HIV-Epidemie in einer Ära guter Behandelbarkeit - Warum gehen die Infektionszahlen nicht zurück, obwohl ein großer Teil der Infizierten adäquat ...
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HIV-Epidemie in einer Ära guter Behandelbarkeit – Warum gehen die Infektionszahlen nicht zurück, obwohl ein großer Teil der Infizierten adäquat behandelt wird? HIV epidemic in an era of good treatment options – why don’t new HIV infections decline despite adequate treatment of a large proportion of people infected with HIV? Ulrich Marcus Abstract By the end of 2012 the number of people living with HIV (PLWH) in Germany was estimated at 78,000. Thanks to improved therapy the number of PLWH has doubled since the mid-1990s. Almost two third of all PLWH in Germany currently receive antiretroviral treatment. In the vast majority of people under treatment infectiousness is sharply reduced. The number of untreated and undiagnosed HIV infections has remained stable around 25,000 to 28,000 since the year 2000. Since the late 1990s the number of new HIV infections has increased, primarily in men having sex with men. Meanwhile, numbers have leveled off at a considerably higher plateau. Increased transmissibility due to increased prevalence of other sexually transmitted infections may play a role. The size of the population at risk may have increased due to improved connectivity and denser sexual networks. Zusammenfassung Ende 2012 lebten in Deutschland circa 78.000 Menschen mit einer HIV-Infektion. Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich dank verbesserter Therapie die Zahl der mit HIV lebenden Menschen verdoppelt, weil seit dieser Zeit deutlich weniger mit oder an einer HIV-Infektion versterben. Fast zwei Drittel aller HIV-Infizierten in Deutschland werden derzeit mit antiretroviralen Medikamenten behandelt. Bei der großen Mehrheit der Behandelten vermindert die erfolgreiche Therapie auch drastisch die Infektiosität. Die Gesamtzahl der unbehandelten und nicht diagnostizierten HIV-Infektionen in Deutschland hat sich seit 2000 nicht wesentlich verringert und wird zwischen 25.000 und 28.000 geschätzt. Seit Ende der 1990er Jahre hat primär bei Männern, die Sex mit Männern haben, die Zahl der HIV-Neuinfektionen zugenommen und inzwischen ein deutlich höheres Plateau erreicht. Eine erhöhte Übertragungswahrscheinlichkeit pro Kontakt aufgrund einer gestiegenen Prävalenz anderer sexuell übertragbarer Infektionen spielt dabei unter anderem eine Rolle. Durch die bessere Vernetzung, unter anderem im Internet und über Smartphones, ist der Kreis der gefährdeten Personen größer geworden. Einleitung Die weltweite HIV/AIDS-Epidemie stellt nach wie te und Ärztinnen sowie durch die Mitarbeiter und vor eines der größten Gesundheitsprobleme unse- Mitarbeiterinnen der Gesundheitsämter. Zwischen rer Zeit dar. Die Situation in Deutschland ist im dem Zeitpunkt der Infektion und dem Zeitpunkt europäischen und internationalen Vergleich relativ der Diagnose der HIV-Infektion kann allerdings ein günstig, unter anderem aufgrund der hier frühzeitig Zeitraum von oftmals mehreren Jahren vergehen, begonnenen Präventionsmaßnahmen (Hamouda, der individuell sehr unterschiedlich ist. Diese Mel- Marcus, Voß et al. 2007). Ein wesentliches Ziel der dungen lassen also keinen direkten Rückschluss epidemiologischen Überwachung (Surveillance) auf den Infektionszeitpunkt zu und machen das von HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen Heranziehen weiterer Datenquellen (CD4-Zellzahl ist das Erkennen von aktuellen Entwicklungen zum Zeitpunkt der Diagnose, Beobachtungen zum des Infektionsgeschehens. Wichtigste Grundlage CD4-Zellverlauf in Kohortenstudien von Serokon- bilden die Meldungen über HIV-Neudiagnosen/ vertern) und mathematischer Modellrechnungen er- AIDS-Behandlungen durch alle beteiligten Ärz- Seite 38 UMID 3 • 2013
