I. Die russischen Krim-Debatten im 18. Jahrhundert: Von der terra incognita zur Perle des Imperiums

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I. Die russischen Krim-Debatten im 18. Jahrhun-
dert: Von der terra incognita zur Perle des Imperi-
ums

Einführend wurde bereits auf das „ungeheure symbolische Kapital“ hin-
gewiesen1, welches die Krim in den Jahren nach der Annexion für Ruß-
land darstellen sollte, etwa als klassischer Boden, vermeintlicher Ort der
Taufe Vladimirs oder schlicht als ein schönes Fleckchen Erde. Ein Grund
für die schließlich vollzogene Eingliederung in das Imperium konnte
dieses jedoch nicht sein, zu rudimentär war das Wissen über die Halbin-
sel. Ihre wichtige militär- und wirtschaftstrategische Lage für Rußland
war hingegen bereits erkannt worden. Die Motive für diesen schließlich
erfolgenden Schritt waren somit grundlegend pragmatischer Natur.

1. Vor der Annexion. Politische und historische
Voraussetzungen
Mit dem 1667 zwischen der Rzeczpospolita und dem Moskauer Staat aus-
gehandelten Waffenstillstand von Andrusovo begannen die russischen
Bemühungen, das Krim-Chanat dem Einfluß des Osmanischen Reichs zu
entziehen. Die „anfangs nur auf zwei Jahre, in der Tat auf Dauer“2 dem
Zaren unterstellten Zaporoger Kosaken wurden als schlagkräftige Truppe
gegen die lange die Sicherheit des Moskauer Staates gefährdenden Krim-
tataren in das System der russischen Grenzsicherung eingebunden. Das
seit Ende des 15. Jahrhunderts unter osmanischer Oberhoheit stehende
Chanat stellte für das Zartum nicht nur eine permanente Bedrohung der
Integrität des Reiches im Süden dar, sondern kollidierte zudem mit sei-
nem Selbstverständnis als Drittes Rom. Die bis zum Vertrag von Karlo-
witz 1699 Moskau auferlegten Tributzahlungen und die bis in die Mitte
des 18. Jahrhunderts vom Krim-Chanat durchgeführten Sklavenbeutezü-
ge, deren verheerende Auswirkungen der russische Historiker Sergej M.

1   Zorin, Kormja, 100.
2   Jörg K. Hoensch, Geschichte Polens, Stuttgart 1983, 150.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

Solov’ev im 19. Jahrhundert wortgewaltig beschrieb3, stellten zudem
durch den praktizierten Rückkauf der in krimtatarische Gefangenschaft
gelangten Untertanen eine fortwährende finanzielle Belastung dar.4 Erste
konkrete Versuche zur Beendigung der Bedrohung durch das Chanat
stellten die Kampagnen in den Jahren 1687 und 1689 unter dem Kom-
mando von Vasilij V. Golicyn dar. Zu diesen hatte sich das Zartum durch
den Beitritt zur „Heiligen Liga“ 1686 verpflichtet. In beiden Fällen aber
gelang es den tatarischen Truppen, eine dauerhafte Einnahme der Halb-
insel zu verhindern.5
   Erst unter Peter I. erfolgte die, zumindest temporäre (bis 1714), Erobe-
rung der Festung von Azov. Dieses Ereignis markiert in Verbindung mit
der Einstellung der Moskauer Tributzahlungen den beginnenden Nieder-

3 S. M. Solov’ev, Istorija Rossii s drevnejšich vremen (Geschichte Rußlands seit den

ältesten Zeiten), Bd. 7, Moskva 1962, 515. Daß die Beziehungen zwischen dem Chanat
und der Rus’ bzw. dem Moskauer Staat keinesfalls durchgängig feindselig waren,
darauf hat unlängst A.L. Choroškevič, Rus’ i Krym. Ot sojuza k protivostojaniju. Konec
XV – načalo XVI vv. (Die Rus’ und die Krim. Vom Bündnis zur Konfrontation. Ende des
15. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts), Moskva 2000, hingewiesen.
4 Vgl. hierzu und zur Vorgeschichte der Annexion von 1783 insgesamt Alan W. Fisher,

The Russian Annexation of the Crimea 1772-1783, Cambridge 1970. Nach den Berech-
nungen Michael Khodorovskys, Russia’s Steppe Frontier. The Making of a Colonial
Empire 1500-1800, Bloomington/Indianapolis 2002, 223, entrichtete das Moskauer Reich
allein in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine Million Rubel an Steuern und Tri-
butzahlungen an das Chanat, welches zeitgleich zwischen 150.000 und 200.000 russi-
sche Untertanen gefangen nahm. Deren ‚Wert’ war mit je fünf Rubeln zu veranschla-
gen. Somit kostete das Chanat den Zaren in fünf Jahrzehnten ca. fünf Millionen Rubel.
Khodorovsky weiter: „By comparison, 1 million rubles spent between 1600 and 1650
could have provided for the construction of four small towns annually.”
5 Vgl. hierzu den aus dem Französischen übersetzten zeitgenössischen Bericht de la

Nevilles “ Zapiski de-la Nevillja o Moskovii 1689 g. Pochod Moskvitjan na Krym 1689
goda“ (Die Berichte de la Nevilles über Moskowien im Jahr 1689. Der Feldzug der
Moskoviten auf die Krim 1689), in: RS 22(1891), Bd. 72, Heft 10-12, 241-281, der auf der
Grundlage eigener Anschauungen des polnischen Gesandten am Moskauer Hof verfaßt
worden sein soll (247f.). Die „Russakja starina“ veröffentlichte damit eine Quelle, die
ein wenig günstiges Licht auf die „Moskoviter“ warf; so wurde die Regentin Sofija zwar
als „vernünftig und begabt“ geschildert, aber auch als „sehr häßlich („bezobrazna“),
ungewöhnlich dick, mit einem riesigen Kopf wie ein Kissen“ (258). Den Rückzug der
Truppen Golicyns sah der Autor auch als Folge der listenreichen krimtatarischen Ver-
handlungsführer. Diese hätten die Gespräche mit dem Feldherren in die Länge gezo-
gen, um der russischen Armee Nachschubprobleme zu bereiten. Die Krim-Feldzüge
hätten den „Moskowitern“ nicht nur keinerlei Erfolge gebracht, sondern im Gegenteil
großen Schaden zugefügt (247), so das abschließende Urteil des Autors.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

gang des Krim-Chanats.6 Dazu trugen innere Entwicklungen bei: Einige
der traditionell einflußreichen Klan-Führer stellten die nie völlig akzep-
tierte osmanische Oberherrschaft zunehmend in Frage.7 Sie verlangten
von den wechselnden, jedoch grundsätzlich aus dem Girej-Klan stam-
menden Chanen vergeblich, im Verhältnis zur Hohen Pforte größere
Spielräume zu schaffen; dennoch nahmen krimtatarische Truppen gegen
den erklärten Willen vieler murza, den Angehörigen der tatarischen Ober-
schichten, an den kriegerischen Auseinandersetzungen der Pforte mit
Persien in den 1720er Jahren teil. Ein Resultat war, neben einem zeitweise
herrschenden „völligen Chaos“8, eine in den 1760er und 1770er Jahren
deutlich wahrnehmbare separatistische Strömung innerhalb der krimtata-
rischen Oberschicht unter der Führung der Klan-Chefs der Shirins und
Barins. Deren Ziel war nicht die Allianz mit Rußland als vielmehr die
Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich. Diese sollte zumindest de jure
erst mit dem zwischen der Pforte und Rußland 1774 geschlossenen Frie-
den von Kjučuk-Kajnardzie (russ.)/Küčük Qaynarğa (tat.) erlangt wer-
den.
   Russischerseits waren die im Zusammenhang mit dem Russisch-
Osmanischen Krieg von 1735 bis 1739 durchgeführten militärischen Ope-
rationen gegen das Chanat kein Erfolg gewesen. Zwar gelang es den rus-
sischen Militärs unter Minich (Münnich) und Lassi zwischen 1735 und
1737 tief auf die Halbinsel vorzustoßen und sogar den Sitz des Chans in
Bachčisaraj (russ.)/Bāġče Sarāy (tat.) einzunehmen. Aufgrund von Nach-
schubproblemen und des Auftretens von Seuchen gelang die dauerhafte
Einnahme jedoch abermals nicht. Für die Wirtschaft und Infrastruktur des
Chanats waren die Folgen dennoch dramatisch, denn „Münnich’s (sic!)
Heereszug durch die schöne Krim verödete Felder und Städte“, so das
Urteil des in habsburgischen Diensten stehenden Orientalisten und Di-
plomaten Joseph Hammer von Purgstall.9 Von nicht unerheblicher sym-

