Didaktik der Physik Frühjahrstagung - virtuell 2021 - PhyDid

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Didaktik der Physik
                                                                          Frühjahrstagung – virtuell 2021

                          Risiken der Radioaktivität aus Sicht von Jugendlichen
                                         Claus Bolte*, Nicole Schrader*

              *Freie Universität Berlin, Didaktik der Chemie, Haderslebener Str. 9, D-12163 Berlin
                               claus.bolte@fu-berlin.de – n.schrader@fu-berlin.de

Kurzfassung

Nicht zuletzt wegen ihres vielfältig faszinierenden Charakters ziehen wissenschaftliche Erkenntnisse zur Theorie
der Radioaktivität und ihre vielfältigen, oft nicht unumstrittenen, Anwendungen die Aufmerksamkeit der Wissen-
schaftsgemeinde wie auch die einer breiten Öffentlichkeit auf sich. Doch so populär die Diskussionen und Be-
richterstattungen rund um die Themen Radioaktivität und Anwendungen von Kernenergie auch sein mögen, so
facettenreich und durchaus subjektiv geprägt scheinen die öffentlichen Debatten und Streitgespräche. Angesichts
der vielfältig und oftmals emotional oder gar stigmatisierend geführten Diskussionen fällt es schwer, sich ein –
wohl reflektiertes und möglichst vorurteilsfreies – eigenes Urteil zu bilden; nicht zuletzt, da ja auch ein fach- und
sachgerechtes Verständnis von den naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen nicht einfach zu erzielen ist.
Ebenso schwer sind die zu erwartenden Folgen und Risiken zu überschauen, die mit den zahlreichen Anwendungs-
möglichkeiten verbunden sind oder sein können. Als Chemie-Lehrer*in und Fachdidaktiker*in stellt sich daher
die Frage: Wie ist es eigentlich um die fachbezogenen Kompetenzen von Schüler*innen im Themenfeld von Ra-
dioaktivität und (ionisierender) Strahlung bestellt und für wie risikobehaftet schätzen Jugendliche die technologi-
schen Anwendung von Radioaktivität und (ionisierender) Strahlung ein? Außerdem interessiert uns die Frage: In
welcher Weise beeinflusst wissenschaftlich stimmiges Wissen die subjektiv geprägte Risikowahrnehmung von
Jugendlichen?

1. Einleitung                                                 zung von Risiken im öffentlichen Meinungsbild nicht
Die Umsetzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse            immer mit naturwissenschaftlich gesicherten Er-
in neue Technologien und die Produkte, die aus den            kenntnissen oder mit technologisch fundierten Risi-
technologischen Anwendungen hervorgehen, bringt –             koabschätzungen in Übereinstimmung zu bringen
und das dürfte unbestritten sein – Fortschritt auf vie-       sind (Krohn & Krücken 1993; Wiedemann 1996).
len Gebieten und gesellschaftlichen Wohlstand her-            Mit Blick auf Schule und Unterricht provoziert die
vor. Strittiger sind hingegen die Diskussionen um die         hier nur skizzierte Ausgangslage die folgenden
nicht intendierten und potenziellen Risiken, die tech-        grundlegenden Fragen:
nische Innovationen stets auch in sich bergen. Diese          1. Über welche naturwissenschaftlich (un-)stimmi-
zwei Seiten wissenschaftlichen Fortschritts und tech-             gen Schüler-Vorstellungen bzw. über welche al-
nologischer Innovationen müssen – so lautet die For-              tersgemäß zu erwartenden fachlichen Kompeten-
derung der Kultusministerkonferenz in den nationa-                zen (vgl. KMK 2005) verfügen Schüler*innen
len Bildungsstandards – von der Gesellschaft und                  zum Ende ihrer obligatorischen Schulzeit im Be-
dem Einzelnen „erkannt, bewertet und beherrscht                   reich Radioaktivität, radioaktive Materialien und
werden…“ (KMK 2005a-c, 6). Der Umgang mit Ri-                     ionisierende Strahlung?
siken innovativer Technologien, wie dem Einsatz ra-
                                                              2. Wie nehmen Schüler*innen bestimmte Risiko-
dioaktiver Stoffe in Medizin und Technik, und deren
                                                                  quellen im Kontext von Radioaktivität und ioni-
Bewertungen stehen daher, vielleicht nicht von An-
                                                                  sierender Strahlung wahr, und wie beurteilen sie
fang an, so doch stetig zunehmend, im Mittelpunkt
                                                                  die in diesen Szenarien ausgewählten Risikomerk-
gesellschaftlicher Diskussionen. Dies scheint auf öf-
                                                                  male?
fentlich geführte Diskussionen sowohl in den Berei-
chen medizin- und energie-technischer Anwendun-               3. In welchem Maße und in welcher Weise beein-
gen radioaktiver Materialien als auch mit Blick auf               flussen die Vorstellungen von Schüler*innen die
die militärische Nutzung nuklearer Technologien im                Wahrnehmung und Beurteilung der mit verschie-
besonderen Maße zuzutreffen.                                      denen Anwendungen radioaktiver Stoffe und io-
                                                                  nisierender Strahlung verbundenen Szenarien (Ri-
In solchen gesellschaftlich ausgetragenen Kontrover-
                                                                  sikoquellen)?
sen wird deutlich, dass Wahrnehmung und Einschät-

