler der „Leipziger
wie alle offiziellen Ausstellungsmöglichkei-                                                          Schule“ erregten Aufsehen mit der expres-
ten. Nur Mitglieder des 1950 gegründe-                                                                siven, neusachlichen oder altmeisterlichen
ten Verbandes Bildender Künstler der DDR                                                              bis surrealistischen Malerei eines neuen
(VBK) durften freischaffend arbeiten und                                                              „kritischen Realismus“. Es ging diesen
ihre Werke offiziell ausstellen. Da in der DDR                                                        Malern um Offenlegung und Sichtbarma-
ein privater Kunsthandel so gut wie nicht                                                             chung von Widersprüchen und Missstän-
existierte, nahmen viele Künstlerinnen und                                                            den, ohne den Staatssozialismus infrage
Künstler Aufträge von Betrieben, Instituti-                                                           zu stellen. Die Ausbürgerung von Wolf
onen und Parteien an. Dies geschah ganz                                                               Biermann im November 1976 führte dann
im Sinne der Bitterfelder Konferenzen 1959                                                            jedoch zu einer massiven Vertrauenskrise
und 1964, bei denen das Ziel „Vereinigung                                                             und zu einem regelrechten Exodus von In-
von Kunst und Leben, von Künstler und                                                                 tellektuellen und Künstlern.
Volk“ ausgegeben wurde. Der „Bitterfelder
Weg“ forderte, die „werktätigen Menschen                                                              Der 1. Leipziger Herbstsalon im November
ins Zentrum des künstlerischen Prozesses“                                                             1984 war und blieb das einzige unzensierte
zu stellen. Dieser „Sozialistische Realismus“                                                         öffentliche Kunstprojekt, das es in der DDR
stand im Kunstsystem der DDR für das Pri-                                                             schaffte, die Dominanz der Kulturbürokra-
                                                 Bernhard Heisig: Brigadier, Postwertzeichen 1981
mat der Politik, nämlich für eine propagan-                                                           tie zu unterlaufen und eine von Künstlern
distische und pädagogische Instrumentali-        Mit der sogenannten „Formalismus-De-                 frei konzipierte Ausstellung zur realisieren.
sierung der Künste im Sinne der offiziellen      batte“ wurde in den frühen Jahren der                In einer Stasi-Akte findet sich dazu folgen-
Parteilinie, um den Aufbau der sozialisti-       DDR in fataler Parallelität zur berüchtigten         der Kommentar: „Nach Ansicht des IM han-
schen Gesellschaft zu unterstützen. So hat-      NS-Aktion gegen „Entartete Kunst“ zum                delt es sich bei dem negativen Personen-
te Otto Grotewohl schon am 1. September          Bildersturm gegen die Kunst der Moderne              kreis von bildenden Künstlern wiederholt
1951 unmissverständlich klargestellt:            aufgerufen. Jede Abweichung vom Prinzip              um einen Versuch, mit ihren negativ-feind-
                                                 des Abbildens der Wirklichkeit aus sozialis-         lichen Kunstauffassungen eine Öffentlich-
„Literatur und bildende Kunst sind der Po-       tischer Perspektive galt dabei als Formalis-         keitswirksamkeit zu erzielen.“ Die trotz Be-
litik untergeordnet, aber es ist klar, daß       mus und nicht vereinbar mit der vorgege-             hinderungen gut besuchte Schau strahlte
sie einen starken Einfluß auf die Politik        benen Kunstdoktrin. Ausdrucksformen der              auf die jüngere Künstlergeneration aus und
ausüben. Die Idee in der Kunst muß der           Avantgarde wie Expressionismus, Surrea-              wirkte ermutigend auf die sich etablieren-
Marschrichtung des politischen Kampfes           lismus, Verismus, Kubismus und Abstrak-              de alternative autonome Kunstszene. Diese
folgen. Denn nur auf der Ebene der Poli-         tion wurden als zersetzend, dekadent und             konnte sich trotz verstärkter Beobachtung
tik können die Bedürfnisse des werktäti-         pessimistisch diffamiert.                            durch die Staatssicherheit in einigen Städ-
gen Menschen richtig erkannt und erfüllt                                                              ten entwickeln. Vor allem die in die DDR
werden. Was sich in der Politik als rich-        Mit Beginn der 1970er Jahre machten sich             hineingeborene Künstlergeneration glaub-
tig erweist, ist es auch unbedingt in der        in der offiziellen Kulturpolitik vorsichtige         te in den 1980er Jahren nicht mehr an eine
Kunst.“                                          Liberalisierungstendenzen bemerkbar. Ta-             Reformierbarkeit des real existierenden »

                                                                                          Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020   15
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