6 Fisher, Crimean Tatars, 50. Vgl. auch Ders., Azov in the Sixteenth and Seventeenth

Centuries, in: JfGOE 21(1973), 161-174.
7 Ders., Crimean Separatism in the Ottoman Empire, in: William W. Haddad/William

Ochsenwald (Hg.), Nationalism in a Non-National State. The Dissolution of the Otto-
man Empire, Columbus/Ohio 1977, 77-92.
8 Vozgrin, Sud’by, 248.

9 Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der Chane der Krim unter osmanischer

Herrschaft vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 18. Jahrhundert. Als Anhang zur
Geschichte des Osmanischen Reichs zusammengetragen aus türkischen Quellen, mit
Literatur-Übersetzungen und Anmerkungen, mit der Zugabe eines Gasel von Schahin-
gerai, Türkisch und Deutsch, St. Leonards/Amsterdam 1970. Neudruck der Ausgabe
Wien 1856, 205. Hammer-Purgstalls zehnbändige Geschichte des Osmanischen Reichs
sowie seine Geschichte der Krim-Chane werden auch von heutigen Orientalisten und

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bolischer Wirkung dürfte die Niederbrennung des Chan-Palasts durch
die Invasoren gewesen sein, welche u.a. einen Großteil des dort konzen-
trierten krimtatarischen Schrifttums zerstörte.10 Trotz der unmittelbar
nach dem Abzug der russischen Truppen einsetzenden Aufbaumaßnah-
men wurde der Palast nie mehr in seinen ursprünglichen Ausmaßen wie-
dererrichtet.11 Der Niedergang des einst mächtigen Chanats manifestierte
sich auch materiell.
   Der russische Historiker Ključevskij fand am Ende des 19. Jahrhunderts
keine lobenden Worte für Minichs Vorgehen: Der Krieg sei russischerseits
schlecht vorbereitet gewesen und von Minich nur begonnen worden, um
„seinen Kriegsruhm aufzufrischen, der vor Danzig etwas verblichen
war.“12 An der Legitimität militärischer Aktionen gegenüber dem Chanat
zweifelte er aber nicht. Die postsowjetische Historiographie beurteilt das
Vorgehen Minichs unterschiedlich: Während einige den Brand des Chan-
Sitzes als ungewollte Folge von Kampfhandlungen interpretiert wissen
wollen13, war nach Auffassung Vozgrins die Zerstörung „dieser Perle des
Orients“ eine dezidierte russische Machtdemonstration. Sie sei militärisch
nicht notwendig gewesen, da die Stadt bereits eingenommen war. Zudem
sei der Feldzug von einem brutalen Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung
begleitet worden.14 Die Zerstörung tatarischen Kulturgutes – und damit
des kulturellen Gedächtnis einer zu unterwerfenden Gruppe – durch die

Historikern geschätzt. Seinen umfangreichen literaturhistorischen Arbeiten werden
jedoch zahlreiche philologische Ungenauigkeiten zur Last gelegt. Vgl. hierzu Annema-
rie Schimmel. Der islamische Orient – Wege seiner Vermittlung nach Europa, in: Jochen
Golz (Hg.), Goethes Morgen-Land-Fahrten. West-östliche Begegnungen, Frankfurt
a.M./Leipzig 1999, 16-28, hier 24f.
10 Vgl. dazu die bei Fisher, Crimean Tatars, 213, Anm. 3 angegebene Literatur.

11 Nach Fisher (ebd. 51) war der teilweise Wiederaufbau des Palasts nach dem Abzug

der russischen Truppen innerhalb von nur drei Jahren eine beeindruckende Leistung.
12 Klutschewskij (d.i. V.O. Ključevskij), Russische Geschichte, 66.

13 So z.B. V. P. Djuličev, Rasskazy po istorii Kryma (Erzählungen zur Geschichte der

Krim), Simferopol’ 20025, 213.
14 Vozgrin, Sud’by, 250. Das brutale Vordringen der Armee Minichs wurde im 19. Jahr-

hundert von nichtrussischen Autoren wiederholt thematisiert. Vgl. z.B. H. D. Seymour,
Russia on the Black Sea and the Sea of Azof. Being a Narrative of Travels in the Crimea
and Bordering Provinces. With Notices of the Naval, Military, and Commercial Re-
sources of those Countries, London 1855, 28. Die im zeitlichen Zusammenhang mit dem
Krim-Krieg veröffentlichen Werke dienten auch der Desavouierung des militärischen
Gegners Rußland.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

russischen Besatzer war übrigens ein Vorgehen, welches nach der Anne-
xion im wesentlichen fortgeführt wurde.15
   In der sowjetischen Forschung bestand nach dem Zweiten Weltkrieg
Konsens, daß die Einverleibung der Krim in den russischen Staat in erster
Linie eine Wiedervereinigung mit altem, slavischen Siedlungsgebiet ge-
wesen und erst in zweiter Linie ökonomischen und strategischen Not-
wendigkeiten gefolgt sei.16 In den zeitgenössischen Debatten spielte das
erste Argument hingegen kaum eine Rolle, vielmehr dominierten teils
psychologische und teils politische17 Legitimationsstrategien gegenüber
den außen- und innenpolitischen Kritikern des Vordringens Richtung
Süden18; die endgültige Ausschaltung des über lange Jahre die Südgrenze
bedrohenden Chanats stand hierbei im Zentrum der Argumentation. Im
Kreise der Berater Katharinas II. bestanden durchaus divergierende Auf-
fassungen darüber, wie das Problem im Süden des Reichs dauerhaft und
zum Nutzen Rußlands zu lösen sei: Während der bis 1781 die russische
Außenpolitik gestaltende Nikita I. Panin19 für einen indirekten politisch-
militärischen Einfluß auf die Krim plädierte, sprach sich Michail L. Vo-
roncov – und bald auch Potemkin, unter dessen Ägide sich der bedeuten-
de „imperiale [...] Schub“20 des Rußländischen Reichs in dieser Phase
vollzog – für die direkte russische Herrschaft aus.
   Unmittelbar nach ihrer Thronbesteigung 1762 hatte Voroncov Kathari-
na II. ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes Memorandum vorge-
legt21, in dem das Problem der Existenz des Krim-Chanats im übergeord-

15 Als ein Höhepunkt wird von Vozgrin, Imperija, 18, und V.D. Jaremčuk/V.B. Bezver-
chyj, Tatary v Ukraϊne. Istoriko-politologičnyj aspekt (Tataren in der Ukraine. Der
histoisch-politologische Aspekt), in: Ukraïnskyj istoričnyj žurnal, 5(1994), 18-29, hier 21,
das 1833 auf Geheiß der Verwaltung erfolgte Einsammeln und Verbrennen krimtatari-
scher Bücher und Urkunden genannt.
16 Ein besonders typisches Beispiel dafür ist die Arbeit Nadinskijs, Bd. 1, 168.

