Gut Ding will Weile haben? Dynamik institutioneller Anpassungsprozesse und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen
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Gut Ding will Weile haben? Dynamik institutioneller Anpassungsprozesse und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen Michael A. Witt INSEAD 1 Ayer Rajah Avenue Singapore 138676, Singapore T +65-6799-5253 F +65-6799-5399 Michael.WITT@insead.edu This is a pre-print of an article published in Wirtschaftspolitische Blätter. The definitive publisher-authenticated version is: Witt, Michael A. 2007. Gut Ding will Weile haben? Dynamik institutioneller Anpassungsprozesse und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen. Wirtschaftspolitische Blätter, 54(2): 279-291. 1
SCHWERPUNKT ORDNUNGSWLITIK: Gut Ding will Weile haben? Gut Ding will Weile haben? Dynamik institutioneller Anpassungsprozesse und ihre wirtschaftlichen Auswirkungen Michael A. Witt Affiliate Professor Dr. Michael A. Witt, INSEAD, Singapore Die lndustriestaaten stehen unter erheblichern Druck, ihre institutionellen Strukturen anzupassen. Manchen Staaten gelingt dies schneller als ande- ren. Ein wesentlicher Bestirnrnungsfaktor der Geschwindigkeit, rnit der Staaten Anpassungsprozesse durchlaufen konnen, ist der Grad der gesell- schaftlichen Koordinierung in der politischen Wirtschaft. Je hoher dieser Grad, desto rnehr Zeit wird tendenziell fiir Anpassungsprozesse benotigt. Dies kann negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben und wirft fur Staaten rnit einern hohen Grad gesellschaftlicher Koordinierung die Frage auf, ob nicht Anderungen in der Struktur der Anpassungsprozesse selbst angebracht waren. 1. Einleitung Die Industrienationen stehen in den letzten Jahren unter erheblichem Druck, ihre Institutionen' an veranderte und sich weiterhin verandernde Bedingungen an- zupassen. Anpassungsbedarf wird unter anderem gesehen im Bereich der Sozial- versicherungssysteme, der Schul- und Ausbildungssysteme, der Finanz- und Ar- beitsmarkte, und der Corporate Governance Systeme. Die Quellen dieses Drucks sind wohlbekannt und daher hier nur kurz reka- pituliert. So besteht weitgehend Einigkeit dariiber, dass sich die Weltwirtschaft in einer Ubergangsphase in ein neues lndustriezeitalter - das der Informationstech- nologie - befindet (Lewin/Long/Carroll, 1999; Lewin/Stephens, 1993; Perez, 2002). Diese Phase begann 1971 mit der Einfiihrung des Intel 4004 Mikroprozessors (Perez, 2002). Sie wird, wie vorangegangene Ubergangsphasen, aller Wahrscheinlichkeit nach radikalen Wandel in der institutionellen Struktur der Volkswirtschaft mit sich bringen (Perez, 2002). Gleichzeitig tragen Liberalisierung von Welthandel und Finanzstromen zu mehr Unsicherheit und internationalem Wettbewerb bei. Diese Entwicklung setzte ebenfalls in den 1970er Jahren ein. Sie beschleunigte sich erheblich nach Ende des kalten Krieges, da der Zusammenbruch der Sowjetunion den Sozialismus als alter- 1 Definiert als die formalen und informalen Regeln, nach denen das Wirtschaftsgeschehen ablauft, wie zB Gesetze und Gewohnheiten (s North, 1990).
