Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021/2022 - Zahlen - Daten - Fakten

 
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Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021/2022 - Zahlen - Daten - Fakten
Zahlen – Daten – Fakten

Immuntherapien der schubförmigen
Multiplen Sklerose 2021/2022

                                                   In interdisziplinärer Zusammenarbeit

                                             Klinik und Poliklinik für Neurologie
                          Institut für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose
                                    Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021/2022 - Zahlen - Daten - Fakten
Impressum

Herausgeber: Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Martinistraße 52, 20246 Hamburg | Autoren:
C. Heesen, I. Schiffmann, INIMS, UKE Hamburg | Lektorat: Christiane Jung , J. Scheiderbauer, N. Bessler,
MS-Stiftung. Trier, M. Friese, INIMS, UKE | Grafik: G. Fuchs, Institut für Didaktik in der Medizin, Michelstadt |
Gestaltung: S. Wuttke | Stand: 07.2021 | Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Aufnahme in Onlinedienste und
Internet sowie Vervielfältigung auf Datenträgern nur mit Genehmigung des Herausgebers.
Immuntherapien der schubförmigen Multiplen Sklerose 2021/2022 - Zahlen - Daten - Fakten
Immuntherapien der schubförmigen
Multiplen Sklerose 2021

„In Florenz begann ich an einer Störung des Sehvermögens zu
leiden: Um den 6. November herum nahm das Übel so weit zu,
dass ich alle Dinge doppelt sah. Jedes Auge hatte sein eigenes
Bild. Dr. Kissock nahm an, dass ein Übermaß an Galle die Ursa-
che sei: Zweimal wurden Blutegel im Bereich der Schläfe ange-
setzt, Einläufe wurden verabreicht, Erbrechen wurde ausgelöst
und zweimal wurde ich zur Ader gelassen, was mit Schwierig-
keiten verbunden war.“
Auszug aus dem Tagebuch von Augustus Frederick d’Este, einem Enkel des britischen Königs Georg III
17. Oktober 1827

So beschreibt d’Este die Behandlung seiner, in Schüben auftretenden Nervenkrankheit An-
fang des 19. Jahrhunderts. Blutegel und Einläufe gehörten zwar nur kurz zur Standardthe-
rapie der Multiplen Sklerose (MS), eine auch nur teilwirksame Therapie gab es dennoch
lange Zeit nicht. In den 1960ern entdeckten Ärzte zwar, dass hoch dosiertes Kortison einen
MS-Schub verkürzen konnte, doch erst 150 Jahre nach d’Estes Blutegel-Tortur wurde mit
Interferon-Beta die erste Immuntherapie zur Behandlung der MS zugelassen. Die Zulas-
sung führte zu einem regen Forschungsinteresse in diesem Feld. Mittlerweile wurden 19
immunmodulierende und -supprimierende, also das Immunsystem beeinflussende oder
unterdrückende, Wirkstoffe entwickelt, geprüft und zur Behandlung schubförmig-remit-
tierender MS zugelassen. Die Frage ist: Können die Immuntherapien ihre Versprechen als
Durchbruch in der Behandlung der MS einlösen?

                                                                                                     3
MS-Faktoren im Immunsystem                                MS-Therapiestudien –
                                                          ein Hürdenlauf
Aktuell herrscht die Auffassung, dass MS durch eine
Fehlsteuerung des Immunsystems entsteht, bei der
                                                          Die Wirksamkeit von Medikamenten zur Behand-
die Immunzellen den eigenen Körper und hier vor al-
                                                          lung der MS nachzuweisen, ist schwierig, da die
lem die Isolierschicht der Nervenfortsätze, das Mye-
                                                          wissenschaftlichen Tests hierzu auf verschiedene
lin, aber auch die Nervenzellen selber attackieren.
                                                          grundsätzliche Probleme stoßen:
Für die Entstehung und Entwicklung der MS wird ei-
ner Untergruppe der weißen Blutzellen, den T-Lym-
                                                          1. Lange Zeit dachte man, dass es genügt, die Ver-
phozyten, eine besondere Bedeutung zugesprochen.
                                                             hinderung von Schüben nachzuweisen, um Wirk-
T-Lymphozyten können Nervenzellstrukturen erken-
                                                             samkeit zu belegen. Allerdings hat sich mittler-
nen und direkt zerstören. Auch sogenannte B-Lym-
                                                             weile gezeigt, dass die Häufigkeit von Schüben
phozyten spielen möglicherweise eine Rolle. Sie ak-
                                                             für die Beeinträchtigung im Langzeitverlauf meist
tivieren T-Lymphozyten und produzieren Antikörper
                                                             unbedeutend ist.
(immunologisch wirksame Eiweiße), die ebenfalls
Nervenzellstrukturen zerstören können. Antikörper
                                                          2. Zusätzlich wurde in den Studien immer auch die
lassen sich im Nervenwasser (auch Liquor genannt)
                                                             bleibende Beeinträchtigung mittels EDSS, der
durch molekularbiologische Nachweismethoden
                                                             „Expanded Disability Status Scale“, gemessen,
als sogenannte „oligoklonale Banden“ sichtbar ma-
                                                             einer Skala, die versucht, alle MS-Beeinträchti-
chen. Dies ist ein relativ typischer diagnostischer Be-
                                                             gungen basierend auf der neurologischen Unter-
fund bei MS. Eine wichtige weitere Struktur bei der
                                                             suchung in einen Zahlenwert zu bringen (0 = Kei-
Entstehung und Therapie der MS ist die sogenannte
                                                             ne Beeinträchtigung, 10 = Tod durch MS). Wenn
Blut-Hirn-Schranke. Das Gehirn wird über die Blut-
                                                             man bedenkt, wie unterschiedlich MS-bedingte
gefäße beständig mit Energie, in Form von Trauben-
                                                             Beeinträchtigungen sein können, wird klar, dass
zucker versorgt. Die hirnversorgenden Gefäße sind
                                                             das Ausmaß nur sehr schwer in einem einzelnen
im Inneren mit besonderen Zellen ausgekleidet, die
                                                             Zahlenwert abzubilden ist.
wie eine Schranke wirken: Zuckermoleküle dürfen
passieren, Krankheitserregern oder sogar einem
                                                          3. Zusätzlich taucht die Frage auf, welche Verän-
Teil der Zellen des eigenen Immunsystems wird der
                                                             derungen auf dieser Skala für eine/n Patient:in
Übertritt in das Hirngewebe normalerweise jedoch
                                                             überhaupt bedeutsam sind. Im unteren Bereich
erschwert. Bei MS kommt es allerdings zu Störun-
                                                             (EDSS-Wert 1 bis 3,5) reichen schon kleinere Ver-
gen der Blut-Hirn-Schranke. Verschiedenen Immun-
                                                             änderungen in der neurologischen Untersuchung
zellen (wie die oben erwähnten T- und B-Lympho-
                                                             für eine Änderung des Zahlenwerts. Im mittleren
zyten) können so leichter in das Gehirn eindringen
                                                             Bereich (EDSS-Wert 4 bis 7,5) interessiert sich die
und schließlich Nervenstrukturen schädigen.
                                                             Skala dann fast nur für die Gehstrecke, die jemand
                                                             zurücklegen kann – ob zusätzlich eine Fatigue oder
Obwohl alle bisher zugelassenen Medikamente auf
                                                             eine Sehstörung existiert, wirkt sich kaum aus.
das Immunsystem einwirken, gibt es bisher keine
Therapie, die das fehlgesteuerte Immunsystem kom-
plett erneuert oder „umerzieht“. Daher werden – um        Die beste Art, um die Wirksamkeit eines Medika-
eine langfristige Wirkung erzielen zu können – die        ments nachzuweisen, ist die Durchführung einer
meisten Immuntherapien als Dauertherapie gege-            sogenannten randomisiert-kontrollierten Studie.
ben. Lediglich die Medikamente Alemtuzumab und            Das bedeutet, dass die Studienteilnehmer per Zu-
Cladribin greifen so massiv in das Immunsystem ein,       fallsprinzip (= randomisiert) auf zwei Behandlungs-
dass sie nur an wenigen Tagen innerhalb von zwei          gruppen aufgeteilt werden. Von denen erhält eine
Jahren verabreicht werden dürfen. Dieser Effekt hält      das echte Medikament, die Verum- oder Medika-
über die gesamte genannte Zeitspanne an.                  menten-Gruppe, die andere meist ein Scheinmedi-
                                                          kament, die Placebo- oder Kontroll-Gruppe (= kon-
                                                          trolliert). Es kann aber auch ein Vergleich von zwei
                                                          verschiedenen Therapien erfolgen (z.B. Interferon
                                                          und Alemtuzumab). So eine aufwändige randomi-