17 So Fisher, Crimean Tatars, 51.

18 Hierzu immer noch maßgebend M.S. Anderson, The Eastern Question 1774-1923,

New York 1966, hier 1-27.
19 Panin stand für die Auffassung, daß die vitalen Interessen Rußlands im Norden

Europas lägen und Rußland somit eine ‚nordische’ Macht sei; eine Meinung, die letzt-
lich bis zum Ende des Krim-Krieg innerhalb Rußlands häufig anzutreffen war. Zum
Wandel der russischen kollektiven Eigenverortung von einer „nordischen“ zu einer
„östlichen Macht“ vgl. Hans Lemberg, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19.
Jahrhundert. Vom „Norden” zum „Osten” Europas, in: JfGOE 33(1985), 48-91.
20 Detlef Jena, Potemkin. Favorit und Feldmarschall Katharinas der Großen, München

2001, 352.
21 Diese Schrift wurde im Zarenreich wenigstens zweimal veröffentlicht: M.L. Voron-

cov, Opisanie sostojanija del vo vremeni Gosudaryni Imperatricu Elizavety Petrovny

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neten Kontext des russisch-osmanischen Verhältnisses dargestellt wurde.
Die die zeitgenössischen Debatten vor der Annexion dominierenden mili-
tärisch-sicherheitspolitischen und ökonomischen Darlegungen waren in
Voroncovs Ausführungen zentral. Oberstes Ziel müsse die Herauslösung
der Krim aus osmanischer Suzeränität sein: Solange die Halbinsel „in
türkischer Untertänigkeit bleibt, wird es für Rußland immer gefährlich
sein“, so seine Mahnung.22 Von den zur Grenzsicherung eingesetzten, als
streitsüchtig bezeichneten Zaporoger Kosaken sei für Rußland keine
wirkliche Entlastung zu erwarten, denn diese seien unzuverlässig und
neigten zu Eigenmächtigkeiten.23 Überhaupt befände sich im Süden alles
in Unordnung: Es sei wegen der Kosaken wiederholt zu kriegerischen
Auseinandersetzungen und „Scherereien“ („chlopoty“) mit der Pforte
gekommen.24 Das Krim-Chanat besaß, dies wird hier deutlich, nicht nur
hinsichtlich außenpolitischer und ökonomischer Interessen eine große
Bedeutung, sondern auch in innenpolitischer Hinsicht.25 Es zeigte sich, daß
Rußland den Zaporoger Kosaken solange regionale Sonderrechte gewähr-
te, solange es auf sie angewiesen war: Diese sicherten die südliche Grenze
und fungierten zudem als russische Emissäre beim Krim-Chan; somit

(Beschreibung der Lage der Dinge in der Zeit der Herrschaft der Kaiserin Elisabeth
Petrovnas), in: Archiv Knjaz’ja Voroncova, Bd. 25, Moskva, 308-310, sowie (und im
folgenden zitiert nach:) Doklad imperatrice Ekaterine II-oj po vstuplenii Eja na Prestol,
izobražajuščij sistemu Krymskich Tatar, ich opasnost’ dlja Rossii i pretenziju na nich. O
Maloj Tatarii (Bericht an Kaiserin Katharina II. nach Ihrer Thronbesteigung, das System
der Krimtataren schildernd, deren Gefährlichkeit für Rußland und die Forderungen an
sie. Über das Kleine Tatarien), in: ITUAK, 43(1916) 190-193. Es steht zu vermuten, daß
der Wiederabdruck im Ersten Weltkrieg dieses an die Illoyalität und Gefährlichkeit der
Krimtataren erinnernden Dokuments wohlkalkuliert war. Für Vozgrin, Sud’by, 259,
steht außer Frage, daß dieses Memorandum die Haltung Katharinas II. zur Krim-Frage
nachhaltig beeinflußt hat. Eine ähnliche Tendenz wie bei Voroncov findet sich auch bei
dem 1776 vorgelegten Memorandum A.A. Bezborodkos: N. Grigorovič, Kancler Knjaz’
A.A. Bezborodko v svjazi s sobytijami ego vremeni, (Der Kanzler Fürst A.A. Bezborod-
ko in Verbindung mit den Ereignissen seiner Zeit), in: SIRIO, 26(1892), 369.
22 Doklad imperatrice Ekaterine II-oj, 191.

23 Die Zaporoger Kosaken drangen häufig eigenmächtig in das Gebiet des Chanats vor.

Vgl. Fisher, Annexation, 25.
24 Doklad imperatrice Ekaterine II-oj, 190f.

25 Es wurde und wird trefflich darüber gestritten, ob die sich seit dem Ende des 17.

Jahrhunderts abzeichnenden Beziehungen zwischen der linksufrigen Ukraine, der sog.
Het’manščyna, und dem Gebiet der Zaporoger Sič einerseits und dem rußländischen
Staat andererseits als originär innenpolitische (russisch-nationale Lesart) oder als letzt-
lich gleichberechtigte (ukrainisch-nationale Lesart) zu beschreiben seien. Dies kann im
Rahmen dieser Arbeit nicht diskutiert werden.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

waren sie temporär nützlich. Langfristig strebte der absolutistische ruß-
ländische Staat aber nach Vereinheitlichung. Nachdem die russische Seite
nach dem erfolgreichen Krieg gegen das Osmanische Reich von 1768 bis
1775 im Süden keiner besonderen Verteidigung mehr bedurfte, wurde die
Zaporoger Sič 1775 aufgelöst.26 Daran zeigt sich, daß die russischen Ver-
antwortlichen in diesem und in anderen Fällen (wie dem krimtatarischen)
bei der Sicherung des Reichs grundsätzlich pragmatisch vorgingen. Der
antizipierte Nutzen (pol’za) zum Wohl des Imperiums war im Umgang
mit erworbenem Gebiet sowohl in der politischen Praxis als auch im
Krim-Diskurs zentral.
   In der Vorlage Voroncovs wurden die Krimtataren als wildes, sich
durch Raub und Plünderungen unterhaltendes und vor allen Dingen für
Rußland gefährliches Steppenvolk mit einer schlagkräftigen und äußerst
zahlreichen Reiterarmee charakterisiert; ein Topos, der selbst dann noch
ein Element des russischen Diskurses über die Halbinsel sein sollte, als
von einer unmittelbaren Gefährdung gar keine Rede mehr sein konnte.
Die später so zentralen Einschreibungen wie etwa die der Schönen Krim,
die auch landwirtschaftlich zu hohen Erwartungen Anlaß gab, spielten zu
diesem Zeitpunkt hingegen noch keine Rolle.
   In dem 1768 vom Osmanischen Reich Rußland erklärten Krieg wurden
die von Voroncov noch wenige Jahre zuvor eindringlich beschriebenen
krimtatarischen Reitertruppen kaum eingesetzt. Daran zeigt sich, daß sich
die ehemals engen militärischen Verbindungen zwischen dem Sultan und
dem Chanat gelockert hatten. Dies bedeutete aber nicht die Stärkung des
Chanats. Das Gegenteil war der Fall: Durch die schnelle Abfolge dreier
Chane zwischen 1768 und 1770, von denen einer unter mysteriösen Um-
ständen zu Tode gekommen war, und den Widerstand eines Teils der
Klan-Führer gegen die Entsendung militärischer Kräfte nach Norden, war
es eher geschwächt worden.27 Es zeigte sich zudem alsbald, daß der über
lange Zeit bewährte Trumpf gegenüber dem nördlichen Nachbarn, näm-
lich im Besitz einer leichten, mobilen Kavallerie zu sein, nicht mehr stach:
Nunmehr waren die russischen Truppen der Armee der Chane überlegen,
die sich nicht länger auf die russischen militärischen Schwierigkeiten
verlassen konnte.28 Es wurde unübersehbar, daß die Krim-Tataren im 18.
Jahrhundert im Vergleich mit Rußland von einem überlegenen zu einem

