FÜR DEMOKRATIE GEGEN VERGESSEN - Für Demokratie eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Heft 106 / 2020 GEGEN VERGESSEN FÜR DEMOKRATIE Gegen Vergessen FÜR DEMOKRATIE Informationen für Mitglieder, Freunde und Förderer von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. Schwerpunktthema: Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft weitere Themen: ■ 40 Jahre Bildkunst in der DDR ■ 150 Jahre Reichsgründung ■ „Rechte“ Gewalt: Wir brauchen einen neuen Plan Informationen zur politischen Bildungsarbeit
EDITORIAL Liebe Freundinnen und Freunde von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V.! 2020 wird wahrscheinlich vorrangig als das Jahr der Corona- hin habe ich diese Aufgabe als Vorsitzender mehr als fünf Jahre Pandemie in unsere Geschichte eingehen. Diese Pandemie ist wahrgenommen. Mir war immer wichtig, dass die Zeitschrift für uns nicht weniger als eine Prüfung für unsere Fähigkeit zu stets offen bleibt für die vielfältigen aktuellen Fragen, Probleme solidarischem Handeln auf der Basis des Grundgesetzes, eine und Diskussionen, die mit den Grundanliegen unseres Vereins Fähigkeit, die wir auch noch nach dem hoffentlich baldigen in Beziehung stehen: historische Erfahrungen ernst zu nehmen Abklingen der Pandemie (durch Impfungen und andere Mittel) und für unsere Demokratie und ihr Selbstverständnis fruchtbar bei der Bewältigung der Folgen dieser unvergleichlichen Krise zu machen. So ist die Zeitschrift nicht nur ein Forum für The- benötigen werden. men, Methoden, Veranstaltungen, Aktionen und Projekte des Vereins Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V., sondern auch Das Jahr 2020 lässt sich freilich nicht völlig auf dieses Geschehen ein Ort des Diskurses über Erinnerungskultur, Geschichtspolitik reduzieren. Wir haben uns mit vielen anderen Fragen beschäfti- und politische Kultur in Deutschland (und Europa). Wir wollen gen müssen: mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, mit aufklären über Geschichte, vor diesem Hintergrund gegenwärti- Antisemitismus und Rassismus, mit krisenhaften Entwicklungen ge Verhältnisse und Tendenzen analysieren, um zur Orientierung großer Demokratien, mit der partiellen Enthumanisierung von und differenzierten Urteilsbildung beizutragen und die Praxis Sprache und Denken. wehrhafter Demokratie anzuregen. Wir sind jedoch in den verschiedenen Problembereichen nicht Zuletzt möchte ich allen danken, die an den Heften der vergan- untätig geblieben, etwa in der Frage, wie wir künftig unsere genen Jahre mitgearbeitet haben, insbesondere der Redaktion Migrationsgesellschaft gestalten wollen. Zu dem Thema bringt für ihre unermüdliche engagierte Arbeit. Ich wünsche ihnen, dieses Heft unter dem Stichwort „Kompetenznetzwerk für doch auch allen Mitgliedern, Freundinnen und Freunden des das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“ einen Vereins für ihre weitere Arbeit und für ihr persönliches Wohl- Schwerpunkt. Es gilt in einen Dialog darüber einzutreten, wie ergehen viel Erfolg und alles Gute! in unserer vielfältigen Gesellschaft chancengerechte Teilhabe aussehen kann, wie mit Konflikten und Ängsten umgegangen Mit den besten Grüßen und dem Wunsch: werden sollte und wie hierbei die im Grundgesetz verbrieften „Bleiben Sie gesund!“ demokratischen Werte gelebt und vermittelt werden können. Es kommt sehr darauf an, wie wir die notwendigen Diskussionen Ihr / Euer zur Migrationsgesellschaft führen. Bernd Faulenbach Schließlich noch einige persönliche Sätze. Dieses Editorial soll das letzte sein, das ich für diese Zeitschrift schreibe – immer- Die Einschränkungen infolge des Covid-19-Virus‘ machen es notwendig, dass viele Tätigkeiten der Geschäftsstelle weiterhin im Homeoffice erledigt werden. Sie errei-chen uns zuverlässig über info@gegen-vergessen.de. Falls das Telefon einmal nicht besetzt sein sollte, können Sie gern auf den Anrufbeantworter sprechen. Wir rufen zurück. IMPRESSUM Herausgegeben von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V., Stauffenbergstraße 13-14, 10785 Berlin Telefon (0 30) 26 39 78-3, Telefax (0 30) 26 39 78-40, info@gegen-vergessen.de, www.gegen-vergessen.de Bankkonto: Sparkasse KölnBonn · IBAN DE45 3705 0198 0008 5517 07 · BIC COLSDE33XXX Titel: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jungen Islam Konferenz 2019 (siehe Seite 11). Foto: Astrid Piethan Redaktion: Liane Czeremin, Dr. Dennis Riffel, Theresa Ostertag, Dr. Michael Parak (V.i.S.d.P.) Lektorat: Ines Eifler, Görlitz Gestaltung: Atanassow-Grafikdesign, Dresden Druck: B&W MEDIA-SERVICE Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH Die Zeitschrift wird klimaneutral auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt. Die Herausgabe dieser Zeitschrift wurde gefördert durch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Der Bezugspreis ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Namentlich gekennzeichnete Beiträge stellen keine Meinungsäußerung der Redaktion oder des Vereins dar. Wir bemühen uns allgemeinverständlich zu schreiben und verzichten daher zugunsten der Lesbarkeit auf gendergerechte Sprache. Bei Autorenbeiträgen überlassen wir die Entscheidung den Verfasserinnen und Verfassern. ISSN 2364-0251 2 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
INHALT Inhaltsverzeichnis Die Themen in dieser Ausgabe SCHWERPUNKTTHEMA Die Arbeit für Demokratie und Vielfalt langfristig gestalten 4 Im Kompetenznetzwerk für die Migrationsgesellschaft 7 Interview: „Wir wirken entlang der Gemeinsamkeiten.“ 9 Haltung statt Herkunft 11 Histories2gether: Gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte 13 WEITERE THEMEN Bildkunst in der DDR 15 BLOG DEMOKRATIEGESCHICHTEN.DE Besuch im Jüdischen Museum Berlin 20 ANALYSE UND MEINUNG 150 Jahre Reichsgründung – 30 Jahre Wiedervereinigung 22 Rechtsextreme Gewalt: Wir brauchen einen neuen Plan! 26 AUS UNSERER ARBEIT Zur Vereinsentwicklung der vergangenen Jahre – Bernd Faulenbach zieht Bilanz 29 Straßenkampagne zur Vereinigung: Und da stand die Mauer 31 RAG Südhessen: Wer beherrscht die Welt? 33 RAG Münsterland: Problematische Schullektüre 35 LAG Schleswig-Holstein: Erstmals „Jugendpreis gegen das Vergessen“ verliehen 37 LAG Baden-Württemberg: Waldkirch zur NS-Zeit – Mehr als nur Stadtgeschichte 38 Rahel-Straus-Preis 2020 geht an die Ideenwerkstatt Waldkirch in der NS-Zeit. 40 NAMEN UND NACHRICHTEN Fluchtpunkt Saargebiet – Lebenswege verfolgter Menschen früher und heute 41 REZENSIONEN Ernst-Jürgen Walberg bespricht – eine Sammelrezension: 43 Die Gespenster von Demmin. Annette, ein Heldinnenepos. 180 Grad – Geschichten gegen den Hass. Zeitenwende. Der Angriff auf Demokratie und Menschenwürde. IMPRESSUM 2 VORSTAND UND BEIRAT 47 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 3
