Reduziert werden? Hans Primas Kann Chemie auf Phvsik
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Hans Primas Kann Chemie auf Phvsik J reduziert werden? Erster Teil: Das Molekulare Programm* Was ist Reduktionismus? Theorien diskutiert werden kann. Im Gegen- satz zur erkenntnisorientierten Forschung hat Reduktionismus ist die These, dai3 kompli- in der anwendungsorientierten Forschung lo- zierte Naturerscheinungen prinzipiell immer gische Konsistenz und untadelige empirische durch das Wechselspiel einfacher Teilsysteme Richtigkeit theoretischer Vorstellungen nicht erklart werden konnen. In den exakten Natur- die erste Prioritat; praktisch brauchbare, an- wissenschaften interessiert besonders die Fra- passungsfahige und heuristisch fruchtbare ge, ob die Eigenschaften und das Verhalten der Denkmodelle sind hier wichtiger. Bei logisch Materie und der Organismen durch die Eigen- nicht voll konsistenten oder empirisch nicht schaften und das Verhalten ihrer Komponen- umfassend richtigen heuristischen Uberlegun- ten, Molekiile, Atome oder Elementarteil- gen - so wertvoll diese auch fur Forschung chen, erklarbar sind. Gibt es allerletzte Mate- und Praxis sein mogen - von Reduktion zu rieeinheiten, mit denen das Verhalten der ma- sprechen, ist witzlos. teriellen Welt erklart werden kann? Die Erkenntnistheoretiker unterscheiden Die meisten Naturerscheinungen bieten sich Theoriereduktion im starken und im schwa- dem Naturwissenschaftler als augerst verwik- chen Sinn. Ein Phanomen heii3t im starken kelte Komplexe von Phanomenen dar. Was in Sinn auf eine fundamentale Theorie reduziert, den Naturwissenschaften als einfach bezeich- wenn es im vollen Umfang und ohne Approxi- net wird, kann vom Alltagsstandpunkt aus be- mationen aus den ersten Prinzipien dieser trachtet sehr ausgefallen, gekiinstelt und kom- Theorie hergeleitet werden kann. Falls ein pliziert erscheinen. Umgekehrt sind wohlbe- Phanomen vertraglich ist mit den ersten Prin- kannte Alltagsphanomene vom naturwissen- zipien einer Theorie, aus dieser aber nur durch schaftlichen Standpunkt aus fast immer zusatzliche Annahmen oder durch in sich uberaus komplex. Beispielsweise kann kein konsistente Approximationen hergeleitet wer- Physiker den Reichtum der hydrodynami- den kann, dann sprechen wir von einer Re- schen Phanomene beschreiben, die sich beim duktion im schwachen Sinn. Einlaufen yon Wasser in eine Badewanne er- eignen. Wenn wir sagen, die Naturwissen- Im Laufe einer jahrhundertelangen Entwick- schaften mochten moglichst einfache Erkla- lung haben sich die Grenzen zwischen Physik rungen fur die Komplexitat der Naturvorgan- und Chemie immer starker verwischt, so dai3 ge finden, so meinen wir immer strukturelle sik reduziert werden?" mit Ja zu beantworten man sich fragen mui3, was die Philosophen ei- Einfachheit auf dem Niveau einer funda- ist [1,2]. gentlich meinen, wenn sie behaupten, Chemie mentalen Theorie. Dai3 der Weg von den Be- konne im Prinzip auf Physik reduziert wer- obachtungsdaten zur fundamentalen Theorie Freilich gab es auch andere Ansichten. Bei- den. Was ist Chemie? Was ist Physik? lang, beschwerlich und fur den Laien kaum spielsweise war Ernst Mach (1838 - 1916) der sehr transparent ist, kiimmert uns in diesem Meinung, es sei wenig wahrscheinlich, ,,dai3 Was ist Chemie? Zusammenhang nicht. ein weiteres Erfahrungsgebiet in einem enge- ren vorher bekannten schon ganz erschopft Fortschritte in den Wissenschaften sind in der Es gibt Philosophen, die meinen, die Frage ist. ... Bei unbefangenem Blick wird man es Regel verknupft mit einer Spezialisierung auf ,,Kann die Biologie auf Chemie und Physik re- aber eher fur moglich halten, dai3 eine Chemie eng begrenzte Teilprobleme. Die Zersplitte- duziert werden?" sei gut gestellt und dai3 ins- der Zukunft zugleich auch die Physik umfagt, rung der Naturwissenschaften in unzahlige besondere die Frage ,,Karin Chemie auf Phy- als umgekehrt" [3]. Um von bloi3en Meinungs- Einzeldisziplinen fiihrt zu einer beangstigen- aui3erungen zu erkenntnistheoretisch bedeut- den Einengung des Gesichtsfeldes, schreitet samen Aussagen zu kommen, ist zu beachten, aber unaufhaltsam fort und scheint unver- dai3 die Frage nach einer Reduzierbarkeit sinn- meidlich zu sein. Um zu einem sinnvollen Bild "Der zweite Teil, ,,Die Chemie der Makro- voll nur im Rahmen von formalisierten, lo- der heutigen Naturwissenschaften zu kom- welt". erscheint im nachsten Heft. gisch konsistenten und empirisch richtigen men, miissen wir die traditionellen Kategori- Chemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1985 / Nu. 4 109 0 V C H Verlagsgesellschaft mbH, 0-6940 Weinheim, 1985 0009-285l/85/0408-0l09 $ 02.50/0
sierungen vergessen. Beispielsweise ist es heute sachlich nicht mehr zu rechtfertigen, die Chemie in anorganische Chemie, analytische Chemie, Kernchemie, organische Chemie, Biochemie, pharmazeutische Chemie, Zell- chemie, Agrikulturchemie, physikalische Chemie, makromolekulare Chemie, Metallur- gie, theoretische Chemie, Quantenchemie, Computerchemie usw. aufzuteilen. Diese Aufteilung in Dutzende von Spezialgebieten vereitelt ein gemeinsames Grundverstandnis dessen, was unter Chemie eigentlich zu verste- hen ist. Also fragen wir, ohne auf die histori- schen Spezialisierungen einzutreten: Was ist Chemie? Die meisten zeitgenossischen Lexika geben auf diese simple Frage neunmalkIuge Antworten, die nichts taugen. So ist etwa im grogen Meyer zu lesen, daR ,,die Chemie die Wissenschaft ist, die sich mit den Ursachen und Wirkungen von Elektronenabgabe, -auf- nahme und -verteilung zwischen Atomen und Molekulen befai3t" [4]. Es ist erstaunlich, wel- che Horizontverengung und wie viele philoso- phische Vorurteile in einer solchen Definition verpackt sind. Wo bleibt die Einsicht unserer alten Meister der Chemie? August Kekulk cha- rakterisierte 1859 seine Wissenschaft mit fol- genden Worten: ,,Chemie ist die Lehre von den stofflichen Metamorphosen der Materie. Ihr wesentlicher Gegenstand ist nicht die exi- stierende Substanz, sondern vielmehr ihre Vergangenheit und ihre Zukunft. Die Bezie- hungen eines Korpers zu dem, was er fruher griffe reduzierbar sei, ist nur historisch zu ver- lem hat Pierre Gassendi (1592 - 1655) zur Ver- war und zu dem, was er werden kann, bilden stehen. Somit ist es zweckmagig, einen kurzen breitung des Atomismus beigetragen; er ver- den eigentlichen Gegenstand der Chemie" [5]. Blick auf die Entwicklung der Mechanik zu trat die Meinung, daB es nur den leeren Raum werfen. und die Atome gibt, wobei die Atome sich nur Chemie ist vie1 mehr als Molekulphysik, die durch GroBe, Gestalt und Gewicht unter- Chemie handelt vom Verhalten der Materie. Die Mechanik der Atome scheiden und sonst keinerlei Qualitaten haben Dabei wird man allerdings aus rein prakti- sollten. Auch Newton (1642 - 1727) war ein schen Grunden heute noch das Studium der Das historische mechanische Weltbild grundet uberzeugter Atomist, er vermutete, dai3 es subatomaren Materie und der kosmischen O r - sich auf Newtons Entdeckung, dai3 die Krafte zwischen den Atomen anziehende Krafte gibt, ganisationsformen der Materie nicht zur Che- im Planetensystem und die Krafte, welche frei welche nicht mit der Gravitation