WfrtschaftspolitischeBlatter 2/2007 natives Gesellschaftssystem diskreditierte. Damit entfiel fiir die westlichen Indus- triestaaten ein wichtiger Grund, dem Kapitalismus durch Wettbewerbsbeschran- kungen die sozialen Spitzen zu nehmen (siehe Ruggie, 1982). Verscharfend kommt der Eintritt der Schwellenlander in den internationalen Wettbewerb hinzu. Allein die Einbindung Chinas. Indiens, und der ehemaligen Sowjetunion in die internati- onale Wirtschaft hat das internationale Angebot an Arbeitskraften faktisch verdop- pelt (Economist, 2005). Dies setzt das Lohnniveau in den Industriestaaten unter Druck und hat zur Entwicklung neuer Organisationsformen wie Netzwerk-Organi- sationen (Fulk/DeSanctis, 1995) und Offshoring (Lewinpeeters, 2006) beigetragen. Auch die drohende Oberalterung der Bevolkerung (Vernon. 1998)in den meis- ten Industrienationen tragt zum Anpassungsdruck auf institutionelle Strukturen bei. Betroffen sind unter anderem die Sozialversicherungsysteme, deren Reform wiederum Anderungen in verbundenen Bereichen bedingen diirfte. Verschiedene Nationen reagieren auf diese Herausforderungen unterschied- lich schnell, mit entsprechenden Auswirkungen auf ihre wirtschaftliche Leistungs- fahigkeit. These dieser Arbeit ist, dass die Geschwindigkeit, mit der Staaten An- passungsprozesse durchlaufen konnen, wesentlich von dem Grad der gesellschaft- lichen Koordinierung (siehe Hall/Soskice, 2001a; Witt, 2006; Witt/Lewin, 2007) in der politischen Wirtschaft des jeweiligen Staates abhangt. 1st dieser Grad hoch, wie es zB in Osterreich und in Deutschland der Fall ist, ist die Geschwindigkeit der Anpassungsprozesse tendenziell eher langsam. Dies hat Auswirkungen auf die re- ale Wirtschaft, die ua im Wirtschaftswachstum und in der Arbeitslosenquote, aber auch in der Schattenwirtschaft und in Abwanderungsbewegungen von Firmen sichtbar werden. Fur hoch-koordinierte Staaten stellt sich daher die wirtschafts- politische Frage, ob nicht die Struktur der Anpassungsprozesse selbst geandert werden sollte. 2. Anpassungsdruck und Anpassungsprozesse Dass verschiedene Industrienationen auf Anpassungsdruck unterschiedlich schnell reagieren, hangt zum Teil mit der GroRe der jeweiligen Staaten zusammen (Katzenstein, 1985): Vereinfachend gesagt, konnen es sich kleine Staaten aufgrund geringerer Ressourcen nicht leisten, sich nicht anzupassen. Ein bedeutenderer Fak- tor liegt jedoch in der Struktur der Anpassungsprozesse als solche begrundet. Neu- ere Forschungen haben zu der Erkenntnis gefiihrt, dass sich die Industriestaaten in der Struktur ihrer politischen Wirtschaft unter anderem darin unterscheiden, wie sie das wirtschaftliche Geschehen koordinieren (Hall/Gingerich, 2004; Hall/Soskice, 2001a). Unterschieden werden zwei Gegenpole: zum einen, Koordinierung durch den Markt, was vor allem durch den Preismechanismus geschieht (siehe Hayek. 1945);zum anderen, Koordinierung durch die Gesellschaft, also durch formelle und informelle Interaktion und Zusammenarbeit von Individuen und Organisationen (siehe Hall/Soskice, 2001a; Streeck/Yamamura, 2003). Keine Industrienation setzt ausschlieRlich auf die eine oder andere Art von Koordinierung. Das Mischungsver- haltnis der beiden Koordinierungsarten unterscheidet sich jedoch von Staat zu Staat. In der Literatur werden Staaten mit relativ hohem Grad an Koordinierung durch den Markt ,,liberal market economies" (LMEs) genannt, wahrend Staaten mit