forderlich, um das HIV-Geschehen in Deutschland dung 1 wiedergegeben. Der mit einer Back-calcula- beschreiben zu können (RKI 2013). tion-Methode geschätzte Gesamtverlauf der Inzidenz von HIV-Infektionen seit Beginn der HIV-Epidemie in Deutschland wird in Abbildung 2 dargestellt. Verlauf der HIV-Epidemie in Deutschland Die Zahl der Menschen, die mit einer HIV-Infektion leben, nimmt seit Mitte der 1990er Jahre kontinu- Nach den Ergebnissen der aktuellsten Schätzung ierlich zu, da seit dieser Zeit durch die Verfügbar- lebten Ende 2012 etwa 78.000 Menschen mit ei- keit von hochwirksamen antiretroviralen Therapien ner HIV-Infektion in Deutschland (einschließlich weniger Menschen mit oder an einer HIV-Infektion insgesamt ca. 1.000 perinatal infizierte Kinder und versterben als sich neu mit HIV infizieren. Seitdem Transfusionsempfänger/ Hämophile, RKI 2012). Der hat sich die Zahl der Menschen, die mit einer HIV- geschätzte Verlauf der HIV-Prävalenz wird in Abbil- Abbildung 1: Geschätzter Verlauf der Gesamtzahl der in Deutschland lebenden HIV-Infizierten (mit Vertrauensbereich der Schätzung): 1975 bis Ende 2012 (ohne Hämophile/Transfusionsempfänger und perinatal infizierte Kinder). Abbildung 2: Geschätzte Gesamtzahl der HIV-Neuinfektionen in Deutschland (mit Vertrauensbereich der Schätzung) seit Beginn der HIV-Epidemie: 1978 bis Ende 2012 nach Infektionsjahr. UMID 3 • 2013 Seite 39
Infektion leben, verdoppelt und wird voraussicht- 2001 blieb die Zahl der HIV-Neuinfektionen bei lich auch in den nächsten Jahren weiter ansteigen. IVD auf niedrigem Niveau weitgehend konstant. Bei MSM folgte in den 1990er Jahren ein niedriges Einen ersten Höhepunkt hatte die Zahl der HIV- Plateau, dem ab Ende der 1990er Jahre wieder eine Neuinfektionen in Deutschland Mitte der 1980er deutliche Zunahme von Neuinfektionen folgte, die Jahre erreicht, zu einer Zeit als HIV gerade entdeckt etwa ab 2004 in ein neues, deutlich höheres Plateau (1984) und die Krankheit AIDS noch weitgehend un- übergeht. Innerhalb dieses neuen Plateaus gab es bekannt war. Vermutlich durch eine Kombination von zunächst einen leichten Anstieg bis 2006, gefolgt Sättigungsphänomenen in besonders infektionsge- von einem leichten Rückgang bis 2010 und einem fährdeten Gruppen, spontanen Verhaltensänderungen erneuten leichten Anstieg seit 2011. Die Zahl der und den früh begonnenen Präventionsmaßnahmen in Deutschland auf heterosexuellem Wege infizier- nahm die Zahl der HIV-Neuinfektionen in der zwei- ten Personen stieg deutlich langsamer an als in den ten Hälfte der 1980er Jahre wieder ab und blieb in beiden Gruppen MSM und IVD und erreichte auch den 1990er Jahren auf einem vergleichsweise nied- keinen initialen Spitzenwert wie in diesen beiden rigen Niveau. Ab dem Jahr 2000 nahmen die Infek- Gruppen, sondern bewegt sich seit Ende der 1980er tionszahlen wieder zu. Nach 2004/2005 wurde ein Jahre im Wesentlichen auf gleichbleibendem