identisch mie rechnen. Andererseits gibt es keinen ver- fallende Korper beschleunigen, identisch sind. sind. nunftigen Grund, die Chemie der planetari- Ein System bewegter Korper ist gemai3 der schen Atmospharen, das Verhalten von Mole- Newtonschen Mechanik in seinem Bewe- Damit entstand das erste Programm, die Na- keln im interstellaren Raum, die Chemie des gungsablauf vollstandig bestimmt und prinzi- turwissenschaften auf die Mechanik der Ato- festen Korpers (auch ,,Festkorperphysik" ge- piell berechenbar, wenn nur die Anfangsbe- me zuruckzufuhren. Wahrend sich das mecha- nannt), das Verhalten hochkomplexer chemi- dingungen und die Natur der Wechselwir- nische Programm anfanglich durch eine wohl- scher Systeme, wie sie etwa in der Molekular- kungskrafte bekannt sind. erwogene Bescheidenheit auszeichnete, ging biologie untersucht werden, nicht zum Ge- diese Besonnenheit im 18. und 19.Jahrhundert genstandsbereich der Chemie zu zahlen. Phy- Im 18. Jahrhundert wurde die Newtonsche weitgehend verloren. Der Abstraktionscha- sik, Chemie und Biologie sind eben nicht Einsicht, dai3 fur Himmel und Erde die glei- rakter der Newtonschen Punktmechanik sauberlich getrennte Disziplinen, sie sind aufs chen Bewegungsgesetze gelten, auf den Mi- wurde kuhn ignoriert, die Newtonsche Idee engste miteinander verflochten, und man krokosmos ubertragen. Dazu bot die von den neuer Krafte wurde vergessen, uberidealisierte sollte heutzutage besser einfach von Naturwis- griechischen Philosophen Leukipp und De- Modellvorstellungen wurden direkt mit beob- senschaften sprechen. mokrit (um 400 v. Chr.) iibernommene achtbaren Erscheinungen in Beziehung ge- Atomidee das geeignete Denkmodell. Diese setzt. In eindrucksvoller Arroganz hatte La- Die reduktionistische These, dai3 jeder Begriff Idee wurde bereits im 17. Jahrhundert in die place das mechanistische Weltbild gekenn- der Naturwissenschaft auf physikalische Be- Naturwissenschaften aufgenommen. Vor al- zeichnet durch die Fiktion eines Geistes, der 110 Chemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1985 / Nu. 4
nur alle in der Natur wirkenden Krafte und einstimmung rnit dem Experiment ergab erst Was ist Physik? den Zustand aller Atome der Welt zu einem die ein Jahrzehnt spater entstandene Quanten- bestimmten Zeitpunkt zu kennen brauche, um mechanik. So paradox es klingen mag, dieser Die scharfe Unterscheidung von Chemie und daraus den gesamten Weltablauf bis in alle Zu- erste Erfolg der Quantenmechanik markiert Physik ist historisch bedingt. Anfangs dieses kunft im Voraus zu berechnen. Dann ,,ware gleichzeitig das Ende des Atomismus. Atome Jahrhunderts gab Wilhelm Ostwald folgende nichts mehr ungewii3, und die Zukunft und die und Elementarteilchen, so wie wir sie heute Charakterisierung [7]: ,,Nicht alle Eigenschaf- Vergangenheit lagen ihm vor Augen" (Pierre kennen und beschreiben, haben kaum mehr ir- ten, die wir an einem gegebenen Korper fin- Simon Laplace, 1749 - 1827). gendeine Ahnlichkeit mit den Vorstellungen den, haben diese Eigentumlichkeit des dauern- und Atommodellen aus dem Zeitraum von den Zusammenbleibens. Wahrend wir z. B. Viele Naturforscher des 18. und 19. Jahrhun- Demokrit (400 v. Chr.) uber Gassendi und auf keine Weise das Gewicht eines Korpers derts verteidigten die Newton-Laplacesche Dalton bis Bohr (1913). andern konnen, solange wir nicht Teile von Vorstellung, dai3 sich alle Naturerscheinungen ihm entfernen oder fremde Teile zufugen, auf die Punktmechanik reduzieren lassen. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die mei- konnen wir seine Temperatur, seinen elektri- Lord Kelvin (d.h. Sir William Thomson, sten Physiker der Ansicht, Elementarteilchen schen Zustand, seine Bewegung usw. andern. 1824 - 1907) vertrat noch die Meinung, eine seien die letzten kleinsten Einheiten der Mate- Es sind somit zwei Klassen von Eigenschaften Sache sei nicht eher verstanden, als nicht ein rie. Heute hat der Begriff ,,Elementarteilchen" zu unterscheiden: solche, die bei dern Korper mechanisches Modell des Objekts konstruiert seine ursprungliche Bedeutung verloren. Was verbleiben und deren Gesamtheit zu dem Be- sei. Den ersten Dampfer erhielt das mechani- in der heutigen Physik aus historischen griffe des Korpers gefuhrt hat, und solche, die sche Programm durch die Theorie der War- Griinden immer noch rnit ,,Elementarteil- wir willkurlich mit korperlichen Gebilden meleitung von Joseph Fourier (1768 - 1830). chen" bezeichnet wird, sind keineswegs ewige vereinigen und von ihnen trennen konnen. Er- Dann waren die verschiedenen Atherhypothe- unveranderliche und unteilbare Grundbau- stere wollen wir arteigene oder spezifischeEi- sen verzweifelte Versuche, das mechanische steine der Materie. Elementarteilchen sind Er- genschaften nennen, die anderen willkiirli- Denkmodell zu retten, doch versagte dieses scheinungsformen der Materie, welche sich in che. Der Unterschied zwischen beiden ist so Programm zunachst in der Optik und dann in ausgewahlten Experimenten besonders ein- wesentlich, dai3 er zu der Bildung zweier ge- der Elektrodynamik. Endgultig scheiterte der fach manifestieren, aber durchaus ineinander trennter Wissenschaften Anlai3 gegeben hat: Atomismus an den Quantenphanomenen. umgewandelt werden konnen, wobei der Un- mit den arteigenen oder spezifischen Eigen- terschied \ o n einfachen und zusammengesetz- schaften beschaftigt sich die Chemie, Das Ende des Atomismus ten Teilchen grundsatzlich hinfallig wird. Man wahrend die willkiirlichen Eigenschaften der nennt solche Systeme elementar, weil sie ge- Physik zugewiesen werden." Heute wissen wir, dai3 die klassischen physi- wisse fundamentale Symmetrien in unzerleg- kalischen Theorien (wie etwa die Newtonsche barer Weise widerspiegeln. Fur die Theoreti- Diese Umschreibung ist heute kaum mehr Mechanik oder die Maxwellsche Elektrodyna- ker sind Elementarsysteme charakterisiert zweckmagig. So ist etwa die Oberflachen- mik) trotz ihrer Fruchtbarkeit im Ingenieur- durch ergodische Darstellungen der entspre- struktur eines Festkorperkatalysators im Sin- bereich wichtige Naturphanomene nicht er- chenden Symmetriegruppen (wie etwa die Ga- ne von Ostwald eine willkurliche Eigenschaft, fassen. Die neuen Kandidaten heigen Quan- lilei-Gruppe oder die Lorentz-Gruppe fur die welche den Chemiker ganz direkt interessiert. tenmechanik und Quantenfeldtheorie. Raum-Zeit-Symmetrien, die Gruppe SU(3) Andererseits beschaftigt sich die heutige u. s. f.). theoretische Physik vornehmlich mit der Na- Dabei darf nicht ubersehen werden, dai3 es tur der fundamentalen Wechselwirkungen, nicht moglich ist, das klassische Reduktionis- Nach langem Zogern hat selbst die Elementar- welche sicherlich nicht als willkurliche musprogramm beizubehalten und einfach die teilchenphysik (welche sich seit Neuerem Eigenschaften charakterisiert werden konnen. klassische Mechanik durch die Quantenme- ubrigens ,,Hochenergiephysik" nennt) einse- chanik zu ersetzen. Die Quantentheorie hat hen mussen, dai3 ihr Ziel nicht die Jagd nach In der modernen Physik unterscheidet man nicht nur Anderungen im Formalismus physi- immer neuen Elementarteilchen sein kann vier fundamentale Wechselwirkungen: die kalischer Theorien gebracht, sondern