                                                                                                                 217
Bolte, Schrader

2. Theorie                                              vielfältigen Forschungskontexten zur Anwendung
2.1. Theoriebasierte Anleihen aus der Schüler-          gekommen ist.
Vorstellungsforschung                                   Zu den charakteristischen Kennzeichen von Studien,
Seit mehr als 50 Jahren ist die Schüler-Vorstellungs-   die dem psychometrischen Paradigma folgen, zählt,
forschung aus dem naturwissenschaftsdidaktischen        dass den Studienteilnehmer*innen in der Regel eine
Forschungskontext kaum mehr wegzudenken (siehe          mehr oder minder große Zahl an potenziell risikobe-
Bibliografie von Pfundt und Duit, 2009); zahlreiche     hafteten Situationen, Aktivitäten, Substanzen o.ä.
naturwissenschaftliche Inhaltsfelder wurden seither     (sog. Risikoquellen) vorgelegt wird, die von den Pro-
wiederholt und nahezu erschöpfend erforscht. Ange-      band*innen mit Hilfe eines Sortiments ausgewählter
sichts der eingangs skizzierten Relevanz des Themen-    Skalen, die auf verschiedene Risikomerkmale fokus-
felds „Radioaktivität und (ionisierende) Strahlung“     sieren, abwägend einzuschätzen sind. Die derart er-
überrascht es daher umso mehr, dass Studien im Be-      hobenen Individualdaten werden in den meisten Stu-
reich der Schüler-Vorstellungsforschung – insbeson-     dien für jede Risikoquelle und jedes Risikomerkmal
dere im deutschsprachigen Raum – in diesem Inhalts-     über alle Probanden aggregiert. Anschließend werden
feld eher selten zu finden sind; Ausnahmen bilden die   die aggregierten Daten mittels multivariater Analyse-
Arbeit von Riesch und Westphal (1975) aus den           verfahren (z. B. durch Faktorenanalysen) systema-
1970er Jahren oder die Dissertation von Neumann         tisch gebündelt und inhaltlich verdichtet (vgl. u.a.
(2013). Weitere richtungsweisende Arbeiten in die-      Slovic 1987; 1992; Slovic & Jungermann 1993;
sem Bereich stammen überwiegend aus Großbritan-         Siegrist, Keller & Kiers 2005; Slovic, Fischhoff &
nien (Eijkelhof & Millar, 1988; Millar, 1994; Millar    Lichtenstein 1980; 1985; 1986). In vielen dieser Stu-
& Gill 1996; Boyes & Stanisstreet, 1994) oder den       dien ließen sich aus den umfassenden Datensätzen
Niederlanden (Lijnse et al., 1990; Eijkelhof, 1990;     zwei Komponenten (Faktoren) identifizieren, die in
1996). Die Befunde dieser Studien sprechen dafür,       diesen Studien als „unbekannt (unknown)“ und als
dass Schüler*innen undifferenzierte und weitgehend      „schrecklich (dread)“ betitelt wurden.
naive Vorstellungen bezüglich des Konzepts radioak-     Das Gros der hier genannten Studien beruht auf der
tiver Materie und Strahlung besitzen und zentrale Be-   Befragung junger Erwachsener (i.d.R. Studierende
griffselemente (Aebli 2001, S. 256; Dietz & Bolte in    der Psychologie); die subjektiv geprägten Wahrneh-
diesem Jahresband) häufig unsachgemäß kombinie-         mungsmuster und die Beurteilung von (potenziellen)