Ni- neues Plateau erreicht, auf dem die Gesamtzahl der veau. Das unterstreicht die bisherige Einschätzung, Neuinfektionen seitdem mit relativ geringen Auf- dass eigenständige heterosexuelle Infektionsketten und Abwärtsbewegungen schwankt. Im Jahr 2012 für HIV-Neuinfektionen keine große Bedeutung er- wird die Zahl der HIV-Neuinfektionen in Deutsch- langt haben und sich die Epidemie unter Heterose- land auf knapp 3.400 geschätzt. xuellen im Wesentlichen aus sexuellen Kontakten mit den beiden Hauptbetroffenengruppen, IVD und Die Entwicklungstrends in den drei Hauptbetroffe- MSM, sowie mit Personen aus Regionen mit eigen- nengruppen in Deutschland verlaufen unterschied- ständigen heterosexuellen Epidemien speist. lich: Bei Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), und Personen, die intravenös Drogen kon- Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Gesamtzahl sumieren (IVD), wurde etwa zeitgleich Mitte der der in Deutschland lebenden HIV-Infizierten seit 1980er Jahre ein erster Infektionsgipfel erreicht. dem Jahr 2001 nach Diagnose- und Therapiestatus. Danach ging die Zahl der Neuinfektionen in beiden Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden HIV- Gruppen bis Anfang der 1990er Jahre deutlich zu- Infizierten hat sich kontinuierlich erhöht, ebenso rück. Bei IVD hat sich dieser rückläufige Trend seit wie die absolute Zahl der Infizierten, die eine an- Anfang der 1990er Jahre zwar abgeschwächt, aber tiretrovirale Therapie erhalten. Auch der Anteil der kontinuierlich fortgesetzt. In der letzten Dekade seit HIV-Infizierten, die eine antiretrovirale Therapie Abbildung 3: Anzahl in Deutschland lebender Menschen mit HIV-Infektion und Anteile nach Diagnose- und Therapiestatus 2001 – Ende 2012. Seite 40 UMID 3 • 2013
erhalten, hat sich – bezogen auf die Gesamtzahl nern eine deutliche und bei Frauen nur eine schwa- aller HIV-infizierten Personen – seit 2001 kontinu- che Zunahme fest. Die Zunahme bei Männern ist ierlich von 44 auf 65 Prozent im Jahr 2012 erhöht. umso ausgeprägter, je kleiner der Wohnort bevöl- Zwar hat sich dadurch der Anteil der noch nicht kerungsmäßig ist (Abbildung 4). diagnostizierten beziehungsweise noch nicht be- handelten HIV-Infektionen, welche die Quelle von Neuinfektionen darstellen, entsprechend verringert, Epidemiologische Trends in den die absolute Zahl ist aber – mit kleinen Schwan- verschiedenen Betroffenengruppen kungen zwischen 25.000 und 28.000 – unverändert geblieben. Dies ist auch eine Erklärung dafür, dass Während bei intravenös Drogen konsumierenden die absolute Zahl von Neuinfektionen auf demsel- Menschen in Westeuropa die Infektionszahlen nach ben Niveau bleibt. einem anfänglichen Infektionspeak in den achtziger und frühen neunziger Jahren kontinuierlich zurück- Dank der Verfügbarkeit hochwirksamer Medika- gingen und jetzt auf einem sehr niedrigen Niveau mente aus unterschiedlichen Medikamentenklassen angekommen sind, haben sich die Zahlen bei MSM liegt die Viruslast bei der überwiegenden Mehrzahl nach einer anfänglich vergleichbaren Entwicklung der antiretroviral Therapierten (80–90 %) unter der seit Ende der 1990er Jahre wieder deutlich er- Nachweisgrenze der aktuell gängigen Testverfahren. höht. Ebenso haben sich in Deutschland die Zahl Verschiedene Studien und Beobachtungen belegen, der Infektionen bei Männern ohne Angabe eines dass unter einer wirksamen Therapie auch die