SCHWERPUNKTTHEMA Michael Tetzlaff Die Arbeit für Demokratie und Vielfalt langfristig gestalten Gastbeitrag: Zur Idee der Kompetenznetzwerke und -zentren im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ Unsere Demokratie muss jeden Tag neu mit Leben gefüllt werden. Sie braucht Menschen, die sie erhalten und gestalten und sich aktiv für sie einsetzen. Mit dem Bundesprogramm „Demokratie leben!“ fördert das Bundesministerium für Fami- lie, Senioren, Frauen und Jugend deshalb seit 2015 zivilgesellschaftliches Engagement für ein vielfältiges und demokrati- sches Miteinander und die Arbeit gegen Radikalisierungen und Polarisierungen in der Gesellschaft. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlich- mokratie zu (er)leben. Dies hat auch dazu Foto: BMFSFJ keit – auf diesen Werten beruht ein gu- beigetragen, dass sowohl im Großen als tes und solidarisches Zusammenleben auch im Kleinen Menschen offen über Dis- von Menschen unterschiedlicher Her- kriminierung, Rassismus und weitere Phä- kunft, Kultur und Überzeugung. Leider nomene Gruppenbezogener Menschen- müssen wir feststellen, dass diese Werte feindlichkeit sprechen und ihre eigenen bei uns nicht mehr unangefochten sind. Vorurteilsstrukturen hinterfragen konnten. Menschen- und Demokratiefeindlichkeit hat dabei viele Gesichter: Sie reicht von Gleichzeitig stehen wir im Ministerium Rechtsextremismus über Antisemitismus, kontinuierlich vor der Herausforderung, Homosexuellen- und Transfeindlichkeit, wie die wertvollen und innovativen islamistischem Extremismus, Islam- und Ansätze verstetigt und in Regelstruk- Muslimfeindlichkeit, Rassismus sowie An- turen überführt werden können. Aus tiziganismus bis zu linkem Extremismus. den Erfahrungen der letzten Jahre, in Abwertung von vermeintlich „Anderen“, denen eine Reihe von Organisationen – Ausgrenzung und Diskriminierung sind für darunter auch „Gegen Vergessen Für Viele im Land tagtäglich erfahrene Reali- Demokratie e.V.“ – in ihrer Strukturent- tät. Die Morde von Hanau und Halle ha- wicklung zum bundeszentralen Träger ben zudem auf furchtbare Art und Weise Michael Tetzlaff, Abteilungsleiter im Bundesministerium unterstützt wurden, entstand für die verdeutlicht, wohin menschenverachtende für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. neue Förderperiode von „Demokratie Einstellungen im extremsten Fall führen. leben!“ das Vorhaben, etablierte Träger zentren in allen 16 Bundesländern werden in verschiedenen Themenfeldern – allein Die vor allem präventiv-pädagogische Ar- Maßnahmen zur Stärkung von Demokra- oder gemeinsam mit weiteren Partnern – beit von „Demokratie leben!“ setzt daher tie und Vielfalt und gegen Extremismus in Kompetenznetzwerken bzw. -zentren so früh wie möglich an und verfolgt eine in den jeweiligen Ländern gebündelt und zu fördern. Diese Netzwerke und Zentren proaktive Demokratieförderung und eine Angebote der mobilen Beratung, der Op- haben die Aufgabe, aktiv die präventiv- nachhaltige Präventionsarbeit in Zusam- ferberatung sowie der Distanzierungs- pädagogische Praxis in den jeweiligen The- menarbeit mit Kommunen, Ländern und und Ausstiegsberatung gestaltet. Darüber menfeldern zu gestalten und ihre Expertise der Zivilgesellschaft. Einem ganzheitlichen hinaus entwickeln und erproben gemein- weiteren Programmakteuren, staatlichen Ansatz folgend, werden im Bundespro- nützige Träger in über 150 Modellprojek- Institutionen und der breiten Öffentlichkeit gramm „Demokratie leben!“ die Bedarfe ten innovative Ansätze für die Förderung zur Verfügung zu stellen und darüber hi- der Präventionsarbeit in den verschiede- von Demokratie, für die Gestaltung von naus einen Transfer von erfolgreichen Prä- nen sozialräumlichen Strukturen und für Vielfalt und zur Extremismusprävention. ventionsansätzen in Bundes-, Landes- und unterschiedliche Zielgruppen adressiert: kommunale Strukturen zu gewährleisten. Im Rahmen der Partnerschaften für Demo- Das Bundesprogramm „Demokratie le- kratie haben Kommunen und Landkreise ben!“ – ausgestattet mit derzeit 115,5 Mil- In einer Förderlandschaft, in der sich viele die Möglichkeit, Strategien zu entwickeln, lionen Euro – hat in den letzten Jahren viele zivilgesellschaftliche Organisationen um um zielgerichtet und beteiligungsorientiert gute und neue pädagogische Ansätze her- die Gestaltung unserer Gesellschaft küm- vor Ort zu agieren und flexibel auf lokale vorgebracht, die für Kinder und Jugendliche mern, die aber oftmals auch von Kon- Herausforderungen zu reagieren. Durch sowie für ihre Bezugspersonen Möglich- kurrenzen um finanzielle Mittel geprägt die Förderung von Landes-Demokratie- keiten schaffen, sich einzubringen und De- ist, stellt ein solches gemeinschaftliches 4 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA Arbeiten alle Akteure vor neue Herausfor- generell das Repräsentationsdefizit von derungen, birgt aber zugleich auch große Menschen mit Migrationsgeschichte aufge- Potenziale: Unterschiedliche Zielgruppen- hoben werden? Welche Möglichkeiten gibt zugänge können genutzt und Synergien es, um Menschen, die der Idee der Migra- geschaffen, Fachwissen und langjährige tionsgesellschaft skeptisch gegenüberste- Erfahrungen eingebracht und gemeinsam hen, ihre Vorbehalte und Ängste zu neh- neue Strategien entwickelt werden. men? Fragen auf die wir als Gesellschaft gemeinsam Antworten finden müssen. Das Kompetenznetzwerk „Zusammenle- ben in der Einwanderungsgesellschaft“ Dazu ist es nötig, lokale Ansätze mit Fach- zeigt exemplarisch, wie fünf Träger mit debatten, modellhaftes Erproben mit Re- unterschiedlicher Ausrichtung und Ge- gelstrukturen und Expert*innen mit staat- schichte zusammengefunden haben, um lichen Institutionen zu verbinden. Mit den gemeinsam dafür einzutreten, dass mi- insgesamt 14 thematischen Kompetenz- grantische Perspektiven verstärkt Gehör zentren und -netzwerken im Bundespro- finden und kontinuierlich daran arbeiten, gramm „Demokratie leben!“ schaffen wir dass sich unsere Gesellschaft als Migrati- dafür neue Möglichkeiten. Gesellschaft- onsgesellschaft versteht. licher Wandel kann nur gelingen, wenn Zivilgesellschaft, Wissenschaft und staat- Wie müssen Rahmenbedingungen aus- liche Akteure zusammenwirken und es sehen, damit Menschen, die vor kurzem mehr gemeinsames Tun gibt. ■ nach Deutschland gekommen sind – seien es bspw. Geflüchtete oder EU- Informationen: www.demokratie-leben.de Zuwander*innen aus Osteuropa – nicht nur in Deutschland leben, sondern dieses Quelle: BMFSFJ Land auch mitgestalten können? Wie kann Michael Tetzlaff ist Abteilungsleiter „Demokratie und Engagement“ im Bundes- ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Aufbau des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ Die Partner von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. im Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft Der Bundesverband russischsprachiger Eltern e.V. (BVRE) ist eine bundesweite Dachorganisation gemeinnütziger Vereine, Die Türkische Gemeinde in Deutschland e.V. (TGD) arbeitet die in vielen unterschiedlichen sozialen, kul- mit ihren Landesverbänden bundesweit für Teilhabe, Gleichstel- turellen und Bildungsbereichen aktiv