Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021/2022 - Zahlen - Daten - Fakten
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Zahlen – Daten – Fakten Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021/2022 In interdisziplinärer Zusammenarbeit Klinik und Poliklinik für Neurologie Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Impressum Herausgeber: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Martinistraße 52, 20246 Hamburg | Autoren: C. Heesen, I. Schiffmann, INIMS, UKE Hamburg | Lektorat: Christiane Jung , J. Scheiderbauer, N. Bessler, MS-Stiftung. Trier, M. Friese, INIMS, UKE | Grafik: G. Fuchs, Institut für Didaktik in der Medizin, Michelstadt | Gestaltung: S. Wuttke | Stand: 07.2021 | Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträgern nur mit Genehmigung des Herausgebers.
Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021 „In Florenz begann ich an einer Störung des Sehvermögens zu leiden: Um den 6. November herum nahm das Übel so weit zu, dass ich alle Dinge doppelt sah. Jedes Auge hatte sein eigenes Bild. Dr. Kissock nahm an, dass ein Übermaß an Galle die Ursa- che sei: Zweimal wurden Blutegel im Bereich der Schläfe ange- setzt, Einläufe wurden verabreicht, Erbrechen wurde ausgelöst und zweimal wurde ich zur Ader gelassen, was mit Schwierig- keiten verbunden war.“ Auszug aus dem Tagebuch von Augustus Frederick d’Este, einem Enkel des britischen Königs Georg III 17. Oktober 1827 So beschreibt d’Este die Behandlung seiner, in Schüben auftretenden Nervenkrankheit An- fang des 19. Jahrhunderts. Blutegel und Einläufe gehörten zwar nur kurz zur Standardthe- rapie der Multiplen Sklerose (MS), eine auch nur teilwirksame Therapie gab es dennoch lange Zeit nicht. In den 1960ern entdeckten Ärzte zwar, dass hoch dosiertes Kortison einen MS-Schub verkürzen konnte, doch erst 150 Jahre nach d’Estes Blutegel-Tortur wurde mit Interferon-Beta die erste Immuntherapie zur Behandlung der MS zugelassen. Die Zulas- sung führte zu einem regen Forschungsinteresse in diesem Feld. Mittlerweile wurden 19 immunmodulierende und -supprimierende, also das Immunsystem beeinflussende oder unterdrückende, Wirkstoffe entwickelt, geprüft und zur Behandlung schubförmig-remit- tierender MS zugelassen. Die Frage ist: Können die Immuntherapien ihre Versprechen als Durchbruch in der Behandlung der MS einlösen? 3
MS-Faktoren im Immunsystem MS-Therapiestudien – ein Hürdenlauf Aktuell herrscht die Auffassung, dass MS durch eine Fehlsteuerung des Immunsystems entsteht, bei der Die Wirksamkeit von Medikamenten zur Behand- die Immunzellen den eigenen Körper und hier vor al- lung der MS nachzuweisen, ist schwierig, da die lem die Isolierschicht der Nervenfortsätze, das Mye- wissenschaftlichen Tests hierzu auf verschiedene lin, aber auch die Nervenzellen selber attackieren. grundsätzliche Probleme stoßen: Für die Entstehung und Entwicklung der MS wird ei- ner Untergruppe der weißen Blutzellen, den T-Lym- 1. Lange Zeit dachte man, dass es genügt, die Ver- phozyten, eine besondere Bedeutung zugesprochen. hinderung von Schüben nachzuweisen, um Wirk- T-Lymphozyten können Nervenzellstrukturen erken- samkeit zu belegen. Allerdings hat sich mittler- nen und direkt zerstören. Auch sogenannte B-Lym- weile gezeigt, dass die Häufigkeit von Schüben phozyten spielen möglicherweise eine Rolle. Sie ak- für die Beeinträchtigung im Langzeitverlauf meist tivieren T-Lymphozyten und produzieren Antikörper unbedeutend ist. (immunologisch wirksame Eiweiße), die ebenfalls Nervenzellstrukturen zerstören können. Antikörper 2. Zusätzlich wurde in den Studien immer auch die lassen sich im Nervenwasser (auch Liquor genannt) bleibende Beeinträchtigung mittels EDSS, der durch molekularbiologische Nachweismethoden „Expanded Disability Status Scale“, gemessen, als sogenannte „oligoklonale Banden“ sichtbar ma- einer Skala, die versucht, alle MS-Beeinträchti- chen. Dies ist ein relativ typischer diagnostischer Be- gungen basierend auf der neurologischen Unter- fund bei MS. Eine wichtige weitere Struktur bei der suchung in einen Zahlenwert zu bringen (0 = Kei- Entstehung und Therapie der MS ist die sogenannte ne Beeinträchtigung, 10 = Tod durch MS). Wenn Blut-Hirn-Schranke. Das Gehirn wird über die Blut- man bedenkt, wie unterschiedlich MS-bedingte gefäße beständig mit Energie, in Form von Trauben- Beeinträchtigungen sein können, wird klar, dass zucker versorgt. Die hirnversorgenden Gefäße sind das Ausmaß nur sehr schwer in einem einzelnen im Inneren mit besonderen Zellen ausgekleidet, die Zahlenwert abzubilden ist. wie eine Schranke wirken: Zuckermoleküle dürfen passieren, Krankheitserregern oder sogar einem 3. Zusätzlich taucht die Frage auf, welche Verän- Teil der Zellen des eigenen Immunsystems wird der derungen auf dieser Skala für eine/n Patient:in Übertritt