In- Infektionsrisikos und die Zahl der Infektionen bei fektiosität, das heißt die Übertragbarkeit einer HIV- Männern mit Angabe eines heterosexuellen Infek- Infektion, drastisch vermindert ist (Cohen 2011). tionsrisikos erhöht. Da gleichzeitig weniger Neuin- fektionen bei Brückenpopulationen, wie intravenös Trotz dieses breiten Einsatzes antiretroviraler Me- Drogen konsumierenden Menschen und Migranten dikamente hat die Zahl der HIV-Neuinfektionen aus Hochprävalenzregionen, festgestellt wurden, von Ende der 1990er Jahre bis circa 2005 deutlich sind diese Zunahmen entweder auf die Entwicklung zugenommen und sich seit 2005 auf einem erhöh- einer eigenständigen HIV-Epidemie unter Hetero- ten Niveau eingependelt. sexuellen in Deutschland (wofür es keine guten Be- lege gibt) oder ebenfalls auf eine Intensivierung der Stellt man die durchschnittliche Zahl der HIV-Mel- Epidemie unter MSM zurückzuführen, wobei diese dungen bei Männern und Frauen in den Jahren 2001 dann nicht immer als solche erkannt werden. bis 2003 der Zahl der Meldungen in den Jahren 2010 bis 2012 gegenüber, so stellt man bei Män- Abbildung 4: Veränderung der HIV-Neudiagnosen von 2001/2003 bis 2010/2012 nach Geschlecht und Wohnortgröße. UMID 3 • 2013 Seite 41
Während der Anteil der nicht diagnostizierten und soll, hätte sich an der Zahl der ungeschützten Se- nicht behandelten Infektionen bei Migranten und xualkontakte in dieser Phase etwas ändern müssen, heterosexuell infizierten Personen vergleichsweise das heißt frisch infizierte Personen müssten heute groß ist, ist er bei MSM vergleichsweise klein. Es mehr ungeschützte Kontakte in der Phase der fri- ist also nicht so, dass sich die Epidemie gerade dort schen Infektion haben als früher. ausbreitet, wo die Behandlung nicht ankommt. Was sagen die Verhaltensstudien zur Zunahme oder Abnahme ungeschützter Kontakte? Welche Faktoren bestimmen die Zahl der Neuinfektionen? Die Ergebnisse der Wiederholungsuntersuchun- • Die Gesamtzahl der lebenden, mit HIV infizier- gen „Schwule Männer und AIDS“ (SMA), die in ten, genau genommen der infektiösen Personen; Deutschland seit Ende der 1980er Jahre durchgeführt wurden, zeigen, dass der Anteil der Befragungsteil- • Die Zahl der ungeschützten, infektionsträchtigen nehmer, die Risikokontakte in den vorangegangen Kontakte zwischen infektiösen und empfängli- 12 Monaten berichten, sich im Verlauf der Jahre chen Personen; kaum verändert hat: Zwischen 24 und 29 Prozent der • Die Wahrscheinlichkeit, mit der es bei einem in- Befragten geben ungeschützten Analverkehr (UAV) fektionsträchtigen Kontakt auch tatsächlich zu mit mindestens einem Partner an, dessen HIV-Status einer Infektionsübertragung kommt. sie nicht kannten oder der einen anderen HIV-Status hatte als der Befragte. Vergleicht man nur die bei- Die Gesamtzahl der mit HIV lebenden Personen den letzten SMA-Studien von 2007 und 2010 (diese hat dank der krankheitsverhütenden und lebens- beiden Studien haben ihre Teilnehmer überwiegend erhaltenden Therapie deutlich zugenommen: Die bzw. ausschließlich im Internet rekrutiert), so zeigt Zahl hat sich in Deutschland von knapp 40.000 sich zum einen eine Zunahme des Anteils nicht-fes- Ende der 1990er Jahre auf knapp 80.000 Ende 2012 ter Partner, mit denen Analverkehr praktiziert wurde, fast verdoppelt. Diese Zunahme ist in erster Linie zum anderen aber auch eine Zunahme des Anteils der eine Folge