Im Abseits Marginalisierte Männlichkeiten* in Zeiten von Corona - G mit Niedersachsen
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Im Abseits Marginalisierte Männlichkeiten* in Zeiten von Corona Manfred Brink 16.06.2020 Von welchen Männern* wurde und wird in alles wie gewohnt und sonnen sich im medi- Zeiten von Corona hauptsächlich in den Me- alen Rampenlicht. dien gesprochen und geschrieben? Schlie- ßen wir die Augen und begeben wir uns auf Doch nicht nur männliche* U35-Millionäre eine Reise: Sehen und hören Sie auch gera- stehen in den letzten Wochen im Ram- de vor allem Ministerpräsidenten, Virologen penlicht. Geht es um die Verbreitung und und Profifußballer? Was könnte bedenklich Verkündung von Meinungen, Entscheidun- sein an der medialen Omnipräsenz dieser gen und Umsetzungen in – gerade auch in Männer*? Welche anderen Männer* und For- Krisenzeiten – gesamtgesellschaftlich re- men von Männlichkeit* sehen und hören wir levanten Feldern wie Politik, Wissenschaft gerade wenig oder gar nicht? Und warum ist und Wirtschaft, sehen und hören wir mehr- auch das bedenklich? heitlich Männer* und dabei eine größten- teils weiß-privilegierte Männlichkeit*. Viele Thomas Müller und Timo Werner: Männer*, dieser Männer* inszenieren sich oder werden die im Abseits stehen können. Denn seit inszeniert als „Macher, Beschützer, Experten“, einigen Wochen hat die höchste Spielklasse die uns sicher durch die Krise führen. Bei des Männer*fußballs in Deutschland wieder einigen von ihnen steigen Bekanntheits- und das Betriebsgeschäft aufgenommen. Wäh- Beliebtheitswerte himmelhoch. Und einer rend meine Tochter beim Mädchen*fußball von ihnen wird schon fast auf Händen ins nach wie vor nur Ball- und Laufübungen Kanzleramt getragen. ohne Körperkontakt und nur Trainingsein- heiten absolvieren darf, dürfen und machen männliche* Fußballmillionäre wieder (fast) 1
Abseits des Rampenlichts damit die teils skandalösen Arbeits- und Le- bensbedingungen von Erntehelfenden medial Lassen wir uns von den vielen vermeintli- mehr Aufmerksamkeit bekommen (taz 2020). chen oder wirklichen Lichtgestalten nicht allzu lange blenden und richten wir unser Zwischen März und Mai 2020 konnten mehr Hauptaugenmerk weg von der großen Bühne als 100.000 Saisonarbeitende, unter der Ein- hin zu den Nebenschauplätzen, die allenfalls haltung von Hygieneauflagen, nach Deutsch- schwach ausgeleuchtet sind. land einreisen (ebd.). Die Erntearbeit ist hart, schlecht bezahlt und die Unterbringung in Weniger bis gar nicht sichtbar sind in diesen Mehrbettzimmern widerspricht allgemeingül- Zeiten marginalisierte Männer*. Männer*, die tigen Gesundheitsschutzmaßnahmen. schon vor der Corona-Krise an den Rand ge- Seitens der Agrarwirtschaft und -politik wurde drängt wurden und nun sogar Gefahr laufen, mit der Angewiesenheit der Aushilfskräfte auf vollends ausgeblendet zu werden. Geflüchtete Jobs und mit ihrer Gesundheit gespielt, damit Männer* beispielsweise, die alleine oder mit die hiesige Landwirtschaft auch in Zeiten von ihren Familien in Deutschland in beengten – Corona keine oder nur einen geringen Ernte- in Corona-Zeiten nochmals verstärkt gesund- ausfall zu vermelden hat (ebd.). heitsgefährdenden – Sammelunterkünften untergebracht sind, in denen die Einhaltung von Eigen- und Gemeinschaftsschutzregeln Volle Mägen. Leere Herzen. schwierig bis unmöglich gemacht wird. Verlassen wir die Spargelhöfe und werfen wir einen Blick auf die Schlachthöfe. Die Arbeits- Wie skandalös die Unterbringungsverhältnis- und Gesundheitsschutzbedingungen in der se für viele geflüchtete Menschen in Samme- Fleischindustrie sind medial in den letzten lunterkünften sind, ist ein Thema, das meist Wochen ein Thema geworden, weil durch nur