SCHWERPUNKT ORDNUNGSPOUTIK: Gut Ding will Weile haben? relativ hohem Anteil an Koordinierung durch die Gesellschaft als ,,coordinated mar- ket economies" (CMEs)bezeichnet werden. Dieses Mischungsverhaltnis hat Auswirkungen auf die Struktur der Anpas- sungsprozesse. In CMEs sind diese Prozesse in der Regel koordiniert, das heifit, in ihnen wirken Akteure zusammen, was normalerweise durch Verhandlungen und Kooperation von Vertretern des Staates sowie von organisierten Interessenvertre- tern (zB Arbeitnehmerverbande, Gewerkschaften) geschieht (Hall/Soskice, 2001a). Ergebnis dieser Prozesse ist ublichenveise weitgehender gesellschaftlicher Konsens uber eine Neuregelung, die haufig gemeinsam von den Verhandlungspartnern um- gesetzt wird. Im Gegensatz dazu ist in LMEs ein gr6Berer Anteil der Anpassungs- prozesse autonom gestaltet. Wirtschaftssubjekte wie Firmen, aber auch der einzel- ne Burger, konnen vorhandene institutionelle Muster andern, ohne sich hierbei mit anderen Akteuren abstimmen zu mussen. Haufig geschieht diese Art von Anpas- sung durch Abweichung von vorhandenen Regelungen. Diese Abweichungen wer- den bei Erfolg anschliel3end selbst zur allgemeinen Regel, indem andere Akteure sie imitieren, um weiterhin im Wettbewerb bestehen zu konnen (siehe DiMaggio/ Powell, 1983; Williamson, 1985). Am Beispiel von Ladenijffnungszeiten lasst sich der Unterschied zwischen CMEs und LMEs in Prozess und Geschwindigkeit gut illustrieren. In typischen LMEs, wie zB den USA, liegt die Entscheidung iiber die Offnungszeiten eines Ladens fast immer beim Eigentumer oder seinem Geschaftsfiihrer. Wenn sich langere Off- nungszeiten betriebswirtschaftlich rechtfertigen lassen, kann das einzelne Unter- nehmen sich entsprechend anpassen. Andere Unternehmen werden folgen. wenn sich die veranderten Offnungszeiten als erfolgreich erweisen. Als Gegenbeispiel hierzu kann die Ladenschlussdebatte in Deutschland, einem CME, dienen. Zwei Jahrzehnte zaher Verhandlungen einer grol3en Anzahl von Interessensvertretern - ua dem Einzelhandelsverband, den Gewerkschaften, den Kirchen, und dem Staat2 - haben bisher eine Verlangerung der Offnungszeiten werktags um eineinhalb Stun- den und samstags um sechs Stunden bewirkt. Die geplante vollige Freigabe der LadenOffnungszeiten in Deutschland unter Hoheit der einzelnen Bundeslander ist nicht zuletzt eine Kapitulation vor der Tragheit des bisherigen Anpassungsprozes- ses. Betrachten wir die Dynamiken der Anpassung in LMEs und CMEs naher. In LMEs sind diejenigen Akteure, die von einer nicht mehr zeitgemaRen Regelung be- troffen sind, haufig auch in der Lage, diese Regelungen zu andern. Der ,,man on the spot" (Hayek, 1945. 524) trifft die entsprechende Entscheidung aufgrund seines Wissens uber die ortlich und zeitlich gegebenen Umstande. Das einzelne Wirt- schaftssubjekt kann sich somit im Rinzip fast ohne Zeitverlust an neue Gegeben- heiten anpassen. Auf Ebene der gesamten Volkswirtschaft kann es jedoch einige Zeit dauern, bis sich eine erfolgreiche Losung des gegebenen Anpassungsproblems durch Imitation als dominant durchsetzt. Wahrend CMEs selten Probleme bei der zugigen landesweiten Implementie- rung einer neuen Regel haben, dauert es in diesen Landern tendenziell erheblich langer, bis Entscheidungen iiber notwendige Anderungen getroffen sind (so sie je- 2 lnteressanterweise scheint der Kunde nur eine Statistenrolle in diesen Verhandlungen zu spie- len.
Wirtschaftspolitische Blatter 2/2007 mals getroffen werden). Aus organisationstheoretischer und politikwissenschaftli- cher Sicht lasst sich sagen, dass mindestens funf Faktoren fur geringere Geschwin- digkeit in CMEs verantwortlich sind. Erstens, Entscheidungstrager in CMEs mussen zunachst einmal von der Notwendigkeit einer Anpassung erfahren. Diese Notwen- digkeit manifestiert sich in der Regel zuerst auf unterer Ebene - der des einzelnen Burgers oder der einzelnen Firma - und muss durch entsprechende Kanale zur Ent- scheidungsebene kommuniziert werden. Kommunikation jedoch benotigt Zeit. Dies ist um so mehr der Fall, als dass lnformationsflusse uber mehrere organisato- rische Ebenen hinweg einer Vielzahl von Storfaktoren ausgesetzt sind (siehe zB Weick, 1979)und daher auf hoherer Ebene stets auch Bedarf besteht, die erhaltenen Informationen