ren und verknüpfen (siehe hierzu auch Schrader &        Risikoquellen durch Jugendliche (z.B. Schüler*innen
Bolte 2018; 2020).                                      unterschiedlicher Schulformen und/oder von Jugend-
Die Schüler-Vorstellungsforschung zum Phänomen          lichen gegen Ende ihrer obligatorischen Schulzeit)
Radioaktivität und den damit verbundenen Prozessen      wurde u. W. bislang nur sehr selten untersucht.
(Eijkelhof 1990; Millar 1994; Millar & Gill 1996;       Daher haben wir uns entschieden, in unserer Studie
Schrader & Bolte 2018) zeigt, dass Schüler*innen        nicht nur Schüler-Vorstellungen zum Thema Radio-
zentrale Fachtermini und Begriffselemente, wie          aktivität zu untersuchen, sondern auch in Erfahrung
Strahlung, radioaktives Material und Radioaktivität     zu bringen, wie Schüler*innen gegen Ende der Jahr-
oder auch Bestrahlung und Kontamination in vielen       gangsstufe 10 von Gymnasien und Integrierten Ge-
Fällen nicht fach- und sachgerecht verwenden. Au-       samtschulen in Berlin die Risiken, die sie mit ver-
ßerdem belegen die Analysen der meist per Interview     schiedenen Anwendungen radioaktiver Stoffe und io-
durchgeführten Befragungen, dass viele Schüler*in-      nisierender Strahlung verbinden, wahrnehmen und
nen Radioaktivität per se als schädlich für Lebewesen   inwieweit ausgewählte Elemente des „psychometri-
ansehen, was eine quasi ubiquitäre Angst vor nahezu     schen Ansatzes“ (genauer gesagt: wie die Beurteilung
jeder Art von Strahlung erklärt und dazu führt, dass    der sog. Risikomerkmale) die Risikowahrnehmungs-
jegliche Strahlenexposition (z.B. selbst Sonnen- oder   profile von Jugendlichen determinieren.
Röntgenstrahlung; siehe weiter unten) von Jugendli-
chen als großes gesundheitliches Risiko wahrgenom-      2.3. Zusammenhang von Schüler-Vorstellungen
men wird.                                               und Risikowahrnehmung
                                                        Unserer Argumentation folgend mangelt es sowohl
2.2. Theoriebasierte Anleihen aus der Risikowahr-       an Forschungsarbeiten, die auf die Identifizierung ty-
nehmungsforschung                                       pischer Schüler-Vorstellungen im Bereich Radioakti-
Spätestens seit den 1970er Jahren werden in der psy-    vität und ionisierende Strahlung abzielen, als auch an
chologischen Risikoforschung verstärkt die Determi-     solchen Studien, die der Frage nachgehen, wie Schü-
nanten subjektiver Risikobeurteilung – auch empi-       ler*innen potenzielle Risikoquellen wahrnehmen und
risch systematisch – untersucht. Besonders hervorzu-    beurteilen, die mit der Anwendung der Radioaktivität
heben sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten,         einhergehen, oder die mit dem “Konsum“ von Stoffen
die dem sog. „psychometrische Ansatz“ folgen (Slo-      verbunden sind, die mit radioaktiven Stoffen versetzt
vic 1987; Fischhoff et al. 1978); einem Forschungs-     sind. Da es an Erkenntnissen im einen wie im anderen
paradigma, das bereits in zahlreichen Studien und in    Bereich mangelt, ist es nicht verwunderlich, dass

