In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI
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25. Jahrgang Heft 2 Schmid und Böhm, In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI Herbst 2011 Andrea Schmid, Stefan Böhm In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI Inwieweit die TZI für alle gesellschaftlichen Gruppen offen ist, hängt davon ab, wie TZI-Leiterinnen und -Leiter die TZI ver- mitteln. Im ersten Teil des Artikels werden Hypothesen darüber entwickelt, wie Elemente der TZI-Systematik auf gesellschaftliche Milieus in Deutschland wirken. Im zweiten Teil, der im nächsten Heft veröffentlicht wird, werden Interviews mit Teilnehmenden daraufhin untersucht, was ihnen den Zugang zur real gelebten Methode, der Haltung und dem Modell „TZI“ erschwert – und was erleichtert. Zur Autorin Andrea Schmid, Jg. 1967, Sozi- To what extent TCI is open for all social groups depends on how alpädagogin (FH), freiberufliche the TCI leaders impart TCI. In the first part of the article, we will Supervisorin (DGSv), Seminarlei- develop hypotheses on how elements of the TCI method affect terin & Organisationsentwickle- social milieus in Germany. In the second part, which will be pub- rin, TZI-Graduandin, Vorsitzende lished in the next issue, we will analyse interviews with participants RCI München. kontakt@schmid-supervision.de to identify what complicates their access to the actual method, attitude and model „TCI“, and what facilitates it. Einleitung Die Verschiedenheit der Ichs zu achten und das Wir von der Beson- derheit der Persönlichkeiten bereichern zu lassen, gehört wohl fraglos zum „Markenkern“ der TZI. „TZI entstand aus dem Bewusstsein, dass es notwendig ist, Individualität und Gemeinschaftlichkeit dem Werte nach als ebenbürtig zu sehen, das heißt, aus „individualistisch“ Zum Autor Stefan Böhm, Jg. 1966, Dr. und „kollektivistisch“ keine Gegensätzlichkeiten zu machen, weil phil., Sozialarbeiter (FH), Pä- Persönlichkeit und Gemeinschaftlichkeit untrennbar miteinander dagoge, Pastoraler Mitarbeiter verbunden sind“ (Cohn, 1999, 351). Im Sinne dieser Programmatik & freiberuflicher Coach (DGSv), erhebt die TZI den Anspruch, im Spannungsfeld von Autonomie TZI-Graduand. und Interdependenz Menschen verschiedener Voraussetzungen – info@changesophy.de also auch verschiedener Werthaltungen – ein Angebot zu machen. Ergebnisse der Teilnehmerforschung und unserer beider Erfahrung lassen aber vermuten, dass wir als TZI-Anwendende diesem Anspruch bislang wenig gerecht werden. 65
T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge Eine Reflexion der Wirksamkeit von TZI erscheint uns ebenso wichtig wie aktuell und sie wird auch andernorts geführt. So forderte Stefan Padberg eine Beschäftigung mit der Frage: „Wie können wir aus unserer Beschränkung aus (sic) weiße, gut ausge- bildete Mittelschichtler/-innen hinaustreten und die TZI darüber hinaus anbieten und wirksam werden lassen?“ (Padberg, 2011, 6) Der Vorstand des RCI International formuliert im Jahr 2011 in einem Schreiben an die Mitglieder: „Wir finden es deshalb wichtig die Ressourcen in den kommenden Jahren vor allem für unsere Außenwirkung einzusetzen […]. Wichtig ist uns, dass im Jubiläumsjahr 2012 viele Aktivitäten unterschiedlicher Art statt- finden und dass sie auf Nachhaltigkeit angelegt sind.