daruber und ,,dai3wir gezwungen sein werden, von der starke Wechselwirkung (relative Starke I), die hinaus zu einer grundsatzlich neuen naturwis- Vorstellung Abschied zu nehmen, die Natur in elektromagnetische Wechselwirkung (relative senschaftlichen Betrachtungsweise gefuhrt. Form von Elementarteilchen zu erklaren. Wir Starke 1/137), die schwache Wechselwirkung Beispielsweise impliziert bereits das Paulische mussen uns dem Neuen zuwenden: die first (relative Starke und die Gravitation (re- Ausschliei3ungsprinzip in seiner endgultigen principles in der Natur sind die Symmetrien" lative Starke 6 . In seiner Inauguralvor- quantenmechanischen Formulierung, dai3 die [h]. Die moderne Theorie der Elementarteil- lesung behauptete Stephen Hawking [S], das sogenannten ,,Elementarteilchen" (wie etwa chen wird im Widerspruch zu den Traditio- Ende der theoretischen Physik sei in Sicht. Er Elektronen) keine Individualitat, somit auch nen, die sie gepragt haben, und gegen die Ab- meinte damit, dai3 mit einer vollstandigen und keine substanzhafte Existenz haben. sicht der Forscher durch die experimentellen konsistenten Theorie der vier Wechselwirkun- Fakten genotigt, den Atomismus aufzugeben. gen das Ziel der theoretischen Physik ab- Das Bohrsche Atommodell wurde noch getra- schliegend erreicht sei. Damit ist naturlich gen von einer substantiellen Auffassung der Die Elementarsysteme der heutigen Physik auch eine neue Definition der Physik gegeben: Materie und einer Teilchenstruktur der Atome haben vie1 mehr mit den symmetrischen Kor- Die Physik ist die Lehre von den fundamen- und ihrer Bestandteile. Jedoch konnten Atome pern von Plato als mit den ewigen, unveran- talen Wechselwirkungen. Das entspricht und Molekule durch das Bohrsche Modell von derlichen und unzerstorbaren Atomen von zwar nicht ganz dem heute noch vorherr- 1913 nicht richtig beschrieben werden, Uber- Demokrit, Gassendi und Newton zu tun. schenden Sprachgebrauch, ist aber sinnvoll im Chemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1985 / Nr. 4 111
Kontext unserer anfangs gegebenen sehr wei- nicht allzu groi3er Elektronenzahl spielen ten Charakterisierung der Chemie als der heute in der chemischen Forschung prazise Lehre vom Verhalten der Materie. numerische quantenchemische Voraussagen (wie etwa der Geometrie des Kerngerusts, der Akzeptiert man diese neuen Umschreibungen Kernabstande, der Dissoziations- und Akti- der Chemie und der Physik, so hat die Frage vierungsenergien) eine wichtige Rolle. Beein- ,,Kann Chemie auf Physik reduziert werden?" druckend ist, dai3 kein einziger Fall bekannt einen wohlfundierten Sinn und heii3t nun ist, in dem eine sorgfaltig ausgefuhrte quan- praziser: ,Kann das Verhalten der Materie tenchemische Rechnung im Widerspruch zu vollumfanglich aus einer einheitlichen experimentellen Resultaten steht. Bei kleinen Theorie der vier Wechselwirkungen erklart Molekulen stimmen Theorie und Experiment werden?" mit phantastischer Genauigkeit uberein. Fur kleine, experimentell schwer zugangliche Mo- Die N a t u r der chemischen Krafte lekule, Radikale und Ionen kann die heutige ist bekannt numerische Quantenchemie billiger, schneller und genauer als das Experiment die vom Che- Die starken und die schwachen Wechselwir- miker gewunschten Daten liefern. kungen beherrschen das Verhalten der subato- maren Materie. Die starke Wechselwirkung DaB es gelungen ist, mit Hilfe der Quanten- bewirkt, dai3 die Materie auf der Ebene der mechanik wichtige Aspekte chemischer Pha- Quarks aui3erordentlich stark zusammenge- nomene wirklich zu verstehen und technolo- halten wird. Genau so wie die van-der-waals- gisch zu beherrschen, ist ein Triumph der mo- Krafte durch nicht ganz abgesattigte elektro- dernen Forschung. O h n e Quantenmechanik magnetische Wechselwirkungen verursacht sind chemische Phanomene nicht zu verste- sind, werden die Kernkrafte durch die nicht hen. Nur darf uns die scheinbare methodische ganz abgesattigte starke Wechselwirkung er- Sicherheit der numerischen Quantenchemie zeugt. Die schwache Wechselwirkung ist fur nicht dazu verleiten, eigentlich chemische und gewisse Zerfalle von Elementarteilchen ver- biologische Charakteristika nicht mehr wahr- antwortlich, wie etwa den Betazerfall. Falls zunehmen und ihnen gar - falls sie mit der wir als Chemiker die Existenz und die Stabi- D e r Siegeszug der Quantenchemie heutigen Quantenchemie nicht berechenbar litat der Elementarteilchen (wie Proton, Neu- sind - das Pradikat der Wissenschaftlichkeit tron, Elektron) und die Stabilitat der Atom- Als Kronzeuge fur die Reduzierbarkeit der abzusprechen. kerne als phanomenologisch gegeben hinneh- Chemie auf die Quantenmechanik wird gern men, spielen die starke und die schwache P. A. M. Dirac zitiert, der 1929 die ersten Re- Zur Vorsicht mahnt etwa die Tatsache, dai3 die Wechselwirkung in der Chemie keine Rolle. sultate der damals neuen Quantenmechanik heutige numerische Quantenchemie bei allen zusammenfagte und dabei schrieb: ,,Die fun- Problemen versagt, die nicht in naturlicher Das Verhalten von Molekulen und makrosko- damentalen physikalischen Gesetze fur eine Weise auf die Losung einer molekularen pischen Stoffen wird vollstandig durch die mathematische Theorie eines grogen Teils der Schrodinger-Gleichung zuruckgefuhrt wer- Gravitation und die elektromagnetischen Physik und fur die gesamte Chemie sind damit den konnen. Als Beispiel sei die chemische Sy- Wechselwirkungen bestimmt. Wir sind heute vollstandig bekannt. Die Schwierigkeit ist nur, stematik erwahnt. Die numerische Quanten- sicher, dafi es keine fundamentalen spezi- dai3 die Anwendung dieser Gesetze zu Glei- chemie kann alle nur erdenkliche Information fisch chemischen Krafte gibt. chungen fuhrt, welche fur eine Losung zu uber eine Propanon-, Butanon- oder Benzo- kompliziert sind" [9]. Die Verfugbarkeit von phenon-Molekel liefern, aber was ein ,,Keton" In molekularen Dimensionen ist die Massen- Groi3computern erlaubt uns heute eine vie1 ist, ist in diesem Rahmen keine wohlgestellte anziehung verglichen mit den anderen Kraften optimistischere Einschatzung der rechneri- Frage. Es gibt eben keine Schrodinger-Glei- vernachlassigbar, so dai3 auf molekularer schen Probleme. In der Tat sehen sich die heu- chung fur ein ,,Keton". Als Naturwissen- Ebene nur elektromagnetische Krafte zu be- tigen Quantenchemiker als Vollstrecker des schaftler durfen wir nicht vergessen, daB das rucksichtigen sind. Jons Jacob Berzelius ver- Diracschen Programms. quantitativ Berechenbare immer nur ein klei- suchte bereits 1811 das Phanomen der chemi- ner Ausschnitt aus den qualitativ einsichtigen schen Bindung auf elektrische Krafte zuruck- Die numerische Losung von molekularen Phanomenen ist. zufuhren. Er hat insofern recht behalten, als Schrodinger-Gleichungen ist das Hauptar- wir heute mit Sicherheit wissen, dai3 alle mit beitsgebiet der Quantenchemiker. Dank dem Des weiteren ist das Diracsche Programm kein der chemischen Bindung verknupften Phano- Einsatz von enorm leistungsfahigen Grog- Dogma, das unkritisch akzeptiert werden mene in vollem Umfang durch die elektroma- rechnern ist die numerische Quantenchemie kann. Die von Dirac erwahnte neue Quanten- gnetischen Wechselwirkungen zwischen Elek- ein unentbehrliches Hilfsmittel des Experi- mechanik war um 1929 in keiner Weise voll tronen und Atomkernen erklart werden kon- mentalchemikers geworden, sie hat wesentlich entwickelt, geschweige denn verstanden. Die nen, wobei allerdings die klassische Mechanik mehr erreicht, als selbst Optimisten vor 20 erkenntnistheoretisch wichtigsten Konse- durch die Quantenmechanik zu ersetzen ist. Jahren fur moglich gehalten haben. Fur quenzen der Quantenmechanik - die univer- Atome, Molekule, Radikale und Ionen mit selle Existenz von Einstein-Podolsky-Rosen- 112 Chemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 19815 / Nu. 4