sind. lung und Diversitätsorientierung. Die TGD nutzt ihre Geschäfts- Innerhalb des Netzwerkes ist der BVRE stellen zur Beratung und Förderung von anderen Migrantenorga- für die thematische Richtung „Ängste und nisationen sowie zur Vernetzung miteinander, mit der etablierten Konflikte“ zuständig und koordiniert die Zivilgesellschaft, mit Politik und Verwaltung, um die Einwande- entsprechenden Maßnahmen. Der BVRE übernimmt die Entwick- rungsgesellschaft auf allen föderalen Ebenen effektiv zu gestalten. lung und Vermittlung der Expertise über die Zielgruppe der „be- weglichen Mitte“ mit dem Schwerpunkt „Ängste und Konflikte Die TGD wird im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Maßnahmen in der Einwanderungsgesellschaft“ durch verschiedene Formate, entwickeln, um die bestehende gesellschaftliche Diversität in Be- wie z.B. Multiplikator*innenschulungen, Fachaustausch und Pub- zug auf ethnische Herkunft in Planungs- und Entscheidungspro- likationen. zessen insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe durch migranti- sche Expert*innen zu erhöhen. Die Expert*innen sollen empowert, Darüber hinaus ist der BVRE als eine Migrant*innenorganisation qualifiziert und den Entscheider*innen bekannt gemacht werden. dafür zuständig, dass die Expertise und Erfahrungen der Mitglieds- Darüber hinaus sollen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft für organisationen im Bereich der politischen Bildung allen relevanten die notwendige Bereitschaft zum aktiven Powersharing sensibilisiert Strukturen und Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe zur Ver- werden. Die Ängste und Konflikte im Kontext einer angemessenen fügung stehen. Repräsentanz in der Einwanderungsgesellschaft erfahren in der Ar- beit der TGD besondere Berücksichtigung. Die Türkische Gemeinde in Deutschland koordiniert die Arbeit des gesamten Kompetenz- netzwerkes Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft. » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 5
SCHWERPUNKTTHEMA » Die Partner von Gegen Vergessen – Für Demokratie e. V. im Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft Die neuen deutschen organisatio- Die Schwarzkopf-Stiftung nen e.V. sind ein bundesweites Netz- Junges Europa fördert jun- werk von über 100 postmigrantischen ge Menschen in 40 europäi- Organisationen und Initiativen, die schen Ländern darin, sich mit sich für chancengerechte Teilhabe, internationalen Perspektiven, Sichtbarkeit und gegen Rassismus einsetzen. Mit ihren Positionen Demokratie und Teilhabe auseinanderzusetzen. Durch Peer-Netz- und Inhalten bringen sie sich in gesellschaftliche Debatten ein und werke, Stipendien, Seminare und Dialogformate fördert sie sorgen so für eine inklusivere und gerechtere Gesellschaft. Begegnungen und stärkt junge Menschen darin, an politischen Diskursen teilzuhaben. Im Rahmen des Kompetenznetzwerks unterstützen und beraten sie Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe sowie Koopera- Im Rahmen des Kompetenznetzwerks Zusammenleben in der tionspartner*innen im Bundesprogramm „Demokratie leben!“ Einwanderungsgesellschaft setzt sie sich insbesondere dafür ein, die politische Teilhabe von Kindern und Jugendlichen unabhängig Mit ihrer Fachexpertise, Öffentlichkeitsarbeit und ihrem Knowhow, ihrer Herkunft zu fördern. Dafür schafft sie Beratungs-, Qualifizie- wie eine offene Migrationsgesellschaft gestaltbar ist, schaffen sie rungs- und Dialogangebote für Fachkräfte, Multiplikator*innen auf verschiedenen Ebenen Räume für einen Austausch sowie eine und Ehrenamtliche der Kinder- und Jugendhilfe im Kontext von nachhaltige Sensibilisierung und Qualifizierung. Pluralismus und Differenz. Ziel dessen ist es, jungen Menschen un- terschiedlicher Hintergründe als aktiven Bürger*innen einer plu- ralistischen, inklusiven und demokratischen Migrationsgesellschaft Gehör zu verschaffen. Screenshot: Liane Czeremin Das Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft versteht sich als Zusammenschluss von Trägern, die das Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft in Vielfalt durch die Entwicklung eines inklusiven Selbstverständnisses und die Ermöglichung gleichberechtigter Teilhabe und Repräsen- tanz in der Migrationsgesellschaft fördern und gestalten wollen. Mehr Infos unter kn-zusammenleben.de 6 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA Michael Parak Im Kompetenznetzwerk für die Migrationsgesellschaft Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. ist 1993 im Kontext der rechtsextremen und rassistischen Anschläge in Mölln und zahlreichen anderen Orten der Bundesrepublik entstanden. Das Postulat „Nie wieder!“ ist seitdem für die meisten unserer Mitglieder und Mitarbeiter Ansporn, sich zu engagieren: gegen Extremismus, gegen jegliche Diktaturen. Im Namen un- serer Vereinigung ist aber auch eine positive Wendung angelegt, wofür wir wirken wollen: die Stärkung der Demokratie in Deutschland. Dafür bedarf es der praktischen Teilhabe an der res publica und damit des Handelns für Bürgerinnen und Bürger. Die im Grundgesetz festgeschriebenen Werte, Rechte und Pflichten bieten den Rahmen, in dem sich die Weiterent- wicklung der Demokratie in Deutschland vollziehen soll. Den Aspekt „Für Demokratie“ füllen wir Foto: konzeptautoren zum Beispiel mit der Vermittlung unserer Demokratiegeschichte und mit dem Plä- doyer für eine offene Gesellschaft in Viel- falt. Die Mitgliedschaft im Kompetenz- netzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft bietet nun seit Anfang 2020 die Möglichkeit, den positiven Ansatz des Vereins weiter zu stärken. Im Folgenden soll skizziert wer- den, welche Aufgaben und Ziele mit dem Kompetenznetzwerk verbunden sind. Der bisherige Schwerpunkt der Geschäfts- stelle im Zusammenhang mit dem Bundes- programm „Demokratie leben!“ und ähn- lichen Programmen lag in der Extremismus- prävention. Die „Online-Beratung gegen Rechtsextremismus“, „BeInterNett“ und das „ARGUTRAINING WIeDERSPRECHEN FÜR DEMOKRATIE“ sind erfolgreiche Bei- spiele dafür, ebenso wie das „Präventi- onsnetzwerk gegen religiös begründeten Extremismus“, das wir gemeinsam mit der Türkischen Gemeinde in Deutschland aufgebaut haben. Aber wir beschäftigen uns seit längerer Zeit auch mit Themen der Migrationsgesellschaft. So haben wir für die Bundeszentrale für politische Bildung schon vor acht Jahren Bildungsmaterialien zur „Praktischen Geschichtsvermittlung in der Migrationsgesellschaft“ erstellt. In der neuen Förderphase des Bundespro- gramms „Demokratie leben!“ bieten nun- mehr die Kompetenznetzwerke und -zent- ren den Rahmen für bundesweit agierende Teilnehmer des Programms. Die Träger in unserem Netzwerk sind sehr unterschied- lich aufgestellt, sie vertreten verschiedene Straßenszene in Berlin während der Fußball-Europameisterschaft von 2016. Im Kompetenznetzwerk für das Zu- Teile der Gesellschaft, verfolgen unter- sammenleben in der Einwanderungsgesellschaft trägt Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. zu einem Selbstver- schiedliche Ansätze und Arbeitsweisen. ständnis Deutschlands als Migrationsgesellschaft bei. » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 7