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Risiken der Radioaktivität aus Sicht von Jugendlichen

auch die Frage: Wie beeinflussen Schüler-Vorstellun-      Begriffsverständnisses entwickelt, die jeweils auf
gen zum Thema Radioaktivität und Strahlung die Ri-        verschiedene Anwendungen radioaktiver Stoffe und
sikowahrnehmung von Jugendlichen auf diesem Ge-           ionisierender Strahlung fokussieren (Schrader &
biet? u.W. bislang unerforscht ist. Diese Forschungs-     Bolte 2018; 2019a; 2020); im Fall unserer Untersu-
lücke versuchen wir durch unsere Studie ein Stück         chung sind dies die folgenden Szenarien (bzw. in der
weit zu verkleinern. Daher fokussieren wir in unserer     Terminologie der Risikoforschung, folgende Risiko-
Untersuchung auf die auch statistisch zu identifizie-     quellen):
renden Zusammenhänge zwischen Schüler-Vorstel-            [1] Lebensmittelbestrahlung,
lungen im Bereich Radioaktivität und ionisierende
                                                          [2] Röntgenuntersuchung*,
Strahlung einerseits und die Einschätzungen von Ri-
sikoquellen anhand ausgewählter Risikomerkmale            [3] Szintigraphie,
durch Schüler*innen gegen Ende ihrer obligatori-          [4] Bodenbelastung,
schen Schulzeit andererseits.                             [5] Papierdickenmessung,
                                                          [6] Füllstandsmessung,
3. Fragestellung                                          [7] Leckortung,
Fasst man die bislang skizzierten Forschungsintentio-     [8] Radiojodtherapie.
nen zusammen, so kommt man zu drei zentralen For-
schungsfragen, die wir im Folgenden systematisch          Wie zu erkennen ist, fokussieren vier der acht Aufga-
beleuchten werden:                                        ben auf Bestrahlungsszenarien ([1], [2], [5] und [6]),
1. Inwiefern gelingt es Schüler*innen die Be-             während die vier anderen auf Kontaminationsszena-
    griffselemente radioaktives Material, Strahlung       rien verweisen ([3], [4], [7], [8]). Vier Szenarien be-
    und Radioaktivität fachlich zutreffend zu verwen-     leuchten lebensweltliche und medizinisch relevante
    den sowie dabei zwischen Kontamination und Be-        Anwendungsfelder ([2], [3], [4] und [8]), die anderen
    strahlung sachgemäß zu unterscheiden?                 vier fokussieren stärker auf technische Anwendungs-
2. Wie schätzen Schüler*innen die mit verschiede-         felder ([1], [5], [6] und [7]), die keinen unmittelbaren
    nen Anwendungen aus dem Bereich Radioaktivi-          Bezug zur Lebenswelt der Schüler*innen besitzen
    tät verbundenen Risiken ein?                          dürften.
3. Inwieweit beeinflussen Schüler-Vorstellungen           Um die Schüler*innen beim Bearbeiten der Tests
    über Radioaktivität und ionisierende Strahlung        nicht zu sehr zu belasten, haben wir die Aufgaben auf
    die Wahrnehmung und Beurteilung der mit ver-          (zwei-mal-)vier Testheftversionen verteilt (s.u.). Jede
    schiedenen Anwendungen radioaktiver Stoffe und        Testheftversion beinhaltet fünf der acht konzipierten
    ionisierender Strahlung verbundenen Risiken?          Aufgaben. Dabei fungieren vier Aufgaben als Anker-
                                                          aufgaben (es handelt sich dabei um die Aufgaben [1],
                                                          [2], [3] und [4]). Die 5. Aufgabe wurde dem Aufga-
4. Methode                                                bensortiment ([5] bis [8]) entnommen und auf die
                                                          Testheftversionen verteilt (Schrader & Bolte, 2019a).
   Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen ver-
   wenden wir ein eigens entwickeltes Befragungs-
   instrument bestehend aus (zwei mal vier) verschie-    Die Aufgaben zum konzeptuellen Begriffsverständnis
   denen kleinformatigen Testheft-Versionen (Schra-      beginnen jeweils mit einem wertneutral formulierten
   der & Bolte 2019a) . Der Forschungsfrage folgend      Titel und einer bebilderten Beschreibung des jeweili-
   enthalten die Testhefte jeweils Aufgaben zur syste-   gen Szenarios. Jedes Szenario repräsentiert im Sinne
   matischen Analyse des konzeptuellen Begriffsver-      der Risikoforschung eine (potenzielle) Risikoquelle.
   ständnisses und darüber hinaus Aufgaben zur Er-       Am Ende der kurzen Beschreibung werden die Schü-
   mittlung der Risikowahrnehmung im Bereich Radi-       ler*innen aufgefordert, die nachstehenden neun Aus-
   oaktivität und (ionisierende) Strahlung (Schrader     sagen (Items) dahingehend zu beurteilen, ob sie die
   & Bolte 2018; 2019a; 2020). Darüber hinaus bitten     jeweilige Aussage für fachlich richtig oder falsch hal-
   wir die Proband*innen um einige personenbezoge-       ten. Die jeweils neun Aussagen wurden so konzipiert,
   nen Daten, wie Geschlecht und Alter. Außerdem         dass sie insgesamt drei Aussagegruppen (Begriffsele-
   bitten wir die Teilnehmer*innen auf einer 10-stu-     mente) repräsentieren. Die drei Aussagegruppen grei-
   fige Ratingskala einzuschätzen, wie ausführlich ih-   fen die drei o. g. zentralen fachlich-konzeptionellen
   res Erachtens das Thema Radioaktivität im natur-      Begriffselemente auf (radioaktives Material, Strah-
   wissenschaftlichen Unterricht bisher behandelt        lung und Radioaktivität). Da diese drei Aussagegrup-
   wurde (Schrader & Bolte, 2019a).                      pen wiederum drei Beurteilungsoptionen eröffnen,
                                                         entsteht – konzeptionell betrachtet – eine drei-mal-
                                                         drei Antwortoptionen umfassende Analyse-Systema-
4.1. Aufgaben zur systematischen Analyse des             tik. Die so konzipierten Aussagegruppen erfragen, ob
konzeptuellen Begriffsverständnisses                     die im Szenario betrachteten Objekte (z.B. die be-
Insgesamt haben wir acht in ihrer Struktur einander      strahlten Erdbeeren [1] oder ein per Szintigraphie un-
gleichende Aufgaben zur Analyse des konzeptuellen        tersuchter Patient [3]):

