Ist eine Buddhismus Religion? 3 2014

Die Seite wird erstellt Fritz Stark
 
WEITER LESEN
EURO 8, – | Österreich: E 8,30 | Schweiz: CHF 12,50
www.buddhismusaktuell.de
                                                                     AUSGABE
                                                           Juli, August, September
                                                                                     3 2014

                                                          Ist
                                                      Buddhismus
                                                         eine
                                                       Religion?
Editorial
                                                             ten Religionen der Gegenwart ist. Noch mehr wächst in
                                                             den industrialisierten Ländern anscheinend nur die Zahl
                                                             der Menschen, die sich als spirituell verstehen, ohne sich
                                                             noch einer einzigen religiösen Tradition zugehörig zu
                                                             fühlen. Vielleicht ist das die Religion der Zukunft? S. H.
                                                             der 17. Karmapa Ogyen Trinley Dorje sagte bei seinem
                                                             ersten Besuch in Deutschland kürzlich, glaubensbasierte
Liebe Leserin, lieber Leser,                                 Religionen, zu denen er auch den Buddhismus zählt, bär-
                                                             gen immer die Gefahr in sich, dass die Menschen nur den
den Religionsstiftern Buddha oder Christus ist es sicher-    vorgegebenen Pfaden und Glaubenssätzen folgten. Wich-
lich nicht darum gegangen, Religionen zu gründen. Weder      tig seien aber eigene spirituelle Erfahrungen. Buddha und
war der eine Buddhist noch der andere Christ. Doch ihre      Christus waren keine Mitläufer. Sie haben experimen-
auf Erfahrungen beruhenden Befreiungswege sind im            tiert, selbstständig gedacht, haben sich gegen die herr-
Laufe der Geschichte zu (Welt-)Religionen mit Millionen      schenden religiösen Strömungen ihrer Zeit gewandt und
von Gläubigen geworden. Mit Heilszielen, Wertesyste-         sind ihren eigenen Weg gegangen.
men, Ritualen, Mythen, Legenden, hierarchischen Macht-            Die Frage „Ist der Buddhismus eine Religion?“ wird
strukturen und all den Problemen, die solch riesigen         vor allem dann zu einer lebendigen, wenn sie zu einer
Institutionen innezuwohnen scheinen und denen sich           persönlichen Frage wird: Was ist der Buddhismus für
religiöse Traditionen heute, im Zeitalter der Globalisie-    mich? Wie unterstützt er mich in meinem Leben? Welche
rung und Säkularisierung, gegenübersehen.                    Wahrheit bringt er für mich zum Ausdruck? Welche Be-
     Während wohl niemand auf die Idee käme, zu fragen,      deutung hat Religion in meinem Leben? Habe ich Gefüh-
ob das Christentum eine Religion sei, taucht diese Frage     le, die ich religiös nennen würde? Die Beiträge in diesem
in Bezug auf den Buddhismus immer wieder auf. Und            Heft möchten dazu Inspirationen anbieten. Ich empfinde
zwar nicht nur vonseiten derer, die den Begriff „Religion“   sie als eine Art Gespräch, in dem unterschiedliche Sicht-
auf die monotheistischen Religionen eingrenzen. Auch         weisen deutlich werden, als eine Einladung an Sie, liebe
von buddhistischer Seite selbst wird diese Frage gestellt.   Leserinnen und Leser, die Fäden aufzunehmen und wei-
„Buddha-Dharma“ sei die viel angemessenere Bezeich-          terzuspinnen.
nung für das, was bei uns als Buddhismus fungiert. Doch           Dabei mag Ihnen Rainer Maria Rilkes Ratschlag in
halt, sagt die Religionsphilosophin Ursula Baatz, so ein-    „Über die Geduld“ hilfreich sein: „… Man muss Geduld
fach sei das nicht, denn auch der Begriff „Dharma“ habe      haben / mit dem Ungelösten im Herzen / und versuchen,
es in sich.                                                  die Fragen selber lieb zu haben / wie verschlossene Stu-
     Vor allem unter westlichen Buddhisten gibt es viele,    ben / und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
die den Buddhismus lieber als Philosophie oder Lebens-       geschrieben sind. / Es handelt sich darum, alles zu leben.
hilfe verstehen und praktizieren denn als eine Religion.     / Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmäh-
Und es gibt eine zunehmende Zahl von Menschen, die           lich / ohne es zu merken / eines fremden Tages / in die
buddhistische Methoden und Praktiken anwenden, sich          Antworten hinein.“
aber damit noch lange nicht als Buddhisten verstehen.
Diese Position wird auch von großen Lehrern, wie dem         In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine inspirierende
Dalai Lama oder Thich Nhat Hanh, unterstützt. Sie raten      Lektüre und einen schönen Sommer.
dazu, in der eigenen Tradition zu bleiben, statt zum Bud-
dhismus zu konvertieren, empfehlen aber durchaus, sich
in buddhistischen Übungen und Methoden zu schulen.
Diese undogmatisch „freigiebige“ Haltung ist sicher ein      Ihre Ursula Richard
Grund dafür, dass der Buddhismus eine der erfolgreichs-      Chefredakteurin