SCHWERPUNKTTHEMA Foto: Florian Gaertner / photothek.net » Dies führt zu einem hohen Abstimmungs- bedarf, wenn es um gemeinsame Veran- staltungen geht. Doch es gibt auch ein großes Potenzial, die eigenen Perspektiven zu erweitern und voneinander zu lernen. Auch diese Zeitschrift hat davon schon profitiert. So sind in mehreren Ausgaben bereits Autorenbeiträge von Kollegen der Türkischen Gemeinde in Deutschland und Die Mitglieder im Kompetenznetzwerk präsentierten ihre Arbeit im Januar 2020 bei einer Auftaktveranstal- dem Bundesverband russischsprachiger El- tung mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey. tern erschienen. Im vorliegenden Heft be- richten Mitarbeiterinnen der Schwarzkopf jährige Erfahrung und Expertise in der den Start gehen, außerdem ist eine Bro- Stiftung Junges Europa und der „neuen Gestaltung eines konstruktiven Dialogs schüre zur Ansprache von Zielgruppen deutschen organisationen“ von ihrer Ar- für das gesellschaftliche Zusammenle- in der Mitte der Gesellschaft geplant. beit und ihren Anliegen. ben sowie auf ein breites Netzwerk an Vom 23. bis 27. November wird es eine Kooperationspartnern in der ganzen Fachkonferenz in Form einer digita- Gemeinsames Leitbild Bundesrepublik zurückgreifen. Mit dem len Themenwoche geben, die alle fünf historischen Ansatz kann der Verein dazu Netzwerk-Partner gemeinsam organisie- Die Blickwinkel unserer Netzwerkpartner beitragen, dass über die Beschäftigung ren und gestalten. Wir laden auch alle sind für uns manchmal neu und an eini- mit positiven Beispielen aus der Ge- Mitglieder von Gegen Vergessen – Für gen Stellen sind wir anderer Meinung. schichte ein neues Selbstverständnis von Demokratie e.V. ein, an den öffentlichen Die Chance des Kompetenznetzwerks Deutschland als Migrationsgesellschaft Formaten teilzunehmen. liegt darin, trotz dieser Unterschiede zu- entstehen kann. sammenzuwirken, denn gemeinsam bil- Kontinuität in der den wir beachtliche Teile der vielfältigen Eine besondere Herausforderung be- Demokratieförderung Gesellschaft ab: bezogen etwa auf unter- steht darin, Ansätze aufzuzeigen, wie schiedliche parteiliche Präferenzen und Menschen für eine offene Gesellschaft Historische Erinnerungsarbeit mit dem Bildungsansätze, west- und ostdeutsche gewonnen werden können, die der Mig- konkreten Einsatz für die Demokratie zu Hintergründe, das Geschlecht und Alter, ration bislang gleichgültig oder skeptisch verbinden: Das ist und bleibt das zentrale auch besonders die Herkunftsgeschichte. gegenüberstehen. Auch der Zusammen- Anliegen und gleichzeitig die besondere Somit spiegeln sich gesellschaftliche Kon- hang von Migrationsgesellschaft und Botschaft von Gegen Vergessen – Für flikte und ihre Lösungsmöglichkeiten im Transformationsgesellschaft nach der Demokratie e.V. Wenn wir uns mit den Kleinen auch in unserem Netzwerk. Friedlichen Revolution bildet für uns ei- Diktaturen des 20. Jahrhunderts beschäf- nen thematischen Schwerpunkt. Gegen tigen, stellen wir uns immer auch die Fra- Als gemeinsames Leitbild hinter den Be- Vergessen – Für Demokratie e.V. möchte ge: Was können wir in der Demokratie mühungen des neuen Netzwerks steht im Kompetenznetzwerk dazu beitragen, heute aus diesen bitteren gesellschaftli- eine Kultur der Gleichwertigkeit, wie sie einen Dialog zu ermöglichen, der Kon- chen Erfahrungen lernen? Andersherum in den Artikeln des Grundgesetzes und flikte aushält, aber auch Gemeinsames bleibt die historische Perspektive eine der EU-Grundrechte-Charta verankert ist. betont. wichtige, wenn wir uns mit heutigen Fra- Für das Kompetenznetzwerk stehen dabei gen der Demokratieentwicklung beschäf- vor allem zwei Ziele im Mittelpunkt: das Servicestelle für andere Projektträger tigen. Es geht darum, Demokratie in ihren Selbstverständnis Deutschlands als Migra- verschiedenen Facetten zu verstehen, zu tionsgesellschaft zu fördern und auf eine In vorderster Linie sind die bundesweiten erleben, eine Haltung zu gewinnen und angemessene Repräsentanz sowie gleich- Träger dafür da, als eine Art Servicestel- danach zu handeln. Verschiedene demo- berechtigte Teilhabe in der Migrationsge- le ihr Wissen an die Modellprojekte und kratiebejahende Einstellungen sollen sich sellschaft hinzuwirken. Denn ein friedvol- lokalen Partnerschaften für Demokratie zu einem größeren Ganzen, einem Be- les Miteinander kann nur gelingen, wenn des Bundesprogramms sowie an Träger wusstsein für Demokratie bündeln. Dies alle einen Platz in der Gesellschaft finden der Kinder- und Jugendhilfe weiterzuge- soll dann in eine demokratische Haltung können, die hier leben, und wenn alle die ben. Es ist aber auch gewollt, dass daraus münden. Chance erhalten und dazu motiviert wer- Impulse für die gesellschaftliche Debatte den, sich einzubringen. gesetzt werden. Dies gilt auch für das Themenfeld Migra- tion. So, wie wir die Vermittlung unserer Konstruktive Dialoge gestalten Erste konkrete Angebote und Veran- Demokratiegeschichte als wichtiges Mit- staltungen für diese Zielgruppen stehen tel zur Förderung demokratischer Denk- Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. bereits fest. So wird in Kürze unser neu- weisen und Identitäten in die Politik und kann für diese Aufgaben auf eine lang- er Blog „Migrationsgeschichten.de“ an Gesellschaft eingebracht haben, so wol- len wir auch bei Fragen der Gestaltung Dr. Michael Parak ist Historiker und Geschäftsführer von Gegen Vergessen – Für unserer Migrationsgesellschaft aus der Demokratie e. V. Geschichte lernen. ■ 8 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA Interview „Wir wirken entlang der Gemeinsamkeiten.“ Die Kultur- und Sozialwissenschaftlerin Meral El ist Geschäftsführerin der „neuen deutschen organisationen“ (ndo), einem postmigrantischen Netzwerk, das sich 2015 gegründet hat. Die ndo sind einer der Partner von Gegen Vergessen – Für De- mokratie e.V. im Kompetenznetzwerk für das Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft. Wir sprachen mit Meral El über die Arbeit der ndo. Frau El, können Sie kurz zusammen- mitgeht, geht es mit – wenn nicht, dann Foto: Barbara Dietl fassen, was ein postmigrantisches nicht. Dieses Prinzip führt zu großer Fle- Netzwerk ist? xibilität, viel Freiraum und Kreativität. Wir bieten einen Raum, der sich öffnet, wo in Meral El: Im Jahr 2015 sind mehrere der Unverbindlichkeit sehr viel Verbindli- Vereine und Initiativen zum ersten Bun- ches entsteht, viel Vernetzung und Syn- deskongress der neuen deutschen organi- ergie. sationen zusammengekommen. Ziel war es, Raum für Vernetzung und Austausch Ein Beispiel: Sie haben einen Instagram- zu schaffen. Hauptsächlich waren dies Kanal und bedienen dort politische The- Menschen, die Rassismuserfahrungen men. Wenn Sie sich zur Vernetzung an machen und in Deutschland