in das Hirngewebe normalerweise jedoch überhaupt bedeutsam sind. Im unteren Bereich erschwert. Bei MS kommt es allerdings zu Störun- (EDSS-Wert 1 bis 3,5) reichen schon kleinere Ver- gen der Blut-Hirn-Schranke. Verschiedenen Immun- änderungen in der neurologischen Untersuchung zellen (wie die oben erwähnten T- und B-Lympho- für eine Änderung des Zahlenwerts. Im mittleren zyten) können so leichter in das Gehirn eindringen Bereich (EDSS-Wert 4 bis 7,5) interessiert sich die und schließlich Nervenstrukturen schädigen. Skala dann fast nur für die Gehstrecke, die jemand zurücklegen kann – ob zusätzlich eine Fatigue oder Obwohl alle bisher zugelassenen Medikamente auf eine Sehstörung existiert, wirkt sich kaum aus. das Immunsystem einwirken, gibt es bisher keine Therapie, die das fehlgesteuerte Immunsystem kom- plett erneuert oder „umerzieht“. Daher werden – um Die beste Art, um die Wirksamkeit eines Medika- eine langfristige Wirkung erzielen zu können – die ments nachzuweisen, ist die Durchführung einer meisten Immuntherapien als Dauertherapie gege- sogenannten randomisiert-kontrollierten Studie. ben. Lediglich die Medikamente Alemtuzumab und Das bedeutet, dass die Studienteilnehmer per Zu- Cladribin greifen so massiv in das Immunsystem ein, fallsprinzip (= randomisiert) auf zwei Behandlungs- dass sie nur an wenigen Tagen innerhalb von zwei gruppen aufgeteilt werden. Von denen erhält eine Jahren verabreicht werden dürfen. Dieser Effekt hält das echte Medikament, die Verum- oder Medika- über die gesamte genannte Zeitspanne an. menten-Gruppe, die andere meist ein Scheinmedi- kament, die Placebo- oder Kontroll-Gruppe (= kon- trolliert). Es kann aber auch ein Vergleich von zwei verschiedenen Therapien erfolgen (z.B. Interferon und Alemtuzumab). So eine aufwändige randomi- 4
sierte Studie läuft in der Regel über 2 Jahre. Da die die Zunahme der Beeinträchtigung (auch „Progres- MS über Jahrzehnte verläuft und sich oft über Jah- sion“) basierend auf dem EDSS zusammenfassend re wenig verändert, müssten im Ergebnis aussage- dargestellt. Auf viele Aspekte, die für MS-Patient:in- kräftige Studien eigentlich langfristig angelegt wer- nen wichtig sind und die z.T. auch in den Studien er- den. Eine Studiendauer von circa zwei Jahren reicht fasst werden, wie Veränderungen im Kernspin (MRT) also nicht aus, um langfristige Therapieeffekte und oder der Lebensqualität, wird hier jedoch nicht ein- -risiken zuverlässig abzuschätzen. Oft wird statt- gegangen. Mehr Informationen und Details zu den dessen am Ende einer randomisierten Studie auch einzelnen Medikamenten finden sich auf einer In- der Placebo-Gruppe die neue Therapie angeboten, formationsplattform im Internet, die im Rahmen um mehr Informationen zu der Wirkung, aber auch des DECIMS-Projekts (Decision Coaching in MS) im möglichen Nebenwirkungen über einen längeren MS Kompetenznetz entwickelt wurde (zur Nutzung Zeitraum zu erhalten. Dabei ist aber problematisch, des so genannten „DECIMS-Wiki“ kann auf der Web- dass viele Patient:innen im Laufe der Jahre aus der site ein Login beantragt werden).3 Studie ausscheiden (z.B., weil sie in eine andere Stadt ziehen, den Arzt wechseln oder die Immun- therapie vorzeitig beenden) und damit das Ergebnis Absolute und relative Risiko- der Langzeitbeobachtung nur für einen kleinen Teil der Studienteilnehmer vorliegt. reduktion – Schein oder Sein? Aus Verlaufsbeobachtungen von Patient:innen, die Um die nachfolgende Darstellung zu verstehen, ist direkt zu Studienbeginn das neue Medikament er- es wichtig, zu wissen, dass Studienergebnisse als hielten und denen, die dann erst nach einer Zeit sogenannte Risikoreduktionen berichtet werden. von ein bis zwei Jahren das Medikament bekamen, Dabei werden zwei Formen verwendet, die jeweils versucht man weitere Rückschlüsse zu ziehen. Vor unterschiedliche Informationen liefern: die absolute allem wird hier die Frage bearbeitet, was eine ganz Risikoreduktion (ARR) und die relative Risikoreduk- frühe Therapie nutzt. Die Datenlage ist dazu nicht tion (RRR). Die absolute Risikoreduktion gibt an, wie sehr überzeugend, wie erst kürzlich in einer syste- viele Patient:innen einen Nutzen von der Therapie matischen Übersicht deutlich wurde1 (systemati- haben. Hierbei werden alle Studienteilnehmer in die sche Übersichtsarbeiten fassen die Ergebnisse ver- Berechnung einbezogen, ob mit Ereignis (z.B. Schub) schiedener Studien zusammen und bewerten dabei oder ohne Ereignis (z.B. schubfreie Patient:innen). auch die Qualität der Untersuchungen). Insgesamt Wenn in einer MS-Studie 5 von 100 Patient:innen in ist sowohl die Datenlage für eine ganz frühe Thera- der Placebo-Gruppe Schübe haben, in der Medika- pie als auch für den Langzeitnutzen unzureichend. menten-Gruppe aber nur 4 von 100, dann ist die ab- solute Risikoreduktion 5 minus 4 von 