                                                                                                              219
Bolte, Schrader

1. (a) viele, (b) wenige oder (c) keine radioaktiven      Risikoquellen (z.B. den Verzehr bestrahlter Lebens-
    Teilchen enthält,                                     mittel (siehe Aufgabe [1]) oder das „Wohnen in der
2. (a) viel, (b) wenig oder (c) keine Strahlung enthält   Nähe eines Kernkraftwerks“ (siehe Schrader & Bolte,
    und                                                   2019a, S. 2) bewertend einzuschätzen.
3. (a) stark, (b) schwach oder (c) nicht radioaktiv ist   Unseren Bemühungen, möglichst geeignete Risiko-
    (Schrader & Bolte 2018; 2019a; 2020).                 quellen auszuwählen, liegen zwei grundsätzliche
                                                          Überlegungen zu Grunde: Zum einen wollten wir den
Eine Bestrahlungsaufgabe wird als korrekt gelöst be-
                                                          Schüler*innen Risikoquellen zur Einschätzung vorle-
wertet, wenn die Aussagenkombination: 1.c, 2.c und
                                                          gen, die auch im Kontext unserer Schüler-Vorstel-
3.c ausgewählt wurde. Um eine Kontaminationsauf-
                                                          lungsforschung zum Einsatz gekommen sind. Aus
gabe korrekt zu lösen, ist es unerheblich, ob der Pro-
                                                          diesem Grund sind die vier Szenarien der sog. Anker-
band/die Probandin darlegt, dass das Objekt viele
                                                          Aufgaben in den Fragebogen-Teil zur Risikoein-
(1.a) oder wenige (1.b) radioaktive Teilchen enthält,
                                                          schätzung aufgenommen worden (siehe Szenarien [1]
oder ob das Objekt stark (3.a) oder schwach (3.b) ra-
                                                          bis [4]).
dioaktiv ist; beide Optionen gelten als fachlich ange-
messen und korrekt, da eine quantifizierende Betrach-     Um die Risikobewertungen der Schüler*innen bzgl.
tung fachdidaktisch betrachtet hier irrelevant er-        dieser vier ausgewählten Risikoquellen jedoch besser
scheint. Um eine Kontaminationsaufgabe in Gänze           einordnen und inhaltlich interpretieren zu können, ha-
korrekt zu lösen, muss allerdings darüber hinaus auch     ben wir uns darüber hinaus entschieden, zwei sog. Re-
darlegt werden, dass das betrachte Objekt, obgleich       ferenzszenarien zu konstruieren, die ebenfalls von
kontaminiert und somit radioaktiv ist (also Strahlung     den Schüler*innen bzgl. der von ihnen subjektiv
emittiert), und dennoch keine Strahlung enthält (2.c).    wahrgenommen Risiken einzuschätzen sind. Wichtig
                                                          war uns dabei, dass es sich um Szenarien handelt, die
Die für diese Studie gewählte Systematisierung hatte
                                                          den Schüler*innen aus ihrem Alltag bekannt sind und
sich bereits in einer Pilotstudie mit 238 Schüler*innen
                                                          dass die Szenarien nicht frei von subjektiv antizipier-
der Jahrgangsstufe 10 bewährt und erste interessante
                                                          ten Risiken sein sollten.
Einblicke in die Denk- und Argumentationsweisen
von Schüler*innen eröffnet (Schrader & Bolte, 2018).      Zum einen fiel unsere Wahl auf das alltagsnahe Sze-
                                                          nario „ein Sonnenbad nehmen. Wir gehen davon aus,
Angesichts der Ergebnisse aus unserer Pilotstudie wie
                                                          dass alle Schüler*innen wissen, was unter „ein Son-