geboren einen klassischen Verband wenden woll- wurden, seit Generationen in Deutsch- ten, wüssten Sie erst einmal nicht: Wer ist land leben oder den Großteil ihres Le- im Vorstand? Wer ist sprechberechtigt? bens in Deutschland sind. Diese haben Können Sie hier mitmachen oder nicht? sich in dem postmigrantischen Netzwerk All diese Hürden gibt es bei uns nicht. Wir „neue deutschen organisationen“ zu- öffnen Begegnungs- und Dialogräume: in sammengeschlossen. Aktuell besteht unseren Veranstaltungen, durch unseren das Netzwerk aus über 120 Initiativen, ndo-Geschäftsführerin Meral El. Newsletter und über unsere Social Me- Vereinen und Dachverbänden. Unsere dia-Kanäle. Mitglieder sind People of Color (PoC) sind. Unsere zweite Zielgruppe sind po- oder Schwarz, Bindestrich-Deutsche oder litische Akteur*innen, Einzelpersonen, Wie viele Leute kommen denn eben anders. Unsere Gemeinsamkeit: Wir Stiftungen, Politiker*innen, die sich für mittlerweile zu den Kongressen? sehen uns als postmigrantische Bewe- eine offene Gesellschaft engagieren. Und Ende Februar hatten wir bei unserem jähr- gung gegen Rassismus und für ein inklu- dann wollen wir auch direkt in die breite lichen Bundeskongress 396 Teilnehmen- sives Deutschland. Gesellschaft hineinwirken und dort Im- de, wir mussten 150 Personen absagen. pulse setzen. Wir erreichen also sehr viele Menschen, Wen möchten Sie mit dieser Perspek- nur unter den Jüngeren könnten es noch tive erreichen? Gibt es auch skeptische Stimmen mehr sein. Für sie haben wir jetzt im Rah- Wir möchten Menschen ansprechen, die zu Ihrem Ansatz? men des Kompetenznetzwerks einen ei- sich für eine gleichberechtigte Gesell- Auf dem Gründungskongress 2015 wa- genen Jugendkongress einberufen, dafür schaft für alle einsetzen. Das sind sowohl ren einige der rund 60 dort vertretenen arbeiten wir wiederum mit verschiedenen Menschen, die unter Rassismus- und Verbände schon skeptisch und haben Initiativen zusammen, zum Beispiel mit Diskriminierungserfahrungen leiden und sich gefragt: Was ist das denn? Was ist den Sons of Gastarbeita aus NRW, dem sich dagegen wehren möchten, als auch neudeutsch? Was ist eine neue deutsche RomaTrial aus Berlin oder Curly Culture Deutsche, die davon nicht selbst betrof- Organisation? Sie haben das dann beob- aus Dresden. Später sollen noch Formate fen sind und sich dafür einsetzen wollen, achtet und den Austausch gesucht. Jahr speziell für junge Erwachsene folgen – dass alle Bürger*innen dieselben Rechte für Jahr haben sich mehr Initiativen ent- herkunftsübergreifend. haben und niemand diskriminiert wird. schieden, bei uns mitzumachen. Auch Vertreter*innen aus den politischen Wir haben drei Ebenen der Ansprache. Geholfen hat dabei unsere klare Ansage, Parteien nutzen den Raum, um in Kon- Zum einen unser Netzwerk selbst, das kein neuer Dachverband sein zu wollen. takt und Dialog zu kommen. Wohlge- hauptsächlich aus Mitgliedsorganisati- Wir wollten ein Netzwerk sein, das ge- merkt: Sie sitzen nicht als Referent*innen onen besteht, in denen mindestens 60 meinsame Forderungen artikuliert, aber auf dem Panel. Sie kommen als Teilneh- Prozent der Führungsebenen mit Schwar- nicht mit klassischen Strukturen und mende. Wir haben darüber hinaus star- zen Menschen, People of Color und Men- Abstimmungsrichtlinien arbeitet. Wenn ke transatlantische und transeuropäische schen mit Bindestrich-Identitäten besetzt ein Netzwerkmitglied bei einem Thema Beziehungen geknüpft. In unserem Netz- » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 9
SCHWERPUNKTTHEMA Foto: Shaheen Wacker Diskussionsrunde auf dem Bundeskongress der ndo in Berlin. » werk und in unseren Zielgruppen gibt es gut getan. Wir haben auf dem Kongress Was erhoffen Sie sich von unserer auch Zusammenschlüsse von Menschen, zusammen diskutiert, wir haben zusam- gemeinsamen Arbeit im Kompetenz- die ausschließlich im digitalen Raum exis- men geweint, zusammen gelacht und am netzwerk? tieren. Abend zusammen Party gemacht – und Genauso wie das ndo-Netzwerk ist haben der Menschen in Hanau gedacht. das Kompetenznetzwerk für mich eine Seit der Gründung der ndo 2015 hat Möglichkeit, in einem breiten Bünd- sich die Gesellschaft in Deutschland Ihr Netzwerk heißt „neue deutsche nis eine große Wirkung zu erzielen, mit noch einmal verändert, die AfD ist in organisationen“. Ich kenne Familien, Akteur*innen, die unterschiedliche An- zahlreiche Parlamente eingezogen, die seit Generationen hier sind, in sätze verfolgen und verschiedene Ziel- rechtspopulistische Stimmen sind denen aber darüber gestritten wird, gruppen erreichen. Wir können das, in- „normaler“ geworden, es gab wieder ob man sich als Deutsche betrachten dem wir Begegnungen und Dialogräume Mordtaten. Was hat das für Auswir- sollte. Was sagen Sie denen? schaffen, indem wir unsere Zugänge ein- kungen auf Ihre Netzwerke? Das geschieht, wenn dir aus der Gesell- ander zugänglich machen und gegensei- Die AfD, die Anschläge in Halle und Ha- schaft heraus die ganze Zeit gesagt wird: tig von unserer Expertise und Erfahrung nau, die anhaltenden Nachwirkungen Du bist nicht deutsch! Darauf folgt oft lernen. Genau das ist es, was wir jetzt des NSU, jetzt Black Lives Matter: All die- eine Gegenreaktion: Die anderen sehen brauchen – uns selbst als auch Leute in se Entwicklungen führen zu einer starken uns nicht als Deutsche, warum sollen wir der Praxis zu vernetzen, Räume zu schaf- Politisierung und Aktivierung. Also auch uns dann anbiedern? Aspekte der Iden- fen und zu zeigen: Es ist eine inklusive Menschen, die vorher nicht auf Demons- tität sind jedoch sehr heterogen. Für uns Migrationsgesellschaft, in der wir leben! trationen, Konferenzen oder Veranstal- steht momentan ganz klar eine andere Wir haben unsere Themen, arbeiten dar- tungen gegangen sind, suchen jetzt den Frage im Vordergrund: Wie können wir an und lassen uns nicht von rassistischen Zusammenschluss und sagen: Ich bin hier sicher leben? oder rechtsextremistischen Diskursen ver- noch alleine, ich bin in keinem Verein, in leiten. Wir setzen unsere Themen und keiner Initiative, wo kann ich mitmachen? Was motiviert Sie persönlich für die führen unsere Diskurse. Wir agieren statt Arbeit bei den ndo? zu reagieren! ■ Sehr stark werden Fragen nach Sicherheit 2015 war ich selbst etwas skeptisch, ob gestellt: Ich lebe hier, das ist mein Zuhau- so ein lockeres Netzwerk nachhaltig sein Die Fragen stellte Liane Czeremin. se. Wie kann ich hier sicher leben? Was kann. Hier treffen ja auch Akteur*innen brauche ich dafür? zusammen, die sehr unterschiedlich aus- gerichtet sind, von liberal-konservativ Die Morde in Hanau geschahen drei Tage über linksliberal bis linkskritisch. Aber vor unserem Bundeskongress im Februar. diese breit aufgestellte Plattform hat Bei uns kamen mehrere E-Mails von Teil- mich auch motiviert. Wir kommen ent- nehmenden an, die sich nicht mehr trau- lang der Gemeinsamkeiten zusammen: ten, mit der Bahn zu dem Kongress zu für Chancengerechtigkeit, für Inklusion, fahren. Wir haben diese mit anderen zu- für Sichtbarkeit und gleichberechtigte sammengebracht, die schließlich gemein- Teilhabe. Das ist einfach etwas sehr, sehr sam angereist sind. Das hat ihnen sehr Wichtiges! 