verminderter Sterblichkeit und damit ein Analverkehrsepisoden, die ohne Kondom stattfan- Erfolg der verbesserten Therapie. In der Tat gehen den. Zwar mag in vielen dieser Fälle eine Kommu- die Modellschätzungen davon aus, dass sich die nikation über den HIV-Status stattgefunden haben, Zahl der infektiösen HIV-Infizierten kaum verän- aber trotzdem besteht aufgrund fehlender Kenntnis dert hat, obwohl ihr Anteil an allen Infizierten deut- des aktuellen HIV-Status in einigen dieser Fälle ein lich gesunken ist (Abbildung 3). Übertragungsrisiko. Das heißt, dass auch wenn der Anteil der Personen, die Risikokontakte angeben Betrachtet man die Gesamtzahl der lebenden HIV- sich nicht wesentlich verändert hat, die Anzahl der Infizierten, so hat die Übertragungswahrschein- Risikokontakte bei denjenigen, die Risikokontakte lichkeit pro Kontakt durch den steigenden Anteil angeben, zugenommen hat. Möglicherweise haben der erfolgreich antiretroviral Therapierten sehr auch bei denjenigen, die subjektiv keine Risiken ein- wahrscheinlich abgenommen. Betrachtet man je- gegangen sind und keine Risiken angeben (weil der doch nur die infektiösen Infizierten (d. h. die noch Partner vermeintlich nicht infiziert war), objektiv in nicht diagnostizierten und die diagnostizierten aber steigender Zahl Risiken vorgelegen. noch nicht behandelten), so hat die Übertragungs- wahrscheinlichkeit pro Kontakt wahrscheinlich Noch etwas anderes ist zu beachten: Im Laufe der zugenommen, in erster Linie weil andere sexuell 1990er Jahre hatte der Anteil derjenigen zugenom- übertragbare Infektionen (STI) heute sehr viel wei- men, die hohe Partnerzahlen berichteten (mehr als ter verbreitet sind als vor 15 Jahren. Es ist bekannt, 10 Partner in den vorangegangenen 12 Monaten dass sich die Übertragungswahrscheinlichkeit pro von 31 Prozent im Jahr 1991 auf 42 Prozent im Kontakt bei einer unbehandelten HIV-Infektion in Jahr 1999, Abbildung 5). Dieser Trend scheint sich Anwesenheit weiterer STIs erhöht (Cohen 1998). nach 2000 plötzlich wieder umgekehrt zu haben. Um dies zu verstehen, muss man jedoch berück- Ein weiteres Szenario, in dem die Übertragungs- sichtigen, dass sich der Befragungszugang geändert wahrscheinlichkeit erhöht ist, ist die Phase der hat: In den 1990er Jahren wurden die Teilnehmer akuten frischen HIV-Infektion. Wenn dies zu einer über schwule Medien, wie Stadtmagazine oder ähn- Zunahme von Neuinfektionen beigetragen haben liches, erreicht. Nach 2000 wurde der Fragebogen Seite 42 UMID 3 • 2013
Abbildung 5: Anzahl männlicher Sexualpartner im Jahr vor der jeweiligen Befragung im Zeitverlauf. Abbildung 6: Anteil der im Internet gefundenen Partner nach Partnerzahl in den letzten 12 Monaten. zunächst zusätzlich, dann ausschließlich im Inter- absolute Zahl der Personen, die über sexuelle Netz- net angeboten. Das änderte nicht nur die Teilneh- werke (u. a. über Internet, Smartphones) miteinan- merzahlen, die deutlich zunahmen, sondern auch der in Kontakt stehen, deutlich erhöht hat. Stabiler die erreichte Grundgesamtheit: Durch das Internet Anteil bei steigender Gesamtzahl bedeutet eben ei- wurden Männer außerhalb der Metropolen, junge nen Anstieg der absoluten Zahl. MSM und szeneferne MSM in weit größerem Um- fang erreicht als durch schwule Printmedien. Das Durch die Änderung des Befragungszugangs wur- heißt, die scheinbare Trendumkehr bezüglich der den also nicht nur Menschen