auch in Anbetracht der Befunde aus den eingangs
                                                          nenbad nehmen“ zu verstehen ist und dass ausgiebi-
vorgestellten Schüler-Vorstellungsstudien erwarten
                                                          ges, zu häufiges oder zu langes ungeschütztes Son-
wir, dass wir mindestens zwei – wahrscheinlich sogar
                                                          nenbaden mit gesundheitlichen Risiken verbunden
drei – Gruppen von Schüler*innen identifizieren wer-
                                                          sein kann. Die Rückmeldungen der Schüler*innen
den, die sich hinsichtlich ihrer fachlich-konzeptuellen
                                                          zum Szenario „ein Sonnenbad nehmen“ soll dement-
Vorstellungen deutlich unterscheiden. Zwei der auf
                                                          sprechend dabei helfen, die Bewertung der anderen
dieser Basis zu identifizierenden Gruppen (die beiden
                                                          Risikoquellen durch die beteiligten Schüler*innen
Extremgruppen) werden die beiden Teil-Stichproben
                                                          zumindest relativierend einordnen zu können.
bilden, anhand derer wir ggf. existierende Zusam-
menhänge zwischen den fachlich-konzeptuellen Vor-         Zum anderen haben wir das Szenario „in der Nähe ei-
stellungen der Schüler*innen einerseits und der           nes Kernkraftwerks wohnen“ ausgewählt. Sieht man
Wahrnehmung und Beurteilung von potenziellen Ri-          davon ab, dass in Berlin-Wannsee zwar ein Nuklearer
sikoquellen andererseits untersuchen.                     Reaktor zu Forschungszwecken in Betrieb ist – was
                                                          allerdings in der Bevölkerung kaum bekannt ist, – so
Damit kommen wir zur Frage, wie Schüler*innen der
                                                          ist das Szenario zwar nicht besonders alltäglich oder
Jahrgangsstufe 10 ausgewählte Risikoquellen über-
                                                          alltagsrelevant für das Gros der Schüler*innen; den-
haupt wahrnehmen und beurteilen.
                                                          noch ist die Vorstellung in der Nähe eines Kernkraft-
                                                          werks zu wohnen (oder wohnen zu müssen), für
4.2. Aufgaben zur Analyse der Wahrnehmung und             Schüler*innen nicht völlig abwegig oder utopisch, so
Bewertung potenzieller Risikoquellen im Bereich           dass auch dieses Szenario uns als normierendes Refe-
Radioaktivität und (ionisierender) Strahlung*             renzszenario geeignet scheint.
Bei der Entwicklung der Aufgaben zur Ermittlung der       Demzufolge liegen die folgenden Szenarien (Risiko-
Risikowahrnehmung im Bereich Radioaktivität ha-           quellen) unserem Fragebogen zur Analyse der Risi-
ben wir uns – wie eingangs erwähnt – am gegenwärtig       kowahrnehmung zugrunde:
wohl bedeutsamsten Ansatz der psychologisch moti-
                                                          [1] Lebensmittelbestrahlung: „Bestrahlte Lebensmit-
vierten Risikoforschung, dem sog. „Psychometri-
                                                              tel essen“,
schen Paradigma“ orientiert (Slovic 1987; 2000;
Fischhoff et al. 1978; Slovic, Fischhoff, Lichtenstein    [2] Röntgenuntersuchung: „Röntgenuntersuchungen
1985). In Studien, die dem psychometrischen Para-             erhalten“,*
digma folgen, werden die Proband*innen – wie be-          [3] Szintigraphie: „Radioaktive Stoffe zur Diagnose
reits skizziert – gebeten, verschiedene (potenzielle)         von Krankheiten in den Körper aufnehmen“ und