                                                                                        3 | 14 BUDDHISMUSaktuell     3
— IST BUDDHISMUS EINE RELIGION? —

                            DEN
                                            UDDHA
                                             TÖTEN

                                                                                                         „Töte den Buddha”, sagt
                                                                                                          ein altes Zen-Koan.
                                                                                                         „Töte den Buddhismus“,
                                                                                                           sagt Sam Harris, der
                                                                                                          Autor des amerikanischen
                                                                                                          Bestsellers The End
                                                                                                          of Faith: Religion,Terror
                                                                                                          and the Future of Reason.
                                                                                                          Er vertritt, dass
                                                                                                          die Philosophie,
                                                                                                          Einsichtstiefe und
                                                                                                          praktischen Methoden
                                                                                                          des Buddhismus
                                                                                                          mehr Menschen zugute
                                                                      © fotolia | Christopher Wohlberg

                                                                                                          kämen, wenn sie nicht
                                                                                                          als eine Religion
                                                                                                          präsentiert werden
                                                                                                          würden.
40   BUDDHISMUSaktuell 3 | 14
— IST BUDDHISMUS EINE RELIGION? —

VON SAM HARRIS                                                       Wenn die Methodologie des Buddhismus (ethische
                                                                     Grundsätze und Meditation) genuine Wahrheiten
                                                                     über den Geist und die Erscheinungswelt aufdeckt,
                                                                     dann sind diese Wahrheiten nicht im Mindesten
           er buddhistische Meister Lin Chi1 aus dem neunten        „buddhistisch“!