erreicht, die vorher Partnerzahlen ist wahrscheinlich nur ein Verdün- durch die Printmedien nicht erreicht wurden, die nungseffekt, der darauf beruht, dass nunmehr ein aber genauso von der Epidemie betroffen waren, viel größerer und in weiten Teilen weniger gefähr- sondern durch die neuen Kontaktmöglichkeiten im deter Teil der MSM-Population erreicht wird. Das Internet hat sich die von der Epidemie betroffene bedeutet aber auch, dass selbst wenn sich an dem untereinander vernetzte Population vergrößert. Da Anteil der Befragungsteilnehmer mit Risikokon- vermehrt Menschen mit vergleichsweise niedrigen takten wenig geändert hat, sich wahrscheinlich die Risiken (z. B. szeneferne MSM mit niedrigen Part- UMID 3 • 2013 Seite 43
nerzahlen) die Population vergrößern, wird dadurch lichkeiten geschaffen. Bei gleichbleibenden Antei- die Tatsache verdeckt, dass ein Teil der mit HIV infi- len von Risikokontakten ist die absolute Zahl von zierten Personen vermehrt Risiken in Form von hö- Risikokontakten durch die Ausweitung der unter- heren Partnerzahlen und vermehrtem UAV eingeht. einander vernetzten Population, die Zunahme der Partnerzahlen und des Analverkehr angestiegen. Welche Belege oder Indizien gibt es für diese These? Es gibt kaum Daten oder Studien zur Größe und Konsequenzen für die Prävention zum Vernetzungsgrad der MSM-Population. Zwei im zehnjährigen Abstand in Großbritannien durch- Die Zunahme von HIV-Infektionen bei MSM durch geführte repräsentative Bevölkerungsbefragun- Vergrößerung der untereinander vernetzten MSM- gen (1990 und 2000) weisen auf einen steigenden Population kann nicht als Versagen der Prävention Anteil von Männern hin, die gleichgeschlechtli- gewertet werden: Es kann nicht Aufgabe von Prä- che Sexualkontakte angeben (Mercer 2006). Die vention sein, Menschen daran zu hindern, ein für HIV-Infektionszahlen in Deutschland zeigen, dass sie befriedigendes Sexualleben anzustreben und die Zunahme von HIV-Infektionen vor allem in für die Partnersuche die verfügbaren Kommunika Regionen außerhalb der Großstädte erfolgt ist (Ab- tionsmöglichkeiten zu nutzen. Das Internet und die bildung 4). Außerdem spricht einiges dafür, dass bessere Vernetzung von MSM untereinander sollten die Zunahmen bei Männern, die nicht als MSM aber stärker für präventive Zwecke und Maßnah- gemeldet werden, in erster Linie Männer sind, die men genutzt werden. Als Beispiele seien genannt: keine offen schwule Identität, aber doch sexuelle Online-Präventionsangebote, Nutzung des Internet Kontakte mit Männern haben. Ein großer Teil der zur Verbesserung der Wahrnehmung von Testange- Befragungsteilnehmer der letzten SMA-Befragung boten, Partnerbenachrichtigung bei STI und HIV- gibt an, einen erheblichen Teil ihrer Sexualpartner Diagnose. über das Internet kennengelernt zu haben (Abbil- dung 6). Dies gilt ausgeprägter für MSM außer- HIV-Testangebote sollten ausgeweitet werden, vor halb der Großstädte und szeneferne MSM. Wo allem um szenefernere MSM besser zu erreichen. haben diese Männer ihre Sexualpartner kennen- Außerdem sollten sie niedrigschwelliger (kosten- gelernt, als es noch kein Internet gab, und hatten loses, anonymes, auch für Berufstätige einfach zu- sie damals auch so viele Partner? In Großstädten gängliches Testangebot) werden, um Männer mit mag es in gewissem Umfang zu Verlagerungen von hohen Partnerzahlen und hohen Frequenzen unge- realen