Korrelationen - waren damals uberhaupt rnein durchgesetzt, und heute gehoren die noch nicht bekannt. Wir werden auf dieses Vorstellungen uber den raumlichen Bau der Problem noch kurz zuruckkommen. Weiter Molekule zum gesicherten Wissen der Che- waren damals wichtige Probleme, wie etwa die mie. Die ursprunglich recht spekulativen quantenmechanische Beschreibung von ma- Ideen wurden zunachst uber die Rontgen- kroskopischen Systemen, uberhaupt noch strukturanalyse, dann durch die Schwin- nicht angegangen. gungs- und Rotationsspektroskopie experi- mentell glanzend bestatigt. Heute kann die Molekiile haben eine Gestalt raumliche Gestalt der Molekule durch die nu- merische Quantenchemie ab initio berechnet Kann man die Makrophysik auf die Mikro- werden, in voller Ubereinstimmung mit den physik reduzieren? Irn Hinblick auf die Inter- experimentell gewonnenen Daten. pretationsprobleme der Quantenmechanik zogern viele Erkenntnistheoretiker, die Frage Andererseits ist es nicht moglich, den Begriff mit einem klaren Ja zu beantworten. Merk- der Gestalt einer Molekel lediglich aus den er- wurdigerweise sind dabei auch Philosophen, sten Prinzipien der Quantenmechanik herzu- die behaupten, die Reduktion der Chemie auf leiten. Das heiRt rnit anderen Worten: Die Ge- die Quantenmechanik bereite keine prinzi- stalt von Molekulen, Kristallen und Wolken piellen, sondern nur rechnerische Schwierig- kann nicht im starken Sinne auf die Quan- auf das Jahr 1900 ansetzen, als Max Planck bei keiten. Merkwurdigerweise, denn die Chemie tenmechanik reduziert werden. Jedoch kann der theoretischen Diskussion der experimen- ist eine Briicke zwischen der Mikrowelt und die Gestalt von Molekulen in spezifizierten tell gefundenen Gesetzmagigkeit der Strah- der Makrowelt. Sie handelt nicht nur von elektronischen Eigenzustanden im starken lung gluhender Korper das elementare Wir- Elektronen, Atomen und kleinen Molekulen, Sinne auf die Quantenchemie reduziert wer- kungsquantum h einfuhrte. Die Lichtquan- sondern auch von makroskopischen Objekten den. Ferner kann die Quantenchemie im tenhypothese von Albert Einstein loste im wie etwa Pyritkristallen. Nicht nur Wolken schwachen Sinne auf die Quantenmechanik Jahre 1905 das Plancksche Wirkungsquantum und Kristalle, sondern auch Molekule haben reduziert werden. Diese Reduktionssituation vom Strahlungsproblem und fuhrte es als all- eine Gestalt, ein Begriff, den man unter den ist nicht nur praktisch wichtig, sondern auch gemein giiltige Naturkonstante in die Physik ersten Prinzipien der Quantenmechanik ver- erkenntnistheoretisch interessant, weil sie ei- ein. Im Jahre 1913 versuchte Niels Bohr mit geblich sucht. nen der wenigen bekannten Falle reprasen- seinem Atommodell, der klassischen Mecha- tiert, in dem eine schwache Reduktion in allen nik ad hoc eine Quantenstruktur aufzupragen. Der Gedanke, den dreidimensionalen Aufbau nur wunschbaren Details mit exakten mathe- Trotz uberraschender Teilerfolge scheiterte von Molekiilen aus Atomen zu erwagen, steht rnatischen Methoden verfolgt werden kann. der Bohrsche Ansatz an der Erklarung des schon 1847 in Gmelins Handbuch der Theore- Um diese auf den ersten Blick vielleicht uber- Phanomens der chemischen Bindung. tischen Chemie [lo]. Einen entscheidenden raschende Situation etwas besser zu verstehen, Schritt taten 1874 unabhangig voneinander Ja- mussen wir etwas weiter ausholen und noch Der Durchbruch kam erst mit der Entwick- cobus Henricus van't Hoff (1852 - 1911) und die wichtigste Charakteristik der Quantenme- lung einer grundsatzlich neuen Mechanik. Die Joseph Achille Le Be1 (1847- 1930) rnit der chanik - welche wie erwahnt Dirac im Jahre neue Quantenmechanik wurde fast gleichzei- Aufstellung einer Beziehung zwischen dem 1929 noch nicht kennen konnte - kurz disku- tig, aber ausgehend von philosophisch vollig optischen Drehvermogen und der Lagerung tieren: die Einstein-Podolsky-Rosen-Korrela- divergierenden Motivierungen, zweimal er- der Atome im Raum. Die von F. Herrmann ins tionen. Wiederum kann ein kurzer Blick auf funden. Die Matrixmechanik von Born, Hei- Deutsche ubertragene Schrift ,,Die Lagerung die historische Entwicklung nichts schaden. senberg und Jordan (1926) entwickelte sich aus der Atome im Raume" (Braunschweig 1877) einem extrem positivistisch angelegten Ansatz erregte allerdings den flammenden Zorn des Zur geschichtlichen Entwicklung der von Heisenberg (1925). Die Schrodingersche beruhmten Organikers Adolf Wilhelm Her- Quantenmechanik Wellenmechanik (1926) war zunachst gedacht mann Kolbe (1818 - 1884): ,,Es ist bezeich- als eine Feldtheorie der Materie, inspiriert nend fur die heutige kritikarme und Kritik Der Physiker und Erkenntnistheoretiker Mar- durch die von de Broglie (1923) postulierte hassende Zeit, daR zwei so gut wie unbe- tin Strauss hat einmal behauptet, daR es in der Wellennatur der Materie. Sowohl die Motivie- kannte Chemiker, der eine von einer Thierarz- Geschichte der Naturwissenschaften kein ein- rungen als auch die mathematischen Formu- neischule [gemeint ist van't Hoffl, der andere ziges Beispiel einer physikalischen Theorie lierungen dieser beiden neuen Mechaniken von einem landwirthschaftlichen Institute [ge- gibt, die von ihren Vatern richtig verstanden waren so verschieden, wie man sich nur den- meint ist Herrmann], die hochsten Probleme worden sei [12]. Diese Behauptung trifft si- ken kann. Trotzdem konnte bereits im Jahre der Chemie, welche wohl niemals gelost wer- cherlich fur die Quantentheorie zu. Doch be- 1926 durch Pauli, Schrodinger und andere ge- den, specie11 die Frage nach der raumlichen denke man: ,,Richtiges Auffassen einer Sache zeigt werden, daR die beiden Theorien physi- Lagerung der Atorne, mit einer Sicherheit be- und Minverstehen der gleichen Sache schlie- kalisch vollig aquivalent sind. Heute sprechen urtheilen und deren Beantwortung mit einer Ren einander nicht vollstandig aus" (Franz wir daher allgemein von der Quantenmecha- Dreistigkeit unternehmen, welche den wirkli- Kafka). nik. chen Naturforscher geradezu in Staunen setzt" [Ill. Doch nach wenigen Jahren hatte Die Quantentheorie wurde durch die Erfah- Die Quantenmechanik von 1926 warf viele er- sich die van't Hoff-Le Belsche Theorie allge- rung erzwungen. Ihr Geburtsdatum kann man kenntnistheoretische Probleme auf, doch hat- Chemie in unserw Zeit / 19. Jabrg. 1981s / Nr. 4 113