“ (Vorstand RCI-international, 2011, ohne Seitenangabe) Letztlich stellen wir als Autor/-innen innerhalb dieser Debatte (hoffentlich) mehr Fragen, als wir Antworten geben.Wir wollen zur Reflexion anregen und zur Milieusensibilität herausfordern. Wir beobachten, dass es eine spezifische „TZI-Ästhetik“ Die Milieuforschung gibt, die manche Adressat/-innen eher anspricht als andere. bildet Hypothesen Zwischen dem Anspruch, ein Angebot „für alle“ zu sein dazu, wie der Zu und dem Befund, dass wir bestimmte Zielgruppen wenig gang der Milieus zur ansprechen, kann die Milieuforschung ein Modell sein, TZI gelingt das aus unserer Sicht gute Erklärungen liefert. Wir gehen weiter davon aus, dass die Ästhetik der Kurse im RCI nur zum Teil von der TZI-Systematik (vgl. Schneider-Landolf, 2009, 67ff.) nahegelegt wird; zu einem anderen, wesentlichen Teil handelt es sich unserer Auffassung nach um ein Abbild der Kultur der Leitenden und der Tradition des Instituts. Im ersten Teil beschreiben wir die Herangehensweise der Mi- lieuforschung, da wir sie in ihrem diagnostischen Potenzial auch für die praktische Arbeit mit TZI als hilfreich erachten. Danach erläutern wir Erkenntnisse dieser Forschungsrichtung und bilden Hypothesen dazu, wie der Zugang der Milieus zur TZI gelingt, beziehungsweise wie sich die TZI präsentieren müsste, um einen Zugang zu ihr zu gewähren.1 Diese Überlegungen verbleiben noch weitgehend in einer theoretischen Reflexion; um die „real existierende“ TZI-Praxis unter milieutheoretischen Gesichtspunk- ten zu betrachten, haben wir im nächsten Schritt Teilnehmende an TZI-Ausbildungskursen befragt. Die Ergebnisse stellen wir im letzten Teil des Artikels zur Diskussion. Die zweite Hälfte des 1 Wir beschreiben die Mili- Artikels erscheint im nächsten Heft. eus recht ausführlich, um ausreichend Einblick zu ermöglichen. Weil der Raum in der Zeitschrift begrenzt Soziale Milieus und Weiterbildung ist, hinterlegen wir sie zum Teil unter www.schmid- Bereits 2007 gaben Heiner Barz und Rudolf Tippelt eine Studie supervision.de/milieus. heraus, in der sie für das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung 66
25. Jahrgang Heft 2 Schmid und Böhm, In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI Herbst 2011 (DIE) die Weiterbildungsneigung der Deutschen untersuchen lie- ßen (vgl. Barz/Tippelt [Hrsg.]). Ausgangspunkte der Untersuchung bildeten nicht wie bislang üblich soziodemografische Kriterien, denn dass Menschen in Leitungspositionen deutlich mehr Weiter- bildungen besuchen als ihre Mitarbeiter/-innen (vgl. Kuper, 2001, 75), und Gebildetere mehr als weniger Gebildete (vgl.Tippelt u.a., 2004, 54ff.), ist genauso hinlänglich bekannt wie beispielsweise, dass junge Mütter signifikant wenig an Weiterbildung teilnehmen – und junge Väter signifikant viel (vgl. Friebel, 2001, 69). Anstatt diese ausgetretenen Pfade zu verfolgen, ging die Studie des DIE davon aus, dass es nicht nur eine Frage von Statusfaktoren wie Einkommen und Bildungsgrad ist, ob jemand sich zu einer Weiterbildung entschließt. Einstellung,Weltanschauung, Selbstbild und Gesellschaftsbezug tragen demnach mindestens genauso zur Teilnahmeentscheidung bei. Datengrundlage Für diesen Artikel beziehen wir uns selektiv auf die oben genannte DIE-Studie aus dem Jahr 2007, sowie auf eine Untersuchung, die 2005 im Auftrag der Katholischen Kirche entstand (vgl. Medien- Dienstleistung GmbH, München, 2005). Letztere erscheint uns insofern interessant, als dass sie Sehnsüchte und Tagträume der Milieus in Zusammenhang bringt mit dem, was wir werteabhän- gige Konsumentscheidungen nennen möchten – und wir wollen die Entscheidung für eine