medial auftaucht, wenn Engagierte und hohe Covid-19-Infektionszahlen in den Bran- soziale Organisationen die Zustände skanda- chenbetrieben wiederum eine „allgemeine“ lisieren oder wenn eine „allgemeine“ Gesund- erhöhte Gesundheitsgefahr auch außerhalb heitsgefahr außerhalb der Sammelunterkünf- der Betriebe befürchtet wurde. te zu vermuten ist. Die Stimmen geflüchteter Die teils eklatanten Missstände bzgl. Bezah- Menschen finden kaum Gehör. Der diskrimi- lung, Unterbringung und gesundheitsgefähr- nierende und rassistische Umgang mit ihrer dender Arbeitsbedingungen in der Fleischin- Gesundheit ist nicht bühnentauglich. dustrie tätiger Menschen waren schon vor der Corona-Krise bekannt. Skandalisiert wurden Leben in Sammelunterkünften? Unter sie selten. Große Veränderungen gab es kaum. schlechten bis katastrophalen Hygiene-Be- dingungen? Das kennen viele der mehr als Aktuelle Einblicke in das System „Fleischin- 300.000 Saisonkräfte aus beispielsweise dustrie“ lesen sich wie Fragmente aus dem Rumänien, die jährlich nach Deutschland kapitalismuskritischen Roman „Der Dschun- kommen, um Spargel zu stechen, Erdbeeren gel“, den Upton Sinclair 1906 – also vor mehr zu pflücken oder in der Fleischindustrie zu ar- als einem Jahrhundert – veröffentlichte. beiten. Es musste erst ein Erntehelfender aus Sinclair beschrieb und kritisierte die aus- Rumänien, der sich in Deutschland mit Co- beuterischen und hygienischen Missstände vid-19 infiziert hat, tot auf einem Spargelhof in Schlachthöfen und Konservenfabriken in in der Nähe von Freiburg gefunden werden, Chicago. Das Buch wurde ein Bestseller, die 2
skandalösen Zustände erreichten die Öffent- in Zeiten von Corona hauptsächlich in den lichkeit und es folgten Gesetzesänderungen. Medien gesprochen und geschrieben? Auf der einen Seite gibt es Männer*, die regelmä- Allerdings wurden hauptsächlich Verbes- ßig und meist positiv besetzt in den Medien serungen im hygienischen Bereich vorge- präsentiert werden und überrepräsentiert nommen und nicht im Bereich der Arbeits- sind. Diese Männer* sind meistens mit Mehr- bedingungen für die Arbeitenden selbst. Die fachprivilegien ausgestattet, wie weiß-sein, Fleischprodukte auf dem Tisch der Kund*in- akademisierte Bildung, Führungspositionen, nen sollten „sauber“ sein. Wie dreckig es den Mobilität, Geldvermögen. Auf der anderen Arbeitenden (weiterhin) ging, war nachrangig. Seite gibt es Männer*, wie den verstorbenen So resümierte Sinclair hinterher lakonisch: rumänischen Erntehelfer, die meistens von „Auf die Herzen der Menschen hatte ich es Mehrfachbenachteiligungen betroffen sind abgesehen, ihre Mägen habe ich getroffen“ und nur eine kurzwährende mediale Auf- (Wikipedia 2020). merksamkeit bekommen; und diese meist nur, wenn sie eine potentielle oder imaginierte Gaumensorgen statt Herzlichkeit waren „Gesundheitsgefahr“ darstellen. damals der Antrieb für Gesetzesänderungen. Und heute? Kümmern uns die teils desolaten Nicht zufällig handelt es sich bei dieser Grup- Arbeitsbedingungen, die getrost „moderne pe der benachteiligten Männer* mehrheitlich Sklaverei“ genannt werden können, unter de- um Männer*, die aus osteuropäischen Staaten nen insbesondere Zehntausende Arbeitende kommen oder eine Flucht-/Migrationsge- aus Osteuropa zu leiden haben? Ihre 6-Ta- schichte mitbringen. Denn der schändliche ge-Wochen, ihre 10-12 Stunden Schichten, Umgang mit ihnen ist einer diskriminieren- ihre teils miserable Entlohnung? Oder geht den und rassistischen Haltung und Praxis ge- es hier bloß um „unsere“ Gesundheitssorgen? schuldet, die tief verankert ist in den gesell- schaftlichen Gesamtstrukturen. Immerhin scheinen nun wirklich – zumindest leichte – Verbesserungen gesetzlich auf den Die Corona-Krise