26 Vgl. hierzu einführend Orest Subtelny, Die Zeit der Het’mane (17.-18. Jahrhundert),
in: Frank Golczewski (Hg.), Geschichte der Ukraine, Göttingen 1993, 92-125, hier 112f.
27 Ich folge hier und im weiteren im wesentlichen Fisher, Annexation, besonders 28-64,

sowie Ders., Crimean Tatars, 52-57.
28 B. G. Williams, Crimean Tatars, 70f.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

„technologically simple people“ geworden waren.29 Russischerseits hatte
man aus den Fehlern der vor allen Dingen an Nachschubproblemen ge-
scheiterten vorherigen Feldzüge gelernt.
   Mit Hilfe der noch einmal instrumentalisierten Zaporoger Kosaken
kam 1770 schließlich ein Freundschafts- und Bündnisvertrag mit den zum
Krim-Chanat gehörenden, überwiegend nomadisch wirtschaftenden No-
gay-Tataren zustande.30 Nach Fisher hatte dieser Vertrag zwar eher die
Herauslösung der Nogayer aus der osmanischen Einflußsphäre zur Folge
als eine tatsächliche Allianz mit Rußland.31 Dennoch beschleunigte sich
der Prozeß der Schwächung des Chanats. Nachdem der gegenüber dem
Rußländischen Reich kooperationswillige Chan Kaplan Girej vom Sultan
durch einen Istanbul-treuen ersetzt worden war, nahmen die von Vasilij
M. Dolgorukov geführten russischen Truppen 1771 große Teile der Krim
ein, ohne auf wesentlichen Widerstand zu treffen. Diesmal wurde gegen-
über der Zivilbevölkerung vorsichtig agiert, welche nicht ein weiteres
Mal antirussisch gestimmt werden sollte.32 Ein von Dolgorukov im Na-
men Katharinas II. veröffentlichtes Manifest verbreitete sich so schnell
über die Halbinsel, daß von einer großen Zahl kollaborationswilliger, vor
allen Dingen hochgestellter Tataren ausgegangen werden muß.33 Es ver-
sprach dem Chanat die Wiedererlangung der im 15. Jahrhundert verlore-
nen Unabhängigkeit und stilisierte die Krimtataren zu unschuldigen
Sklaven der Pforte, welche durch den nördlichen Nachbarn befreit wor-
den seien.34 Hier deutet sich bereits ein grundlegender Wandel in der
Beschreibung des russisch-krimtatarischen Verhältnisses an, welches für
die russischen Krimdebatten des 19. Jahrhunderts kennzeichnend werden
sollte: Aus den russischen ‚Opfern’ waren aktive Gestalter der Beziehun-
gen gegenüber den langjährigen krimtatarischen ‚Tätern’ geworden. Das
Primat des Handelns war in russische Hände übergegangen. Krimtataren
sollte fürderhin in praxi als auch in den Debatten zumeist der reagierende
Part zukommen.
   Dieser Paradigmenwechsel wird beispielhaft in der zeitgenössischen
„Tageweisen Aufzeichnung der Reise seiner Durchlaucht Fürst Vasilij
Michailovič Dolgorukovs auf der Krimschen Halbinsel in der Zeit des

29 Vgl. hierzu Rein Taagepera, An Overview of the Growth of the Russian Empire, in:
Michael Rywkin (Hg.), Russian Colonial Expansion to 1917, London/New York 1987, 1-
7, hier 6, Anm. 1.
30 Diese bewohnten die südlichen Steppengebiete der heutigen Ukraine, Teile des Ku-

bans, das nördliche Ufer des Kaspischen Meeres sowie die Ebenen der nördlichen Krim.
31 Fisher, Separatism, 69f.

32 Ders., Annexation, 41.

33 Ders., Crimean Tatars, 54.

34 Vgl. den vollständigen Text in: SIRIO, Bd. 97, 245f.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

Feldzugs 1773“35 dargestellt, deren Veröffentlichung hundert Jahre später
den Triumph ein weiteres Mal spürbar werden ließ: Der Richtung Ba-
laklava vorrückende Dolgorukov hatte ein Treffen mit dem in Bachčisaraj
weilenden Chan abgelehnt. Dessen (nicht weiter ausgeführten) Vorschlä-
ge wurden zwar durch hochrangige murza vorgebracht, hätten aber nicht
„der Würde eines Feldherren der Russisch-Kaiserlichen Armee und des
Eroberers der Krim“ entsprochen, wie es hieß. Erst nachdem der Chan
seine „Halsstarrigkeit“ („uporstvo“) aufgegeben und „unsere Vorschlä-
ge“ angenommen habe, sei Dolgorukov huldvoll zu einem Treffen im
Chan-Palast bereit gewesen. Der Weg dorthin habe über sehr schlechte
Straßen geführt, so wurde betont. Diese vermutlich kriegsbedingten
Schäden wurden russischerseits allerdings als Folge der schlechten krim-
tatarischen Herrschaft über die Krim interpretiert.36 Das Treffen des Feld-
herren mit dem Chan wurde als ein Triumph Rußlands geschildert: Viele
Neugierige hätten die Wege gesäumt, um „ihren Besieger“ („ich pobedi-
tel’“) Dolgorukov zu sehen.37 Im Audienzsaal seien für diesen ein Sessel,
für seine Begleiter Stühle bereitgestellt worden. Der Chan nahm mit sei-
nem Wesir auf sehr flachen, teppichgleichen Sofas Platz und saß damit
niedriger als die russischen Militärs. In Unkenntnis der in muslimischen
Gesellschaften damals üblichen Sitzgelegenheiten nahm der russische
Verfasser diese auf krimtatarische Initiative gestaltete Choreographie als
Ausdruck der Anerkennung einer neuen Hierarchie. Damit korrespon-
dierte Dolgorukovs Meinung nach die vom Chan geäußerte Unterwürfig-

35 Podennaja zapiska putešestvij ego sijatel’stva Vasil’ja Michajloviča Dolgorukova v
krymskij poluostrov vo vremja kampanii 1773 goda, in: ZIOOIiD, 29(1872), Bd. 8, 182-
190. Vgl. auch „K istorii pograničnych našich snošenij s krymskim chanstvom. Putevoj
žurnal’ sekund-maiora Maty’ja Mironova, v komandirovke ego k krymskomu chanu
1755 goda” (Zur Geschichte unserer auswärtigen Beziehungen mit dem Krim-Chanat.
Das Reisejournal des Sekund-Mayors Matyj’ Mironovs, auf seiner Dienstreise zum
Krim-Chanat im Jahr 1755), in: KS, 4(1885), Heft 2, 339-356, hier 355f. Darin wird über
die Klagen des Chans über die fortwährenden Einfälle der Zaporoger Kosaken berich-
tet. Das Chanat stellte im Urteil Mironovs zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr für Ruß-
land mehr dar.
36 Den ‚Niedergang’ der Halbinsel unter tatarischer Herrschaft kommentierte der Ver-

fasser der „Tageweisen Aufzeichnung“ auch beim Anblick von Balaklava: Die Überre-
ste der über der Stadt gelegenen genuesischen Festung „zeigt die Überlegenheit des
früheren Zustands (unter seinen griechischen Bewohnern; K.S.J.) dieser Stadt gegen-
über dem jetzigen“ (185f.). Dem natürlichen, zwischen Bergrücken liegenden Hafen galt
der strategische Blick des Autors.
37 Ebd., 184.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