100, also 1 von Die Autoren einer großen Übersichtsarbeit zu ver- 100 (= 1%). Die relative Risikoreduktion gibt den Nut- schiedenen Studien fassen den aktuellen Stand zen für Studienteilnehmer an, bei denen das unter- folgendermaßen zusammen: Für die meisten Im- suchte Ereignis (z.B. Schübe) auftrat, und zwar als munmedikamente gibt es einen mäßigen Nutzen Vergleich zwischen der Placebo- und Medikamen- über einen Behandlungszeitraum von zwei bis drei ten-Gruppe. Wenn z.B. in einer MS-Studie 5 von 100 Jahren. Der Nutzen bezieht sich vor allem auf die Patient:innen in der Placebo-Gruppe Schübe haben, Verhinderung von Schüben. Der Langzeitnutzen der aber in der Medikamenten-Gruppe nur 4 von 100, Medikamente ist bisher aber unklar2. dann entspricht die relative Risikoreduktion der Dif- ferenz, also 5 minus 4, also einer Person. Dies bezieht Im Folgenden wird die Wirkung der verfügbaren Im- sich aber nicht auf 100, sondern auf die 5 Patient:in- muntherapien auf das Auftreten von Schüben und nen mit Schüben in der Placebo-Gruppe. Damit ist 1 Filippini et al., Treatment with disease-modifying drugs for people with a first clinical attack suggestive of multiple sclerosis. 2017 Apr 25;4:CD012200. Cochrane Review 2 Tramacere et al., Immunosuppressants and immunomodulators for multiple sclerosis: a network metaanalysis. Cochrane Review 2015 Sep. 18(9) 3 http://wiki2.kkn-ms.de/index.php 5
die relative Risikoreduktion 1 von 5, oder in Prozent MS-Schubtherapie – kann man, umgerechnet: 20 von 100, also 20 Prozent. aber muss man nicht machen Wenn in einer Studie nur sehr selten Ereignisse auftre- Seit den 90er Jahren werden Schübe bei MS mit ei- ten, die dann aber von einem Medikament verhindert ner hochdosierten Kortisongabe von 500 bis 2000 werden können, ist die relative Risikoreduktion groß, mg täglich über 3 bis 5 Tage behandelt. Dabei haben die absolute Risikoreduktion aber sehr klein. Auch Therapiestudien gezeigt, dass lediglich die Schub- hier ein Zahlen-Beispiel: Wenn in der Placebo-Grup- schwere gemindert und die Erholungszeit beschleu- pe 2 Patient:innen, in der Medikamenten-Gruppe nigt werden kann. Einen Nutzen haben hier 25 von 1 Patient:in einen Schub bekommt, beträgt die rela- 100 Patient:innen. Kortison führt nicht dazu, dass tive Risikoreduktion 50% (1 von 2). Die absolute Risi- man 6 Monate nach Ende des Schubes weniger koreduktion liegt dann aber nur bei 1% (1 von 100). beeinträchtigt ist, als wenn man keine Kortison- Meist werden bei Darstellungen der Wirksamkeit therapie durchführt. Dagegen stehen die häufigen von MS-Therapien die relativen Risikoreduktionen Nebenwirkungen mit Schlafstörungen, Unruhe, Ge- berichtet, weil sie beeindruckender aussehen. Die wichtszunahme und Gesichtsrötung. Selten kann es absolute Risikoreduktion ist einfacher zu verstehen, zu Gefäßverstopfungen (Thrombosen) oder einem aber ist meist deutlich kleiner (siehe Abb. 1 für ein Magengeschwür oder psychischen Ausnahmezu- Beispiel zur ARR). ständen, wie eine schwere Depression oder Psycho- se, kommen. Der Langzeitverlauf der Erkrankung wird durch eine Kortisoneinnahme nicht beeinflusst. Wirkungen im Überblick Zusammengefasst verhindern die aktuell verfüg- baren Immunmedikamente im Vergleich zu einem Placebo bei 10-26% das Auftreten von Schüben und bei 7-14% eine Zunahme der Beeinträchtigung. Die- se Zahlen sind die absolute Risikoreduktionen und beziehen sich auf eine Studiendauer von 2 Jahren (Übersicht siehe Abb. 2 und 3). Abbildung 1: Darstellung der Therapieeffekte nach absoluter Risikoreduktion Die Abbildung zeigt die Anzahl von Patient:innen mit und ohne Schübe in den beiden Gruppen der Studie (erster und zweiter Balken). Im Balken „Nutzen“ sieht man in Grün die An- zahl der Patient:innen von 100 mit Tecfidera behandelten, die einen Nutzen von der Therapie haben. Dazu vergleicht man die Patient:innen mit Schüben unter Placebo mit denen mit Schüben unter Tecfidera. Da nur 28 statt 44 Schübe hatten, ist die absolute Risikoreduktion 44-28=16. 56 Patient:innen unter Tecfidera haben keinen Nutzen, weil sie unabhängig von der Therapie stabil geblieben sind. Im Folgenden wird nur noch der Zusammenfassungsbalken dargestellt, auch um die Medikamente nebeneinander zu stellen. 6
Abbildung 2: Absolute Risikoreduktion für Schubfreiheit und Progressionsfreiheit – Studienmedikament gegen Placebo Abbildung 3: Absolute Risikoreduktion für Schubfreiheit und Progressionsfreiheit – Studienmedikament gegen anderes MS- Medikament 7