zeigt nun in zugespitzter Weg gebracht zu werden; wie zum Beispiel Form auf, wie unterschiedlich Teilgruppen das Verbot von Werkverträgen und vermehrte von Männern* in der Gesamtgruppe der Män- Kontrollen. Aber die Stimmen, Gesichter und ner* mit Privilegien ausgestattet und/oder Geschichten der Arbeitenden dringen wei- betroffen sein können von Ausgrenzungen, terhin nicht nachhaltig durch. Während die Abwertungen und Diskriminierungen entlang Unternehmensführenden eine Lobby haben, von verschiedenen sozialen Kategorien; ins- haben die Arbeitenden auf den Schlachthöfen besondere von Rassismus und Klassismus. Die und in den Fleischverarbeitungsbetrieben Wirkungen von (Mehrfach-)Diskriminierungen keine. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes sind nicht nur gesundheitsgefährdend für eine Schweinerei. marginalisierte Männer*; sie können letztend- lich sogar tödlich sein. Männlich*? Privilegiert? Marginali- siert? Kehren wir zur ersten Frage des Artikels zu- rück: Von welchen Männern* wurde und wird 3
Solidarisch sein und zugleich kritisch Alter, Wohnort, eine Heimat oder mehrere bleiben Heimaten zu haben, Klassenzugehörigkeit, BeHinderung sein. Wir können uns dann fra- Die Frage ist nun: Was tun? Wer sich für gen: Was spielt alles (k)eine Rolle im Leben marginalisierte Männer* solidarisch einsetzen meines Gegenübers? Was sehe ich (noch) will, bewegt sich in Spannungsfeldern. Die nicht? In welchen Kategorien unterscheidet Gesamtgruppe der Männer* in Deutschland sich mein Gegenüber von mir, aber welche ist nach wie vor stark privilegiert im Vergleich Merkmale teilen wir auch miteinander? zur und auf Kosten der Gruppe der Frauen* und der Gruppe aller Menschen, die sich Ein Sensorium für Verletzlichkeiten von jenseits binär-dominanter Muster von „Weib- marginalisierten Männern* zu entwickeln, lichkeit“ und „Männlichkeit“ verorten. Wenn kann entlastend und unterstützend für viele also Benachteiligungen von Männern* in den der Männer* sein. Auch Männer* brauchen Blick genommen werden, ist von Anfang an gendersensible Schutzorte, in denen sie sich ein differenzierter Blick gefragt, der die alle über Verletzlichkeiten austauschen und ge- Gesellschaftsbereiche umfassende Dominanz genseitig bestärken können. Räume, die aber von Männern* dauerhaft kritisch im Blick zugleich auch die Möglichkeit bieten sollten, behält. Abwertende, diskriminierende, rassis- (Teil-)Privilegien zu hinterfragen; dabei aller- tische und sexistische Praxen von Männern* dings ohne auf einer individuellen Vorwurfs- gehören stets aufs Schärfste skandalisiert oder Schuldebene zu sprechen. und bekämpft. Zugewandt zuhören. Schutzräume geben. Was In der Gruppe der Männer* gibt es aber auch kann noch getan werden? Die Lebenswelten Teilgruppen, die von Abwertungen, Diskri- vieler marginalisierter Männer* werden in minierungen und Rassismen betroffen sein Zeiten von Corona – wenngleich auch nur können, die insbesondere von dominant-wei- im Blitzlichtmodus – sichtbarer gemacht ßen Männern* ausgeübt werden. Ein genaue- und gleichzeitig weiterhin weitaus weniger rer Blick auf den jeweils individuellen Mann* sichtbar bleiben als die Lebenswelten ins- kann hier hilfreich sein. besondere weiß-privilegierter Männer*. Die Dominanz weißer Männlichkeit* kann zum Zwei Menschen in einer Gruppe können Beispiel durch die Neubewertung, Neube- unterschiedlicher sein als zwei Menschen aus trachtung und Neuerzählung von historischen verschiedenen Gruppen. So haben Thomas Leistungen infrage gestellt und dekonstruiert Müller und Sandra Maischberger sicherlich werden. mehr Gemeinsamkeiten als ein Spieler der „Fußball-Bundesliga der Männer“ mit einem Werkvertragsarbeiter in der hiesigen Flei- Wer hat’s