4
sierte Studie läuft in der Regel über 2 Jahre. Da die                    die Zunahme der Beeinträchtigung (auch „Progres-
MS über Jahrzehnte verläuft und sich oft über Jah-                       sion“) basierend auf dem EDSS zusammenfassend
re wenig verändert, müssten im Ergebnis aussage-                         dargestellt. Auf viele Aspekte, die für MS-Patient:in-
kräftige Studien eigentlich langfristig angelegt wer-                    nen wichtig sind und die z.T. auch in den Studien er-
den. Eine Studiendauer von circa zwei Jahren reicht                      fasst werden, wie Veränderungen im Kernspin (MRT)
also nicht aus, um langfristige Therapieeffekte und                      oder der Lebensqualität, wird hier jedoch nicht ein-
-risiken zuverlässig abzuschätzen. Oft wird statt-                       gegangen. Mehr Informationen und Details zu den
dessen am Ende einer randomisierten Studie auch                          einzelnen Medikamenten finden sich auf einer In-
der Placebo-Gruppe die neue Therapie angeboten,                          formationsplattform im Internet, die im Rahmen
um mehr Informationen zu der Wirkung, aber auch                          des DECIMS-Projekts (Decision Coaching in MS) im
möglichen Nebenwirkungen über einen längeren                             MS Kompetenznetz entwickelt wurde (zur Nutzung
Zeitraum zu erhalten. Dabei ist aber problematisch,                      des so genannten „DECIMS-Wiki“ kann auf der Web-
dass viele Patient:innen im Laufe der Jahre aus der                      site ein Login beantragt werden).3
Studie ausscheiden (z.B., weil sie in eine andere
Stadt ziehen, den Arzt wechseln oder die Immun-
therapie vorzeitig beenden) und damit das Ergebnis
                                                                         Absolute und relative Risiko-
der Langzeitbeobachtung nur für einen kleinen Teil
der Studienteilnehmer vorliegt.                                          reduktion – Schein oder Sein?

Aus Verlaufsbeobachtungen von Patient:innen, die                         Um die nachfolgende Darstellung zu verstehen, ist
direkt zu Studienbeginn das neue Medikament er-                          es wichtig, zu wissen, dass Studienergebnisse als
hielten und denen, die dann erst nach einer Zeit                         sogenannte Risikoreduktionen berichtet werden.
von ein bis zwei Jahren das Medikament bekamen,                          Dabei werden zwei Formen verwendet, die jeweils
versucht man weitere Rückschlüsse zu ziehen. Vor                         unterschiedliche Informationen liefern: die absolute
allem wird hier die Frage bearbeitet, was eine ganz                      Risikoreduktion (ARR) und die relative Risikoreduk-
frühe Therapie nutzt. Die Datenlage ist dazu nicht                       tion (RRR). Die absolute Risikoreduktion gibt an, wie
sehr überzeugend, wie erst kürzlich in einer syste-                      viele Patient:innen einen Nutzen von der Therapie
matischen Übersicht deutlich wurde1 (systemati-                          haben. Hierbei werden alle Studienteilnehmer in die
sche Übersichtsarbeiten fassen die Ergebnisse ver-                       Berechnung einbezogen, ob mit Ereignis (z.B. Schub)
schiedener Studien zusammen und bewerten dabei                           oder ohne Ereignis (z.B. schubfreie Patient:innen).
auch die Qualität der Untersuchungen). Insgesamt                         Wenn in einer MS-Studie 5 von 100 Patient:innen in
ist sowohl die Datenlage für eine ganz frühe Thera-                      der Placebo-Gruppe Schübe haben, in der Medika-
pie als auch für den Langzeitnutzen unzureichend.                        menten-Gruppe aber nur 4 von 100, dann ist die ab-
                                                                         solute Risikoreduktion 5 minus 4 von 100, also 1 von
Die Autoren einer großen Übersichtsarbeit zu ver-                        100 (= 1%). Die relative Risikoreduktion gibt den Nut-
schiedenen Studien fassen den aktuellen Stand                            zen für Studienteilnehmer an, bei denen das unter-
folgendermaßen zusammen: Für die meisten Im-                             suchte Ereignis (z.B. Schübe) auftrat, und zwar als
munmedikamente gibt es einen mäßigen Nutzen                              Vergleich zwischen der Placebo- und Medikamen-
über einen Behandlungszeitraum von zwei bis drei                         ten-Gruppe. Wenn z.B. in einer MS-Studie 5 von 100
Jahren. Der Nutzen bezieht sich vor allem auf die                        Patient:innen in der Placebo-Gruppe Schübe haben,
Verhinderung von Schüben. Der Langzeitnutzen der                         aber in der Medikamenten-Gruppe nur 4 von 100,
Medikamente ist bisher aber unklar2.                                     dann entspricht die relative Risikoreduktion der Dif-
                                                                         ferenz, also 5 minus 4, also einer Person. Dies bezieht
Im Folgenden wird die Wirkung der verfügbaren Im-                        sich aber nicht auf 100, sondern auf die 5 Patient:in-
muntherapien auf das Auftreten von Schüben und                           nen mit Schüben in der Placebo-Gruppe. Damit ist