D          Jahrhundert soll gesagt haben: „Triffst Du den Bud-
           dha unterwegs, töte ihn!“ Wie vieles an der Zen-Leh-
           re wirkt diese Aussage leicht neunmalklug. Aber
trotzdem wird hier eine wertvolle Feststellung getroffen: Den
Buddha in einen religiösen Götzen zu verwandeln bedeutet, die
Essenz seiner Lehre zu verfehlen. In Anbetracht dessen, was         Schlimmer noch – die fortgesetzte Identifikation von Buddhis-
der Buddhismus der Welt im 21. Jahrhundert bieten kann, schla-      ten mit dem Buddhismus nährt auf eine stillschweigende Weise
ge ich vor, dass wir Lin Chis Ermahnung sehr ernst nehmen. Als      die religiösen Differenzen in unserer Welt. Das ist in diesem
Schüler des Buddha sollten wir ohne „Buddhismus“ auskom-            Moment der Geschichte sowohl moralisch als auch intellektu-
men. Aber das bedeutet nicht, dass der Buddhismus der Welt          ell nicht vertretbar – und zwar besonders unter wohlhabenden,
nichts zu bieten hätte. Man kann sicherlich sagen, dass die bud-    gebildeten Abendländern nicht, denen heute die größte Verant-
dhistische Tradition als Ganzes betrachtet die ergiebigste Quel-    wortung für die Verbreitung von Ideen zukommt. Denn Eines
le kontemplativer Weisheit darstellt, die irgendeine Zivilisation   scheint kaum übertrieben zu sagen: Wenn Sie diesen Artikel
jemals hervorgebracht hat. In einer Welt, die seit Langem von       lesen, sind Sie in einer besseren Lage, den Lauf der Geschichte
brudermörderischen Himmelsgott-Religionen terrorisiert wird,        zu beeinflussen, als es bisher in historischer Hinsicht praktisch
wäre die Vorherrschaft des Buddhismus gewiss eine willkom-          jede andere Person war! Angesichts des Ausmaßes, in dem
men zu heißende Entwicklung!                                        Religion gegenwärtig immer noch menschliche Konflikte befeu-
     Aber das wird nicht geschehen. Es gibt keinerlei Grund zu      ert und echte Entwicklung behindert, bin ich der Meinung,
der Annahme, dass der Buddhismus mit der unermüdlichen              dass von sich selbst zu behaupten, man sei „Buddhist“, bereits
Evangelisierung durch das Christentum oder den Islam erfolg-        bedeutet, sich mitschuldig an der Gewalt und der Unwissen-
reich konkurrieren könnte. Dies sollte er auch gar nicht versu-     heit in der Welt zu machen.
chen! Die Weisheit des Buddha ist aktuell in der Religion des            Es ist richtig, dass viele Vertreter des Buddhismus, allen
Buddhismus gefangen. Selbst im Westen, wo gegenwärtig Wis-          voran der Dalai Lama, erstaunlich gewillt sind, ihre eigene
senschaftler und buddhistische Kontemplative zusammenarbei-         Sicht der Welt durch den Dialog mit der modernen Wissen-
ten, um die Wirkungen von Meditation auf das Gehirn zu erfor-       schaft zu bereichern (und sogar einzuschränken). Aber diese
schen, bleibt der Buddhismus vollständig auf das Interesse          Tatsache, dass der Dalai Lama regelmäßig mit westlichen Wis-
einer „Gemeinde“ beschränkt.                                        senschaftlern zusammentrifft, um über die Natur des Geistes
     Obwohl die von vielen buddhistischen Praktizierenden ver-      zu diskutieren, bedeutet Eines nicht – dass der Buddhismus
tretene Aussage „Der Buddhismus ist keine Religion“ zutreffen       oder auch bloß der tibetische Buddhismus oder innerhalb die-
mag, praktizieren ihn viele Buddhisten weltweit genau so – in       ser Form auch bloß die Traditionslinie des Dalai Lama nicht
vielen der naiven, bittenden und abergläubischen Weisen, in         von religiösem Dogmatismus infiziert wäre.
denen alle Religionen praktiziert werden! Natürlich verstehen            In der Tat gibt es Vorstellungen innerhalb des Buddhis-
alle Nichtbuddhisten den Buddhismus als eine Religion – und         mus, die so hanebüchen sind, dass im Vergleich dazu das Dog-
außerdem sind sie sich ziemlich sicher, dass es die falsche Reli-   ma der Jungfrauengeburt sogar noch plausibel erscheint. Aber
gion sei. Das Sprechen über „den Buddhismus“ vermittelt ande-       niemandem ist heute durch eine Herangehensweise gedient,
ren zwangsläufig einen irreführenden Begriff von der Lehre des      die solche vorschriftlichen Ideen als wesentlich für unsere
Buddha. Insofern wir weiterhin als „Buddhisten“ argumentie-         sich entwickelnde Auseinandersetzung über die Natur des
ren, sorgen wir unbewusst dafür, dass die Weisheit des Buddha       menschlichen Geistes betrachtet. Unter westlichen Buddhis-
kaum etwas dazu beitragen wird, die Entwicklung der Mensch-         ten gibt es in der Tat akademisch gebildete Männer und Frau-
heit im 21. Jahrhundert zu prägen.                                  en, die anscheinend glauben, dass Guru Rinpoche2 tatsächlich

                                                                                                      3 | 14 BUDDHISMUSaktuell    41
— IST BUDDHISMUS EINE RELIGION? —

                                                                                 ein wesentlicher Ausgangspunkt von Gewalt wie zu jeder Zeit
                                                                                 in der Vergangenheit! Die jüngsten Konflikte in Palästina
                                                                                 (Juden gegen Muslime), auf dem Balkan (orthodoxe Serben
                                                                                 gegen katholische Kroaten; orthodoxe Serben gegen bosnische
                                                                                 und albanische Muslime), Nordirland (Protestanten gegen
                                                                                 Katholiken), Kaschmir (Muslime gegen Hindus), Sudan (Musli-
                                                                                 me gegen Christen und Animisten), Nigeria (Muslime gegen
                                                                                 Christen), Sri Lanka (singhalesische Buddhisten gegen tamili-
                                                                                 sche Hindus), Indonesien (Muslime gegen timoresische Chri-
                                                                                 sten), Iran und Irak (schiitische gegen sunnitische Muslime)
                                                                                 sowie auf dem Kaukasus (orthodoxe Russen gegen tschet-
                                                                                 schenische Muslime, muslimische Aserbaidschaner gegen
                                                                                 katholische und orthodoxe Armenier) sind lediglich einige ein-
                                                                                 schlägige Fälle.3 Es gibt Gegenden, wo die Religion in den letz-
                                                                                 ten Jahrzehnten die eindeutige Ursache von buchstäblich Mil-
                                                              © Werner Steiner