te die Frage der empirischen Richtigkeit der Quantenmechanik viel komplizierter als in neuen Theorie vernunftigerweise zunachst den klassischen physikalischen Theorien. Vor den Vorrang. Unmittelbar nach der Veroffent- allen Dingen kann die Existenz isolierter Ob- lichung der beruhmten Wellengleichung jekte nicht vorausgesetzt werden. In einer fur Schrodingers wandten Heitler und London im die Naturerkenntnis fundamentalen Arbeit Jahre 1927 die neue Mechanik auf das H,- haben im Jahre 1935 Einstein, Podolsky und Molekul an [13]. Zum ersten Ma1 in der Ge- Rosen [15] auf die Tatsache hingewiesen, dai3 schichte der Chemie konnte das Phanomen ei- es in der Quantenmechanik ganzheitliche ner kovalenten chemischen Bindung verstand- Korrelationen gibt, welche nicht auf irgend- lich gemacht werden. Obwohl die numerische welche Wechselwirkungen zuruckgefuhrt Ubereinstimmung der Heitler-Londonschen werden konnen. Quantensysteme, die in der Resultate mit den damals besten experimen- Vergangenheit einmal in Wechselwirkung tellen Werten zu wunschen ubrig lie& war den standen, sind fur alle Zukunft in ganzheitli- Fachleuten klar, dai3 man sich auf dem richti- cher Weise korreliert. Will man Widerspruche gen Wege befand. Nach dreijahriger, muhsa- vermeiden, so darf man sich solche Systeme mer Arbeit auf Handrechenmaschinen publi- nicht mehr als aus wirklich existierenden Teil- zierten James und Coolidge im Jahre 1933 eine systemen zusammengesetzt denken, selbst sehr genaue Variationsrechnung fur den wenn diese aus klassischer Sicht raumlich Grundzustand von H, [14]. Diese Rechnung voneinander getrennt waren. Nach Schrodin- blieb mehr als 25 Jahre lang unubertroffen und ger [16] ist dieses Phanomen das Charakteri- stimmte innerhalb der Rechengenauigkeit stikum der Quantenmechanik, ,,welches sie vollstandig mit dem Experiment uberein. zur volligen Abwendung von der klassischen Denkweise zwingt". Mit Schrodinger [17] Heute ist die Quantenmechanik mehr als ein nennen wir wechselwirkungsfreie Systeme in halbes Jahrhundert alt, ihr mathematischer Korrelationszustanden verschrankte Syste- Formalismus wurde immer weiter perfektio- me, die nicht durch direkte Wechselwirkun- niert und ist empirisch immerfort an einer gen verursachten Korrelationen in verschrank- Fulle verschiedenster Erfahrungen bestatigt ten Systemen nennen wir Einstein-Podolsky- worden. Sie ist heute wohl die empirisch am Rosen-Korrelationen oder kurz EPR-Kor- besten verifizierte Theorie uberhaupt; bis relationen. heute ist nicht eine einzige Erfahrung gefun- den worden, die der Quantenmechanik glaub- Da alle in der Naturiorschung diskutierten Sy- vorgestellt hatten. In der Quantenmechanik wurdig widersprache. steme in einer gewissen Wechselwirkung mit- kann ein Objekt nicht durch das definiert wer- einander stehen, ist zu erwarten, dai3 aus- den, was es an sich ist, sondern nur durch seine Aus diesem Grunde ist der heutige Status der nahmslos alle Systeme miteinander EPR- Zusammenhange mit der Umwelt. Quantenmechanik weitgehend unabhangig korreliert sind. Wenn diese Sicht ernstgenom- von den Motivierungen geworden, die histo- men wird, ist das ganze Universum ein Diese Tatsachen sind seit 1935 wohlbekannt, risch zur Entwicklung der Quantentheorie verschranktes System und damit ein unteilba- wurden aber bis vor kurzem von den meisten fuhrten. Die ersten Interpretationen der res Ganzes. Andererseits setzt die schiere Naturwissenschaftlern und Philosophen nicht Quantenrnechanik waren mehr oder weniger Moglichkeit empirischer Untersuchungen be- ernst genommen. Seit einigen Jahren ist aber positivistische Rationalisierungen, welche reits voraus, dai3 es in der Welt Untersysteme die Existenz von EPR-Korrelationen in nicht- heute obsolet geworden sind. Aber bis heute gibt, welche mit dem Rest der Welt nicht EPR- wechselwirkenden und raumlich separierten hat sich keine wohlfundierte Interpretation korreliert sind. Die Quantenphysik macht Systemen durch eine Reihe von schonen Expe- der Quantenmechanik durchsetzen konnen, zwar einen Universalitatsanspruch: Jedes ma- rimenten uber allen vernunftigen Zweifel ve- so dai3 in unseren Lehrbuchern bis heute dar- terielle System kann quantenmechanisch be- rifiziert worden (vgl. den Bericht (181 und die uber nicht viel Kluges zu finden ist. Die durch schrieben werden. Aber es ist nicht zu vermei- neuesten Resultate [19 - 211). die Quantenmechanik eingeleitete philoso- den, dal3 wenigstens ein Teil des materiellen phische Revolution wird immer noch weit- Universums der quantentheoretischen Ana- Viele preisen die Quantenmechanik als Fun- gehend verdrangt. Das entscheidend Neue lyse entzogen wird. Man druckt diese Situa- dament der modernen Chemie, aber nur we- an der Quantenmechanik sind weder ihre Be- tion vielleicht am besten in der Form eines Pa- nige sehen, dai3 mit dem Aufkommen der wegungsgesetze noch das Plancksche Wir- radoxons aus: Die Welt ist ein total ver- Quantenmechanik nicht nur der Atomismus, kungsquantum, sondern die Tatsache, dai3 schranktes System, doch muR in jeder Be- sondern auch die Cartesische Epoche der Na- es durch Einstein-Podolsky-Rosen-Korre- schreibung der Welt die Existenz nicht- turbeschreibung zu Ende ging. In der von lationen verschrankte Systeme gibt. verschrankter Systeme postuliert werden. Da- RenC Descartes (1596 - 1650) begrundeten her kann die Quantenmechanik ihre Aussagen Philosophie zerlegt das Subjekt die Welt in Die Quantenmechanik ist eine nicht aussprechen, ohne die Art der Kenntnis- einfache Sachverhalte und betrachtet die ob- ganzheitliche Theorie nahme zugleich auszudrucken. Die Objekte jektive Welt einfach als Summe dieser elemen- der Welt sind enger miteinander verknupft, als taren Sachverhalte. Dagegen steht in der Die Dialektik von Ganzem und Teil ist in der die klassischen Naturwissenschaftler es sich Quantenmechanik so etwas wie ein ,,Ding an 114 Chemie in itmerer Zeit / 19. Jabrg. 1985 / Nr. 4
sich" nicht mehr zur Diskussion. Ein Subjekt vraies", sagte schon Emile Duclaux (1840 - ist ein Subjekt, weil es in Relation zu einem 1904). Es gibt keine aspektunabhangige Be- Objekt steht. Ein Objekt ist ein Objekt, weil schreibung der Natur. Ein aspektabhangiger es in Relation zu einem Subjekt steht. Das bis- Theorienpluralismus ist unvermeidbar. her iibliche Kompartimentalisierungsdenken mug aufgegeben werden. Die Quantenmecha- Folgt die Quantenchemie aus der nik beschreibt die materielle Welt primar als Quantenmechanik? ein unteilbares Ganzes; das Heraustrennen einzelner Objekte bedarf einer Rechtferti- Die naive Form des Atomismus, wonach die gung, welche prinzipiell augerhalb der Prinzi- Welt letztlich aus nichts als elementaren Ob- pien der Quantenmechanik liegt. jekten besteht, ist im krassen Widerspruch zur Quantenmechanik. Die materielle Welt ist In jeder ganzheitlichen Theorie kann man nicht aus Bausteinen (mogen sie nun Quarks, iiber ein Phanomen in Klarheit und Deutlich- Elektronen oder Atome heii3en) aufgebaut keit nur sprechen, wenn man zugleich den und der Molekulbegriff ist keineswegs eine Kontext angibt, von dem aus es bestimmt ist. zwingende Folge der ersten Prinzipien der Isoliertc ,,Fakten" beweisen wenig, sie erlan- Quantenmechanik. gen ihren Beweiswert erst durch die Angabe des Kontexts, in dem sie beobachtet wurden. Die molekulare Betrachtungsweise kann man Jeder Kontext hat seine implizierten Vorga- aber der