keit: Dieser habe sich gegenüber „unserer großherzigen Monarchin“
dankbar gezeigt, welche sein Volk unter ihren Schutz genommen habe.38
   Ein in der Folge zum ständigen Repertoire der Legitimierung des
Krim-Erwerbs zählendes Element ist, wie bereits angesprochen, das der
(Wieder-)Erlangung christlichen Bodens. Damit in engem Zusammen-
hang – und insbesondere von der sowjetischen Historiographie nach dem
Zweiten Weltkrieg betont, welche naturgemäß das religiöse Moment
nicht unterstrich – steht die These der Kontinuität einer flächendeckenden
slavischen Besiedlung der Krim wenigstens seit dem Mittelalter.39 So
stand für den russischen Universalgelehrten Michail V. Lomonosov in der
Mitte des 18. Jahrhunderts fest, daß die nach dem 4. vorchristlichen Jahr-
hundert auf der Krim siedelnden Sarmaten eigentlich Slaven gewesen
seien; eine Auffassung, die später dann von ihm zugunsten der Konstru-
ierung eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen den slavischen
Stämmen der Rus’ mit von Finnen abstammenden Skythen (!) revidiert
wurde.40 Auch auf diese Weise wäre die Kontinuität slavischer Bevölke-
rung am nördlichen Schwarzen Meer lange vor der Annexion ‚gesichert’
gewesen. Daß es diese vor dem Ende des 18. Jahrhunderts in einem grö-
ßeren Maßstab gegeben hat, dafür gibt es jedoch keine überzeugenden
Indizien. Hervorzuheben ist in jedem Fall die von Zeitgenossen, ein-
schließlich der Zarin selbst, konstruierte Verwandtschaft zwischen
Skythen und Slaven.41
   Bereits in der „Tageweisen Aufzeichnung“, welche ja nur für den in-
ternen Gebrauch bestimmt war, findet sich der Topos der Religion, der
eng mit der Annahme slavischer Besiedlungskontinuität verbunden ist.
Überdies wurde die Brücke zum Thema der Antiken Krim geschlagen:
Unweit des „kleinen griechischen Dorfes Ach-jar (Achtijar, dem späteren

38 Ebd., 185.
39 Der postsowjetische Historiker Djuličev datiert das erste Erscheinen von Slaven auf
der Krim bereits ins „erste Jahrhundert unserer Zeit“ (126). Im vorliegenden Material
finden sich mit der sog. Anten-Theorie, nach der die ab dem 6. Jahrhundert die heutige
Südukraine besiedelnden Anten Ur-Ukrainer gewesen seien, auch nationalukrainische
Positionen. Vgl. z. B. „Smena narodnostej v južnoj Rusi. Istoriko-ėtnografičeskie zamet-
ki” (Der Bevölkerungsaustausch in der südlichen Rus’. Historisch-ethnographische
Bemerkungen), in: KS, 2(1883), Heft 6, 399-452, hier 399. Diese Auffassungen werden
von der heutigen Forschung verworfen. Vgl. z.B. Gertrud Pickhan, Kiewer Rus’ und
Galizien-Wolhynien, in: Golczewski, 18-36, hier 20.
40 Vgl. hierzu Yurij Slezkine, Naturalists versus Nations: Eighteenth-Century Russian

Scholars Confront Ethnic Diversity, in: Brower/Lazzerini, 27-57, hier 50 und 57. Es sei
zudem erwähnt, daß Lomonosov sein 1750 verfaßtes, fiktive und historische Elemente
vereinigendes Schauspiel „Tamira und Selim“ auf der Krim spielen ließ.
41 Vgl. hierzu auch Zorin, Kormja, 110.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

Sevastopol’; K.S.J.)“ befinde sich „Cherson, die älteste aller Krim-Städte.
Diese sei schon in der Zeit der persischen Monarchie gegründet worden
und berühmt für die Taufe des russischen Großfürsten Vladimir.“42 Der in
der sog. Korsuner Legende der „Erzählung der vergangenen Jahre“ („Ne-
storchronik“) aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts überlieferte Übertritt
Vladimirs zum Christentum um das Jahr 988 und damit die Christianisie-
rung der Kiever Rus’ ist genauso wenig umstritten wie sein Aufenthalt in
Chersones. In neueren Forschungen wird aber davon ausgegangen, daß
Vladimir sich bereits vor Beginn des Feldzugs in Kiew hat taufen lassen
und nicht erst in Chersones.43 Wie dem auch sei, die Bedeutung des Mo-
tivs der Rechtgläubigen und Slavischen Krim im russischen Diskurs ist ele-
mentar für die Konstruktion eines Geschichtsbildes, welches das kontinu-
ierliche Streben eines jeden russischen Staates44 zum Schwarzen Meer
legitimieren sollte. Es ist bereits im Vorfeld der Annexion angelegt.
   Das für die späteren Debatten so typische Motiv der Krim als Wiege
des russischen Christentums zeigt sich schon im Briefwechsel zwischen
Potemkin und Katharina II. von 1783. Es steht wiederum nicht allein,
sondern wird mit anderen, z.T. bereits eingeschriebenen, z.T. neuen Ele-
menten verbunden. Während im Vorfeld der Annexion strategisch-
militärische Aspekte überwogen, lenkte der Fürst das Augenmerk der
Zarin nach dem Vollzug alsbald auf andere Facetten des Neuerwerbs: Das
taurische Chersones, „der Ursprung unseres Christentums und damit
auch der Humanität“, sei nun endlich Teil Rußlands. Katharina habe dem
einstigen Tyrannen Rußlands, den Tataren, die Grundlage entzogen. Die
jetzige Grenze verspreche dem Imperium Frieden, das Entsetzen der os-
manischen Pforte und den Neid Europas.45 Während die Sicherung des
Südens gegen Istanbul eine hinlänglich eingeschriebene strategisch-
sicherheitspolitische Argumentation war, birgt der „Neid Europas“ auf
die Halbinsel im Schwarzen Meer eine neue Qualität. Insbesondere im
Zusammenhang mit der Schönen Krim sollte dieser Topos in vielfältiger
Weise und Güte ausgestaltet werden. Die Korrespondenz zwischen Ka-
tharina und dem nachmaligen „Fürsten von Taurien“ vereinigt ohnehin

42 Podennaja zapiska, 186. Gemeint ist Chersones, nicht das 1778 gegründete „Cherson“
am nördlichen Schwarzen Meer. An der Stelle des hier genannten „Ach-jar“ wurde
bereits 1783 der russische Kriegshafen von Sevastopol’ gegründet.
43 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel IV. 1.

44Der Umstand, daß die Kiever Rus’ für die russische bzw. (post-)sowjetische National-

geschichtsschreibung ebenso als ‚ur-russicher’ Staat reklamiert wird wie von der ukrai-
nischen Historiographie seit Hruševs’kyj als ‚ur- ukrainischer’, sei hier nur erwähnt.
45 Potemkin an Katharina, 5.8. 1783, in: Ekaterina II i G.A. Potemkin. Ličnaja perepiska

1769-1791 (Der persönliche Briefwechsel 1769-1791). Izdanie podgotovil V.S. Lopatin,
Moskva. 1997, Brief 674, 180f.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

eine Fülle von Topoi über die Krim, welche als geradezu stilbildend gel-
ten können. Nach dem Selbstverständnis der Zarin als aufgeklärte, den
verschiedenen Völkern und Religionen gegenüber aufgeschlossene Herr-
scherin wurde dieses von Potemkin angeführte Motiv der Rechtgläubigen
Krim als Legitimation für die Annexion der Krim aber zu diesem Zeit-
punkt noch nicht besonders strapaziert.46
   Vorerst stand die vollständige, auch staatsrechtliche Inkorporation des
Krim-Chanats in den rußländischen Staat jedoch noch nicht auf der politi-
schen Agenda. In dem im Juli 1774 zwischen St. Petersburg und der Ho-
hen Pforte geschlossenen Friedensvertrag von Kjučuk-Kajnardžie47 erhielt
das Rußländische Reich u.a. an der Dnepr-Mündung Zugang zum
Schwarzen Meer sowie zu Teilen des Nordkaukasus und durfte in den
bislang von der Pforte kontrollierten Gewässern freien Handel betreiben.
Das Krim-Chanat wurde als ein von beiden Großmächten unabhängiger
Staat implementiert, stand tatsächlich allerdings bereits unter starkem
russischem Einfluß. Dies zeigte sich u.a. darin, daß die bisher von den
Osmanen gehaltenen Festungen der Halbinsel wie die strategisch wichti-
gen Städte Kerč‘, Enikale und Kinburn in russische Hände übergegangen
waren. Immerhin behielt der Sultan in Rückbesinnung auf seine Kalifen-
Würde in religiösen Angelegenheiten einen gewissen Einfluß auf die
Verhältnisse der Halbinsel. Schon deshalb kann von einer völligen Nie-
derlage der Pforte einerseits und einem totalen russischen Triumph ande-
rerseits durch den Friedensschluß von 1774 nicht gesprochen werden.48
   Das russische Primat der Befriedung der Südgrenze wurde, so zeigte
sich alsbald, durch den Friedensschluß nur unvollständig umgesetzt.
Noch während der Vertragsverhandlungen wurde der russische Gesand-