                                                                                 lionen von Toten gewesen ist.
                                                                                      Warum ist die Religion solch eine wirkmächtige Quelle der
                                                                                 Gewalt? Es gibt keinen anderen Bereich der Auseinanderset-
                                                                                 zung, in dem Menschen ihre Unterschiede voneinander so
von einer Lotosblume geboren wurde. Das ist nicht der spiritu-                   uneingeschränkt zum Ausdruck bringen oder diese Unterschie-
elle Durchbruch, auf den die Menschheit seit so vielen Jahr-                     de in Begriffe von ewigen Belohnungen oder Strafen gießen.
hunderten gewartet hat. Tatsache ist, dass eine Person die Leh-                  Die Religion ist das Unterfangen, bei dem das „wir-sie“-Denken
re des Buddha annehmen und sogar ein authentischer bud-                          eine transzendente Bedeutung bekommt!
dhistischer Kontemplativer werden kann (und, wie anzu-                                Wenn Sie tatsächlich glauben, dass Gott bei seinem richti-
nehmen ist, ein Buddha), ohne an irgendetwas zu glauben, das                     gen Namen zu nennen den Unterschied zwischen ewigem
nicht ausreichend evident ist. Das Gleiche kann jedoch nicht                     Glück und ewigem Leiden ausmachen kann, erscheint es ganz
über die Lehren der glaubensbasierten Religion gesagt wer-                       angemessen, Häretiker und Ungläubige schlecht zu behandeln.
den! In vieler Hinsicht gleicht der Buddhismus somit stark der                   Die Einsätze sind bei unseren religiösen Unterschieden dra-
Wissenschaft: Man beginnt mit der Hypothese, dass der Ein-                       stisch höher als diejenigen, die sich aus einem bloßen Tribalis-
satz von Aufmerksamkeit in der vorgeschriebenen Weise                            mus, Rassismus oder der Politik ergeben. Religion ist der ein-
(Meditation) sowie das Aufnehmen oder Vermeiden bestimm-                         zige Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion, in dem
ter Verhaltensweisen (Ethik) das zugesicherte Resultat her-                      die Beteiligten systematisch vor der Anforderung behütet wer-
beiführen wird (Weisheit und psychisches Wohlergehen). Die-                      den, die Nachweise zur Verteidigung ihrer eindringlich vertre-
ser Geist des Empirismus belebt den Buddhismus in einer ein-                     tenen Glaubensvorstellungen zu liefern! Dabei bestimmen die-
zigartigen Weise. Deshalb könnte die Methodologie des                            se häufig, wofür sie leben, wofür sie sterben und – allzu häufig
Buddhismus, wenn sie ihrer religiösen Lasten entkleidet wird,                    – wofür sie töten werden. Das ist ein Problem. Denn wenn die
eine unserer größten Ressourcen sein – im Ringen darum,                          Einsätze hoch sind, haben Menschen eine einfache Wahl zwi-
unser wissenschaftliches Verständnis der menschlichen Inner-                     schen Gespräch und Gewalt. Auf der Ebene der nationalen
lichkeit weiterzuentwickeln.                                                     Gemeinschaften lautet die Wahl dann zwischen Gespräch und
                                                                                 Krieg. Es gibt nichts außer der grundsätzlichen Bereitschaft,
                                                                                 vernünftig zu sein – die eigenen Glaubensvorstellungen über
Das Problem der Religion
                                                                                 die Welt durch neue Beweise und neue Argumente revidieren
Unvereinbare religiöse Glaubensvorstellungen haben unsere                        zu lassen –, was gewährleisten kann, dass wir weiter miteinan-
Welt in abgeschottete moralische Gemeinschaften balkanisiert;                    der sprechen. Gewissheit ohne Beweis ist notwendig spalte-
und diese Spaltungen sind zu einer andauernden Quelle des                        risch und entmenschlichend!
Blutvergießens geworden. In der Tat ist Religion heute ebenso