10 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA Theresa Singer Haltung statt Herkunft Zur Idee und Geschichte der Jungen Islam Konferenz Zehn Jahre ist es her, dass Thilo Sarrazin den Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hat. Das Buch ver- ankerte eine offen islamfeindliche Stimmung in der öffentlichen Debatte. Diskurse um Islam und Muslime in Deutsch- land sind seither geprägt von Ausschlüssen und pauschalen Zuschreibungen, die eine Spaltung der Gesellschaft voran- treiben. Rassistische Denkweisen wurden salonfähig. Im Jahr nach dem Erscheinen von Sar- Foto: Astrid Piethan razins Buch kamen erstmals junge Men- schen aus ganz Deutschland zusammen, um ein Gegennarrativ zu entwerfen: die Junge Islam Konferenz (JIK), initiiert von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Stiftung Mercator. Die JIK vertritt seitdem das Credo „Haltung statt Her- kunft“. Dahinter steht die Grundhaltung, dass pluralistische Lebenswelten als po- sitive Realität wahrgenommen und als Normalität gelebt werden. Bis dato hat- te es in Deutschland kein herkunfts- und religionsübergreifendes Forum für junge Menschen gegeben, in dem sie über Is- lam- und Muslimbilder in der Gesellschaft reflektieren und diskutieren konnten. Aus diesem Gründungsgedanken heraus Teilnehmerin Aisha 2018 auf der Länderkonferenz der JIK in Nordrhein-Westfalen. Für sie ein Ort, an dem sie hat sich die Junge Islam Konferenz (JIK) neue Freundschaften schließen und mehr Selbstbewusstsein entwickeln konnte. über die Jahre hinweg weiterentwickelt. Im Wesenskern ist sie aber eine Dialog- teln, die Pluralität als Chance versteht deskonferenz in seinem Blogbeitrag so: plattform für junge Menschen geblieben, und als Normalität begreift. Einzige Vo- „Ich wurde ziemlich rabiat aus meiner die sich mit Fragen des konstruktiven und raussetzung für die Teilnahme ist die badischen Wohlfühlblase herausgerissen gleichberechtigten Zusammenlebens in Offenheit für andere Erfahrungen und und vielleicht das erste Mal mit realen der Migrationsgesellschaft auseinander- Sichtweisen. Denn die Möglichkeit zum Rassismuserfahrungen konfrontiert. […] setzen. Junge Menschen im Alter von 17 Perspektivwechsel ist ein Grundpfeiler Ich habe etwas gelernt, was so nahelie- bis 25 Jahren kommen auf der Bundes- der Veranstaltungen. Die jungen Teilneh- gend erscheint, worüber ich aber vorher konferenz, der Sommerakademie, den menden starten von verschiedenen Punk- doch nie nachgedacht habe: Ich werde JIK-Talks und verschiedenen Netzwerk- ten. Buchstäblich, denn sie kommen aus von der Gesellschaft als weißer Mann veranstaltungen zusammen und disku- der ganzen Bundesrepublik zusammen. wahrgenommen und genieße damit Pri- tieren über Themen wie Pluralität und Vor allem jedoch aufgrund pluraler Bio- vilegien. Von diesem Zeitpunkt an habe Zugehörigkeit, unabhängig von Herkunft grafien und unterschiedlicher Erfahrun- ich begonnen, meinen Weg zu dieser und Religionszugehörigkeit. Ziel ist es, gen mit struktureller und individueller Einsicht auf Instagram zu dokumentieren, junge Menschen dazu zu befähigen, an Diskriminierung. und versuche damit, andere Menschen gesellschaftlichen und politischen Diskur- zu erreichen […] War es richtig, sich das sen teilzunehmen und eine inklusive und Zum Selbstverständnis der Jungen Islam Leben schwerer zu machen? Definitiv! friedvolle Gesellschaft mitzugestalten. Konferenz gehört es, die Teilnehmenden Was bringt es uns, immer wegzuschauen. für sich selbst sprechen zu lassen. Anstatt Auch das ist ein Privileg, das ich als wei- Raum für Perspektivwechsel auf exklusiv geführte gesellschaftliche ßer Mann habe. Menschen, die tagtäglich Debatten zu reagieren, teilt unser junges Rassismus erleiden, können das nicht.“ Alle Angebote der JIK sind darauf aus- Netzwerk in einem Blog ihre Perspektiven gerichtet, ein positives Selbstverständnis und Beweggründe. Erik schildert seine Die Erfahrungen, die Erik als Angehöriger einer vielfältigen Gesellschaft zu vermit- Erfahrungen und Eindrücke von der Bun- der Mehrheitsgesellschaft macht, unter- » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 11
SCHWERPUNKTTHEMA Foto: Astrid Piethan Haltung statt Herkunft ist das Motto der Jungen Islam Konferenz. Mit im Bild Teilnehmer Erik (m.). » scheiden sich fundamental von denen geschichte und unterschiedlicher Religi- Dialog, konstruktive Debatten und junge anderer Teilnehmer*innen. Aisha bei- onszugehörigkeit kommen zusammen – Perspektiven auf die Migrationsgesell- spielsweise sieht sich in ihrem Alltag Mehr- nicht um sich gegenseitig Vorurteile an schaft. fachdiskriminierungen ausgesetzt. An- den Kopf zu werfen, sondern um ein- fangs befürchtete sie, auch bei der Jungen ander zuzuhören, Fragen zu stellen und 2020 fand die Bundeskonferenz der JIK Islam Konferenz keinen Raum zu haben, einen offenen Diskurs zu fördern. Für Ai- aufgrund der aktuellen Umstände zum wirklich gesehen und verstanden zu sha hat sich durch die Teilnahme an der ersten Mal im digitalen Raum statt. Das werden. Länderkonferenz in Nordrhein-Westfalen Motto in diesem Jahr: „Achtung Haltung. viel verändert: Wie die Generation Postmigrantisch ihren „Als Schwarze Muslima ist Diskriminie- Platz in der Gesellschaft sichert.“ ■ rung für mich Alltag. Lange habe ich die „Die JIK ist mehr als nur zwei Wochen- Augen davor verschlossen, habe nach enden, an denen sich Menschen zu ei- Mehr Infos zur Konferenz sowie die Bei- Entschuldigungen gesucht, weshalb ner Konferenz zusammenfinden. Sie be- träge der jungen Netzwerkmitglieder Menschen andere Menschen diskrimi- gleitet mich jetzt ständig – in Form neu zum Nachlesen unter: nieren: Hatte die Person, die mich einen gewonnener Freunde wie auch in einem www.junge-islam-konferenz.de ‚Scheißflüchtling‘ nannte, vielleicht nur selbstbewussteren Auftreten. Größter einen schlechten Tag oder gerade ihren Lerneffekt: Verdrängung ist auch keine Job verloren? Diese Verdrängungstaktik Lösung.“ war bequem, machte mich aber stumm. Doch während meiner Teilnahme an der Das Netzwerk der Jungen Islam Konfe- Jungen Islam Konferenz in NRW fing ich renz versteht sich dabei auch als plurale an, die Dinge zu sehen, wie sie wirklich Stimme einer postmigrantischen Gene- sind, und Diskriminierung als solche zu ration. Saide formuliert in ihrem Beitrag benennen.“ von 2018 sehr schön, worum es dabei geht: „Die Jugend heutzutage existiert Fragen statt Vorurteile nur in ihrer Vielgestaltigkeit. Ist nicht eins, sondern viel. Ist nicht gleich, sondern ver- Gemeinsamkeiten stärken und Differen- schieden. Ist alles, was ihr abgesprochen zen abbauen – darum geht es in allen wird zu sein.“ Die JIK will für diese jungen Formaten der Jungen Islam Konferenz. Menschen, die postmigrantische Genera- Jugendliche mit und ohne Migrations- tion, Verstärker sein und Plattform. Für Theresa Singer ist die Kommunikationsmanagerin der Jungen Islam Konferenz (JIK) und koordiniert damit die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Projekts. Die JIK ist seit Oktober 2019 ein eigener Programmbereich der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa und damit Teil des Kompetenznetzwerks Zusammenleben in der Einwande- rungsgesellschaft. 12 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