46 Richard S. Wortman, Scenarios of Power. Myth and Ceremony in Russian Monarchy,
Bd. 1, From Peter the Great to the Death of Nicholas I, Princeton 1995, 138f.: „The em-
press followed the myth of empire, not the universal Christian Empire, but a Roman
Empire, led by an enlightened monarch and an enlightened administrative elite, bring-
ing the benefits of law and improved material life to the new territories.”
47 Hierzu immer noch grundlegend E.I. Družinina, Kjučuk-Kajnardžijskij mir 1774 goda.

Ego podgotovka i zaklučenie (Der Frieden von Kjučuk-Kajnardžie 1774. Seine Vorberei-
tung und der Abschluß), Moskva 1955. Nach M.S. Anderson, Question, XI, gilt dieser
als einer der wichtigsten Friedensschlüsse der europäischen Diplomatiegeschichte
überhaupt.
48 Vgl. hierzu R.H. Davison, Russian Skill and Turkish Imbecility. The Treaty of Kut-

chuk Kainardji Reconsidered, in: Slavic Revue, 35(1976), 463-483, welcher der Auffas-
sung widerspricht, daß dieser Vertrag ein totaler russischer Triumph gewesen sei. Diese
Meinung beruhe u.a. auf Übersetzungsfehlern. Vgl. die Gegenposition bei Edward
Weisband, Turkish Foreign Policy 1943-1945. Small State Diplomacy and Great Power
Politics, Princeton 1973, 211.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

te in Bachčisaraj, P.G. Veselickij, auf Anordnung von Chan Sahib Girej
verhaftet; ein Vorkommnis, welches die Zarin offenbar zwang, die Ver-
hältnisse auf der Halbinsel einer abermaligen Prüfung zu unterziehen.49
Einer ihr von einem Teil ihrer Ratgeber empfohlenen und aufgrund der
obwaltenden außenpolitischen Verhältnisse möglichen Annexion bereits
zu diesem Zeitpunkt widersetzte sie sich jedoch vorerst noch.50
   Die hier nur kurz zu skizzierenden inneren Verhältnisse in dem nun
formell unabhängigen Chanat gestalteten sich unübersichtlich und damit
für St. Petersburg mittelfristig unkalkulierbar. Der auf eine Revision des
Vertrags von Kjučuk-Kajnardžie abzielenden Politik des Krim-Chans
Devlet-Girej stand Rußland zum einen wegen innenpolitischer Verwick-
lungen durch den Pugačev-Aufstand 1773/1774 anfänglich abwartend

49 Fisher, Crimean Tatars, 57. Unmittelbar an die „Tageweise Aufzeichnung” druckten
die ZIOOIiD einen zeitgenössischen Rapport. Die Herausgeber wählten den Titel „Auf-
ruhr der Tataren“ (Vozmuščenie Tatar, in: ZIOOIiD, Bd. 8(1872), 188-190) In einer re-
daktionellen Anmerkung heißt es u.a., daß nicht nur der Konsul selbst, seine Beamten
und die Dienerschaft verhaftet worden seien, sondern sogar die schwangere Frau Vese-
lickijs. Nur aufgrund der muslimischen Gesetze, welche die Tötung schwangerer Frau-
en und ihrer Ehemänner bis sechs Wochen nach der Geburt verbiete, sei das Ehepaar
am Leben geblieben und habe nach dem Friedensschluß durch russische Truppen
befreit werden können. Veselickijs Sohn Gavril sei im Vaterländischen Krieg „einer der
besten Artillerie-Generäle“ geworden (188, Anm.*). Unzuverlässigkeit und Grausam-
keit werden hier als typisch krimtatarische Eigenschaften beschrieben.
50 Auch für den profundesten Kenner der Geschichte der Krimtataren – Alan Fisher –

bleibt dies, wie er selbst eingesteht, eine letztlich ungelöste Frage: Vgl. z.B. Ders., Cri-
mean Tatars, 214, Anm. 71. Fisher vermutet an anderer Stelle („Şahin Girej, the Refor-
mer Khan, and the Russian Annexation of the Crimea, in: JfGOE, 15(1967), S. 341-364,
hier 342), daß Katharina als eine ihrem Verständnis nach aufgeklärte Herrscherin eine
Alternative zur gewaltsamen Lösung der südlichen Grenzfrage durch die Einsetzung
Şahin Girejs erproben wollte. Ähnlich auch Edward L. Lazzerini, The Crimea under
Russian Rule. 1783 to the Great Reforms, in: Michael Rywkin (Hg.), Russian Colonial
Expansion to 1917, London 1988, 123-138, hier 124. Nach der Annexion gab es auf der
Krim keine ernsthaften Christianisierungsversuche – anders als etwa im 16. Jahrhundert
nach der Einverleibung der Volga-Region. Diese Tatsache interpretieren Alexandre
Bennigsen und Marie Broxup (The Islamic Threat to the Soviet State, New York 1993,
17f.) als Zeichen des respektvollen Umgangs der Zarin gegenüber nicht-christlichen
Religionen. In der Forschung wird nicht ausgeschlossen (Fisher, Crimean Tatars, 55;
B.G. Williams, Crimean Tatars, 77, Anm. 8), daß die ‚Schwäche’ der Zarin für den gut-
aussehenden Şahin ein Grund für das lange Festhalten an seiner Person und damit der
Existenz des unabhängigen Krim-Staats gewesen sei. Damit würde eine Parallele zum
Fall des polnischen Königs und Exfavoriten Katharinas, Stanisław Poniatowski, beste-
hen.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

entgegen.51 Zum anderen sah es sich in der Krim-Frage mit der Pforte
zumindest hinsichtlich der Ablehnung der von Devlet-Girej gewünschten
Einrichtung eines Erb-Chanats auf einer Linie.52 Daran zeigt sich, daß
beide Großmächte und zudem die mächtigen Klans an einer Konsolidie-
rung der Verhältnisse im Chanat nicht interessiert waren. Ende 1776
schließlich schien die bislang nur „halbherzig“ erfolgte Lösung der Krim-
Frage53 endgültig im russischen Sinn entschieden werden zu können:
Finanziell bedrängt und ohne innenpolitische Unterstützung fehlte Dev-
let-Girej der Beistand des in einen neuerlichen Krieg mit Persien verstrick-
ten Osmanischen Reichs. In dieser Situation verfügte Katharina II. die
Invasion der Halbinsel mit dem Ziel, den dezidiert prorussischen Şahin-
Girej als Chan einzusetzen und war damit erfolgreich. Sie bediente sich
dabei abermals der militärischen Unterstützung der Nogay-Tataren. Der
neue Chan machte sich seinerseits an eine grundlegende Umgestaltung
der politischen, militärischen, ökonomischen und außenpolitischen Ver-
hältnisse. Wie sein Vorgänger strebte er nach einem Erb-Chanat und einer
damit verbundenen Beschneidung der Macht der einflußreichen Klans
und hohen muslimischen Würdenträger. Er wandte sich gegen die reli-
giöse Oberherrschaft des Kalifen, also des osmanischen Sultans, und for-
derte überdies die mit dem Vertrag von 1774 an die Pforte gefallenen
Gebiete zurück, u.a. im Kuban. In einer in westliche Uniformen gekleide-
ten Armee sollten auch Christen dienen, welche überdies fürderhin mit
der gleichen Steuerlast – und nicht wie bislang mit höheren Abgaben –
wie die muslimische Bevölkerung belegt werden sollten. Parallel dazu
begann Rußland mit Billigung des Chans mit der Ansiedlung slavischer
und griechischer Kolonisten – den sog. albancy -, die nach Einschätzung
Fishers keine gewöhnlichen Siedler, sondern pro-russische Militärs wa-
ren.54 Damit wurde an die alte Tradition der Militärgrenze angeknüpft.
Diese auf Endtraditionalisierung und Autokratisierung ausgerichteten
Maßnahmen des Chans gingen einem einflußreichen Teil der krimtatari-
schen Gesellschaft entschieden zu weit: Innerhalb von nur sechs Monaten