1
    Filippini et al., Treatment with disease-modifying drugs for people with a first clinical attack suggestive of multiple sclerosis.
    2017 Apr 25;4:CD012200. Cochrane Review
2
    Tramacere et al., Immunosuppressants and immunomodulators for multiple sclerosis: a network metaanalysis. Cochrane
    Review 2015 Sep. 18(9)
3
    http://wiki2.kkn-ms.de/index.php

                                                                                                                                         5
die relative Risikoreduktion 1 von 5, oder in Prozent            MS-Schubtherapie – kann man,
umgerechnet: 20 von 100, also 20 Prozent.
                                                                 aber muss man nicht machen
Wenn in einer Studie nur sehr selten Ereignisse auftre-
                                                                 Seit den 90er Jahren werden Schübe bei MS mit ei-
ten, die dann aber von einem Medikament verhindert
                                                                 ner hochdosierten Kortisongabe von 500 bis 2000
werden können, ist die relative Risikoreduktion groß,
                                                                 mg täglich über 3 bis 5 Tage behandelt. Dabei haben
die absolute Risikoreduktion aber sehr klein. Auch
                                                                 Therapiestudien gezeigt, dass lediglich die Schub-
hier ein Zahlen-Beispiel: Wenn in der Placebo-Grup-
                                                                 schwere gemindert und die Erholungszeit beschleu-
pe 2 Patient:innen, in der Medikamenten-Gruppe
                                                                 nigt werden kann. Einen Nutzen haben hier 25 von
1 Patient:in einen Schub bekommt, beträgt die rela-
                                                                 100 Patient:innen. Kortison führt nicht dazu, dass
tive Risikoreduktion 50% (1 von 2). Die absolute Risi-
                                                                 man 6 Monate nach Ende des Schubes weniger
koreduktion liegt dann aber nur bei 1% (1 von 100).
                                                                 beeinträchtigt ist, als wenn man keine Kortison-
Meist werden bei Darstellungen der Wirksamkeit
                                                                 therapie durchführt. Dagegen stehen die häufigen
von MS-Therapien die relativen Risikoreduktionen
                                                                 Nebenwirkungen mit Schlafstörungen, Unruhe, Ge-
berichtet, weil sie beeindruckender aussehen. Die
                                                                 wichtszunahme und Gesichtsrötung. Selten kann es
absolute Risikoreduktion ist einfacher zu verstehen,
                                                                 zu Gefäßverstopfungen (Thrombosen) oder einem
aber ist meist deutlich kleiner (siehe Abb. 1 für ein
                                                                 Magengeschwür oder psychischen Ausnahmezu-
Beispiel zur ARR).
                                                                 ständen, wie eine schwere Depression oder Psycho-
                                                                 se, kommen. Der Langzeitverlauf der Erkrankung
                                                                 wird durch eine Kortisoneinnahme nicht beeinflusst.

                                                                 Wirkungen im Überblick

                                                                 Zusammengefasst verhindern die aktuell verfüg-
                                                                 baren Immunmedikamente im Vergleich zu einem
                                                                 Placebo bei 10-26% das Auftreten von Schüben und
                                                                 bei 7-14% eine Zunahme der Beeinträchtigung. Die-
                                                                 se Zahlen sind die absolute Risikoreduktionen und
                                                                 beziehen sich auf eine Studiendauer von 2 Jahren
                                                                 (Übersicht siehe Abb. 2 und 3).

Abbildung 1: Darstellung der Therapieeffekte nach absoluter
Risikoreduktion
Die Abbildung zeigt die Anzahl von Patient:innen mit und
ohne Schübe in den beiden Gruppen der Studie (erster und
zweiter Balken). Im Balken „Nutzen“ sieht man in Grün die An-
zahl der Patient:innen von 100 mit Tecfidera behandelten, die
einen Nutzen von der Therapie haben. Dazu vergleicht man
die Patient:innen mit Schüben unter Placebo mit denen mit
Schüben unter Tecfidera. Da nur 28 statt 44 Schübe hatten,
ist die absolute Risikoreduktion 44-28=16. 56 Patient:innen
unter Tecfidera haben keinen Nutzen, weil sie unabhängig
von der Therapie stabil geblieben sind. Im Folgenden wird nur
noch der Zusammenfassungsbalken dargestellt, auch um die
Medikamente nebeneinander zu stellen.