zu iiberpriifen und weitere Details zu erfahren. Weitere Verzogerun- gen sind zudem wahrscheinlich durch Probleme verbunden rnit kollektivem Han- deln (Olson, 1965). So mag sich zB niemand dafur zustandig fuhlen, Informationen uber das gegeben Problem weiterzureichen, da dies rnit Aufwand verbunden ist. Zweitens, in der Regel nimmt eine groRere Anzahl von Verhandlungsparteien an CME Entscheidungsprozessen teil. Typisch sind, wie wir schon gesehen haben, die Teilnahme von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern, der Regierung und des Staates, aber auch von anderen Interessensverbanden wie von Umweltschut- zernund der Kirchen. Die Anzahl der Teilnehmer reicht von relativ wenigen in eher zentralisierten Landern zu sehr vielen in findern rnit umfassenderen Systemen. Je groRer die Anzahl von Teilnehmern und je unterschiedlicher ihre Interessen, desto schwieriger ist es, eine Ubereinkunft zu treffen. Dies ist vor allem der Fall, wenn Konsens die gesellschaftliche Norm ist. Drittens, Entscheidungstrager in CMEs verbringen mehr Zeit rnit Beratung und Nachdenken, da ihnen keine oder wenige experimentelle Informationen uber mogliche Anpassungsschritte zur Verfugung stehen. In LMEs besteht fur den ein- zelnen durchaus die Gefahr, auf veranderte Bedingungen unzureichend zu rea- gieren. Dieses Risiko wird jedoch zumindest teilweise dadurch kompensiert, dass jeder Akteur jederzeit weitere mogliche Anpassungsreaktionen erforschen und er- greifen kann (Cyert/March, 1963). Er kann hierbei zum einen auf seine eigenen Er- fahrungen zuruckgreifen. Zum anderen kann er auch seine Beobachtungen der Er- fahrungen anderer, die vielleicht andere AnpassungsmaRnahmen ergriffen haben, rnit in seine iiberlegungen einbeziehen. Weder dieser Erfahrungsschatz, noch die Moglichkeit, ihn ohne langwierige Feldversuche aufzubauen, steht Entscheidungs- tragern in CMEs zur Verfiigung. Eine falsche Entscheidung fur eine unzureichende AnpassungsmaRnahrne ist jedoch nicht nur volkswirtschaftlich rnit Kosten verbun- den, sondern haufig auch politisch schwierig zu andern. Entscheidungstrager in CMEs versuchen daher diese Risiken durch iiberlegung, Diskussion und Gedanke- nexperimente zu mindern, was wiederum zeitaufwendig ist. Viertens, Entscheidungsprozesse in CMEs mussen haufig sogenannte institu- tionelle Abhangigkeiten in Betracht ziehen. Hierunter versteht man die Tatsache, dass in CMEs haufig einzelne Regelungen wiederum von anderen Regelungen ab- hiingen. Diese Abhangigkeiten sind in CMEs haufiger zu finden als in LMEs, und zwar aus zwei Griinden. Erstens. Abhangigkeiten sind leichter zu schaffen, wenn diejenigen Akteure, die von den jeweiligen Regularien erfasst werden, auch daran beteiligt sind, diese Regeln zu erschaffen. Zweitens. CMEs haben definitionsgemaR eine hohere Dichte an formalen Regeln, und je groRer die Anzahl solcher Regeln,
SCHWERPUNKT ORDNUNGSPOLITIK: Gut Ding will Weile haben? desto wahrscheinlicher ist es, dass sich weitere Regeln an den bestehenden anknup- fen (siehe Pierson, 2004). Die Wahrscheinlichkeit ist also in CMEs hoher, dass die Anpassung einer Regel die Anpassung weiterer, abhangiger Regeln notig macht. Dies wiederum bedeutet in der Regel erhohten Zeitaufwand. Funftens sind Anpassungsprozesse in CMEs anfallig fur Verzogerungen durch Akteure, die von der bestehenden institutionellen Struktur profitieren. In vielen Fallen sind dieselben Akteure an Verhandlungen uber Anpassungspro- zesse beteiligt, die schon an der Schaffung der gegenwartigen Struktur beteiligt waren. Institutionen sind jedoch in der Regel so aufgebaut, dass ihre Erschaffer von ihnen profitieren (Knight, 1992). Daher haben diese Akteure ein Interesse daran, zumindest die Regelungen zu erhalten, von denen sie einen Vorteil erlan- gen. Dies ist weniger ein Problem, so lange nur geringfugige Anderungen