42   BUDDHISMUSaktuell 3 | 14
— IST BUDDHISMUS EINE RELIGION? —

                                                                 ger Irrationalität sein! Alle Beteiligten am überkonfessionellen
Alle Beteiligten am überkonfessionellen religiösen
                                                                 religiösen Dialog haben still vereinbart, auf leisen Sohlen über
Dialog haben still vereinbart, auf leisen Sohlen                 all diejenigen Punkte hinwegzugehen, bei denen ihre Weltan-
über all diejenigen Punkte hinwegzugehen,                        schauungen anderenfalls zusammenstoßen würden. Freilich
                                                                 bleiben aber dessen ungeachtet genau diese Punkte fort-
bei denen ihre Weltanschauungen anderenfalls                     währende Quellen von Verunsicherung und Intoleranz für ihre
zusammenstoßen würden.                                           Glaubensgenossen. Denn politische Korrektheit bietet einfach
                                                                 keine dauerhafte Grundlage für menschliche Zusammenarbeit.
                                                                 Wenn Religionskriege für uns jemals undenkbar werden sollen,
                                                                 ähnlich wie es für die Sklaverei und den Kannibalismus zutrifft,
Deshalb lautet eine der größten zivilisatorischen Herausforde-   wird das davon abhängen, ob wir uns vom Dogma des Glau-
rungen im 21. Jahrhundert, dass die Menschen lernen, über        bens gelöst haben.
ihre tiefsten persönlichen Anliegen – über Ethik, spirituelle
Erfahrung und die Unausweichlichkeit menschlichen Leidens –
                                                                 Eine kontemplative Wissenschaft
auf nicht offensichtlich irrationale Weisen zu sprechen. Aber
nichts steht diesem Projekt mehr im Wege als der Respekt, den    Was die Welt aktuell am meisten braucht, ist ein Mittel, um
wir gemeinhin dem religiösen Glauben zollen! Obwohl es keine     Menschen zu überzeugen, die ganze Gattung als ihre morali-
Garantie gibt, dass sich die rational Gesinnten immer einig      sche Gemeinschaft anzunehmen. Aus diesem Grund brauchen
werden, trifft es zweifellos zu, dass die irrational Gesinnten   wir eine völlig nichtsektiererische Weise, um über das ganze
durch ihre Dogmen gespalten werden. Es scheint zutiefst          Spektrum der menschlichen Erfahrung und des menschlichen
unwahrscheinlich, dass wir die Spaltungen in unserer Welt hei-   Strebens zu sprechen. Wir brauchen also eine Auseinanderset-
len können, indem wir die Gelegenheiten für den interreligiö-    zung über Ethik und Spiritualität, die mindestens genauso
sen Dialog vervielfachen. Denn unser zivilisatorischer Gipfel-   unabhängig von Dogmen und kulturbedingten Vorurteilen wie
punkt kann nicht die wechselseitige Toleranz von offenkundi-     der wissenschaftliche Diskurs ist. Wir brauchen im Grunde