6
Abbildung 2: Absolute Risikoreduktion für Schubfreiheit und Progressionsfreiheit – Studienmedikament gegen Placebo

Abbildung 3: Absolute Risikoreduktion für Schubfreiheit und Progressionsfreiheit – Studienmedikament gegen anderes
MS- Medikament

                                                                                                                     7
Nebenwirkungen im Überblick                                    einer Reihenfolge von schwächer zu stärker wirk-
                                                               samen Medikamenten schwierig. Mit der Leitlinie
Wenn man von den schwerwiegendsten Risiken, wie                von 2021 erfolgt dennoch jetzt eine Einteilung nach
z.B. dem Tod oder einer massiven Beeinträchtigung              Wirkstärke der Medikamente, die als Anhaltspunkt
als Folge unerwünschter Wirkungen der Medika-                  dienen kann. Dabei ist sowohl eine Eskalation von
mente ausgeht, dann ist Natalizumab mit derzeit                Kategorie 1 über 2 nach 3 möglich, aber auch je nach
weltweit 839 Fällen auf 213.000 Behandelte (Stand:             Krankheitsaktivität, eine direkte Gabe von Kategorie
8/2020) einer sogenannten progressiven multifoka-              2- oder 3- Medikamenten.
len Leukenzephalopathie (PML) an erster Stelle zu
nennen. Die PML ist eine Virusinfektion des Gehirns,
die zu schweren neurologischen Beeinträchtigungen              Wirksamkeit und Nebenwirkungen
und evtl. auch dem Tod führen kann. Auch wenn ca.
                                                               der 18 Immuntherapien
50% der Bevölkerung das Virus in sich tragen, so er-
kranken nur Patient:innen, deren Immunsystem ge-
                                                               Mit der Zulassung der Interferone 1995 gab es erst-
schwächt ist.
                                                               mals eine Langzeitbehandlungsmöglichkeit für die
                                                               MS. Bis dahin bestand die Therapie im Wesentlichen
Unter der Behandlung mit Fingolimod liegen 15 Fälle
                                                               in der Behandlung von Schüben mit hochdosiertem
weltweit vor, unter Dimethylfumarat fünf. Dazu kom-
                                                               Kortison. Allerdings fanden schon in den Jahren da-
men unter der Behandlung mit Fingolimod einzelne
                                                               vor Therapiestudien mit Medikamenten statt, die
Fälle anderer schwerer Virusinfektionen des Gehirns.
                                                               das Immunsystem teilweise unterdrücken. Für Azat-
Unter der Behandlung mit Alemtuzumab gibt es
                                                               hioprin (Imurek® oder Imuran®), ein Medikament in
1 Todesfall als Folge einer Verminderung der Blut-
                                                               Tablettenform, das Neurologen und Rheumatologen
plättchen in einer älteren Therapiestudie und einen
                                                               zum Teil auch bei anderen entzündlichen Erkrankun-
nach Zulassung im Jahr 2016. Unter der Behandlung
                                                               gen einsetzen, liegen Ergebnisse zur Wirksamkeit
mit Mitoxantron sind therapiebedingte Blutkrebs-
                                                               vor. Die Qualität der Studien entspricht jedoch nicht
erkrankungen und schwere Herzschädigungen bei
                                                               der von neueren MS-Therapiestudien. Dennoch ha-
bis zu 3 Prozent der Patient:innen beschrieben. Be-
                                                               ben die Daten gezeigt, dass die Schubrate mit Azat-
trachtet man die Medikamente mit den häufigsten
                                                               hioprin ähnlich gesenkt werden kann wie mit den
auch leichteren Nebenwirkungen, dann ist der Flush
                                                               neueren Immuntherapeutika (siehe Abb. 3). Deshalb
(anfallsartige Gesichtsrötung) unter Dimethylfuma-
                                                               wurde Azathioprin auch 2001 noch als Ersatzmedi-
rat (30%) sehr häufig und grippeähnliche Reaktionen
                                                               kament zugelassen. Allerdings besteht Unsicherheit,
unter Interferonen (28%). Für die alleinige Medika-
                                                               ob nach mehr als 10 Jahren Therapie nicht doch ein
mentengabe von 1 bis zu 5 Tagen sind Infusionsreak-
                                                               erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen durch das
tionen u.a. mit Kopfschmerzen, Hautausschlag und
                                                               Medikament vorliegt. Trotzdem gibt es immer noch
Fieber bei 24 Prozent der Ocrelizumab-Patient:innen
                                                               einige Patient:innen, die Azathioprin einnehmen.
und bei fast allen Alemtuzumab-Patient:innen be-
schrieben.
                                                               Die Interferone (bestehend aus Alpha-, Beta-, Gam-
                                                               mainterferone und anderen) sind körpereigene Im-
                                                               munbotenstoffe, die vor allem bei der Abwehr von
Welches Medikament wann?                                       Viruserkrankungen eine Rolle spielen. Als Medika-
                                                               mente werden Interferone gentechnisch hergestellt
Wann welches Medikament am besten eingesetzt
                                                               und zwischen einmal täglich und alle 2 Wochen mit
wird, ist schwierig zu entscheiden. Bis 2014 galt
                                                               einer dünnen Spritze ins Unterhautfettgewebe (sub-
das Konzept der Eskalationstherapie4, nach dem
                                                               kutan) oder in den Muskel (intramuskulär) gespritzt.
Patient:innen, je nach Ansprechen auf die Therapie,
                                                               Bei der MS sind mittlerweile fünf Beta-Interferone
von schwächer zu stärker wirksamen Medikamenten
                                                               zugelassen, die sich in der Dosis und in der Art der
wechselten. Da aber nur wenige Medikamente direkt
                                                               Anwendung unterscheiden, aber in der Wirkungs-
miteinander verglichen worden sind, ist die Bildung
                                                               weise und Wirksamkeit sehr ähnlich sind (siehe Tab.
                                                               2), weshalb diese zusammengefasst dargestellt wer-
4
    https://www.dgn.org/leitlinien/2333-ll-31-2012-diagnose-   den (siehe Abb. 3a). Bei den Interferonen zeigen sich
    und-therapie-der-multiplen-sklerose
                                                               9 von 100 ohne Zunahme der Beeinträchtigung und

8
Optional: Abwarten
                                                     Schubförmige MS             mit regelmäßiger
                                                                                 Kontrolluntersuchung

                         Kategorie 1                    Kategorie 2                     Kategorie 3
                       (mäßig wirksam)                (stark wirksam)                (höchst wirksam)

                          Azathioprin:                   Cladribin:                    Alemtuzumab:
                          z.B. Imurek®                   Mavenclad®                      Lemtrada®

                      Dimethylfumarat:                  Fingolimod:                    Natalizumab:
                         Tecfidera®                       Gilenya®                       Tysabri®

                       Glatirameracetat:                Mitoxantron:                   Ocrelizumab:
                             Clift®sc                    Novantron®                      Ocrevus®
                           Clift 40®sc
                                                           Ozanimod:                   Ofatumumab:
                         Copaxone®sc
                                                            Zeposia®                    Kesimpta®sc
                        Copaxone 40®sc
                                                        Ponesimod:
                         Interferone:                    Ponvory®                      Infusion
                           Avonex®im
                          Betaferon®sc                                                 Spritze
                           Extavia®sc
                                                                                       Tablette
                         Plegridy®sc/im
                            Rebif®sc                                                   Reservemedikament
                         Teriflunomid:                                             sc = subkutan
                           Aubagio®                                               im = intramuskulär
Tabelle 1: Die Unterteilung der Medikamente in 3 Kategorien folgt dem Konzept der MS-Leitlinie von 2021. Dabei ist die Unter-
teilung nur eine grobe Orientierung. Die Medikamente sind in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt, das heißt, es gibt keine
Rangliste in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit.