Teilnahme an TZI-Veranstaltungen als eine solche auffassen. Selbstverständlich bedeutet TZI nicht nur Konsum, sondern auch Proaktivität. Wir fokussieren in diesem Artikel die eine Seite des Ganzen. Die Mehrzahl der Leser/-in- nen dieses Artikels wird es (wie wir vermuten) entsprechend ihres Bildungsideals für eine wertvolle Konsumentscheidung sui generis halten, sich auf einen TZI-Kurs einzulassen – und wir Autor/- innen teilen weitgehend diese Haltung. Weit entfernt sind wir damit allerdings von großen Teilen der Gesellschaft. Und damit sind wir bereits mitten im Thema. Eine letzte Vorbemerkung erscheint uns wichtig: Die Studien, auf die wir uns beziehen, sind bereits vier beziehungsweise sechs Jahre alt. Neuere Untersuchungen zur Weiterbildung liegen noch nicht vor. Soziale Milieus, so die Theorie, verändern sich ständig, jedoch nicht schlagartig. Wir meinen: Dass die Daten der beiden Studien bereits veraltet sind, schränkt ihren Aussa- gegehalt nur relativ ein. Wir beziehen uns mit diesem Artikel auf die Verhältnisse in Deutschland. Wie andere Länder davon abweichen, ist besonders im Blick auf die Internationalität des RCI interessant. 67
T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge Was sind „Milieus“? Als Milieus lassen sich Kombinationen aus Statusfaktoren und Ein- stellungen beschreiben, die relativ einheitlich sind. Selbstverständ- lich handelt es sich bei den Milieus, die so beobachtet werden, um konstruierte Artefakte, um Typisierungen, mithilfe derer Verschie- denheit plausibilisiert werden soll. Neben sozioökonomischen Fak- toren markieren Milieus Menschen, die eine ähnliche Lebensauffas- sung und Lebensweise, ähnliche Lebensstile und Lebensführungen haben (vgl. Medien-Dienstleistung GmbH, 2005, 5). Das Modell beschreibt derzeit zehn sogenannte „soziale Milieus“, die sich vertikal auf die soziale Lage (Untere Mittelschicht/Unterschicht – Mittlere Mittelschicht – Oberschicht/Obere Mittelschicht), horizontal auf die Grundorientierung beziehen (Traditionelle Werte wie Pflichterfüllung, Ordnung, Selbstkontrolle – Modernisierung wie Individualisierung, Selbstverwirklichung, Genuss – Neuorientierung wie Multi-Optionalität, Experimentierfreude, Leben in Paradoxien, Selbstmanagement (vgl. ebd., 4). Niemand kann vollständig einem Milieu zugeordnet werden, wenngleich Probanden immer wieder überraschende Übereinstimmungen feststellen. Der Sozialforschung ist eigen, dass nicht geklärt werden kann, in welchem Maße das Milieu, in dem Einzelne leben, ihre Ein- stellung prägt oder inwieweit sich Menschen gleicher Einstellung zu einem Milieu zusammenfinden. „Bürgerliche Mitte“ Die etwa 17% der Bevölkerung, die als „Bürgerliche Mitte“ be- zeichnet werden, orientieren sich vor allem an Grundwerten der Modernisierung. Es handelt sich damit um einen großen Teil der gesellschaftlichen Mittelschicht. In ihrer Selbsteinschätzung ver- stehen sich die Vertreter/-innen als moderne, aufgeschlossene und respektierte Bürger/-innen in der Mitte der Gesellschaft. Harmo- nie und Intaktheit gelten als prägende Grundwerte. Die als wichtig angesehene soziale Anerkennung meint das Milieu durch Aufstieg und Anpassung an die moderne Entwicklung zu erreichen und orientiert sich dabei an der Gruppe der „Etablierten“. Abgrenzung vollzieht das Milieu gegenüber allem Extremen und Randständi- gen, aber auch gegenüber dem, was es als traditionsverhaftet und rückständig auffasst (vgl. Barz/Tippelt [Hrsg.], 2007, 113ff.). Tatkraft und beruflich verwertbare Eigenschaften wie Autorität und Ausstrahlung bestimmen den Bildungsbegriff der „Bürgerli- chen Mitte“. Der Praxisbezug und die Verwendbarkeit von Inhalten ist entscheidend (vgl. ebd., 116). Zur Persönlichkeitsentwicklung kommt es aus Sicht der „Bür- 68