51 Vgl. hierzu Michail Senjutkin, Voennye dejstvija Doncov protiv Krymskogo chana
Devlet-Gireja i samozvanca Pugačeva v 1773 i 1774 godach (Das kriegerische Vorgehen
der Don-Kosaken gegen den Krim-Chan Devlet Girej und den Usurpator Pugačev in
den Jahren 1773 und 1774), in: SOV, 19(1854), Heft 8, 4. Abt., Nauki i chudožestva, 43-
131. Hier wurden die russische Ängste vor der pugačevščina und vor unzuverlässigen
Krimtataren beschworen, dem die gottgläubigen und patriotischen Don-Kosaken tapfer
begegnet seien. Der Umstand, daß sich einige von ihnen auf Seiten Pugačevs geschla-
gen hatten, wird nicht erwähnt.
52 Fisher, Annexation, 69.

53 So Djuličev, 215.

54 Fisher, Annexation, 90f.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

nach der mit russischer Hilfe erfolgten Einsetzung Şagin-Girejs brach eine
Revolte aus, die von russischen Truppen und mit Hilfe der albancy schnell
und z.T. mit großer Brutalität niedergeschlagen wurde.55
   Katharina II. zeigte sich indes immer noch nicht willens, dem so gro-
ßen inneren Widerständen ausgesetzten Chan die Unterstützung zu ver-
sagen. Şagin-Girej bekam eine zweite Chance und nahm seine umstritte-
nen Reformpläne wieder auf. Seine Abhängigkeit von russischen Waffen
und Finanzen ignorierend, zeigte er sich gleichzeitig gegenüber mäßigen-
den russischen Ratschlägen unzugänglich. Die Ungeduld in St. Peters-
burg wuchs, zumal es im Sommer 1782 abermals zu Aufständen auf der
Halbinsel kam. Ein drittes Mal halfen russische Truppen, diesmal unter
der Führung Potemkins, Şagin-Girej wieder einzusetzen. Im Kontakt mit
hohen krimtatarischen Würdenträgern überzeugte sich Potemkin offen-
bar, daß es auf der Krim durchaus Fürsprecher eines direkten Anschlus-
ses an das Rußländische Reich gab.56 Schließlich gelang es ihm und ande-
ren ‚Falken’ wie Alexander Bezborodko die Zarin zur Annexion und dem
bereits erwähnten Manifest vom April 1783 zu bewegen.57 Das Zwischen-
spiel eines unabhängigen Krim-Staats war damit beendet.
   Unabhängig davon, welche Motive die Zarin letztlich bewogen hatten,
dieses ‚Experiment’ eines zumindest de jure unabhängigen Krim-Staates
fast eine Dekade lang zu gestatten – die Erprobung alternativer, indirek-
ter Herrschaftsausübung, religiöse Toleranz, sentimentale Gefühle für
einen (angeblichen) ehemaligen Geliebten o.ä. – die russische Krim-Politik
zeugte in dieser Phase von einer fundamentalen Unkenntnis dieses Ge-
biets und seiner Bewohner. Das Wissen über die Krim war mehr als ru-
dimentär, wenn es nicht ihren strategischen und ökonomischen Wert
betraf oder die ‚gelernte’ Angst als ein im Sinne Reddys kollektiv erlern-
tes Gefühl vor wilden und räuberischen Tataren. Die hartnäckige Unter-
stützung des sich am russisch-autokratisch-zentralistischen Modell orien-
tierenden Şagin-Girej ignorierte die Grundlage des Selbstverständnisses
der krimtatarischen Oberschicht im 18. Jahrhundert. Die Identität der
vormodernen krimtatarischen Gesellschaft basierte auf sich überlappen-
den Loyalitäten gegenüber dem Klan, dem Chan, der einflußreichen ule-
ma (Geistlichkeit), dem osmanischen Sultan und den verschiedenen „sub-
ethnic group[s].“58 Hier liegt übrigens ein wesentlicher Grund für das
internalisierte Mißtrauen, das im russischen Krimtataren-Diskurs des 19.
Jahrhunderts zum Ausdruck kommt: Dieses plurale Beziehungs- und
Loyalitätsprinzip bestand nämlich bis weit in das 19. Jahrhundert fort.

55 Ebd., 94, sowie Ders., Crimean Tatars, 66.
56 Vgl. ebd. 68.
57 So Ders., Annexation, 136.

58 B.G. Williams, Crimean Tatars, 76.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

Denn obwohl nun dem jeweiligen Zaren zumeist mit besonderer Treue
gedient wurde, blieben Krimtataren im mehr und mehr nach Eindeutig-
keit strebenden russischen kollektiven Denken als unzuverlässig einge-
schrieben. Geteilte Loyalitäten waren darin nicht vorgesehen und wurden
als Unzuverlässigkeit oder sogar Feindschaft ausgelegt.59
   Im unabhängigen Chanat mußte die angestrebte Entmachtung des di-
van, des ratgebenden Gremiums des Chans, und der beys, der Klan-
Führer, die Gleichberechtigung der zwar nicht verfolgten, aber grund-
sätzlich als unterlegen angesehenen „Ungläubigen“, d.h. aller Nicht-
Muslime, sowie die Stärkung des nicht-muslimischen Elements durch
Einwanderung den Widerstand der traditionellen Gruppen hervorrufen.
Die russische Seite erkannte dies nicht: Die Heterogenität innerhalb des
Chanats, vor allen Dingen die starken Unterschiede zwischen seßhaften
Krimtataren und nomadischen Nogayern und die Konflikte zwischen der
Institution des Chans und den mächtigen Klans, wurde nur unzureichend
reflektiert.60 Die auf russischen Wunsch erfolgte Aussiedlung christlicher
Krim-Bewohner im Jahr 1778 schließlich, die wohl als einzige Gruppe ein
originäres Interesse an den Reformen Şagin-Girejs gehabt haben dürfte
und als dessen Unterstützer hätte fungieren können, schwächte das Re-
gime zusätzlich; dies kann bereits als ein Wandel der Politik Katharinas in
dieser Frage interpretiert werden.61
   In den Debatten des Untersuchungszeitraums wird dieser Exodus zu-
meist als präventive Schutzmaßnahme gegen die angebliche vollständige
Tatarisierung62 oder als Folge muslimischer Bedrückung bezeichnet.63 Ob
die schließlich erfolgte Annexion von 1783 mit dem vieldiskutierten sog.
Griechischen Projekt in Verbindung gebracht werden muß, dem erstmals
von Minich formulierten Plan der ‚Befreiung Konstantinopels von den
Türken’ und der Errichtung eines unter russischem Einfluß stehenden
Kaisertums, wird kontrovers diskutiert.64 Daß mit diesen Überlegungen

59 Vgl. hierzu Kapitel III. 3.
60 Fisher, Sahin Girej, 342.
61 Andreev, 186, interpretiert dies als bewußte Maßnahme zur Schwächung des Krim-