15 von 100 Patient:innen schubfrei durch das Medi-               ähnliche Beschwerden mit Fieber, Abgeschlagenheit,
kament. Bedingt durch die Anwendungsweise sind                   Gelenk- und Muskelschmerz. Injektionsreaktionen
die Nebenwirkungen der Interferone jedoch ver-                   treten therapiebedingt bei 51 von 100 Patient:innen,
schieden. Im Vordergrund stehen dabei Folgen der                 grippeähnliche Nebenwirkungen bei 28 von 100 Pa-
Injektion an der Haut mit Rötungen, Schwellungen                 tient:innen auf.
bis hin zu offenen Wunden (selten!) sowie grippe-

                                              Übersicht über die Interferone
 Präparat          Inhalt                   Dosis             Anwendung             Intervall                 Hersteller
 Betaferon®        Interferon-ß 1B          250 µg            subkutan              jeweils 3/Woche           Bayer
 Extavia®          Interferon-ß 1B          250 µg            subkutan              jeweils 3/Woche           Novartis
 Rebif®            Interferon-ß 1A          22 und 44 µg      subkutan              jeweils 3/Woche           Merck
 Avonex®           Interferon-ß 1A          30 µg             intramuskulär         einmal pro Woche          Biogen
 Plegridy®         Interferon-ß 1A          125 µg            subkutan/             alle 14 Tage              Biogen
                                                              intrasmuskulär

Tabelle 2: Übersicht über die Interferone

                                                                                                                                9
Weil die Interferone am längsten auf dem Markt                     Natalizumab (Tysabri®) wurde 2006 zugelassen und
 sind, liegen für sie auch die meisten Langzeitdaten                wird alle vier Wochen als Infusionstherapie über die
 vor, und viele Grundsatzfragen wurden mit Inter-                   Vene gegeben. Natalizumab ist ein sogenannter mo-
 feronen untersucht. So z.B. auch die Frage, ob eine                noklonaler Antikörper, der gentechnisch hergestellt
 besonders frühe Therapie nach dem ersten Schub-                    wird. Antikörper sind wichtige Abwehrstoffe des Kör-
 ereignis besser ist, als eine Therapie ab dem zweiten              pers, die gezielt Erreger neutralisieren können. Dabei
 Schub. In einer systematischen Übersichtsarbeit aus                docken diese Antikörper nach dem Schlüssel-Schloss-
 2017 fanden sich bezogen auf die bleibende Beein-                  Prinzip an einer bestimmten Zielstruktur auf Viren
 trächtigung nach fünf Jahren keine klaren Belege für               oder Bakterien an. Es lassen sich aber auch Antikör-
 die Überlegenheit der frühen Therapie5.                            per herstellen, die an bestimmte Zielstrukturen des
                                                                    eigenen Körpers andocken. Natalizumab blockiert
 Glatirameracetat (Copaxone®) wurde 2001 zuge-                      eine wichtige Bindungsstelle an der Oberfläche der
 lassen. Es ist ein künstlich hergestelltes Eiweiß, das             Blutgefäße im Gehirn (der Blut-Hirn-Schranke), so-
 einem Baustein der Isolierschicht im zentralen Ner-                dass Lymphozyten (die anfangs beschriebenen Im-
 vensystem, dem Myelin, sehr ähnelt. Seine Wirkung                  munzellen) nicht mehr ins Gehirn einwandern kön-
 beruht vermutlich auf einer Art Desensibilisierung,                nen. Damit kann die Entzündungsreaktion im Gehirn
 wie man sie auch bei Allergien einsetzt. Durch die                 bei MS deutlich reduziert werden, was das Ziel der
 Konfrontation mit einer Myelin-ähnlichen Substanz                  Behandlung mit Natalizumab ist. Bei der Natalizu-
 soll das Immunsystem wieder lernen, dieses zu to-                  mab-Therapie finden sich über zwei Jahre therapie-
 lerieren und nicht zu attackieren. Damit ist Glatira-              bedingt 26 von 100 schubfreie und zwölf von 100
 meracetat ein hoch spezifisches Medikament für                     progressionsfreie Patient:innen. Die Natalizumab-
 die MS. Es wird als Injektion zwischen einmal täglich              Infusion selbst ist gut verträglich, selten kommt es
 und dreimal pro Woche ins Unterhautfettgewebe                      unter Natalizumab zu Kopfschmerzen (6%) oder al-
 gespritzt und ist in seiner Wirksamkeit vergleichbar               lergischen Reaktionen (5%). Dadurch, dass die Lym-
 mit den Interferonen. Unter Glatirameracetat sind                  phozyten nicht mehr ins Gehirn eindringen können,
 7 von 100 ohne Beeinträchtigungszunahme und 10                     verliert der Körper aber auch die Schutzfunktion z.B.
 von 100 ohne Schübe. Copaxone ist mit zwei Interfe-                gegenüber bestimmten Viren im Gehirn. So kann es
 ronen in der Wirksamkeit vergleichen worden. Beide                 unter Natalizumab-Therapie zur Reaktivierung des
 Studien konnten keine Überlegenheit der Interfero-                 John-Cunningham-Virus (JCV) kommen, das 50% der
 ne belegen. 2016 wurde ein sogenanntes Biosimilar,                 Bevölkerung in sich tragen, ohne davon je krank zu
 ein nach Ablauf des Patentschutzes hergestelltes                   werden. Bei Patient:innen mit einem geschwächten
 Nachahmerprodukt, namens Clift® zugelassen, was                    Immunsystem oder bestimmten Medikamenten
 genauso zu wirken scheint, aber um ein Drittel kos-                kann das JCV-Virus aber eine gefährliche Gehirnent-
 tengünstiger ist.                                                  zündung, die progressiv multifokale Leukenzepha-
                                                                    lopathie (PML), verursachen. Mittlerweile sind 839
 Mitoxantron (Ralenova® oder Novantron®), ein lange                 (Stand: 8/2020) Fälle weltweit bekannt. Das ent-
 bekanntes Chemotherapeutikum, das alle 3 Monate                    spricht einem Risiko von 3,94 pro 1.000 Patient:in-
 als Infusion verabreicht wird, wurde 2002 zur Thera-               nen. Da das Risiko davon abhängt, ob man das Virus
 pie der schubförmigen MS zugelassen. Bei Studien                   trägt, wie lange Natalizumab eingenommen wird
 mit zweijähriger Mitoxantron-Therapie fanden sich                  und ob vorher andere Immuntherapien eingesetzt
 im Vergleich zur Placebo-Gruppe 21 von 100 schub-                  wurden, haben Ärzte ein Konzept entwickelt, mit
 freie und 14 von 100 Patient:innen ohne Zunahme                    dem sich das Risiko besser einschätzen lässt. Dieses
 der Beeinträchtigung. Weil es jedoch Blutkrebs-                    Konzept kann bei der prinzipiellen Entscheidung für
 erkrankungen und Herzschädigungen hervorrufen                      oder gegen die Natalizumab-Therapie, vor allem zu
 kann sowie angesichts der dürftigen Studienlage,                   deren zeitlicher Begrenzung und ggf. dem Abbruch,
 spielt Mitoxantron bei MS kaum noch eine Rolle.                    helfen.