25. Jahrgang Heft 2 Schmid und Böhm, In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI Herbst 2011 gerlichen Mitte“ vor allem durch Lebenserfahrung. Entsprechend wenig Interesse hat dieses Milieu an diesbezüglichen Kursen. Angebote zur Einleitung des beruflichen Aufstiegs und „Wohl- fühlseminare“ werden dagegen bevorzugt (vgl. ebd., 119). Die Vertreter/-innen der „Bürgerlichen Mitte“ träumen wie kein anderes Milieu von Harmonie in Familie, Freundeskreis und Nach- barschaft. Sie wünschen sich kleine Glücksmomente wie: im Bett zu frühstücken, in der Badewanne zu liegen oder schön essen zu gehen. Finanziell und sozial abgesichert zu sein gehört ebenso dazu wie punktuelle Urlaubserlebnisse am Strand, beim Wandern oder auf dem Bauernhof (vgl. Medien-Dienstleistung GmbH, 2005, 215). Hypothesen: Die TZI scheint für dieses Milieu wie gemacht zu sein: Kurse werden als Oasen und „Auszeit“ erlebt, das „Familiäre“ der TZI kommt den bürgerlichen Nutzer/-innen sehr entgegen. Führungskräfteseminare, die die TZI als die Methode für Führen und Leiten vermitteln, gelten als leicht zu verstehen und werden dann genutzt, wenn sie hohe und einfache Transferleistung in den jeweiligen (?) Beruf versprechen. Die Vorstellung, „TZI kann man nicht beschreiben, sondern man muss sie Die TZI scheint für erleben“, dürfte in diesem Milieu stark vertreten sein und die bürgerliche Mitte es entsprechend binden, während ein analytischer Zugang wie gemacht zu sein eher abgelehnt wird. „Postmaterielle“ Etwa 10% der Gesellschaft wird dem Milieu der „Postmateriellen“ zugeordnet. Das Milieu befindet sich in der Oberschicht und oberen Mittelschicht und vertritt vornehmlich Positionen der Modernisie- rung. Die Vertreter/-innen sehen sich als intellektuelle, kulturelle und ökologische Avantgarde sowie als kritische Wegbereiter/-innen des soziokulturellen Wandels. Sie orientieren sich an Aufklärung, Ganzheitlichkeit, Gerechtigkeit und Selbst-Entwicklung.Von kru- dem Hedonismus, oberflächlichem Konsummaterialismus grenzen sie sich ab; zu eindimensionalen Lebensentwürfen halten sie klare Distanz (vgl. Barz/Tippelt [Hrsg.], 2007, 43ff.). Dieses Milieu vertritt einen mehrdimensionalen Bildungsbegriff, der weit über reines Wissen hinaus reicht. Es lebt eine Offenheit für Anderes und Neues. Lernstrategien sind wichtiger als Wissen. Allgemeinwissen gilt mehr als „Fachidiotentum“. Lernen erstreckt sich auf alle Lebensbereiche, auch auf soziales und politisches Engagement (vgl. ebd., 45). Als Persönlichkeit verstehen die „Postmateriellen“ das Echte, Authentische. Als zentrales Ziel ihres Lebens beschreiben sie die Persönlichkeitsentwicklung im sozialen Kontext. Zu vorder- 69
T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge gründigen Angeboten etwa aus dem esoterischen Umfeld oder bei „amerikanischen“ Motivationskursen nehmen sie eine sehr kritische Grundhaltung ein (vgl. ebd., 49). Die Welt sinnlich spüren, aber auch die großen Zusammenhänge erkennen können, gehört zu den Träumen der „Postmateriellen“. Utopien von weltweiter, sozialer Gerechtigkeit, von ökologischem Leben und vom Aussteigen mit Gleichgesinnten sind weitere Fantasien (vgl. Medien-Dienstleistung GmbH, 2005, 66). Hypothesen: Die TZI passt mit ihrer