gefunden? schindustrie. Viele Leistungen und Kämpfe marginalisier- ter Männer* tauchen in Geschichtsbüchern Es lohnt sich daher, idealerweise stets auf nicht auf oder spielen allenfalls eine Neben- ein vielfältiges Individuum zu blicken. Wenn rolle. Wissensbestände wurden vernichtet, wir also auf einen Mann* blicken, sollten wir Geschichte(n) aus einer weiß-zentriert euro- gleichsam auf weitere sicht- und unsichtbar päischen Dominanzperspektive geschrieben. wirksame Identitäts-/Zuschreibungskategori- Verlorenes, verdrängtes, ausgelöschtes Wis- en schauen. Kategorien könnten zum Beispiel 4
sen kann aber von uns zumindest teilweise Aber wir können auch in die jüngste Ver- wieder emporgehoben werden. Geschichten gangenheit, in die jüngste Zeit reisen oder können auch heute neu geschrieben werden. einfach in der Gegenwart bleiben. Kennen Geschichten, die Marginalisierten jetzt und Sie Oury Jalloh oder Ferhat Unvar? Welche für die Zukunft Mut machen können. Männer*-Geschichten (nicht) omnipräsent sind, lässt sich – wenn vielleicht auch nur Kennen Sie Marco Polo? Kennen Sie Vasco im kleinen Rahmen – von uns ändern. Dazu da Gama? Klar, blöde Frage. Kennen Sie Piri müssen wir lernen, uns zu verändern. Lernend Reis? Ibn Battūta? Auch eine blöde Frage?! bleiben. Hinter die Kulissen blicken. Ausschau Keine Bange, ich kannte sie auch nicht, bis ich nach Nebengeschichten halten. Und neue vor kurzem das Buch „Im Schatten der Entde- Geschichten hören. cker“ gelesen habe. Damit leisten wir einen kleinen Beitrag dazu, Piri Reis war ein osmanisch-türkischer See- dass irgendwann vielleicht einmal abseits ei- fahrer, der 1513 eine Weltkarte gezeichnet nes Fußballplatzes niemand mehr im Abseits hat, anhand derer viele europäische „Ent- stehen muss. decker“ ihre heute so berühmten Fahrten überhaupt erst vornehmen konnten. Seine Quellen: (Vor-)Leistung blieb und bleibt in den aller- taz 2020: Coronainfizierter Erntehelfer tot. meisten Geschichtsbüchern und dominanten Schutzlos bei der Ernte. Jost Maurin. URL: Erzählungen unerwähnt. Wie so viele weitere https://taz.de/Coronainfizierter-Erntehel- Leistungen, die sich Europa als Einzelleis- fer-tot/!5676684/ [zuletzt abgerufen am tung zuschreibt. „Den Seeweg nach Indien 10.06.2020] um das Kap der Guten Hoffnung herum hat nicht Vasco da Gama entdeckt, da er schlicht Volker Matthies 2018: Im Schatten der Ent- die wohlbekannten Wege der arabisch-isla- decker. Indigene Begleiter europäischer mischen Handelsschifffahrt nutzte“ (Volker Forschungsreisender. Christoph Links Verlag. Matthies 2018). Berlin. Und wer ist Ibn Battūta? „Unter den ara- Wikipedia 2020: Der Dschungel. URL: https:// bisch-islamischen Reisenden ragt besonders de.wikipedia.org/wiki/Der_Dschungel#cite_ der Rechtsgelehrte und Pilger Ibn Battūta note-6 [zuletzt abgerufen am 11.06.2020] hervor, der 1304 in Tanger geboren wurde […]. Noch vor dem Italiener Marco Polo gilt Ibn Der nächste Artikel der Serie „Corona wan- Battūta als der größte (Welt-)Reisende des delt Gesellschaft“ dreht sich um Chancen und Mittelalters. Zwischen 1325 und 1354 be- Gefahren, wenn (politische) Bildungsarbeit wältigte er ein Reiseprogramm von weit über plötzlich digital werden muss. 100.000 Kilometern, neben dem sich die Leis- http://www.g-mit-niedersachsen.de/artikelse- tungen Marco Polos […] bescheiden ausneh- rie-corona-wandelt-gesellschaft/ men […]“. Seine Reisen durch Nord-, West- und Ostafrika, Vorderasien, Afghanistan und Indien sowie China und Südostasien führten Ibn Fragen und Kontakt: Battūta in dreimal so viele Länder, als Marco tinka.greve@vnb.de | manfred.brink@vnb.de Polo kennengelernt hatte“ (ebd.). Foto: Alireza Husseini 5
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