 5
     Filippini et al., Treatment with disease-modifying drugs for
     people with a first clinical attack suggestive of multiple
     sclerosis. 2017 Apr 25;4:CD012200. Cochrane Review

10
Fingolimod (Gilenya®), eine Tablette, die einmal täg-    seltenen schweren Infektionen, die sich unter Fingo-
lich eingenommen wird und 2011 zugelassen wurde,         limod finden sind bislang nicht beschrieben, was je-
wirkt über eine Bindungsstelle, die sich an vielen Ge-   doch an der kürzlichen Zulassung liegen kann.
weben im Körper findet: den Sphingosin-1-Phosphat-
Rezeptor. Im Immunsystem führt das dazu, dass T-         Ponesimod (Ponvory®) wurde im Mai 2021 zugelas-
Lymphozyten nicht aus den Lymphknoten ins Blut           sen. Es ähnelt dem Ozanimod und hat gegenüber
ausschwärmen können. Gegenüber Placebo zeigte            Teriflunomid in einer großen Studien Überlegenheit
Fingolimod (mit einer Dosis von 0,5mg), dass 25 von      bezogen auf die Schubrate, nicht jedoch bezogen auf
100 Patient:innen zusätzlich schubfrei und 7 von 100     die Progression zeigen können.
progressionsfrei blieben. In einer einjährigen Studie
zeigte sich Fingolimod gegenüber einem Interferon        Alemtuzumab (Lemtrada®) wurde 2013 zugelassen.
(Avonex) vor allem bezogen auf das Verhindern von        Es ist, wie Natalizumab, ein monoklonaler Antikörper.
Schüben überlegen. Um einen besseren Effekt auf          Alemtuzumab führt über das Andocken an einem
die Progressionsfreiheit zu untersuchen, reichte die     Rezeptor auf Lymphozyten zu einer erheblichen Re-
Studiendauer jedoch nicht. Wie oben beschrieben          duktion von T- und B-Lymphozyten. Es wird über fünf
führt die Einnahme von Fingolimod dazu, dass die         Tage in Folge als Infusion gegeben und wirkt dann
Lymphozyten nicht aus dem Lymphknoten austre-            so lange nach, dass es erst im Folgejahr, dann über
ten. Dadurch sinkt deren Anzahl bei Untersuchung         drei Tage, erneut verabreicht werden muss. Alemtu-
des Blutbildes. Kritische Verminderungen treten bei      zumab ist neben Ocrelizumab (s.u.) das einzige Medi-
3 von 100 Patient:innen therapiebedingt auf. Dies        kament, das bei Patient:innen untersucht wurde, bei
kann dazu führen, dass das Medikament abgesetzt          denen eine andere MS-Therapie, in diesem Fall eine
werden muss. Das Andocken an den Sphingosin-             Interferontherapie, nicht ausreichend wirkte, sodass
1-Phosphat-Rezeptor des Herzens ist auch dafür ver-      weitere Schübe auftraten. Hier zeigte es gegenüber
antwortlich, dass es zu einer Herzschlagverlangsa-       dem Interferon (Rebif®), dass zusätzlich 18 von 100
mung kommen kann. Deshalb muss Fingolimod bei            Patient:innen schubfrei waren und 7 von 100 Pati-
der Erstgabe unter Herzschlag-Kontrolle gegeben          ent:innen keine Zunahme der Beeinträchtigung hat-
werden. Auch bei der Fingolimod-Therapie sind seit       ten. Allerdings bringt Alemtuzumab dafür auch ein
der Zulassung des Medikaments 38 Fälle auf mehr          schlechteres Nebenwirkungsprofil mit. Sehr häufig
als 300.000 Behandelte beschrieben, so dass auch         (90% der Patient:innen) kommt es zu Infusionsreak-
hier von einem gewissen PML-Risiko ausgegangen           tionen mit Kopfschmerzen, Hautausschlag, Nessel-
werden muss. Zusätzlich finden sich bis heute 76         sucht, Fieber, Schüttelfrost, Übelkeit, Hitzegefühl
Fälle einer Pilzinfektion des Nervensystems, einer so    mit Hautröte (Flush). Deshalb werden begleitend
genanten Kryptokokkose. Bei Kinderwunsch darf Fin-       zur Therapie Kortison und ein Medikament gegen
golimod von Frauen nicht eingenommen werden, da          Allergien gegeben. Auch das Infektionsrisiko ist ge-
es den Embryo schädigt.                                  genüber einer Interferontherapie erhöht. Schwere
                                                         Infektionen traten bei weniger als 1% auf. Besonders
Ozanimod (Zeposia®) wurde 2020 zugelassen und            relevant aber ist, dass 30% der Patient:innen, die das
wird als Kapsel einmal täglich gegeben. Es ist genau-    Medikament bekommen, im Verlauf an weiteren,
so wie Fingolimod und Siponimod ein Sphingosin-          sogenannten sekundären Autoimmunerkrankungen
1-Phosphat-Rezeptor-Blocker. Es bindet aber kaum         erkranken. Besonders die Schilddrüse ist betroffen
an die Rezeptoren am Herz, so dass es weniger zu         (11%), seltener autoimmune Erkrankungen der Blut-
einer Herzschlagverlangsamung kommt. Gegenüber           plättchen (1%) oder der Niere (bisher insgesamt drei
einem Interferon (Rebif) zeigte Ozanimod, dass zu-       Fälle). Die Ursache für diese Nebenwirkung ist mögli-
sätzlich 10 von 100 Patient:innen über 2 Jahre Stu-      cherweise, dass Immunzellen, die sich gegen körper-
die schubfrei blieben. Ein sicher größerer Effekt auf    eigenes Gewebe richten, die Therapie eher über-
die Progression gegenüber Rebif konnte jedoch nicht      leben, sich dann im Verlauf vermehren und zu sol-
gezeigt werden, was den Wirksamkeitsdaten von            chen Erkrankungen führen. Typischerweise treten
Fingolimod entspricht. Infekte und Leberwerterhö-        diese erst im zweiten Therapiejahr auf. Die autoim-
hungen sind die häufigsten Nebenwirkungen. Typi-         munen Schilddrüsenerkrankungen lassen sich meist
scherweise treten auch Erniedrigung der Lymphozy-        gut behandeln, eine nicht erkannte autoimmun ver-
tenzahlen ähnlich häufig wie bei Fingolimod auf. Die     mittelte Verminderung der Blutplättchen oder eine