Werthaltung gut zu diesem Milieu: Ruth Cohn als Person verkörpert die Haltung gegen Natio- nalsozialismus und die Umwelt/Natur wird in den Blick genommen. Außerdem kommt Persönlichkeitsentwicklung als zentrale Aufgabe des Menschen den „Postmateriellen“ entgegen. Die TZI erfüllt die Bedürfnisse des Milieus durch ihre Vielschichtigkeit. Es geht hier darum, zu lernen, wie Menschen sich verständigen können – nicht nur um konkrete Methoden, sondern um Haltungen und Erfah- rungen. Besonders attraktiv dürften diese Anteile der TZI für „Post- materielle“ sein, wenn sie in den Kontext von Globalisierung(skritik), sozialer Bewegung und Autonomiestreben gestellt werden. „Moderne Performer“ Die etwa 9% der Bevölkerung, die dem Milieu der „Modernen Performer“ zugerechnet werden, entstammen vornehmlich der Oberschicht und der oberen Mittelschicht. Sie orientieren sich an Modernisierung und an Neuorientierung. Die „Modernen Per- former“ schätzen sich selbst als neue ökonomische, technologische und kulturelle Elite ein; sie besitzen eine starke Entrepreneur- Mentalität (vgl. Barz/Tippelt [Hrsg.], 2007, 57). Bildung versteht das Milieu der „Modernen Performer“ als lebenslangen Prozess und dient zur Realisierung der individuellen Interessen. Es handelt sich im Konstrukt des Milieus um eine Sym- biose aus Fach- und Allgemeinwissen, deren Anwendungsbezug zentral ist (vgl. ebd., 60). Persönlichkeit erkennen die Vertreter/-innen dieses Milieus vor allem in der Einzigartigkeit und im Charisma, in der Fähigkeit, andere in den eigenen Bann zu ziehen, im Durchsetzungsvermö- gen, Stärke und Zielstrebigkeit. Die Entwicklung hin zu mehr Persönlichkeit ist ihrer optimistischen Sicht zufolge immer mög- lich. Daher sind sie an der eigenen Persönlichkeitsentwicklung sehr interessiert, insbesondere am Training einzelner Fähigkeiten (vgl. ebd., 63). Die „Modernen Performer“ begleiten die Sehnsüchte danach, 70
25. Jahrgang Heft 2 Schmid und Böhm, In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI Herbst 2011 Lösungen für Gegenwartsprobleme zu finden, Pioniere zu sein, Wellness zu genießen, unabhängig von Geld und Beruf zu sein, durch Technik örtlich-zeitlich unabhängig zu werden, einen si- cheren Partner und Wurzeln zu haben, die Sicherheit vermitteln (Medien-Dienstleistung GmbH 2005, 100). Hypothesen: „Moderne Performer“ suchen Kurse mit konkretem Ziel und Sinn. Sie gehen hochselektiv bei der Wahl des Themas vor, sind also nicht an der TZI an sich interessiert. Fünf-Tage- Kurse sind kaum möglich, da Zeit knapp ist. Sinnvoll könnte eine zielgruppenspezifische Ausschreibung besonders an „Übergängen des Lebens“ sein. Die Einführung des Zertifikates kommt dieser Zielgruppe sicher entgegen, weil die Ausbildung dadurch in einem kürzeren Zeitraum und konkreten Ablauf erreichbar ist. Es ist aller- dings fraglich, ob eine langwierige Ausbildung für die kurzlebigen Qualifizierungsinteressen des Milieus überhaupt attraktiv ist. Das Charisma der Kursleitung ist den „Modernen Performern“ wich- tiger als die formelle Qualifikation. Kurse müssten also sehr stark transfergeeignete Lösungen präsentieren und Kursleitungen müssten ihre in der Persönlichkeit liegende Qualifikation herausstellen. „Experimentalisten“ Die „Experimentalisten“ bilden ein Milieu von etwa 8% der Be- völkerung. Ihrem sozialen Status nach sind sie der Mittelschicht und unteren Mittelschicht zuzurechnen. Sie lehnen sich an Neuem (Multioptionalität, Experimentierfreude, Leben in Paradoxien) an. Dabei