Quantenmechanik auferlegen, indem ben, die wir als Bezugspunkte zur Beschrei- man konsequent die tatsachlich existierenden bung der Natur auswahlen. Entscheidet man EPR-Korrelationen zwischen einem moleku- sich fur andere Vorgaben, so wahlt man einen laren Objekt und seiner Umgebung als irrele- anderen Kontext mit anderer Perspektive, so vant betrachtet. Die Abstraktion von diesen dai3 die Natur anders gesehen wird. EPR-Korrelationen schliei3t keineswegs aus, dai3 zwischen einer Molekel und ihrer Umwelt Wir konnen ein Quantensystem nur beschrei- noch energetische Wechselwirkungen beste- ben, wenn wir die Bedingungen spezifizieren, hen, die beispielsweise zu Relaxationseffekten unter denen wir beobachten. Die Experimen- fuhren konnen. Diese molekulare Sicht ist talbedingungen definieren einen Kontext. durchaus mehr als eine Konvention, es ist lo- Die verschiedenen komplementaren Aspekte nete Wirklichkeit [22]. Diese Polarisierung gisch konsistent, Atomen und Molekiilen eine eines Quantensystems konnen wir entdecken, wird durch unser Bewugtsein mit seinen asso- wirkliche Existenz zuzuschreiben. Nur darf indem wir einander ausschlieBende Beobach- ziierten Zeichenerkennungsmechanismen er- man nicht sagen, die Materie bestehe aus tungsbedingungen erfinden. zeugt. Um eine damit ubereinstimmende Atomen und Molekulen. Atome und Mo- quantenmechanische Beschreibung zu erhal- lekiile sind Erscheinungsformen der Materie Ohne Abstraktionen gibt es keine Pattern und ten, mussen die tatsachlich existierenden unter einer spezifizierten Klasse von Beobach- damit keine Naturwissenschaften. Verschie- EPR-Korrelationen zwischen Objekt und Sub- tungsbedingungen. Diese molekulare Sicht dene naturwissenschaftliche Theorien sind jekt als unwesentlich erklart und unterdruckt gibt eine physikalisch richtige Beschreibung durch verschiedene Abstraktionen charakteri- werden. Erst nach dieser Zweiteilung der Welt isolierter Einzelmolekiile, insbesondere aller siert. Naturlich ist es in keiner Weise naturge- und Brechung der holistischen Symmetrie der spektroskopischen Experimente. Jedoch ent- setzlich festgelegt, was als relevant und was als Quantenmechanik durch Unterdriickung ge- spricht diese Betrachtungsweise noch nicht irrelevant zu gelten hat. Die Relevanzfrage wisser EPR-Korrelationen existieren iiber- der Sicht der Chemiker. hangt vom Kontext ab. Bestimmte Betrach- haupt beobachtbare Phanomene. Die durch tungsweisen sind immer mit der Abstraktion diese Symmetriebrechung konstruierte Rea- Um die Betrachtungsweise der Chemiker zu von als nicht relevant betrachteten Effekten litat ist insofern objektiv, als sie immer dann erhalten, geht man in der absoluten Quan- verknupft. eindeutig bestimmt ist, wenn wir uns fur eine tenchemie noch einen Schritt weiter und be- bestimmte Optik entschieden haben. Aber die trachtet die tatsachlich existierenden EPR- Die Idee einer unteilbaren Welt steht im Ge- Wahl der Optik ist uns von der Quantenme- Korrelationen zwischen den Kernen und gensatz zu der polarisierenden Wirklichkeit chanik nicht vorgeschrieben. Ein konstrukti- Elektronen einer Molekel als irrelevant. In unseres Bewugtseins, das eine Subjekt-Ob- ver Geist kann diese Freiheit nutzen und eine strenger Weise kann man die quantenchemi- jekt-Trennung fordert. Erst diese erzwungene neue Realitat erschaffen, und so im Sinne von sche Sicht aus der vollen quantenmechani- Zweiteilung schafft sowohl die empirisch Lionardo zum fabricator mundi werden. schen Beschreibung durch eine asymptotische isolierbaren Phanomene als auch die Bilder Entwicklung um die singulare Grenzsituation in unserem inneren Vorstellungsraum. Die Jede Abstraktion schafft ihre eigene Realitat, m/M + 0 erhalten, wobei m die Elektronen- Quantenmechanik und die Tiefenpsychologie und die erfahrene Wirklichkeit ist abhangig masse und M eine mittlere Kernmasse sind. kommen hier in bemerkenswerter Uberein- von der gewahlten Abstraktion. Abstraktio- Diese asymptotische Entwicklung wurde in stimmung zu derselben Auffassung: Die pola- nen sind weder fundamental noch richtig, aber heuristischer Form erstmals 1927 von Born risierte Wirklichkeit ist nicht absolut, sondern unvermeidlich, und sie konnen fruchtbar oder und Oppenheimer skizziert. Heute beniitzt eine spezifisch dem Ich-Bewuksein zugeord- unfruchtbar sein. ,,I1 n'y a pas de thCories man eine etwas modifizierte mathematische Chemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1985 / Nr. 4 115
Methodik und spricht statt von der Bodn- Eigenschaften von Molekulen additiv aus Oppenheimer-Beschreibung auch von der Gruppenbeitragen zu berechnen. Ein ver- adiabatischen Beschreibung von Moleku- wandtes additives Schema fur die chemischen len. Verschiebungen spielt heute in der Kernreso- nanzspektroskopie eine praktisch wichtige Wahrend in der vollen quantenmechanischen Rolle. Ebenso ist die Methode der Gruppen- Beschreibung eines molekularen Systems beitrage zur genauen Schatzung thermodyna- Elektronen und Atomkerne verschrankt sind mischer Daten organischer Stoffe im idealen und daher als individuelle Objekte nicht ak- Gaszustand hochst erfolgreich und praktisch tual existieren, wird in der adiabatischen Be- wichtig. Dieses Baukastenprinzip der empiri- schreibung der absoluten Quantenchemie von schen Chemie, welches viele chemische Cha- den tatsachlich existierenden EPR-Korrelatio- rakteristika auf ein Zusammenwirken lokaler nen zwischen Elektronen und Kernen abstra- Eigenschaften zuruckfuhrt, ist vom Stand- hiert, was dank dem grogen Massenunter- punkt der absoluten Quantenchemie uberra- schied zwischen Elektronen und Kernen eine schend und zunachst unverstandlich. Wie brauchbare Beschreibung ergibt. Im Grenzfall Hermann Hartmann (1914 - 1984) betonte, m/M = 0 sind die Kernbewegungen klassisch, wird an diesen Beispielen deutlich, ,,daG die und als qualitativ neue Eigenschaft tritt in absolute Quantenchemie nur ein richtiges Re- dieser Beschreibung das Kerngeriist auf. chenschema ist, daR sie aber nicht zu den Ant- Ohne diesen Begriff ware eine chemisch rele- worten auf typische Fragestellungen des Che- vante Diskussion von Molekulen nicht mikers fuhrt" [24]. moglich. Naturlich bewegen sich die Kerne nicht klassisch. Die fur die Spektroskopie und Nun wird der Praktiker einwenden, dai3 quan- die Molekulkinetik so wichtigen Quantenef- tenchemische Uberlegungen rnit Hilfe von fekte werden in der adiabatischen Beschrei- Bindungsorbitalen und Gruppenorbitalen bung durch die hoheren Terme der erwahnten durchaus imstande sind, die eben erwahnten asymptotischen Entwicklung erhalten und chemischen GesetzmaRigkeiten zu beschrei- entsprechen einer ,,Quantisierung" um das ben. Das ist richtig, aber es ist zu bedenken, klassische Kerngeriist bzw. um die klassischen dag die Begriffe Bindungs- oder Gruppenor- Trajektorien. In der adiabatischen Beschrei- bitale in der absoluten Quantenchemie nicht bung existiert das Teilsystem der Elektronen vorkommen. In dieser Theorie sind Orbitale trotz der starken elektrostatischen Wechsel- Verbindungen recht verstanden werden, und lediglich nutzliche mathematische Hilfsgro- wirkung mit dem klassischen Kerngeriist als die Beziehung zu anderen Verbindungen ist gen, welche nur