                                                                                                                11
Nierenerkrankung können aber lebensbedrohlich            len. In den Zulassungsstudien zeigt Dimethylfuma-
 sein. In 2019 wurde die Zulassung von Alemtuzu-          rat, dass 8 von 100 Patient:innen therapiebedingt
 mab eingeschränkt, weil neue mögliche Risiken be-        schubfrei und 7 von 100 progressionsfrei blieben.
 schrieben wurden. Berichtet wurden hier Einzelfälle      In einer Zulassungsstudie, in der eine kleine Gruppe
 von Blutungen im Kopf und Einrisse von Halsgefäßen       zum Vergleich mit Glatirameracetat (Copaxone®)
 sowie Herzinfarkte. Darüber hinaus traten schwere        behandelt wurde, war Dimethylfumarat nicht bes-
 Leberentzündungen auf. Deshalb soll Alemtuzumab          ser wirksam. Bei den Nebenwirkungen stehen eine
 nur noch gegeben werden, wenn mindestens eine            Flush-Symptomatik (30 von 100 mehr als unter Pla-
 andere MS-Therapie nicht erfolgreich war. Wegen          cebo) und Magen-Darm-Beschwerden (11 mehr) in
 der sehr lange anhaltenden Veränderungen im Im-          der Anfangsphase im Vordergrund. Mittlerweile sind
 munsystem müssen nach der Ersttherapie 5 Jahre           allerdings auch bei Dimethylfumarat 11 PML-Fälle
 lang monatliche Blutuntersuchungen erfolgen. Da          beschrieben. Diese traten jedoch nur dann auf, wenn
 Impfungen während der Gabe von Alemtuzumab               die Lymphozyten-Zahl längere Zeit unter der Norm-
 nicht sicher wirken, wird vor Therapiebeginn eine        grenze lag. Deshalb sollte zuerst einmal im Monat,
 Aktualisierung aller Standardimpfungen empfohlen.        im Verlauf alle 3 Monate eine Blutbildkontrolle erfol-
 Darüber hinaus müssen eine Hepatitis und eine Tu-        gen.
 berkuloseerkrankung ausgeschlossen werden.
                                                          Cladribin (Mavenclad®) ist seit August 2017 zugelas-
 Teriflunomid (Aubagio®) ist ebenfalls seit 2013 zur      sen. Die Dosierung richtete sich nach dem Körperge-
 MS-Therapie zugelassen, eine sehr ähnliche Subs-         wicht das Patient:innen. Cladribin führt über eine Er-
 tanz (Leflunomid) wird aber schon seit mehr als 20       niedrigung der Lymphozytenzahl zu einer Dämpfung
 Jahren in der Rheumatologie eingesetzt. Es wird mit      des Immunsystems und wird schon lange zur Be-
 14 mg einmal täglich als Tablette eingenommen und        handlung von bestimmten Blutkrebserkrankungen
 hemmt die Teilung aktiver Immunzellen. Diese sind        verwendet. Die Zulassung verzögerte sich zunächst,
 dann auch im Blut weniger nachweisbar, es wurde          weil in den Behandlungsgruppen gehäuft Krebser-
 bisher aber kein Fall einer kritischen Zellzahlernied-   krankungen aufgetreten waren. In der verlängerten
 rigung beschrieben. Gegenüber Placebo führte Te-         Nachbeobachtungszeit wurden jedoch keine weite-
 riflunomid zu zusätzlich 5 von 100 schubfreien Pati-     ren Fälle beschrieben, sodass gegenwärtig nicht von
 ent:innen ohne Zunahme der Beeinträchtigung. Eine        einem erhöhten Krebsrisiko im Vergleich zu anderen
 besondere Nebenwirkung von Teriflunomid ist, dass        Immuntherapien ausgegangen wird. Ähnlich wie bei
 es den Haarzellzyklus beeinflusst, weshalb bei 10 von    Alemtuzumab wird Cladribin in Zyklen verbreicht: Im
 100 Patient:innen verglichen mit der Placebo-Grup-       ersten Therapiejahr wird das Medikament an fünf
 pe vorübergehend mehr Haare ausfielen als sonst.         Tagen gegeben und dann nach vier Wochen erneut.
 1% der Patient:innen brach die Studie deshalb ab. Da     Im zweiten Therapiejahr erfolgt noch ein Therapie-
 sich bei ca. 19% der Patient:innen eine Erhöhung der     zyklus nach dem gleichen Schema. In einer Studie
 Leberwerte zeigte, müssen diese regelmäßig kont-         über zwei Jahre blieben im Vergleich zur Placebo-
 rolliert werden. Übelkeit und Durchfall traten unter     Gruppe therapiebedingt 19 von 100 Patient:innen
 Teriflunomid etwas häufiger auf als unter Placebo (7     schub- und 7 von 100 progressionsfrei. Bei 7% der
 bzw. 9%). Da es im Tierversuch eindeutig fruchtschä-     behandelten Patient:innen traten therapiebedingt
 digend ist, darf Teriflunomid bei Kinderwunsch nicht     Kopfschmerzen auf, 2% klagten über Haarausfall, ei-
 eingenommen werden. Eine klare Überlegenheit zu          nen allergischen Hautausschlag oder eine Herpes-In-
 den Interferonen konnte in einer kleinen Vergleichs-     fektion. Bei 20% kam es, entsprechend dem Wirkme-
 studie nicht gezeigt werden.                             chanismus zu einer langanhaltenden Erniedrigung
                                                          der Lymphozyten – manchmal konnte das Medika-
 Dimethylfumarat (Tecfidera®) ist seit 2014 zur MS-       ment deshalb auch nicht weiter verabreicht werden.
 Therapie zugelassen und wird zweimal täglich als
 Tablette eingenommen. Ein sehr ähnliches Medika-         Ocrelizumab (Ocrevus®) wurde im Januar 2018 zu-
 ment wird seit den 1990er Jahren in der Therapie der     gelassen. Ocrelizumab ist wie Natalizumab und
 Schuppenflechte eingesetzt. Auch Dimethylfumarat         Alemtuzumab ein monoklonaler Antikörper, der sich
 hemmt das Immunsystem durch Stoffwechselum-              gegen eine Oberflächenstruktur auf den B-Lympho-
 stellung und Verminderung der Lymphozyten-Zah-           zyten richtet: Die Zellen sind nach Ocrelizumab-Gabe