SCHWERPUNKTTHEMA Janina Berkle und Rachel Dickstein Histories2gether: Gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte Ehemalige DDR-Inhaftierte und heute politisch Verfolgte gestalten zusammen Seminare in Berlin-Hohenschönhausen. Die Integration von Geflüchteten in Deutschland und das friedliche Zusammenleben in einer vielfältigen, weltoffe- nen Gesellschaft sind bedeutende Herausforderungen der Gegenwart. Gedenkstätten als authentische Orte der Ge- schichtsvermittlung, der politischen Bildung und Demokratieerziehung können hierbei eine große Rolle spielen. Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen möchte mit neuen Bildungsangeboten ihren Beitrag dazu leisten. Aus diesem Grund hat die Stiftung mit dem Projekt Histories2gether besondere Tandemseminare entwickelt. Histories2gether bietet Tandems mit zwei kommen oder wurden verletzt und erlebten das von der Staatsministerin für Kultur Zeitzeug*innen an, die gemeinsam über in einem Stasi-Gefängnis wie dem in Berlin- und Medien Monika Grütters geförderte ihre Erlebnisse sprechen. Der Titel des Pro- Hohenschönhausen als politische Häftlinge Projekt „Neue Vermittlungsangebote in jektes steht dabei nicht nur für die beiden psychische Folter. der historisch-politischen Bildung“ durch. Referent*innen, für die Reise in die Vergan- Dieses Projekt dient der Integration und genheit und den Bezug zur Gegenwart, Die Stiftung Gedenkstätte Berlin-Hohen- Inklusion bisher unterrepräsentierter Be- sondern bedeutet auch, dass Geschich- schönhausen hat den gesetzlichen Auftrag, suchergruppen in der Gedenkstätte: Dazu te gemeinsam entdeckt wird und The- über die Geschichte des Haftortes und das zählen Schüler*innen von Berufsschulen, men sichtbar werden, die alle verbinden. System der politischen Justiz in der Deut- Menschen mit Fluchterfahrung, Deutsche schen Demokratischen Republik zu for- mit Migrationsgeschichte und Menschen Die Idee zu Histories2gether schen sowie die Öffentlichkeit darüber zu mit kognitiven Beeinträchtigungen wie zum informieren. Mit ihren Angeboten regt sie Beispiel Lernschwierigkeiten. Von der Gründung der DDR bis zum Fall der zur Auseinandersetzung mit den Formen Berliner Mauer sind Millionen Menschen und Folgen politischer Verfolgung in der Wenn man Wissen über Diktaturen, Un- aus der SED-Diktatur geflohen – teils unter kommunistischen Diktatur an. terdrückung, Flucht und politische Haft in den schwierigsten Bedingungen und unter der Vergangenheit anschaulich vermitteln größter Gefahr. Mehr als tausend Men- Um diesen Auftrag für ein breiteres Pub- will, ist es unerlässlich, einen Bogen zur schen sind bei ihrer Flucht ums Leben ge- likum zu erfüllen, führt die Gedenkstätte Gegenwart zu schlagen. Bezüge zu heu- tigen Schicksalen von Flucht und Verfol- Mohamad Khalil (r.) zeigt Zeitzeugin Monika Schneider (l.) seinen Fluchtweg. gung liegen daher nahe: Im Jahr 2015 sind viele Menschen aus Krisenregionen wie Syrien über das Mittelmeer nach Europa Foto: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen / Collage: Megan Benson geflüchtet, beispielsweise um politischer Haft zu entgehen. Dabei sind viele ums Le- ben gekommen oder waren monatelang unterwegs. Histories2gether greift nun verschiedene dieser Schicksale auf. Entstanden sind Tan- demseminare, die gemeinsam von einem ehemaligen politischen Häftling der DDR sowie von einem Neuangekommenen mit aktueller Fluchterfahrung geleitet werden. In den Seminaren geht es zum einen um Integration von Menschen, die wegen po- litischer Verfolgung nach Europa geflohen sind, zum anderen auch um Demokratie- erziehung, wenn die Zeitzeug*innen ge- meinsam über Flucht, Haftorte und Dikta- turen berichten. » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 13
SCHWERPUNKTTHEMA » Die Vorbereitungsphase scheiterte, er wurde gefasst und zu einem ich erkennen konnte, dass die Aufnahme Jahr und sieben Monaten Haft verurteilt. von fremden Menschen, gerade aus Dik- Um mögliche Referent*innen und Zielgrup- Heute führt er gemeinsam mit aktuell Ge- taturen und Kriegsgebieten, in der Bilanz pen für die Tandemseminare zu erreichen, flüchteten Histories2gether-Tandemsemi- keine Last für unser Land bedeutet. Die hat das Team Kooperationen mit Vereinen nare durch. Er sagt: Schicksale meiner Kollegen und deren und anderen Institutionen gesucht, die im heutiger Lebensweg in Deutschland hat Bereich Integration arbeiten. Dabei sind „Meine Referentenkollegen in diesem Se- meine Erkenntnis befördert, dass wir mehr zahlreiche wertvolle Verbindungen ent- minar stammen aus Syrien und Afghanis- dabei gewonnen haben, diesen mutigen, standen, wie zum Beispiel mit der WIPA- tan. Ihre Lebenswege sind gekennzeichnet intelligenten und kreativen Menschen Sprachschule, der Iranischen Gemeinde, durch Kriege, die Zerstörung ihrer kulturel- nicht die Tür vor der Nase zugeschlagen dem Bundeszuwanderungs- und Integrati- len Werte und fürchterliche Erlebnisse, die zu haben.“ onsrat, dem Oromo Horn von Afrika Zen- sie bei ihrer Flucht durch Asien bis nach Eu- trum, dem Zentralverband des Deutschen ropa hatten. Sie erzählen, wie ihre Angehö- Einer der Kollegen von Erhard Neubert ist Handwerks und dem Interreligiösen Dialog rigen vernichtet wurden oder alles verloren Mohamad Khalil. Er ist 2015 aus Syrien ge- Reinickendorf. haben. Sie erlitten Dinge, wie ich sie nicht flüchtet und hat sich nun als Referent für annähernd erlebt habe. Aber der Ausgangs- Histories2gether zur Verfügung gestellt. Die intensive Vernetzung mit Akteuren im punkt war immer eine brutale Diktatur, die Khalil sagt: Bereich Integration hat geholfen, viele in- das Leben Andersdenkender nicht respek- teressierte Menschen mit Fluchterfahrung tiert und einen Willen zur Macht zeigt, der „Das Projekt ist eine Gelegenheit, um das zu erreichen – zum Beispiel aus Syrien, Af- auch nicht vor Kriegen Halt macht. Zusammenleben in Deutschland zu stär- ghanistan und dem Iran. Sie berichten nun ken. Wenn ich mir die Erzählungen der über ihre Erlebnisse, insbesondere über die Ich kann mich vor diesen Kollegen nur in DDR-Zeitzeugen anhöre, dann denke ich an politische Verfolgung und Flucht. tiefem Respekt verbeugen. Ich bin stolz da- meine eigene Geschichte. Obwohl es in ei- rauf, mit diesen mutigen Menschen heute nem ganz anderen Land passierte, fühle ich In der Vorbereitungsphase und in den kon- ein solches Seminar durchführen zu dürfen. diese Nähe und dass wir dasselbe Schicksal tinuierlichen gemeinsamen Gesprächen Gemeinsam ist uns, durch unser Erlebtes haben. Mir ist es wichtig zu zeigen, dass wir zwischen DDR-Zeitzeug*innen und aktuell der heutigen Generation aufzeigen zu wol- aus der Geschichte lernen müssen.