Chanats.
62 F. Chartaraj, Istoričeskaja sud’ba krymskich tatar (Das historische Schicksal der Krim-

tataren), in: VE, 1(1866), 182-236; 2(1867), 140-174, hier 153.
63 Gavril, Archiepiskop Chersonskij i Tavričeskij, Pereselenie grekov iz Kryma v

azovskuju guberniju i osnovanie Gotfijskoj i Kafijskoj eparchii (Die Umsiedlung der
Griechen aus dem Gouvernement Azov und die Gründung der Gotfisker und Kafisker
Eparchie), in: ZIOOIiD, 1(1844), 197-204.
64 Nach Fisher, Annexation, 153, markiert das Jahr 1783 erst den Anfang der Umsetzung

dieser bereits länger diskutierten Pläne. Die Annexion selbst habe damit nicht in Ver-

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

jedoch eine „ernst zu nehmende Expansionsidee“65 formuliert worden
war, welche durch die Kolonisierung des Südens, der Reformierung der
russischen Streitkräfte und dem Aufbau einer Flotte realistische Grundla-
gen besaß, ist unbestritten.
   Für die krimtatarische Nationalgeschichtsschreibung gilt Şagin-Girej in
Übertragung eines modernen Wertekanons auf eine vormoderne Gesell-
schaft des 18. Jahrhunderts als Verräter nationaler Interessen und damit
als nicht traditionsfähig.66 Unbelastete Historiker schließen sich, wenn
auch aus anderen Gründen, einem grundsätzlich negativen Urteil zumeist
an67 oder sehen ihn positiv als einen Modernisierer, der für einen gewis-
sen Zeitraum die einzige Alternative zur direkten russischen Herrschaft
geboten habe.68 Russische Autoren im Zarenreich betonten oftmals die
positive Rolle Şagin-Girejs als Unterstützer der Zarin und führten diese
seine Haltung u.a. auf seine ‚westliche’ Erziehung, insbesondere seine
Kenntnisse des Griechischen und Italienischen, zurück.69 Gegen diese
aufgeklärte Lesart einer Zivilisierbarkeit ‚wilder‘ Tataren durch westliche
Bildung erhob sich im Zarenreich allerdings auch Widerstand.70 Konsens
war jedoch, daß das unabhängige Chanat eine Anomalie und die Einglie-
derung in das Imperium ein natürlicher Prozeß gewesen sei.71
   Nicht nur aus westeuropäischer Perspektive, sondern sogar aus dem
Blickwinkel des russischen Zentrums war die Halbinsel im Schwarzen
Meer in viel grundsätzlicherer Hinsicht eine terra incognita als es die Un-
kenntnis über die komplexe, im Vergleich mit Rußland plurale krimtata-
rische Gesellschaftsstruktur offenbarte. Unbekannt war die Krim auch in
prinzipieller, etwa geographischer oder klimatischer Hinsicht. Auch für
dieses Territorium gilt, was Bassin in seiner Arbeit über einen anderen

bindung gestanden. Vgl. hierzu auch Edgar Hösch, Das sog. ”Griechische Projekt”
Katharinas II, in: JBfGOE, 12(1964), 168-206.
65 Jena, 160.

66 Vgl. hierzu B.G. Williams, Crimean Tatars, 80.

67 So z.B. Fisher, Annexation, 151f.: Şahin Girej „had misunderstood the basic realties of

Crimean society, that the nobles and the ulema (the Islamic ‚clergy’) possessed substan-
tial power. One could not remake Crimean society from a pluralistic one into an auto-
cratic one with no native support, or without complete Russian military aid.“
68 B.G. Williams, Crimean Tatars, 78.

69 F.F. Laškov, Šagin-Girej. Poslednij krymskij chan (Šagin-Girej. Der letzte Krim-Chan),

in: KS, 5(1886), Heft 9 36-80.
70 Vgl. z. B. die Rezension zu Laškov: Z. A., Šagin-Girej. Poslednij krymskij chan. Istori-

českij očerk F. Laškova (Šagin-Girej. Der letzte Krim-Chan. Ein historischer Abriß von F.
Laškov), Kiev 1886, in: IV, 8(1887), Heft 7, 202-203. Der Rezensent beklagte das positive
Urteil Laškovs über den Chan, der gänzlich unbegabt und lächerlich gewesen sei.
71 Vgl. hierzu auch Kapitel IV.

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I. Der russische Krim-Diskurs im 18. Jahrhundert

kolonialen russischen Erwerb, die Amur-Region, festgestellt hat: Dieses
war ein Enigma, „[therefore] it could provide such rich and yielding mate-
rial for the Russian imagination in the first place.“72
   Eine sich kulturell den Phänomenen des Imperialismus und Kolonia-
lismus nähernde Wissenschaft hat wiederholt auf den Zusammenhang
von Expansion und der Professionalisierung von Wissenschaft hingewie-
sen.73 Dieser ging es oftmals weniger um das einfühlende Verstehen in die
autochthone Bevölkerung, sondern um handfeste Kenntnisse, welche bei
der Beherrschung und Nutzbarmachung neuer Territorien helfen sollten.
So etwa im russischen Fall: Gegen Ende der Regierungszeit Elisabeth
Petrovnas (1741-1762) war von Privatpersonen ein verstärktes Interesse
am Überseehandel Richtung Süden formuliert worden. Ein Resultat war
die Inauftraggabe einer Studie über neue Handelsrouten zwischen
Het’manat und Konstantinopel durch Handelskammer und Senat im Jahr
1759.74 Diese Routen würden auch das Gebiet des Krim-Chanats berühren
und deshalb – the flag follows the trade – besondere militärische Schutz-
maßnahmen erfordern. Der 1762 vorliegende, in einem optimistischen
Grundton verfaßte Bericht des Hofrats Dmitrij Ladygin soll sofort das
Interesse der neuen Zarin Katharina II. geweckt haben. Die Aussicht auf
einen profitablen Schwarzmeerhandel hatte zudem den Beginn des Rus-
sisch-Osmanischen Kriegs von 1768-1774 begünstigt.75 Alsbald zeigte sich
bei diesem Waffengang schmerzlich die russische Unkenntnis des Kriegs-
schauplatzes: Die Zarin und ihre Berater hatten nur unklare Informatio-
nen über die Kampfzone an der nördlichen Schwarzmeerküste, an die die
russische Flotte ohne entsprechendes Kartenmaterial entsandt worden
war.76 Abhilfe mußte geschaffen werden.
   Die Relevanz von Land- und Seekarten war bereits von den Vorgän-
gern der Zarin grundsätzlich erkannt worden: Die bereits von Peter I.

72 Bassin, Visions, 5.
73 Vgl. hierzu die in der Einleitung genannten Arbeiten.
74 An dieser Stelle ist zu bemerken, daß in den hier vorliegenden russischen Quellen die

‚Realität’ Istanbuls nicht anerkannt wurde: Durchgängig wird, wie übrigens auch in
den meisten Arbeit westeuropäischer Provenienz, „Konstantinopel“ oder aber
„Car’grad“ (russ.: Kaiserstadt) verwandt.
75 Hierzu und zum Bericht Ladygins vgl. Robert E. Jones, Opening a Window on the

South: Russia and the Black Sea 1695- 1792, in: Maria di Salvo (Hg.), A Window on
Russia. Papers from the V. International Conference of the Study Group on 18th-
Century Russia in Gargnano 1994, Milan/Rome 1996, 123-129, hier 125f.
76 Aleksey K. Zaytsev, The Three Earliest Charts of Akhtiar (Sevastopol’) Harbour, in:

Imago Mundi, 52(2000), 112-123, hier 113f. Sogar der russische Botschafter in London
wurde während des Kriegs mit der Suche nach geeigneten Seekarten für das Militär
beauftragt (114).

      Kerstin S. Jobst, Die Perle des Imperiums
      Copyright by UVK 2007
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