notig sind oder die zur Verfiigung stehenden Ressourcen schnell wachsen. In Zeiten wie den jetzigen, in denen eher radikale Schritte notig sind und wirtschaftliches Wachstum eher langsam ist, steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit von Verzoge- rungen und Blockade. Zusammenfassend lasst sich sagen, dass institutionelle Anderungsprozesse in CMEs tendenziell mehr Zeit benotigen als in LMEs. In relativ ruhigen Phasen, in denen sich das Umfeld der Wirtschaft nur langsam andert, mag dieser Unterschied kaum oder gar nicht zum Tragen kommen. Im Gegenteil, Koordinierung kann unter diesen Voraussetzungen zu hochangepassten und uberaus leistungsfahigen insti- tutionellen Rahmenbedingungen beitragen. Je schneller sich jedoch das Umfeld wandelt, desto eher ist wahrscheinlich, dass CMEs an die Grenzen des fur sie Mach- baren stoRen. Anders ausgedruckt: Die erreichbare Hochstgeschwindigkeit fur An- passungsprozesse in CMEs liegt tendenziell niedriger als in LMEs. 3. Auswirkungen Diese Unterschiede in der Geschwindigkeit von Anpassungsprozessen sind in den vergangenen Jahren nicht ohne Auswirkungen auf das wirtschaftliche Ge- schehen in den Industrielandern geblieben. Hall und Cingerich (2004) haben einen Index fur das Mischungsverhaltnis von Koordinierung durch Markt oder Gesell- schaft fur zwanzig OECD-Lander berechnet (Tabelle 1). Hohere Werte des Index zei- gen ein hoheres MaR an Koordinierung durch die Gesellschaft, und damit verbun- den ein geringeres MaR an Koordinierung durch den Markt, an, und umgekehrt. Hierbei wurde der Index so standardisiert, dass er zwischen 0 und 1 liegt, und zwar ausgerichtet an den zwei Undern mit dem niedrigsten und hochsten Anteil an ge- sellschaftlicher K~ordinierung,~n h l i c h den USA und Osterreich. Diese Festlegung zwischen 0 und 1 dient rein der Anschaulichkeit. Sie bedeutet naturlich nicht, dass es in Osterreich keine Koordinierung durch den Markt und in den USA keine Koor- dinierung durch die Gesellschaft gibt. Betrachten wir nun einmal den Zusammenhang zwischen dem langjahrigen Durchschnitt im Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (Abbildung 1). Es zeigt sich, dass die Hohe des durchschnittlichen realen BIP-Wachstumsvon 1990 bis 2004 ne- 3 Oder, umgekehrt gesehen, dern hochsten und niedrigsten Anteil an Markt-Koordinierung.
Wirtschaftspolitische Blatter 2/2007 Tabelle 1 : Koordinierungsindex-Werte Land Index-Wert Australien Belgien Danemark Deutschland Finnland Frankreich lrland ltalien Japan Kanada Neuseeland Niederlande Norwegen Osterreich Portugal Schweden Schweiz 0.5 1 Spanien 0.57 USA 0.00 Vereinigtes Konigreich 0.07 Quelle: Hall/Gingerich (2004) gativ mit dem MaR der gesellschaftlichen Koordinierung in den einzelnen Landern verbunden ist. Der Korrelationskoeffizient betragt -0,42. CMEs scheinen also in den letzten Jahren tendenziell weniger schnell gewachsen zu sein als LMEs. Dieses Mus- ter zeigt sich auch, wenn man die Daten um Unterschiede in Kaufkraft und Bevol- kerungswachstum bereinigt. Hall und Soskice fuhren an, dass das durchschnittli- che, kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf in einer Gruppe von CMEs bis Mitte der 1990er Jahre hoher war als in den LMEs (Hall/Soskice,200 la). 2003 war jedoch bereits das Gegenteil der Fall: unter denselben Staaten verzeichneten die LMEs einen Durch- schnitt von US$30.350, verglichen mit einem Durchschnitt von US$ 29.355 fur die CMEs ( Witt,2006). Ein ahnliches Muster zeigt sich fiir einen weiteren Indikator wirtschaftlicher Leistungsfaigkeit, die Arbeitslosenquote. Abbildung 2 zeigt, dass in den LMEs im Zeitraum von 1990 bis 2003 die von der OECD standardisierten Arbeitslosenquoten tendenziell mehr gefallen sind, als dies in den CMEs der Fall war. Der Korrelations- faktor von Koordinierungsindex und Veranderung in der Arbeitslosenquote betragt +0,50.