12
monatelang im Blut nicht mehr nachweisbar. Es ist
grundsätzlich dem aus der Rheuma-Therapie stam-
menden Rituximab sehr ähnlich, welches schon vor
Jahren erfolgreich in kleineren Studien bei MS einge-
setzt wurde. Ocrelizumab wird als Infusionstherapie
alle sechs Monate gegeben. Ocrelizumab wurde in
zwei großen Studien gegen Interferon (hier Rebif®)
getestet, die zusammen ausgewertet wurden. Nach
zwei Jahren Studiendauer waren 13 von 100 bedingt
durch Ocrelizumab schubfrei und 7 von 100 progres-
sionsfrei. Auch wenn Infekte bei Ocrelizumab-Gabe
bisher nicht gehäuft auftraten, so sollten vor der
Erstgabe alle Impfungen aktualisiert werden, da die
Therapie die Wirkung der Impfung möglicherweise
verhindert. Auch eine Hepatitis muss ausgeschlos-
sen werden. Unter Ocrelizumab kam es in 24% mehr
zu Infusionsreaktionen als unter einer Scheininfusi-
on (Erklärung siehe Seite 4), welche die Patient:innen
der Interferon-Gruppe erhielten. Tumore traten in
den zwei Zulassungsstudien bei schubförmiger MS
bei 4 von 400 Ocrelizumab-Patient:innen und 2 von
400 Interferon-Patient:innen auf. Ocrelizumab wur-
de auch zur Behandlung der primär chronischen MS
unter bestimmten Bedingungen zugelassen. Der
Nutzen ist hier umstritten. Wenn, dann profitieren
Patient:innen in der Frühphase der Erkrankung mit
eindeutig entzündlicher Krankheitsaktivität. In die-
ser Studie zeigte sich für 3 von 100 Patient:innen
ein Nutzen. Nach Ocrelizumab-Einnahme kam es
in einer Studie bei primär chronischer MS zu mehr
Tumorerkrankungen als bei Placebo (11 von 486 ge-
genüber 2 von 239). Da die Rate aber nicht auffällig
erhöht war, hatte dies keinen Einfluss auf das Zulas-
sungsverfahren. Ob das PML-Risiko erhöht ist, lässt
sich noch nicht sicher abschätzen.

Ofatumumab (Kesimpta®) wurde im April 2021 zu-
gelassen. Es richtet sich gegen die gleiche Oberflä-
chenstruktur auf B-Lymphozyten wie Ocrelizumab.
Allerdings scheint die Bindung stärker zu sein. Im
Unterschied zu Orelizumab wird es als Spritze ins
Unterhautfettgewebe (subkutan) alle 4 Wochen ge-
geben. Die Wirksamkeitsdaten sind sehr vergleich-
bar mit Ocrelizumab. 4 von 100 Patient:inen waren
nach 2 Jahren therapiebedingt ohne Behinderungs-
zunahme.

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Fazit

 Zusammenfassend hat sich durch die Immuntherapieentwicklungen der MS in den letz-
 ten 20 Jahren viel getan. Aber: Der Preis für eine hohe Effektivität in der Verhinderung von
 Schüben sind mitunter ebenso hohe Nebenwirkungen. Und etwas ernüchternd gilt: Der
 Langzeitnutzen bleibt unklar. Ein direkter Effekt auf den degenerativen Anteil der Erkran-
 kung, bei dem Nervenzellstrukturen zerstört werden und der vermutlich für einen Großteil
 der bleibenden Beeinträchtigung verantwortlich ist, konnte bislang nicht gezeigt werden.
 Insgesamt ist die Auswahl der richtigen medikamentösen Therapie und unterstützenden
 Maßnahmen eine sehr individuelle Entscheidung, welche ausgiebig zwischen Patient:in
 und Arzt diskutiert werden sollte.

 Weitere Informationen

 Auf der Website des Instituts für Neuroimmunologie und Multiple Sklerose finden Sie
 alle Patient:innenhandbücher zu den MS-Medikamenten, die in Zusammenarbeit mit
 dem Kompetenznetz Multiple Sklerose und dem Bundesverband der Selbsthilfe entwi-
 ckelt wurden:

 www.inims.de/clinic

 Weitere Informationen finden Sie auf der Website des Bundesverbandes der Selbsthilfe:

 www.dmsg.de

 Die neue MS-Therapieleitlinie finden Sie unter:

 https://dgn.org/leitlinien/ll-030-050-diagnose-und-therapie-der-multiplen-sklerose-
 neuromyelitis-optica-spektrum-erkrankungen-und-mog-igg-assoziierten-erkrankungen/

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www.uke.de
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