Nebenwirkungen im Überblick einer Reihenfolge von schwächer zu stärker wirk- samen Medikamenten schwierig. Mit der Leitlinie Wenn man von den schwerwiegendsten Risiken, wie von 2021 erfolgt dennoch jetzt eine Einteilung nach z.B. dem Tod oder einer massiven Beeinträchtigung Wirkstärke der Medikamente, die als Anhaltspunkt als Folge unerwünschter Wirkungen der Medika- dienen kann. Dabei ist sowohl eine Eskalation von mente ausgeht, dann ist Natalizumab mit derzeit Kategorie 1 über 2 nach 3 möglich, aber auch je nach weltweit 839 Fällen auf 213.000 Behandelte (Stand: Krankheitsaktivität, eine direkte Gabe von Kategorie 8/2020) einer sogenannten progressiven multifoka- 2- oder 3- Medikamenten. len Leukenzephalopathie (PML) an erster Stelle zu nennen. Die PML ist eine Virusinfektion des Gehirns, die zu schweren neurologischen Beeinträchtigungen Wirksamkeit und Nebenwirkungen und evtl. auch dem Tod führen kann. Auch wenn ca. der 18 Immuntherapien 50% der Bevölkerung das Virus in sich tragen, so er- kranken nur Patient:innen, deren Immunsystem ge- Mit der Zulassung der Interferone 1995 gab es erst- schwächt ist. mals eine Langzeitbehandlungsmöglichkeit für die MS. Bis dahin bestand die Therapie im Wesentlichen Unter der Behandlung mit Fingolimod liegen 15 Fälle in der Behandlung von Schüben mit hochdosiertem weltweit vor, unter Dimethylfumarat fünf. Dazu kom- Kortison. Allerdings fanden schon in den Jahren da- men unter der Behandlung mit Fingolimod einzelne vor Therapiestudien mit Medikamenten statt, die Fälle anderer schwerer Virusinfektionen des Gehirns. das Immunsystem teilweise unterdrücken. Für Azat- Unter der Behandlung mit Alemtuzumab gibt es hioprin (Imurek® oder Imuran®), ein Medikament in 1 Todesfall als Folge einer Verminderung der Blut- Tablettenform, das Neurologen und Rheumatologen plättchen in einer älteren Therapiestudie und einen zum Teil auch bei anderen entzündlichen Erkrankun- nach Zulassung im Jahr 2016. Unter der Behandlung gen einsetzen, liegen Ergebnisse zur Wirksamkeit mit Mitoxantron sind therapiebedingte Blutkrebs- vor. Die Qualität der Studien entspricht jedoch nicht erkrankungen und schwere Herzschädigungen bei der von neueren MS-Therapiestudien. Dennoch ha- bis zu 3 Prozent der Patient:innen beschrieben. Be- ben die Daten gezeigt, dass die Schubrate mit Azat- trachtet man die Medikamente mit den häufigsten hioprin ähnlich gesenkt werden kann wie mit den auch leichteren Nebenwirkungen, dann ist der Flush neueren Immuntherapeutika (siehe Abb. 3). Deshalb (anfallsartige Gesichtsrötung) unter Dimethylfuma- wurde Azathioprin auch 2001 noch als Ersatzmedi- rat (30%) sehr häufig und grippeähnliche Reaktionen kament zugelassen. Allerdings besteht Unsicherheit, unter Interferonen (28%). Für die alleinige Medika- ob nach mehr als 10 Jahren Therapie nicht doch ein mentengabe von 1 bis zu 5 Tagen sind Infusionsreak- erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen durch das tionen u.a. mit Kopfschmerzen, Hautausschlag und Medikament vorliegt. Trotzdem gibt es immer noch Fieber bei 24 Prozent der Ocrelizumab-Patient:innen einige Patient:innen, die Azathioprin einnehmen. und bei fast allen Alemtuzumab-Patient:innen be- schrieben. Die Interferone (bestehend aus Alpha-, Beta-, Gam- mainterferone und anderen) sind körpereigene Im- munbotenstoffe, die vor allem bei der Abwehr von Welches Medikament wann? Viruserkrankungen eine Rolle spielen. Als Medika- mente werden Interferone gentechnisch hergestellt Wann welches Medikament am besten eingesetzt und zwischen einmal täglich und alle 2 Wochen mit wird, ist schwierig zu entscheiden. Bis 2014 galt einer dünnen Spritze ins Unterhautfettgewebe (sub- das Konzept der Eskalationstherapie4, nach dem kutan) oder in den Muskel (intramuskulär) gespritzt. Patient:innen, je nach Ansprechen auf die Therapie, Bei der MS sind mittlerweile fünf Beta-Interferone von schwächer zu stärker wirksamen Medikamenten zugelassen, die sich in der Dosis und in der Art der wechselten. Da aber nur wenige Medikamente direkt Anwendung unterscheiden, aber in der Wirkungs- miteinander verglichen worden sind, ist die Bildung weise und Wirksamkeit sehr ähnlich sind (siehe Tab. 2), weshalb diese zusammengefasst dargestellt wer- 4 https://www.dgn.org/leitlinien/2333-ll-31-2012-diagnose- den (siehe Abb. 3a). Bei den Interferonen zeigen sich und-therapie-der-multiplen-sklerose 9 von 100 ohne Zunahme der Beeinträchtigung und 8
Optional: Abwarten Schubförmige MS mit regelmäßiger Kontrolluntersuchung Kategorie 1 Kategorie 2 Kategorie 3 (mäßig wirksam) (stark wirksam) (höchst wirksam) Azathioprin: Cladribin: Alemtuzumab: z.B. Imurek® Mavenclad® Lemtrada® Dimethylfumarat: Fingolimod: Natalizumab: Tecfidera® Gilenya® Tysabri® Glatirameracetat: Mitoxantron: Ocrelizumab: Clift®sc Novantron® Ocrevus® Clift 40®sc Ozanimod: Ofatumumab: Copaxone®sc Zeposia® Kesimpta®sc Copaxone 40®sc Ponesimod: Interferone: Ponvory® Infusion Avonex®im Betaferon®sc Spritze Extavia®sc Tablette Plegridy®sc/im Rebif®sc Reservemedikament Teriflunomid: sc = subkutan Aubagio® im = intramuskulär Tabelle 1: Die Unterteilung der Medikamente in 3 Kategorien folgt dem Konzept der