Kontaktorten (z.B. „Klappen“ [öffentliche schützter Kontakte für wiederholte Testungen bes- Bedürfnisanstalten] oder Bars) ins Internet gekom- ser zu erreichen. men sein, aber gab es solche Verlagerungen auch in ländlichen Regionen und Kleinstädten? Für Kerngruppen mit STI-Zirkulation (Männer mit hohen Partnerzahlen) müssen relativ hochfre- quent (2–4mal pro Jahr) STI-Screening-Untersu- Schlussfolgerungen chungen empfohlen und angeboten werden. Bei HIV-positiv getesteten Männern können solche Der sprunghafte Anstieg der HIV-Infektionen bei Screening-Untersuchungen in die Routine-Kon- Männern, die Sex mit Männern haben, zwischen trolluntersuchungen eingebaut werden, für nicht den Jahren 2000 und 2005 dürfte in erster Linie HIV-positiv-getestete Männer mit hohen Partner- darauf zurückzuführen sein, dass die untereinander zahlen müssen niedrigschwellige Testangebote ge- vernetzte und somit durch HIV gefährdete Gruppe schaffen werden. von Männern größer geworden ist: Durch die Mög- lichkeit, Partner im Internet zu suchen und zu finden wurde die MSM-Population stärker untereinander Fazit vernetzt. Dies zeigt sich unter anderem an der Zu- nahme der HIV-Infektionen bei MSM außerhalb Die Erfassung neu diagnostizierter AIDS-Fälle der Metropolen und bei MSM mit nicht-schwuler bleibt ein wichtiges Instrument zur Beurteilung der Identität. Das Internet hat wahrscheinlich nicht nur Gesundheitsversorgung und der Entwicklung des andere Kontaktmöglichkeiten ersetzt, sondern für Infektionsgeschehens von HIV-Patienten. Durch einige/viele zuvor nicht bestehende Kontaktmög- eine rechtzeitig begonnene und effektive antire Seite 44 UMID 3 • 2013
trovirale Therapie kann das Auftreten von AIDS- Cohen MS, Chen YQ, McCauley M et al. (2011): Preven- definierenden Erkrankungen heute weitgehend tion of HIV-1 Infection with Early Antiretroviral Thera- py. In: N Eng J Med. 365/6: 493–505. DOI 10.1056/ verhindert werden. Daher ist es sehr wichtig, dass NEJMoa1105243. alle Behandler von HIV-Patienten und auch Mit- arbeiterinnen und Mitarbeiter von Gesundheits- Mercer CH, Fenton KH, Copas AJ et al. (2004): Incre- ämtern AIDS-Erkrankungen sowie Todesfälle bei asing prevalence of male homosexual partnerships and practices in Britain 1990–2000: evidence from national HIV-Infizierten an das AIDS- und Todesfallregister probability surveys. In: AIDS 18: 1453–1458. am Robert Koch-Institut (RKI) melden. Formu- lare für die Meldung können beim RKI unter der RKI (2012): Schätzung der Prävalenz und Inzidenz von HIV-Infektionen in Deutschland. Stand Ende 2012. Epi- E-Mail-Adresse AIDS-Fallbericht@rki.de, per Fax demiologisches Bulletin 47. (030 18754 3429) oder Telefon (030 18754 3533) angefordert werden. Kontakt Dr. Ulrich Marcus Literatur Abteilung Infektionsepidemiologie Robert Koch-Institut Hamouda O, Marcus U, Voß l, Kollan C (2007): Ver- Seestraße 10 lauf der HIV-Epidemie in Deutschland. In: Bundesge- 13353 Berlin sundheitsbl–Gesundheitsforsch–Gesundheitsschutz 50: E-Mail: MarcusU[at]rki.de 399–411. [RKI] RKI (2013): HIV-Infektionen und AIDS-Erkrankungen in Deutschland. Bericht zur Entwicklung im Jahr 2012 aus dem Robert Koch-Institut. Epidemiologisches Bul- letin 24. Cohen MS (1998): Sexually transmitted diseases enhan- ce HIV transmission: no longer a hypothesis. In: Lancet 351 (suppl III): 5–7. UMID 3 • 2013 Seite 45
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