verstehen sie sich als kreative und kulturelle Avantgarde, die sich daran orientiert, die vielfältigen Aspekte des Lebens (Welt und Selbst) zu entdecken sowie die eigenen Talente zu entfalten.Von star- ren Strukturen, rigidem Sicherheitsdenken, kleinbürgerlicher Idylle und der Fixierung auf beruflichen Erfolg oder materiellen Wohlstand grenzen sie sich stark ab (vgl. Barz/Tippelt [Hrsg.], 2007, 141ff.). Klassische, humanistische Bildungsgüter interessieren „Experi- mentalisten“ wenig. Sie verstehen sich selbst als „niemals fertig“, sondern den ständigen Bildungsprozess als Teil der eigenen Per- sönlichkeit.Wie man an Wissen und Fertigkeiten kommt, ist daher wichtiger als das einzelne Faktenwissen. Es geht ihnen weniger um die Tiefe als um die Vielseitigkeit der Bildung (vgl. ebd., 144). An Persönlichkeitsentwicklung besteht ein starkes Interesse. In- dividualität, Konfliktfähigkeit, Unabhängigkeit und Urteilsfähigkeit kennzeichnen nach ihrem Verständnis eine Persönlichkeit. Kurse, in denen es um berufliche oder gesellschaftliche Verwertung von Persön- lichkeitseigenschaften gehen soll, werden abgelehnt (vgl. ebd., 147). 71
T hemenzentrierte Interaktion Theoretische Beiträge Neue Perspektiven einzunehmen, das Gewohnte hinter sich lassen, das Prinzip des Ganzen zu verstehen, Freiheit fühlen – solche Sehnsüchte kennen „Experimentalisten“ (vgl. Medien- Dienstleistung GmbH, 2005, 274). Hypothesen: „Experimentalisten“ brauchen keine Erlaubnis für selbstbestimmtes Lernen – die Haltung einer Kursleitung darf deshalb nicht fürsorglich sein, sollte sich vielmehr durch eine be- geisternde Persönlichkeit auszeichnen. Inhaltlich ist alles interessant, was in die Tiefe führt, neu ist und eine andere Sichtweise ermög- licht. Die TZI trifft hier auf offene, angstfreie und hochflexible Teilnehmende, die sich schnell auf etwas einlassen. Andererseits gehen sie keine Bindung „auf Dauer“ ein. Zusammenfassung und Ausblick Wir haben Milieus im Bezug auf ihre Weiterbildungsneigung be- schrieben und damit die potenziellen Kursteilnehmenden im Blick. Wesentliches Ziel der TZI-Ausbildung besteht darin, Menschen dahingehend weiterzubilden, dass sie die TZI in ihrem Arbeitskon- text einsetzen können. Hier bietet die Milieuforschung unseres Erachtens diagnostisches Material, das den TZI-Kursteilnehmer/- innen dabei hilft, die TZI für die Zielgruppe ihres Arbeitsbereichs wirksam werden zu lassen. Milieuforschung erklärt, wie ein Kurs ausgeschrieben und gestaltet werden kann, damit er eine gewisse Zielgruppe erreicht. Sie spricht aber auch ausdrücklich von Schranken zwischen Mi- lieus und erlöst uns damit von der Fantasie, „für alle gleichzeitig“ ein Angebot machen zu können. Mit Blick auf die Haltung der TZI sehen wir hier eine Spannung zwischen „Kooperation“ und „Differenzierung“, die, durch die „Milieubrille“ betrachtet, unserer Kurskultur neue Interventionsmöglichkeiten öffnet. Flexibilität im Kursdesign für verschiedene Milieus würde helfen, Modelle für die Umsetzung der TZI in Arbeitsfeldern zu entwickeln, die unserer RCI-Kultur bislang nicht nahe liegen. In der Beschreibung gesellschaftlicher Milieus konnten wir dar- stellen, dass und wie die TZI-Systematik Menschen verschiedene Zugänge und Barrieren bietet. Grob gesagt können die traditio- nellen Milieus (Konservative, Traditionsverwurzelte und DDR- Nostalgische) an der TZI schätzen, dass sie auf einem Wertekonzept beruht und dass sie in der TZI angenommen werden. Die moder- nen Milieus (Etablierte, Bürgerliche Mitte, Konsum-Materialisten) können die Umsetzung dieser Werte als harmonische, bestärkende Verbindlichkeit schätzen und die postmodernen Milieus (Moderne 72