MS-Leitlinie von 2021. Dabei ist die Unter- teilung nur eine grobe Orientierung. Die Medikamente sind in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, das heißt, es gibt keine Rangliste in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit. 15 von 100 Patient:innen schubfrei durch das Medi- ähnliche Beschwerden mit Fieber, Abgeschlagenheit, kament. Bedingt durch die Anwendungsweise sind Gelenk- und Muskelschmerz. Injektionsreaktionen die Nebenwirkungen der Interferone jedoch ver- treten therapiebedingt bei 51 von 100 Patient:innen, schieden. Im Vordergrund stehen dabei Folgen der grippeähnliche Nebenwirkungen bei 28 von 100 Pa- Injektion an der Haut mit Rötungen, Schwellungen tient:innen auf. bis hin zu offenen Wunden (selten!) sowie grippe- Übersicht über die Interferone Präparat Inhalt Dosis Anwendung Intervall Hersteller Betaferon® Interferon-ß 1B 250 µg subkutan jeweils 3/Woche Bayer Extavia® Interferon-ß 1B 250 µg subkutan jeweils 3/Woche Novartis Rebif® Interferon-ß 1A 22 und 44 µg subkutan jeweils 3/Woche Merck Avonex® Interferon-ß 1A 30 µg intramuskulär einmal pro Woche Biogen Plegridy® Interferon-ß 1A 125 µg subkutan/ alle 14 Tage Biogen intrasmuskulär Tabelle 2: Übersicht über die Interferone 9
Weil die Interferone am längsten auf dem Markt Natalizumab (Tysabri®) wurde 2006 zugelassen und sind, liegen für sie auch die meisten Langzeitdaten wird alle vier Wochen als Infusionstherapie über die vor, und viele Grundsatzfragen wurden mit Inter- Vene gegeben. Natalizumab ist ein sogenannter mo- feronen untersucht. So z.B. auch die Frage, ob eine noklonaler Antikörper, der gentechnisch hergestellt besonders frühe Therapie nach dem ersten Schub- wird. Antikörper sind wichtige Abwehrstoffe des Kör- ereignis besser ist, als eine Therapie ab dem zweiten pers, die gezielt Erreger neutralisieren können. Dabei Schub. In einer systematischen Übersichtsarbeit aus docken diese Antikörper nach dem Schlüssel-Schloss- 2017 fanden sich bezogen auf die bleibende Beein- Prinzip an einer bestimmten Zielstruktur auf Viren trächtigung nach fünf Jahren keine klaren Belege für oder Bakterien an. Es lassen sich aber auch Antikör- die Überlegenheit der frühen Therapie5. per herstellen, die an bestimmte Zielstrukturen des eigenen Körpers andocken. Natalizumab blockiert Glatirameracetat (Copaxone®) wurde 2001 zuge- eine wichtige Bindungsstelle an der Oberfläche der lassen. Es ist ein künstlich hergestelltes Eiweiß, das Blutgefäße im Gehirn (der Blut-Hirn-Schranke), so- einem Baustein der Isolierschicht im zentralen Ner- dass Lymphozyten (die anfangs beschriebenen Im- vensystem, dem Myelin, sehr ähnelt. Seine Wirkung munzellen) nicht mehr ins Gehirn einwandern kön- beruht vermutlich auf einer Art Desensibilisierung, nen. Damit kann die Entzündungsreaktion im Gehirn wie man sie auch bei Allergien einsetzt. Durch die bei MS deutlich reduziert werden, was das Ziel der Konfrontation mit einer Myelin-ähnlichen Substanz Behandlung mit Natalizumab ist. Bei der Natalizu- soll das Immunsystem wieder lernen, dieses zu to- mab-Therapie finden sich über zwei Jahre therapie- lerieren und nicht zu attackieren. Damit ist Glatira- bedingt 26 von 100 schubfreie und zwölf von 100 meracetat ein hoch spezifisches Medikament für progressionsfreie Patient:innen. Die Natalizumab- die MS. Es wird als Injektion zwischen einmal täglich Infusion selbst ist gut verträglich, selten kommt es und dreimal pro Woche ins Unterhautfettgewebe unter Natalizumab zu Kopfschmerzen (6%) oder al- gespritzt und ist in seiner Wirksamkeit vergleichbar lergischen Reaktionen (5%). Dadurch, dass die Lym- mit den Interferonen. Unter Glatirameracetat sind phozyten nicht mehr ins Gehirn eindringen können, 7 von 100 ohne Beeinträchtigungszunahme und 10 verliert der Körper aber auch die Schutzfunktion z.B. von 100 ohne Schübe. Copaxone ist mit zwei Interfe- gegenüber bestimmten Viren im Gehirn. So kann es ronen in der Wirksamkeit vergleichen worden. Beide unter Natalizumab-Therapie zur Reaktivierung des Studien konnten keine Überlegenheit der Interfero- John-Cunningham-Virus (JCV) kommen, das 50% der ne belegen. 