220
Risiken der Radioaktivität aus Sicht von Jugendlichen

[4] Bodenbelastung: „Radioaktiv belastete Lebens-        Gruppen mit den extremsten Kompetenzausprägun-
     mittel essen“ (siehe Schrader & Bolte, 2019a) so-   gen (Schüler*innen mit besonders vielen fachlich zu-
     wie:                                                treffenden Antworten versus solche mit besonders
[I] Referenzszenario 1: „in der Nähe eines Kernkraft-    vielen fachlich fehlerhaften Antworten) sollten an-
     werks wohnen“ und                                   schließend hinsichtlich ihrer Risikoeinschätzungen
                                                         gegenübergestellt und verglichen werden.
[II] Referenzszenario 2: „ein Sonnenbad nehmen“*
     (dieses Szenario wird nur den Gymnast*innen zur     Eine Antwort wird als „richtig“, d.h. fachlich-konzep-
     Beurteilung vorgelegt; siehe weiter unten).         tuell stimmig und somit der wissenschaftlichen Sicht-
                                                         weise entsprechend gewertet, wenn alle Items einer
Für die abwägenden Bewertungen der potenziellen
                                                         Aufgabe korrekt markiert werden. Der Festlegung lie-
Risikoquellen wurden den Teilnehmer*innen – dem
                                                         gen folgende Überlegungen zugrunde:
psychometrischen Paradigma folgend – insgesamt
neun Risikomerkmale vorgelegt; aus der Vielzahl          - Etwas, das oder jemand, der radioaktive Teilchen
möglicher Risikomerkmale haben wir die folgenden           enthält, gilt auch als radioaktiv (und umgekehrt),
ausgewählt (Schrader & Bolte, 2019a):                      dementsprechend gilt etwas, das oder jemand, der
                                                           keine radioaktiven Teilchen enthält, als nicht radio-
1. Eingeschätztes Risiko,
                                                           aktiv;
2. Angstgefühl,
                                                         - weder eine Person noch ein Objekt kann Strahlung
3. Kontrollierbarkeit,                                     enthalten (im Sinne von „beinhalten“).
4. Vermeidbarkeit,                                       - Kontaminierte Objekte oder Personen enthalten
5. Bekanntheit,                                            viele oder wenige radioaktive Teilchen und sind
6. Wissenschaftliche Erforschtheit,                        stark oder schwach radioaktiv; sie enthalten aller-
                                                           dings keine radioaktive Strahlung.
7. Vorteil-Risiko-Verhältnis,
                                                         - Bestrahlte Objekte oder Personen enthalten keine
8. Schadensschwere,
                                                           (zusätzlichen) radioaktiven Teilchen, sie sind dem-
9. Schadenswahrscheinlichkeit.                             entsprechend nicht radioaktiv und enthalten folge-
Zur Einschätzung der Risikomerkmal-Items (ein Item         richtig keine Strahlung.
pro Risikomerkmal pro Risikoquelle) steht eine zehn-     Für die hier beschriebenen Analysen ist – wie zu er-
stufige, endpunktbenannte Ratingskala zur Verfü-         kennen ist – die quantifizierende Unterscheidung
gung (z. B. im Fall der Einschätzung des Risikos eine    zwischen viel/wenig bzw. stark/schwach nicht rele-
Skala von 1 = überhaupt kein Risiko bis 10 = sehr ho-    vant.
hes Risiko (die anderen acht Risikomerkmalsskalen        Jede im Dreischritt „richtig“ gelöste Aufgabe wird als
besitzen jeweils andere Endpunkt benennende Aussa-       fachbezogen und konzeptuell stimmig und als richtig
gen; siehe Schrader & Bolte, 2019a).                     gelöst bewertet sowie mit einem Punkt kodiert; dem-
Die Testhefte für Schüler*innen an Integrierten Se-      zufolge können Proband*innen bei fünf zu lösenden
kundarschulen (ISS) und an Gymnasien (GYM) un-           Aufgaben maximal fünf Punkte erreichen (Tab. 1).
terscheiden sich in der Anzahl der zu beurteilenden      Nach Festlegung der Vergleichsgruppen werden die
Risikoquellen, da sich in der Voruntersuchung ge-        Mittelwerte der Risikoeinschätzungen deskriptiv-
zeigt hatte, dass ISS-Schüler*innen Schwierigkeiten      und varianz-statistisch analysiert. Dabei werden wir
hatten, sich über einen längeren Zeitraum mit den        auf den Mann-Whitney-U-Test zur Prüfung statis-
vorgelegten Aufgaben konzentriert zu befassen            tisch signifikanter Gruppenunterscheidungen zurück-
(Schrader & Bolte, 2018). Aus diesem Grunde wurde        greifen, da wir erwarten, dass die erhobenen Daten
in den Testheften der ISS-Teilnehmer*innen auf die       nicht normalverteilt vorliegen werden.
Bearbeitung der Risikobewertungsaufgabe „ein Son-
nenbad nehmen“ verzichtet (s.o.), was zum einen die
Zahl der Testheftversionen (zwei-mal-vier Versio-        5. Ergebnisse
nen) und zum anderen die durchaus unterschiedliche
Zahl bearbeiteter Aufgaben im Ergebnisteil erklärt.      Die Datenerhebung erfolgte zum Ende des ersten
                                                         Schulhalbjahres 2018/19 in 31 Klassen der 10. Jahr-
                                                         gangsstufe. Sieben Schulen unterschiedlicher Schul-
4.3. Überlegungen zur Analyse möglicher Zusam-           form (vier Gymnasien und drei Integrierte Sekundar-
menhänge zwischen Schüler-Vorstellungen einer-           schulen) beteiligten sich an der Studie. Die Befragung
seits und der Wahrnehmung und Beurteilung von            fand innerhalb des regulären naturwissenschaftlichen
(potenziellen) Risikoquellen andererseits                Unterrichts statt. Die Dauer der Befragung betrug
Zur Abschätzung des Effekts der fachlich-konzeptu-       etwa 25 Minuten.
ellen Vorstellungen von Jugendlichen auf deren Risi-
kowahrnehmung, hatten wir geplant, die Proband*in-       5.1. Stichprobenbeschreibung
nen anhand ihrer fachbezogenen-konzeptuellen
Rückmeldungen drei Gruppen zuzuteilen. Die beiden        Insgesamt haben 598 Schüler*innen an der schriftli-
                                                         chen Befragung teilgenommen. Für die nachfolgen-