SCHWERPUNKT ORDNUNGSWLITIK: Gut Ding will Weile haben? Abbildung 1: Kaardinierungsindex und durthschnittl~hereale Wachstumsraten des SIP, 1990- 2004. Der unbenannte Datenpunkt bei 0,70 ist Danemark. Italien Schweiz Quellen: Hall/Gingerich (2004); OECD (2006) Abbildung 2: Koordinierungsindex und Anderung der standardisierten Arbeitslosenquote. 1990- 2004. Oaten fijr Osterreich sind fur 1994-2003, fur die Schweiz fur 1991-2004, fdhere Datenpunkte fur diese Under nicht verfijgbar. 6 - Finnland Dwbchland Schwedm 4. Schweiz 2. -4 . Neuseeland Koordinlarungslndax-Wert Quellen: Hall/Gingerich (2004); O E D (2006)
Wirtschaftspolitische Blatter 2/2007 Diese Betrachtungen zeigen, dass in den zwei wichtigsten Dimensionen wirt- schaftlicher Leistungsfahigkeit, Wachstum und Beschaftigung, CMEs tendenziell hinter die LMEs zuruckgefallen sind. Wie wir aus zahlreichen Studien wissen, sind diese zwei Dimensionen in hohem MaBe von der Qualitat der institutionellen Rah- menbedingungen der Wirtschaft abhangig (zB Blanchard/Wolfers, 2000; Nickell et al, 2003; North, 1990; OECD, 2005). Passen sich die Rahmenbedingungen nicht schnell genug an veranderte Gegebenheiten an, ist folglich mit einer gewissen Be- eintrachtigung der wirtschaftlichen Leistungsfahigkeit zu rechnen. Dies driickt sich d a m wie gesehen in Wachstum und Beschaftigung aus. Die wirtschaftlichen Kosten einer langsamen Anpassung zeigen sich nicht nur in den makrookonomischen Statistiken, sondern auch auf Ebene des einzelnen Bur- gers und der einzelnen Firma. So verursachen zB nicht zeitgemal3e Arbeits- und Ausbildungsbestimmungen erhohte Personalkosten fur die Unternehmen, was zu einer Schwachung der Wettbewerbsfahigkeit beitragen und fur den einzelnen Ar- beitnehmer unter anderem den Weg in die Arbeitslosigkeit bedeuten kann.In vielen Fallen werden diese Kosten langsamer Anpassung von den Betroffenen passiv hin- genommen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Kosten gering sind oder zB uber Sozialversicherungssysteme fur einen gewissen Ausgleich gesorgt wird. iibersteigen jedoch die kumulierten Kosten der langsamen Anpassung einen gewis- sen Schwellenwert, werden die Betroffenen nach Moglichkeiten suchen, diese Kos- ten zu vermeiden, zu verringern oder auszugleichen. Dieses Suchen nach Ausweichmoglichkeit, legal und illegal, ist klar in ent- sprechenden Statistiken zu erkennen. Abbildung 3 zeigt, dass die Schattenwirt- schaft, definiert als die Summe der nicht offiziell registrierten wirtschaftlichen Ak- tivitaten (Schneiderfinste, 2000), gemessen als Prozentsatz des BIP tendenziell mit der Hohe des Koordinierungsindex wachst. Der Korrelationsquotient betragt +0,44. Illegale Arbeitsverhaltnisse rnachen einen GroRteil der schattenwirtschaftlichen Ak- tivitat aus (Enste, 2003). so dass eine wesentliche Ursache fur die GroRe der Schat- tenwirtschaft in CMEs in mangelnder Anpassung der institutionellen Rahmenbedin- gungen liegen durfte (siehe SchneiderEnste, 2000). Um die mit dem Befolgen der bestehenden Rahmenbedingungen verbundenen Kosten zu vermeiden, weichen Ar- beitnehmer und -geber auf Schwarzarbeit aus. Auf Ebene der Firmen Iasst sich zudem eine gewisse Tendenz zur Abwan- derung diagnostizieren (siehe auch WittLewin, 2007). Abbildung 4 zeigt auf der X-Achse wie zuvor den Koordinierungsindex, auf der Y-Achse die Zunahme der Direktinvestitionen im Ausland fiir die jeweiligen bnder, ausgedriickt als Faktor und berechnet auf Grundlage der Proportion des Direktinvestitionsbestandes im Ausland relativ zum heimischen BIP. Klar erkennbar ist, dass CMEs seit den 1990er Jahren tendenziell mehr in Ausland investiert haben als LMEs. Der Korrelationsko- effizient betragt +0,35 und erhoht sich auf +0,52, wenn Spanien und Portugal herausgenommen werden, da sie aufgrund von Sonderentwicklungen aus dem Rah- men fallen (siehe Witt/Lewin, 2007). Betrachten wir die CMEs und LMEs jeweils als Gruppe, zeigt sich, dass das Verhaltnis des Bestandes an Direktinvestitionen im Ausland zum BIP im Jahre 2003 fur CMEs 0,447 betrug, fur LMEs jedoch nur 0,333. Zwar sind die Beweggriinde fiir Direktinvestitionen im Ausland uberaus mannigfal- tig (siehe Dunning, 2001). Zumindest fur den Fall von Deutschland wissen wir je- doch, dass Unzufriedenheit mit den Rahmenbedingungen ein wichtiger Beweg-