2016 wurde ein sogenanntes Biosimilar, Bevölkerung in sich tragen, ohne davon je krank zu ein nach Ablauf des Patentschutzes hergestelltes werden. Bei Patient:innen mit einem geschwächten Nachahmerprodukt, namens Clift® zugelassen, was Immunsystem oder bestimmten Medikamenten genauso zu wirken scheint, aber um ein Drittel kos- kann das JCV-Virus aber eine gefährliche Gehirnent- tengünstiger ist. zündung, die progressiv multifokale Leukenzepha- lopathie (PML), verursachen. Mittlerweile sind 839 Mitoxantron (Ralenova® oder Novantron®), ein lange (Stand: 8/2020) Fälle weltweit bekannt. Das ent- bekanntes Chemotherapeutikum, das alle 3 Monate spricht einem Risiko von 3,94 pro 1.000 Patient:in- als Infusion verabreicht wird, wurde 2002 zur Thera- nen. Da das Risiko davon abhängt, ob man das Virus pie der schubförmigen MS zugelassen. Bei Studien trägt, wie lange Natalizumab eingenommen wird mit zweijähriger Mitoxantron-Therapie fanden sich und ob vorher andere Immuntherapien eingesetzt im Vergleich zur Placebo-Gruppe 21 von 100 schub- wurden, haben Ärzte ein Konzept entwickelt, mit freie und 14 von 100 Patient:innen ohne Zunahme dem sich das Risiko besser einschätzen lässt. Dieses der Beeinträchtigung. Weil es jedoch Blutkrebs- Konzept kann bei der prinzipiellen Entscheidung für erkrankungen und Herzschädigungen hervorrufen oder gegen die Natalizumab-Therapie, vor allem zu kann sowie angesichts der dürftigen Studienlage, deren zeitlicher Begrenzung und ggf. dem Abbruch, spielt Mitoxantron bei MS kaum noch eine Rolle. helfen. 5 Filippini et al., Treatment with disease-modifying drugs for people with a first clinical attack suggestive of multiple sclerosis. 2017 Apr 25;4:CD012200. Cochrane Review 10
Fingolimod (Gilenya®), eine Tablette, die einmal täg- seltenen schweren Infektionen, die sich unter Fingo- lich eingenommen wird und 2011 zugelassen wurde, limod finden sind bislang nicht beschrieben, was je- wirkt über eine Bindungsstelle, die sich an vielen Ge- doch an der kürzlichen Zulassung liegen kann. weben im Körper findet: den Sphingosin-1-Phosphat- Rezeptor. Im Immunsystem führt das dazu, dass T- Ponesimod (Ponvory®) wurde im Mai 2021 zugelas- Lymphozyten nicht aus den Lymphknoten ins Blut sen. Es ähnelt dem Ozanimod und hat gegenüber ausschwärmen können. Gegenüber Placebo zeigte Teriflunomid in einer großen Studien Überlegenheit Fingolimod (mit einer Dosis von 0,5mg), dass 25 von bezogen auf die Schubrate, nicht jedoch bezogen auf 100 Patient:innen zusätzlich schubfrei und 7 von 100 die Progression zeigen können. progressionsfrei blieben. In einer einjährigen Studie zeigte sich Fingolimod gegenüber einem Interferon Alemtuzumab (Lemtrada®) wurde 2013 zugelassen. (Avonex) vor allem bezogen auf das Verhindern von Es ist, wie Natalizumab, ein monoklonaler Antikörper. Schüben überlegen. Um einen besseren Effekt auf Alemtuzumab führt über das Andocken an einem die Progressionsfreiheit zu untersuchen, reichte die Rezeptor auf Lymphozyten zu einer erheblichen Re- Studiendauer jedoch nicht. Wie oben beschrieben duktion von T- und B-Lymphozyten. Es wird über fünf führt die Einnahme von Fingolimod dazu, dass die Tage in Folge als Infusion gegeben und wirkt dann Lymphozyten nicht aus dem Lymphknoten austre- so lange nach, dass es erst im Folgejahr, dann über ten. Dadurch sinkt deren Anzahl bei Untersuchung drei Tage, erneut verabreicht werden muss. Alemtu- des Blutbildes. Kritische Verminderungen treten bei zumab ist neben Ocrelizumab (s.u.) das einzige Medi- 3 von 100 Patient:innen therapiebedingt auf. Dies kament, das bei Patient:innen untersucht wurde, bei kann dazu führen, dass das Medikament abgesetzt denen eine andere MS-Therapie, in diesem Fall eine werden muss. Das Andocken an den Sphingosin- Interferontherapie, nicht ausreichend wirkte, sodass 1-Phosphat-Rezeptor des Herzens ist auch dafür ver- weitere Schübe auftraten. Hier zeigte es gegenüber antwortlich, dass es zu einer Herzschlagverlangsa- dem Interferon (Rebif®), dass zusätzlich 18 von 100 mung kommen kann. Deshalb muss Fingolimod bei Patient:innen schubfrei waren und 7 von 100 Pati- der Erstgabe unter Herzschlag-Kontrolle gegeben ent:innen keine Zunahme der Beeinträchtigung hat- werden. Auch bei der Fingolimod-Therapie sind seit ten. Allerdings bringt Alemtuzumab dafür auch ein der Zulassung des Medikaments 38 Fälle auf mehr schlechteres Nebenwirkungsprofil mit. Sehr häufig als 300.000 Behandelte beschrieben, so dass auch (90% der Patient:innen) kommt es zu Infusionsreak- hier von einem gewissen PML-Risiko ausgegangen tionen mit Kopfschmerzen, Hautausschlag, Nessel- werden muss. Zusätzlich finden sich bis heute 76 sucht, Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit, Hitzegefühl Fälle einer Pilzinfektion des Nervensystems, einer so mit Hautröte (Flush). Deshalb werden begleitend genanten Kryptokokkose. Bei Kinderwunsch darf Fin- zur Therapie Kortison und ein Medikament gegen golimod von Frauen nicht eingenommen werden, da Allergien gegeben. Auch das Infektionsrisiko ist ge- es den Embryo schädigt. genüber einer Interferontherapie erhöht. Schwere Infektionen traten bei weniger als 1% auf. Besonders Ozanimod (Zeposia®) wurde 2020 zugelassen und relevant aber ist, dass 30% der Patient:innen, die das wird als Kapsel einmal täglich gegeben. Es ist genau- Medikament bekommen, im Verlauf an weiteren, so wie Fingolimod und Siponimod ein Sphingosin- sogenannten sekundären Autoimmunerkrankungen 1-Phosphat-Rezeptor-Blocker. Es bindet aber kaum erkranken. Besonders