25. Jahrgang Heft 2 Schmid und Böhm, In der Milieufalle? Zur Darstellung und Rezeption der TZI Herbst 2011 Performer, Experimentalisten, Hedonisten) noch ein weiteres Ver- ständnis der TZI attraktiv finden – dass nämlich von Widersprüchen und Unwägbarkeiten auszugehen ist und wir herausgefordert sind, ständig neue Lösungen zu produzieren.2 Die TZI könnte also allen etwas bieten. Wir gehen allerdings davon aus, dass die „real existierende TZI“ – das heißt die Form, wie wir Leitenden und Teilnehmende die TZI im RCI anwenden – stark von der „Bürgerlichen Mitte“ und von „Postmateriellen“ bestimmt sind.Wenn wir uns in diesem Artikel bis hierhin abstrakt auf die Systematik und den Wertehintergrund der TZI bezogen haben, brauchen wir in einem weiteren Schritt Außensichten auf die Kultur der TZI-Ausbildungen. Nur so lassen sich brisante Fra- gen klären wie:Warum sind TZI-Kurse in manchen Feldern oder Organisationen zurückgegangen? Oder: Warum treten weniger Menschen in die RCI-Vereinsstruktur ein und engagieren sich in den Gremien? Richtet man den Blick nach innen und fragt, wie Veränderungsprozesse innerhalb der TZI-Community verlaufen, könnte es unter anderem diese Antwort geben: Weil die Bürgerliche Mitte es lieber harmonisch und freund- schaftlich-verbindlich statt analytisch-differenzierend mag, fehlt es der TZI-Community an Triebkraft für eine Weiterentwicklung der Methode/Haltung. Diesen Fragen und Hypothesen werden wir in Interviews mit jungen Kursteilnehmenden nachgehen. Literatur Barz, Heiner; Rudolph Tippelt (Hrsg.): Weiterbildung und soziale Milieus in Deutschland. Praxishandbuch Milieumarketing. Bielefeld 2004. Cohn, Ruth C.: Anliegen der TZI. In: Ruth C. Cohn/Alfred Farau: Gelebte Geschichte der Psychotherapie. 2. Aufl. Stuttgart 1999. Friebel, Harry: Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit. Individualisierung und Institutionalisierung von (Weiter-) Bildungsbiografien. In: Grundlagen der Weiterbildung 12 (2001), 66–70. Kuper, Harm: Weiterbildungsbeteiligung und Weiterbildungssinn. Ergebnisse der Triangulation qualitativer und quantitativer Daten zur betrieblichen Weiterbildung. In: Päd. Blick 2001, 69–82. Medien-Dienstleistungs GmbH (Hrsg.): Milieuhandbuch „Religiöse und kirchliche Orientierungen“. München 2005. 2 Helmut Reiser positionierte Padberg, Stefan: Der Marktlogik etwas entgegensetzen statt ihr nachzueifern – Plädoyer gegen die marktgerechte sich bspw. im Hinblick auf Entwicklung des Ruth Cohn Instituts und für eine genauere Analyse des Globes. (Brief an die Mitglieder unterschiedliche Rezep- des Ruth-Cohn-Instituts) Bonn, 21.02.2011 tionsmöglichkeiten der RCI-Vorstand International: Anlage Strategische Ziele zum Brief an die Mitglieder vom 23.3.2011. TZI, indem er sie nicht als Reiser, Helmut: Der Weg der TZI – Eine Positionsbeschreibung. Ohne Ort, ohne Jahr. soziale Bewegung, sondern als „System der Gestaltung Schneider-Landolf, Mina: System der TZI. In: Mina Schneider-Landolf u.a. (Hrsg.): Handbuch Themenzentrierte von Interaktionen“ (2011, 7) Interaktion (TZI). Göttingen 2009. auffasst – sein Verständnis Tippelt, Rudolf u. a.: Teilnehmer- und Milieuspezifische Aspekte der Weiterbildungsbeteiligung. In: Report 27 kann als „postmodern“ ge- (2004), 48–56. lesen werden. 73
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