SCHWERPUNKT ORDNUNCSPOLITIK: Cut Ding will Weile haben? Abblldung 3: Koordinierungsindex und Schattenwirtschaft in Prozent des BIP, 2004 * Spanien Portugal Belglen Niederlande lapan a * Schweiz bsterreich 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1 Koordlnlerungrlndex-Wert Quellen: Hall/Gingerich (2004); Schneider ( 2006) grund fur Auslandsinvestitionen zu sein scheint (Deutsche Bundesbank, 1997).Den vorliegenden Daten zufolge scheint es wahrscheinlich, dass andere CMEs ahnlichen Dynamiken unterliegen. Fur die einzelne Volkswirtschaft ware es sicherlich besser, wenn es weder Schattenwirtschaft noch Abwanderungsbewegungen von Firmen gabe. Dennoch ha- ben beide aus Sicht der institutionellen Anpassung eine wichtige positive Feedback- funktion: Sie erhohen den Druck auf Entscheidungstrager, Anpassungsprozesse vo- ranzutreiben. Grund hierfur ist, dass sich Entscheidungstrager, insbesondere Poli- tiker, in den meisten Industriestaaten nicht zuletzt durch Erhaltung der Leistungs- fahigkeit der Wirtschaft der Bevolkerung gegenuber legitimieren mussen. Schatten- wirtschaft und Abwanderung wirken dieser Legitimierung entgegen. Dies erhoht die Wahrscheinlichkeit, dass Entscheidungstrager Rahmenbedingungen anpassen, um Schattenwirtschaft und Abwanderung den Nahrboden zu entziehen. Auf diese Weise konnen diese zwei an sich unerwiinschten Phanomene dazu beitragen, An- passungsprozesse zu beschleunigen. Zusammenfassend lasst sich sagen, dass die Geschwindigkeit der Anpas- sung an veranderte Rahmenbedingungen nicht nur von theoretischem Interesse ist, sondern ganz konkret mit Kosten im realen Wirtschaftsgeschehen verbunden ist. In Phasen schneller Veranderungen wie der jetzigen ist in CMEs tendenziell die erreichbare Hochstgeschwindigkeit der Anpassungsprozesse zu langsam, um dem jeweiligen Anpassungsbedarf zeitig zu entsprechen. Dies ist mit Kosten ver- bunden, die sich, wie gesehen, in Wachstumsraten und Beschaftigung ausdriicken
Wirtschaftspolitische Blatter 2/2007 Abbildung 4: Koordinierungsindex und Zuwachs des Bestandes der Direktinvestitionen irn Aus- land, BIP-bereinigt, 2003/1990. Daten Mr Belgien nicht verftigbar. t Portugal e Spanien t Danemark ~sterreich e 5 - Deutschland t * Irland* Australien USA "K lSchw,"2:rwegene Italien -~anada Niederlande t Neuseetand t Japan Quellen: Hal//Gingerich (2004); UNCTAD, 2006; adaptiert von Witvlewin (2007) sowie ein Ausweichen in die Schattenwirtschaft und in das Ausland bewirken kon- nen. 4. Wirtschaftspolitische lmplikationen Fur CMEs wirft diese Diskussion die wirtschaftspolitische Frage auf, welche MaBnahmen zu ergreifen sind, um die mit gesellschaftlicher Koordinierung ver- bundenen Kosten zu verringern. Rein aus funktionaler Sicht gesehen, hangt die Antwort vorrangig von der Erwartung ab, die man von der kiinftigen Entwicklung der eingangs erwahnten Quellen des Anpassungsdruckes hat. Ein Szenario k t , dass der Anpassungsdruck spiirbar nachlasst. In diesem Falle wurde sich also der technische Fortschritt verlangsamen, der internationale Wettbewerb und die Globalisierung ein Plateau erreichen, und die Auswirkungen der demographi- schen Probleme der Industriestaaten waren unter Kontrolle gebracht. Halt man dieses Ergebnis fur die nicht allzu ferne Zukunft fur wahrscheinlich (in der fernen Zukunft sind wir bekanntlich, frei nach Keynes, alle tot), verringert sich die Not- wendigkeit fur CMEs, etwas an der Struktur ihrer Anpassungsprozesse zu andern. In ruhigeren Zeiten sind CMEs wirtschaftlich hochst leistungsfahig und LMEs zumindest ebenburtig, wie die Nachkriegszeit insbesondere bis in die 1970er Jahre gezeigt hat. Kommen diese Zeiten wieder, mag sich das Blatt fur die CMEs wenden.