die Schilddrüse ist betroffen an die Rezeptoren am Herz, so dass es weniger zu (11%), seltener autoimmune Erkrankungen der Blut- einer Herzschlagverlangsamung kommt. Gegenüber plättchen (1%) oder der Niere (bisher insgesamt drei einem Interferon (Rebif) zeigte Ozanimod, dass zu- Fälle). Die Ursache für diese Nebenwirkung ist mögli- sätzlich 10 von 100 Patient:innen über 2 Jahre Stu- cherweise, dass Immunzellen, die sich gegen körper- die schubfrei blieben. Ein sicher größerer Effekt auf eigenes Gewebe richten, die Therapie eher über- die Progression gegenüber Rebif konnte jedoch nicht leben, sich dann im Verlauf vermehren und zu sol- gezeigt werden, was den Wirksamkeitsdaten von chen Erkrankungen führen. Typischerweise treten Fingolimod entspricht. Infekte und Leberwerterhö- diese erst im zweiten Therapiejahr auf. Die autoim- hungen sind die häufigsten Nebenwirkungen. Typi- munen Schilddrüsenerkrankungen lassen sich meist scherweise treten auch Erniedrigung der Lymphozy- gut behandeln, eine nicht erkannte autoimmun ver- tenzahlen ähnlich häufig wie bei Fingolimod auf. Die mittelte Verminderung der Blutplättchen oder eine 11
Nierenerkrankung können aber lebensbedrohlich len. In den Zulassungsstudien zeigt Dimethylfuma- sein. In 2019 wurde die Zulassung von Alemtuzu- rat, dass 8 von 100 Patient:innen therapiebedingt mab eingeschränkt, weil neue mögliche Risiken be- schubfrei und 7 von 100 progressionsfrei blieben. schrieben wurden. Berichtet wurden hier Einzelfälle In einer Zulassungsstudie, in der eine kleine Gruppe von Blutungen im Kopf und Einrisse von Halsgefäßen zum Vergleich mit Glatirameracetat (Copaxone®) sowie Herzinfarkte. Darüber hinaus traten schwere behandelt wurde, war Dimethylfumarat nicht bes- Leberentzündungen auf. Deshalb soll Alemtuzumab ser wirksam. Bei den Nebenwirkungen stehen eine nur noch gegeben werden, wenn mindestens eine Flush-Symptomatik (30 von 100 mehr als unter Pla- andere MS-Therapie nicht erfolgreich war. Wegen cebo) und Magen-Darm-Beschwerden (11 mehr) in der sehr lange anhaltenden Veränderungen im Im- der Anfangsphase im Vordergrund. Mittlerweile sind munsystem müssen nach der Ersttherapie 5 Jahre allerdings auch bei Dimethylfumarat 11 PML-Fälle lang monatliche Blutuntersuchungen erfolgen. Da beschrieben. Diese traten jedoch nur dann auf, wenn Impfungen während der Gabe von Alemtuzumab die Lymphozyten-Zahl längere Zeit unter der Norm- nicht sicher wirken, wird vor Therapiebeginn eine grenze lag. Deshalb sollte zuerst einmal im Monat, Aktualisierung aller Standardimpfungen empfohlen. im Verlauf alle 3 Monate eine Blutbildkontrolle erfol- Darüber hinaus müssen eine Hepatitis und eine Tu- gen. berkuloseerkrankung ausgeschlossen werden. Cladribin (Mavenclad®) ist seit August 2017 zugelas- Teriflunomid (Aubagio®) ist ebenfalls seit 2013 zur sen. Die Dosierung richtete sich nach dem Körperge- MS-Therapie zugelassen, eine sehr ähnliche Subs- wicht das Patient:innen. Cladribin führt über eine Er- tanz (Leflunomid) wird aber schon seit mehr als 20 niedrigung der Lymphozytenzahl zu einer Dämpfung Jahren in der Rheumatologie eingesetzt. Es wird mit des Immunsystems und wird schon lange zur Be- 14 mg einmal täglich als Tablette eingenommen und handlung von bestimmten Blutkrebserkrankungen hemmt die Teilung aktiver Immunzellen. Diese sind verwendet. Die Zulassung verzögerte sich zunächst, dann auch im Blut weniger nachweisbar, es wurde weil in den Behandlungsgruppen gehäuft Krebser- bisher aber kein Fall einer kritischen Zellzahlernied- krankungen aufgetreten waren. In der verlängerten rigung beschrieben. Gegenüber Placebo führte Te- Nachbeobachtungszeit wurden jedoch keine weite- riflunomid zu zusätzlich 5 von 100 schubfreien Pati- ren Fälle beschrieben, sodass gegenwärtig nicht von ent:innen ohne Zunahme der Beeinträchtigung. Eine einem erhöhten Krebsrisiko im Vergleich zu anderen besondere Nebenwirkung von Teriflunomid ist, dass Immuntherapien ausgegangen wird. Ähnlich wie bei es den Haarzellzyklus beeinflusst, weshalb bei 10 von Alemtuzumab wird Cladribin in Zyklen verbreicht: Im 100 Patient:innen verglichen mit der Placebo-Grup- ersten Therapiejahr wird das Medikament an fünf pe vorübergehend mehr Haare ausfielen als sonst. Tagen gegeben und dann nach vier Wochen erneut. 