dazu dienen, eine rechentech- individuelles Objekt. der wesentliche Teil des zu erwerbenden Wis- nisch brauchbare Darstellung der elektroni- sens", schrieb W. A. Noyes im Jahre 1907 [23]. schen Zustandsfunktion einer Molekel zu er- Eine volle quanterimechanische Beschreibung Damit ist genau das umschrieben, was die ab- zeugen. Eine dariiber hinausgehende Bedeu- von Molekulen ist durchaus moglich und phy- solute Quantenchemie nicht kann. Chemisch tung haben Orbitale in der absoluten sikalisch richtig, aber fur den Chemiker ohne verwandte Molekeln besitzen haufig eine ver- Quantenchemie nicht. Somit stellt sich die Belang, da dabei die chemisch relevanten Ei- schiedene Anzahl von Elektronen und damit Frage: 1st es moglich, der absoluten Quanten- genschaften nicht manifest sind. Begriffe wie keine unmittelbar vergleichbaren Zustands- chemie Bedingungen aufzuerlegen, die zum Molekulstruktur, Kerngeriist, Kernkonfigura- funktionen. Die absolute Quantenchemie Baukastenprinzip der Chemie fuhren? tion, Schwingung und Rotation sind quasi- kann zwar einzelne Ketone wie etwa das Pro- klassisch und werden erst in der adiabatischen panon, das Butanon, das Acetophenon, das Die Antwort auf diese Frage wurde in den Beschreibung aktualisiert. Daher ist die adia- Benzophenon, das Diacetyl usw. richtig be- letzten zwanzig Jahren uber nur historisch batische asymptotische Entwicklung um den schreiben, aber der mit dem Begriff ,,Keton" verstandliche Umwege gefunden. Die numeri- singularen Punkt m/M = 0 nicht als numeri- gemeinte strukturelle Klassenzusammenhang sche Erfahrung hat gezeigt, daR fur viele sches Naherungsverfahren zu verstehen, son- kann in der absoluten Quantenchemie nicht in (wenn auch keineswegs alle) Molekule die so- dern als eine Methode, um in einer mathema- Evidenz gesetzt werden. genannte Hartree-Fock-Methode eine durch- tisch wohldefinierten Weise eine schwache aus brauchbare Naherung fur die elektroni- Theoriereduktion durchzufuhren und so qua- Die Ordnungsprinzipien der chemischen Sy- sche Zustandsfunktion liefert. In dieser Nahe- litativ neue Eigenschaften zu erzeugen. stematik sind durch eine enge Tuchfuhlung rung approximiert man die elektronische Zu- mit der Phanomenwelt autochthon der Che- standsfunktion durch die (im Sinne des Das Baukastenprinzip der Chemie mie entwachsen und sind nach wie vor von al- Variationsprinzips) energetisch beste Slater- lergrogter Wichtigkeit fur die Chemie. Sie Determinante. Eine Slater-Determinante ei- Ein Chemiker ist immer Systematiker. Ihn fuhrten auch zur Entwicklung von erstaunlich nes N-Elektronenproblems ist definiert als interessiert nicht eine Molekel, sondern eine erfolgreichen empirischen Methoden zur das antisymmetrische Produkt von N linear Klasse von chemisch ahnlichen Molekeln. Schatzung von molekularen physikalischen unabhangigen Einelektronenfunktionen, wel- ,,Keine einzelne Verbindung kann ohne Grogen. Pascal entwickelte bereits 1910 ein che auch Orbitale genannt werden. Alle physi- Kenntnis einer ansehnlichen Anzahl anderer Inkrementsystem, um die diamagnetischen kalisch relevanten GroRen sind durch Erwar- 116 Cbemie in unserer Zeit / 19. Jabrg. 1985 / Nr. 4
tungswerte der entsprechenden Observablen proximiert wird. Damit erhalt man ein modi- kontinuierlichen klassischen Ladungsvertei- gegeben, und diese sind in der Hartree-Fock- fiziertes Hartree-Verfahren, das eine qualitativ lung der ubrigen Quasielektronen herriihrt. Naherung nur von der durch die Slater- neuartige Beschreibung von Molekulen durch Die auf diese Weise aus der absoluten Quan- Determinante definierten N-Elektronenfunk- individuelle Quasielektronen erlaubt (fur tenchemie hergeleitete Quasielektronentheo- tion abhangig, nicht aber von der speziellen weitere Details vgl. [26]). rie der Molekule erweist sich als identisch mit Wahl der N Orbitale. Das heifit, dai3 alle phy- der modifizierten Hartree-Naherung der ab- sikalischen Grogen einer Einzelmolekel in In der molekularen Quantenmechanik und in soluten Quantenchemie. Quantentheoretisch einem bestimmten elektronischen Zustand der absoluten Quantenchemie haben Elektro- werden diese individualisierten Quasielektro- unter beliebigen regularen linearen Transfor- nen keine Individualitat. Schrodinger druckte nen durch Orbitale beschrieben, die automa- mationen der fur die Rechnung verwendeten dies einmal sehr plastisch aus: ,,Man kann die tisch lokalisiert sind und im Gegensatz zur ab- Orbitale invariant sind. Elektronen nicht kennzeichnen, nicht ,rot an- soluten Quantenchemie einen deskriptiven streichen', und nicht nur das, man darf sie sich Sinn haben. Sie entsprechen weitgehend den Nun ist es aber seit langem bekannt, daB man nicht einmal gekennzeichnet denken, sonst lokalisierten Orbitalen des praktischen Che- im Rahmen des Hartree-Fock-Verfahrens die erhalt man durch falsche ,Abzahlung' auf mikers. Orbitale einer Slater-Determinante durch eine Schritt und Tritt falsche Ergebnisse" [27]. Wie passende lineare Transformation lokalisieren bereits Leibnitz (1646 - 1716) klar erkannte, Zusammenfassend konnen wir also feststellen, kann und dai3 die so lokalisierten Orbitale von widerspricht dieser Sachverhalt dem Indivi- dai3 die Quasielektronentheorie Molekule un- einem Molekul zu einem ahnlichen Molekul dualitatsprinzip (principium identitatis indis- gefahr so beschreibt, wie es die empirischen naherungsweise ubertragbar sind. Da die loka- cernibilium): ,,Es gibt in der Natur niemals deskriptiven Molekiilorbitaltheorien seit lan- lisierten Hartree-Fock-Orbitale eine frap- zwei Wesen, von welchen das eine vollkom- gem vorgeschlagen haben. Im Gegensatz zu pante Ahnlichkeit mit den Orbitalen der de- men wie das andere, und wo es nicht moglich den semiempirischen Molekiilorbitalmetho- skriptiven, empirisch inspirierten Orbitalme- ware, einen inneren oder auf eine innere Be- den ist aber die Quasielektronentheorie eine thoden haben, kann man das Baukastenprin- stimmung gegriindeten Unterschied aufzufin- logisch konsistente und mathematisch voll zip der Chemie durch nichtempirische den" [28]. Das he&, in der absoluten Quan- formalisierte Theorie, welche durch Abstrak- quantenchemische Methoden in den Griff be- tenchemie sind Elektronen nicht Objekte mit tion von den EPR-Korrelationen zwischen kommen und so die Kluft zwischen den Me- individuellem Charakter. den Elektronen aus der absoluten Quanten- thoden der absoluten Quantenchemie und der chemie hergeleitet werden kann. Das he&, chemischen Intuition iiberbriicken [25]. Da Im Sprachgebrauch der Chemiker sind Elek- die Quasielektronentheorie kann im schwa- eine Orbitallokalisierung fur die Berechnung tronen jedoch Individuen, die unterscheidbar, chen (aber nicht im starken) Sinne auf die ab- experimentell mei3barer Grogen von Einzel- numerierbar und lokalisierbar sind. Somit solute Quantenchemie reduziert werden. Die molekiilen irrelevant ist, gehen jedoch diese sind die ,,Elektronen der Chemiker" nicht Quasielektronentheorie hat einen wesentlich Methoden iiber die absolute Quantenchemie dasselbe wie die ,,Elektronen der Physiker". engeren Giiltigkeitsbereich als die absolute hinaus. Elektronen konnen dann und nur dann als in- Quantenchemie, aber durch die