SCHWERPUNKT ORDNUNGSPOLITIK: Gut Ding will Weile haben? Geht man hingegen von einem Fortbestehen oder gar einem Ansteigen des Anpassungsdrucks aus, muss die an wirtschaftlichen Ergebnissen orientierte Emp- fehlung anders lauten. Unter diesen Voraussetzungen ware es fur CMEs angemes- sen, Ihre Strukturen so umzubauen, dass hohere Anpassungsgeschwindigkeiten erreicht werden konnen. Es mag die eine oder andere Stelle geben, an der die be- stehenden Prozesse weiter optimiert werden konnen. Grundsatzlich lauft jedoch eine solche strukturelle Anpassung auf eine Reduzierung der gesellschaftlichen Ko- ordinierung heraus. Eine Option fiir hoch-koordinierte Staaten wie Osterreich und Deutschland ware, Prozesse stiirker zu zentralisieren, also die Anzahl der Beteilig- ten an Anpassungsprozessen zu verringern. In vielen Landern ist eine Zentralisie- rung jedoch nicht zuletzt aus historischen Grunden unerwiinscht, rechtlich proble- matisch, und politisch nicht durchzusetzen (man denke nur an das Streikjahr 2003 in Osterreich). Als weitere Moglichkeitverbleibt eine zumindest teilweise Liberalisierung der Wirtschaft, also eine Annaherung an die Struktur der Anpassungsprozesse in den angelsachsischen Landern. Betonen mochte ich hierbei das Wort .,AnnaherungU, denn Annaherung bedeutet nicht Konvergenz: Wie der Koordinierungsindex klar aufzeigt, gibt es viele Abstufungen im Grad der gesellschaftlichen Koordinierung. Eine Verringerung der gesellschaftlichen Koordinierung in Osterreich oder Deutsch- land auf das Niveau, sagen wir, der Niederlande konnte die mogliche Anpassungs- geschwindigkeit beider Lander spurbar steigern, ohne all die unenviinschten As- pekte angelsachsischer Gesellschaftssysteme mit sich zu ziehen. Hierzu mussten sich jedoch der Staat und anderen Entscheidungstrager in gesellschaftlich koordi- nierten findern teilweise aus der Steuerung des wirtschaftlichen Geschehens zu- riickziehen. In machen Fallen geschieht dies auch, wie gesehen im Falle des deut- schen Ladenschlussgesetzes. Ein umfassender geordneter Ruckzug, wie er fur eine gezielte Reduzierung der gesellschaftlichen Koordinierung vonnoten ware, ist je- doch selbst ein Anpassungsprozess. Aus den oben angefiihrten Griinden ist daher mit schnellen Ergebnissen in dieser Richtung nicht zu rechnen. Literaturverzeichnis Aghion, P.Frydman, R./Stiglitz, J./Woodford, M. (Hrsg),Knowledge, In- formation, and Expectations in Modern Macroeconomics: In Honor of Edmund S. Phelps, Princeton. NJ (2003) Blanchard, O./Wolfers. J.. The Role of Shocks and Institutions in the Rise of European Unemployment: The Aggregate Evidence, The Econo- mic Journal 110 (2000) C1-C33 Cyert, R. M./March, J. G., A Behavioral Theory of the Firm, Englewood Cliffs, NJ (1963) Deutsche Bundesbank, Entwicklung und Bestimmungsgriinde grenzu- berschreitender Direktinvestitionen, Frankfurt (1997) DiMaggio, P. J./Powell, W. W., The Iron Cage Revisited: Institutional Iso- morphism and Collective Rationality in Organizational Fields, Ameri- can Sociological Review 48 (1983) 147-160
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