                                                                                                            221
Bolte, Schrader

den Analysen konnten die Datensätze von 506 Schü-                                        NAufgaben                    NSchüler*in         %
ler*innen (NGym = 338 und NISS = 168) verwendet                                             0                           343              67,8
werden. Die Gesamtstichprobe setzt sich aus                                                 1                            98              19,4
246 Schülern (48 %) und 231 Schülerinnen (46 %)                                             2                            55              10,9
zusammen; 29 Jugendliche (6 %) haben die Katego-                                            3                              8              1,6
rie „keines von beiden“ gewählt (MAlter=15,39,
                                                                                            4                              0              0,0
StdevAlter =0,68).
                                                                                            5                              2              0,4
                                                                                           ∑                            506             100,0
5.2. Ergebnisse
Die Häufigkeitsanalysen zeigen, dass gut zwei Drittel                            Tab. 1: Häufigkeit mit der eine bestimmte Anzahl der
(67,8%) der befragten Jugendlichen keine der fünf                                Aufgaben der wissenschaftlichen Sichtweise entspre-
Aufgaben umfassend korrekt beantwortet hat; nur 2%                               chend und in Gänze korrekt gelöst wurde
der Befragten hat mehr als zwei Aufgaben in Gänze
fachwissenschaftlich korrekt beantwortet (Tab. 1).                               Im nachfolgenden Diagramm (Abb. 1) sind die Ein-
Aufgrund des geringen Anteils korrekter Antworten,                               schätzungen der beiden auf diese Weise generierten
haben wir entschieden, auf eine Dreiteilung der Stich-                           Gruppen bezugnehmend auf das Risikomerkmal
probe zu verzichten und die Teilung der Stichprobe                               „eingeschätztes Risiko“ und differenziert nach den
zugunsten der Teststärke am Median vorzunehmen                                   sechs vorgelegten potentiellen Risikoquellen gegen-
(Gruppe 1: N0=343 – Gruppe 2: N+=163).                                           übergestellt.

                   Wohnen in der Nähe eines                                                        6,43
                            Kernkraftwerks                                                      6,08

                                                                                          5,68
                        Sonnenbäder nehmen
                                                                                          5,62

                                                                                4,79
             Verzehr bestrahlter Lebensmittel
                                                                             4,49

                                                                     3,94
         Erhalten von Röntgenuntersuchungen
                                                                 3,57

           Inkorporation von Radiopharmaka
                                                                                              5,85         ] **
                                                                                       5,25

                Verzehr radioaktiv belasteter                                                            6,78         ] **
                               Lebensmittel                                                      6,15

                                                1      2         3           4            5          6            7          8      9   10

                                                                                              Mittelwert
                   keine Aufgabe wissenschaftlich korrekt beantwortet
                   mind. eine Aufgabe wissenschaftlich korrekt beantwortet

Abb.1: Subjektiv eingeschätztes Risiko bzgl. der verschiedenen Risikoquellen differenziert nach konzeptuellem
Verständnis der Schüler*innen (Antwortskala: 1 = überhaupt kein Risiko – 10 = sehr hohes Risiko, ** p
Risiken der Radioaktivität aus Sicht von Jugendlichen

und Radiopharmaka einnehmen sowie b) radioaktiv           Verständnis mit einer größeren Risikowahrnehmung
belastete Lebensmittel essen und in der Nähe eines        einher.
Kernkraftwerkes wohnen unterscheiden sich nicht im        Der Einfluss des konzeptuellen Verständnisses auf
statistisch signifikanten Ausmaß. Im Umkehrschluss        Risikobewertungen ist unseren Ergebnissen folgend –
lässt sich dieser Befund so interpretieren, dass diese    statistisch betrachtet – insgesamt als eher gering zu
beiden Paarvergleiche von den Schüler*innen ähnlich       bezeichnen; denn nur in einem Fall – im Fall des Ver-
risikobehaftet beurteilt werden; dass also das Einneh-    zehrs radioaktiv belasteter Lebensmittel – führen die
men von Radiopharmaka so riskant wie das Sonnen-          Regressionsanalysen zu einem statistisch signifikan-
baden eingeschätzt wird und/oder dass das Wohnen          ten Effekt (β=.-15, p
Bolte, Schrader

oder in der Nähe von Fukushima) leben. Die Daten-         Millar, R. & Gill, J.S. (1996). School students' under-
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