1% der Patient:innen brach die Studie deshalb ab. Da Im zweiten Therapiejahr erfolgt noch ein Therapie- sich bei ca. 19% der Patient:innen eine Erhöhung der zyklus nach dem gleichen Schema. In einer Studie Leberwerte zeigte, müssen diese regelmäßig kont- über zwei Jahre blieben im Vergleich zur Placebo- rolliert werden. Übelkeit und Durchfall traten unter Gruppe therapiebedingt 19 von 100 Patient:innen Teriflunomid etwas häufiger auf als unter Placebo (7 schub- und 7 von 100 progressionsfrei. Bei 7% der bzw. 9%). Da es im Tierversuch eindeutig fruchtschä- behandelten Patient:innen traten therapiebedingt digend ist, darf Teriflunomid bei Kinderwunsch nicht Kopfschmerzen auf, 2% klagten über Haarausfall, ei- eingenommen werden. Eine klare Überlegenheit zu nen allergischen Hautausschlag oder eine Herpes-In- den Interferonen konnte in einer kleinen Vergleichs- fektion. Bei 20% kam es, entsprechend dem Wirkme- studie nicht gezeigt werden. chanismus zu einer langanhaltenden Erniedrigung der Lymphozyten – manchmal konnte das Medika- Dimethylfumarat (Tecfidera®) ist seit 2014 zur MS- ment deshalb auch nicht weiter verabreicht werden. Therapie zugelassen und wird zweimal täglich als Tablette eingenommen. Ein sehr ähnliches Medika- Ocrelizumab (Ocrevus®) wurde im Januar 2018 zu- ment wird seit den 1990er Jahren in der Therapie der gelassen. Ocrelizumab ist wie Natalizumab und Schuppenflechte eingesetzt. Auch Dimethylfumarat Alemtuzumab ein monoklonaler Antikörper, der sich hemmt das Immunsystem durch Stoffwechselum- gegen eine Oberflächenstruktur auf den B-Lympho- stellung und Verminderung der Lymphozyten-Zah- zyten richtet: Die Zellen sind nach Ocrelizumab-Gabe 12
monatelang im Blut nicht mehr nachweisbar. Es ist grundsätzlich dem aus der Rheuma-Therapie stam- menden Rituximab sehr ähnlich, welches schon vor Jahren erfolgreich in kleineren Studien bei MS einge- setzt wurde. Ocrelizumab wird als Infusionstherapie alle sechs Monate gegeben. Ocrelizumab wurde in zwei großen Studien gegen Interferon (hier Rebif®) getestet, die zusammen ausgewertet wurden. Nach zwei Jahren Studiendauer waren 13 von 100 bedingt durch Ocrelizumab schubfrei und 7 von 100 progres- sionsfrei. Auch wenn Infekte bei Ocrelizumab-Gabe bisher nicht gehäuft auftraten, so sollten vor der Erstgabe alle Impfungen aktualisiert werden, da die Therapie die Wirkung der Impfung möglicherweise verhindert. Auch eine Hepatitis muss ausgeschlos- sen werden. Unter Ocrelizumab kam es in 24% mehr zu Infusionsreaktionen als unter einer Scheininfusi- on (Erklärung siehe Seite 4), welche die Patient:innen der Interferon-Gruppe erhielten. Tumore traten in den zwei Zulassungsstudien bei schubförmiger MS bei 4 von 400 Ocrelizumab-Patient:innen und 2 von 400 Interferon-Patient:innen auf. Ocrelizumab wur- de auch zur Behandlung der primär chronischen MS unter bestimmten Bedingungen zugelassen. Der Nutzen ist hier umstritten. Wenn, dann profitieren Patient:innen in der Frühphase der Erkrankung mit eindeutig entzündlicher Krankheitsaktivität. In die- ser Studie zeigte sich für 3 von 100 Patient:innen ein Nutzen. Nach Ocrelizumab-Einnahme kam es in einer Studie bei primär chronischer MS zu mehr Tumorerkrankungen als bei Placebo (11 von 486 ge- genüber 2 von 239). Da die Rate aber nicht auffällig erhöht war, hatte dies keinen Einfluss auf das Zulas- sungsverfahren. Ob das PML-Risiko erhöht ist, lässt sich noch nicht sicher abschätzen. Ofatumumab (Kesimpta®) wurde im April 2021 zu- gelassen. Es richtet sich gegen die gleiche Oberflä- chenstruktur auf B-Lymphozyten wie Ocrelizumab. Allerdings scheint die Bindung stärker zu sein. Im Unterschied zu Orelizumab wird es als Spritze ins Unterhautfettgewebe (subkutan) alle 4 Wochen ge- geben. Die Wirksamkeitsdaten sind sehr vergleich- bar mit Ocrelizumab. 4 von 100 Patient:inen waren nach 2 Jahren therapiebedingt ohne Behinderungs- zunahme. 13
Fazit Zusammenfassend hat sich durch die Immuntherapieentwicklungen der MS in den letz- ten 20 Jahren viel getan. Aber: Der Preis für eine hohe Effektivität in der Verhinderung von Schüben sind mitunter ebenso hohe Nebenwirkungen. Und etwas ernüchternd gilt: Der Langzeitnutzen bleibt unklar. Ein direkter Effekt auf den degenerativen Anteil der Erkran- kung, bei dem Nervenzellstrukturen zerstört werden und der vermutlich für einen Großteil der bleibenden Beeinträchtigung verantwortlich ist, konnte bislang nicht gezeigt werden. Insgesamt ist die Auswahl der richtigen medikamentösen Therapie und unterstützenden Maßnahmen eine sehr individuelle Entscheidung, welche ausgiebig zwischen Patient:in und Arzt diskutiert werden sollte. Weitere Informationen Auf der Website des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose finden Sie alle Patient:innenhandbücher zu den MS-Medikamenten, die in Zusammenarbeit mit dem Kompetenznetz Multiple Sklerose und dem Bundesverband der Selbsthilfe entwi- ckelt wurden: www.inims.de/clinic Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Bundesverbandes der Selbsthilfe: www.dmsg.de Die neue MS-Therapieleitlinie finden Sie unter: https://dgn.org/leitlinien/ll-030-050-diagnose-und-therapie-der-multiplen-sklerose- neuromyelitis-optica-spektrum-erkrankungen-und-mog-igg-assoziierten-erkrankungen/ 14
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www.uke.de
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