“ Geflüchteten erleben wir, dass es ein hohes len, dass sie niemals Ideologen und Popu- Maß an Verständnis und Sensibilität für die listen, rechten wie extrem linken, Glauben Die Erfahrungen Erlebnisse des jeweils anderen gibt. schenken sollten. Es gilt, Entwicklungen in der Gesellschaft kritisch und aufrecht zu Besonders zum Ende der Veranstaltun- Die Referenten hinterfragen. gen wird die Diskussion in den Seminaren oft sehr lebendig. Dann setzen sich beide Erhard Neubert unternahm 1964 einen Ich habe eine Menge in den Seminaren Zeitzeug*innen gemeinsam für Demokratie Fluchtversuch aus der DDR. Die Flucht gelernt. Das Wichtigste aber ist, dass und Menschenrechte ein und versuchen den Jugendlichen deutlich zu machen, Außentor der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen. wie wichtig es ist, mitzubestimmen und zu wählen. An dieser Stelle verstehen vie- Foto: Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen le Schüler*innen genau, warum die beiden Geschichten gemeinsam in einem Seminar behandelt werden. Die Schüler*innen stel- len viele Fragen und die Erläuterungen der Zeitzeug*innen verdeutlichen ihnen, wie schnell ein Staat zu einem Unrechtsstaat werden kann, aus dem Menschen vor Krieg oder politischer Verfolgung fliehen müssen. Das neue digitale Angebot Auch wenn die Seminare wegen der glo- balen Pandemie durch Covid-19 zeitweilig in Stillstand geraten sind, hat das Team die Zeit genutzt, neue Vermittlungsformate zu konzipieren, vor allem Online-Seminare. Interessierte können eine Buchungsanfra- ge über die Internetseite http://histories2 gether.de stellen oder eine E-Mail senden an: Janina Berkle und Rachel Dickstein sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der histories2gether@stiftung-hsh.de ■ Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. 14 Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020
WEITERE THEMEN Jürgen Vits Bildkunst in der DDR Zwischen Utopie, Rebellion und Umbruch Aus der langen und wechselvollen Geschichte der bildenden Kunst wissen wir, dass Künstlerschaft und Kunstschaffen immer auch vom politischen und gesellschaftlichen Kontext beeinflusst werden. Dies gilt selbstverständlich auch für die Bildkunst aus der DDR. Ein vertiefter Blick offenbart allerdings eine alles andere als homogene und einheitliche ostdeut- sche Kunstlandschaft, obwohl sie 40 Jahre lang einer repressiven, staatlich gelenkten Kulturpolitik ausgesetzt war. Viele Künstlerinnen und Künstler erkundeten mit kreativen Mitteln Freiräume und visualisierten auf ganz eigenständige und subtile Weise Widersprüche und Missstände in der DDR-Gesellschaft. Kunstsystem und Kulturpolitik bus in Fragen des Stils gab es nun nicht in der DDR mehr, sofern die sozialistische Haltung er- kennbar blieb. Ironische Anspielungen und Der gesamte Kunstbetrieb wurde in der komplizierte Metaphorik in der Kunst er- DDR staatlich reglementiert und kontrolliert. setzten zunehmend belehrende Eindeutig- Das betraf die Kunstausbildung genauso keit. Insbesondere die Maler der „Leipziger wie alle offiziellen Ausstellungsmöglichkei- Schule“ erregten Aufsehen mit der expres- ten. Nur Mitglieder des 1950 gegründe- siven, neusachlichen oder altmeisterlichen ten Verbandes Bildender Künstler der DDR bis surrealistischen Malerei eines neuen (VBK) durften freischaffend arbeiten und „kritischen Realismus“. Es ging diesen ihre Werke offiziell ausstellen. Da in der DDR Malern um Offenlegung und Sichtbarma- ein privater Kunsthandel so gut wie nicht chung von Widersprüchen und Missstän- existierte, nahmen viele Künstlerinnen und den, ohne den Staatssozialismus infrage Künstler Aufträge von Betrieben, Instituti- zu stellen. Die Ausbürgerung von Wolf onen und Parteien an. Dies geschah ganz Biermann im November 1976 führte dann im Sinne der Bitterfelder Konferenzen 1959 jedoch zu einer massiven Vertrauenskrise und 1964, bei denen das Ziel „Vereinigung und zu einem regelrechten Exodus von In- von Kunst und Leben, von Künstler und tellektuellen und Künstlern. Volk“ ausgegeben wurde. Der „Bitterfelder Weg“ forderte, die „werktätigen Menschen Der 1. Leipziger Herbstsalon im November ins Zentrum des künstlerischen Prozesses“ 1984 war und blieb das einzige unzensierte zu stellen. Dieser „Sozialistische Realismus“ öffentliche Kunstprojekt, das es in der DDR stand im Kunstsystem der DDR für das Pri- schaffte, die Dominanz der Kulturbürokra- Bernhard Heisig: Brigadier, Postwertzeichen 1981 mat der Politik, nämlich für eine propagan- tie zu unterlaufen und eine von Künstlern distische und pädagogische Instrumentali- Mit der sogenannten „Formalismus-De- frei konzipierte Ausstellung zur realisieren. sierung der Künste im Sinne der offiziellen batte“ wurde in den frühen Jahren der In einer Stasi-Akte findet sich dazu folgen- Parteilinie, um den Aufbau der sozialisti- DDR in fataler Parallelität zur berüchtigten der Kommentar: „Nach Ansicht des IM han- schen Gesellschaft zu unterstützen. So hat- NS-Aktion gegen „Entartete Kunst“ zum delt es sich bei dem negativen Personen- te Otto Grotewohl schon am 1. September Bildersturm gegen die Kunst der Moderne kreis von bildenden Künstlern wiederholt 1951 unmissverständlich klargestellt: aufgerufen. Jede Abweichung vom Prinzip um einen Versuch, mit ihren negativ-feind- des Abbildens der Wirklichkeit aus sozialis- lichen Kunstauffassungen eine Öffentlich- „Literatur und bildende Kunst sind der Po- tischer Perspektive galt dabei als Formalis- keitswirksamkeit zu erzielen.“ Die trotz Be- litik untergeordnet, aber es ist klar, daß mus und nicht vereinbar mit der vorgege- hinderungen gut besuchte Schau strahlte sie einen starken Einfluß auf die Politik benen Kunstdoktrin. Ausdrucksformen der auf die jüngere Künstlergeneration aus und ausüben. Die Idee in der Kunst muß der Avantgarde wie Expressionismus, Surrea- wirkte ermutigend auf die sich etablieren- Marschrichtung des politischen Kampfes lismus, Verismus, Kubismus und Abstrak- de alternative autonome Kunstszene. Diese folgen. Denn nur auf der Ebene der Poli- tion wurden als zersetzend, dekadent und konnte sich trotz verstärkter Beobachtung tik können die Bedürfnisse des werktäti- pessimistisch diffamiert. durch die Staatssicherheit in einigen Städ- gen Menschen richtig erkannt und erfüllt ten entwickeln. Vor allem die in die DDR werden. Was sich in der Politik als rich- Mit Beginn der 1970er Jahre machten sich hineingeborene Künstlergeneration glaub- tig erweist, ist es auch unbedingt in der in der offiziellen Kulturpolitik vorsichtige te in den 1980er Jahren nicht mehr an eine Kunst.“ Liberalisierungstendenzen bemerkbar. Ta- Reformierbarkeit des real existierenden » Gegen Vergessen – Für Demokratie | Nr. 106 / November 2020 15
Sie können auch lesen