zusatzlichen dividuelle Objekte beschrieben werden, wenn Symmetriebrechungen ist sie eine wesentlich Die urspriingliche Idee der Lokalisierung war, man von den zwischen ihnen existierenden reichere Theorie. Sie setzt qualitativ neue jedes Molekulorbital auf den kleinstmogli- EPR-Korrelationen abstrahiert. Diese Ab- Phanomene in Evidenz, welche fur die Che- chen Raum im Molekiil zu begrenzen und straktion erzeugt neue Objekte, welche wir mie von groi3er Bedeutung sind. gleichzeitig dabei die Separation zwischen al- Quasielektronen nennen und die den ,,Elek- len Molekulorbitalen so grog wie moglich zu tronen der Chemiker" entsprechen. Fiihrt Emergente Eigenschaften in der machen. Aus mathematischen Griinden wur- man ausgehend von der absoluten Quanten- molekularen Hierarchie de diese etwas diffuse Forderung spater ersetzt chemie diese Abstraktion mathematisch kon- durch das Kriterium von Edmiston und Rue- sistent durch, so erhalt man eine neue, in sich Unter Emergenz versteht man das Auftau- denberg, welches durch eine Orbitaltransfor- konsistente quantenmechanische Theorie, die chen von qualitativ neuen Eigenschaften, mation die interorbitalen Austauschterme mi- Quasielektronentheorie der Molekiile. wenn man von einem hierarchisch tieferen Ni- nimalisiert (vgl. dazu den Bericht [25]). Dieses veau zu einem hoheren Organisationsniveau Verfahren ist numerisch unschwer realisierbar Diese Quasielektronentheorie unterscheidet aufsteigt. Im biologischen Kontext werden und fuhrt zu einer guten und chemisch sinn- sich qualitativ von der absoluten Quanten- etwa Metabolismen, biologische Information, vollen Lokalisierung. Wie man erst etwas chemie, gibt aber fur alle physikalisch mei3ba- Zielrichtung und Gestalt als emergente Eigen- spater bemerkte, ist dabei der springende ren Grogen praktisch dieselben Werte wie die schaften betrachtet. Punkt gar nicht die Lokalisierung, sondern absolute Quantenchemie in der Hartree-Fock- die Moglichkeit einer quasiklassischen Naherung. Zwischen den Quasielektronen Der Emergenzbegriff ist ein Gegenpol zum Beschreibung im Rahmen der Hartree-Fock- bestehen keine EPR-Korrelationen, sie sind Reduktionsbegriff. Eine starke Emergenzaus- Naherung. rein klassisch gekoppelt durch die von ihnen sage behauptet, dai3 eine hierarchisch hohere selbst erzeugten elektrostatischen Felder. Da- Schicht Eigenschaften hat, die durch keinerlei Es zeigt sich, dai3 fur viele Molekiile die durch her geniigt jedes Quasielektron einer effekti- zwischenschichtliche Kopplungsgesetze aus das Edmiston-Ruedenbergsche Kriterium mi- ven Schrodinger-Gleichung (der sogenannten hierarchisch tieferen Schichten erklarbar ist. nimalisierten Austauschterme so klein sind, ,,Hartree-Gleichung") mit einem augeren Eine schwache Emergenzaussage 1ai3t offen, dai3 man sie auch ganz weglassen kann, ohne elektrostatischen Potential, das von den klassi- ob und wie ein Auftreten von qualitativ dag die Zustandsfunktion vie1 schlechter ap- schen Punktladungen der Atomkerne und der Neuem erklarbar ist, behauptet aber, dai3 die Chemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 1985 / Nr. 4 117
Welt Schichtstruktur besitzt und daB jede Ebene eigene Eigenschaften und Gesetze hat. Reduktion und Emergenz widersprechen ein- ander nur dann, wenn man beide Begriffe im starken Sinn versteht. Das Auftauchen neuer Qualitaten und hierarchisch hoherer Schich- ten bei einer Einschrankung des Bereichs der Rede (,,universe of discourse") ist eine charak- teristische Eigenheit der schwachen Reduk- tion von quantenmechanischen Theorien [29 - 311. Im Formalismus der modernen Quantenme- chanik wird die Emergenz durch das Auftau- chen von neuen klassischen Observablen be- schrieben. Klassische Observable vertauschen mit allen Observablen der betrachteten Theo- rie und haben in jedem Zustand einen wohlbe- stimmten dispersionsfreien Wert. Die Emer- genz von klassischen Observablen bei einer Theoriededuktion ist die Folge des singularen Charakters des dabei notwendigen Grenz- iiberganges und kann durch eine pedantisch sorgfaltige mathematische Analyse in den Griff bekommen werden. Durch asymptotische Grenziibergange kann man aus den ersten Prinzipien der Quanten- mechanik sukzessive ein ganzes hierarchisches System von molekularen Beschreibungen er- zeugen. Die in der Chemie iibliche Galilei- relativistische Reschreibung kann man aus der Einstein-relativistischen Quantentheorie er- halten, indem man die Lichtgeschwindigkeit c als sehr grog annimmt. Im Jargon der Mathe- matiker nennt man den dabei notwendigen gang neu entstehende klassische Observable singularen Grenzubergang c + GO die Kon- beschreibt die Individualitat der Molekel traktion der Lorentz-Gruppe zur Galilei- (chemisch ausgedriickt durch Angabe der Gruppe. Die dabei neu auftretende emergente Bruttoformel) (vgl. Abbildung oben). Grofle ist die Masse im Sinne des Chemikers. blen beschreiben die Individualitat der Sie wird durch eine klassische Observable be- Die nachste hierarchische Ebene erreicht man Quasielektronen (vgl. Abbildung oben). schrieben, welche in allen Zustanden densel- durch den Born-Oppenheimerschen Grenz- ben dispersionsfreien Wert aufweist. Daher ubergang m/M --+ 0, die dabei neu auftau- In dieser molekularen Hierarchie sind Reduk- wird in den traditionellen Formulierungen die chende klassische Observable beschreibt die tion und Emergenz zusammengehorige Be- Masse einfach durch eine Zahl beschrieben. Gestalt der Molekel. Erst auf dieser Stufe ist es griffe, die einander in keiner Weise widerspre- moglich, der Molekel eine Strukturformel zu- chen. Hierarchisch hoher liegende Theorien Ein molekulares System besteht aus elektrisch zuordnen. konnen im schwachen Sinne auf die ersten geladenen Elementarsystemen (wie Elektro- Prinzipien der Quantenmechanik reduziert nen und Atomkernen), die immer mit ihrem Die hierarchisch hochste Stufe der Molekiilbe- werden. D a m ist allerdings eine Brechung der elektromagnetischen Strahlungsfeld energe- schreibung gibt die Quasielektronentheorie, ganzheitlichen Symmetrie der fundamentale- tisch gekoppelt sind. In einer vollen quanten- sie entsteht durch Abstraktion von den EPR- ren Theorie notwendig. In mathematisch mechanischen Beschreibung sind Molekul Korrelationen zwischen den Elektronen. Die praziser Weise kann diese Symmetriereduk- und Strahlungsfeld durch EPR-Korrelationen strenge mathematische Ausarbeitung dieser tion durch einen singularen Grenzubergang verschrankt, so daQ eine Molekel als indivi- Theorie liegt noch im argen; moglicherweise vollzogen werden. Eine hierarchisch hoher duelles Objekt nicht existiert. Macht man ist sie durch den Grenziibergang N -+GO eines liegende Naturbeschreibung kann also nicht durch einen geeigneten Grenziibergang das N-Elektronenproblems als asymptotische durch rein logische Operationen aus den er- Strahlungsfeld klassisch, so verschwinden die- Theorie grofler Molekeln herleitbar [32]. Die sten Prinzipien der Quantenmechanik herge- se EPR-Korrelationen. Die bei diesem Uber- dabei neu entstehenden klassischen Observa- leitet werden. Sie ist eine schopferische Kon- 118 Cbemie in unserer Zeit / 19. Jahrg. 19815 / Nu. 4
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