                                                                                                                                    © fotolia

                                                                                                  3 | 14 BUDDHISMUSaktuell    43
— IST BUDDHISMUS EINE RELIGION? —

eine kontemplative Wissenschaft – einen modernen Ansatz, die       solcher Prozesse. Aber wir wissen bereits genug, um viele
äußersten Enden des psychischen Wohlbefindens zu erfor-            falsche Auffassungen auszuschließen. Ohne Zweifel wissen wir
schen! Dabei sollte es selbstverständlich sein, dass wir solch     zum jetzigen Zeitpunkt genug, um sagen zu können, dass der
eine Wissenschaft nicht entwickeln werden, indem wir versu-        Gott Abrahams nicht alleine der Grenzenlosigkeit der Schöp-
chen, einen „amerikanischen Buddhismus“ oder „westlichen           fung nicht würdig ist. Er ist sogar des Menschen nicht würdig!
Buddhismus“ oder „engagierten Buddhismus“ zu verbreiten.           Es gibt noch viel mehr über die Natur des menschlichen Geis-
Wenn die Methodologie des Buddhismus (ethische Grundsätze          tes zu entdecken. Insbesondere gibt es noch viel mehr für uns
und Meditation) genuine Wahrheiten über den Geist und die          zu begreifen, wie sich der Geist aus einem bloßen Reservoir
Erscheinungswelt aufdeckt – nämlich Wahrheiten wie Leerheit,       von Gier, Hass und Verblendung in ein Instrument der Weisheit
Selbstlosigkeit und Vergänglichkeit –, dann sind diese Wahrhei-    und des Mitgefühls transformieren kann.
ten nicht im Mindesten „buddhistisch“!                                  Schüler des Buddha bringen die besten Voraussetzungen
     Kein Zweifel – die meisten ernsthaften Praktizierenden der    mit, unser Verständnis in dieser Hinsicht voranzubringen.
Meditation verstehen es. Aber die meisten Buddhisten verste-       Aber die buddhistische Religion steht uns dabei gegenwärtig
hen es nicht. Deshalb kann sich eine Person wohl der zeitlosen     im Wege! 
und nicht beliebigen Natur meditativer Einsichten bewusst
sein, die in der buddhistischen Literatur beschrieben werden.      Der Beitrag erschien unter dem Titel „Killing the Buddha“ im März 2006
                                                                   in der Shambhala Sun und ist unter www.samharris.org/media/killing-
Ihre Identität als Buddhist dürfte jedoch den Sachverhalt für      the-buddha.pdf frei verfügbar. Abdruck und Übersetzung von Hans
andere verwirrend erscheinen lassen. Es gibt einen guten           Gruber mit freundlicher Genehmigung von Sam Harris.
Grund, dass wir nicht über „christliche Physik“ oder „muslimi-          In einem ergänzenden Beitrag belegt und erweitert Hans Gruber
                                                                   die Perspektive von Sam Harris buddhismuskundlich: Die Praxislehre
sche Algebra“ sprechen, obwohl Christen die Physik, wie wir
                                                                   des Buddhas über das Gesetz „Dharma“ im Unterschied zum „Buddhis-
sie kennen, und Muslime die Algebra erfunden haben. Heute          mus“: www.buddha-heute.de/blog.
würde jeder, der die christlichen Wurzeln der Physik oder die
                                                                   Hans Gruber ist Indologe, Fachreferent PR und Experte zum Thema der
muslimischen Wurzeln der Algebra betont, als jemand daste-
                                                                   Achtsamkeits- bzw. Einsichtspraxis Vipassana (www.buddha-heute.de,
hen, der von diesen Disziplinen überhaupt nichts versteht! In      mit verknüpftem Blog).
ähnlicher Weise wird der kontemplative Pfad, wenn wir eine
wissenschaftliche Beschreibung von ihm entwickeln, vollstän-
dig seine religiösen Assoziationen überschreiten. Sobald solch
                                                                   ANMERKUNGEN:
eine konzeptuelle Revolution stattgefunden hat, wird ein Spre-
                                                                   1 Der chinesische Begründer des Rinzai-Zen. Er starb im Jahre 866
chen über „buddhistische“ Meditation gleichbedeutend mit             (Anm. d. Übersetzers).
dem Scheitern sein, die Wandlungen aufzunehmen, die dann in        2 Guru Rinpoche: „Wertvoller Großer“. Ein anderer Name für den Alt-
unserem Verstehen des menschlichen Geistes mittlerweile              inder Padmasambhava (8. Jh.), der den Buddhismus als Erstes in Tibet
stattgefunden haben.                                                 eingeführt hat. Deshalb gilt er neben Shantarakshita den Tibetern
                                                                     voller Verehrung als die Urgestalt des tibetischen Buddhismus. In
     Es ist gegenwärtig noch ungeklärt, was es heißt, Mensch
                                                                     dessen ältester Richtung, der Nyingma-Schule, die auf Padmasambhava
zu sein. Denn jede Facette unserer Kultur – und sogar unsere         zurückgeht, heißt er sogar der „zweite Buddha“ (Anm. d. Übersetzers).
Biologie selbst – bleibt offen für Neuerung und Einsicht. Wir      3 Der Beitrag ist im März 2006 erschienen. Für die wenigen Jahre seit-
wissen nicht, was wir in tausend Jahren von jetzt sein werden –      dem müsste man dieser Aufzählung heute etwa noch hinzufügen:
oder, in der Tat, ob wir noch sein werden –, angesichts der töd-     Syrien (Dschihadisten und stark mehrheitliche Sunniten gegen die
                                                                     regierenden Alawiten), Pakistan und Afghanistan (Sunniten und
lichen Absurdität vieler unserer Glaubensvorstellungen. Aber         Taliban gegen Schiiten), Zentralafrikanische Republik (Muslime gegen
welche Veränderungen auch immer uns erwarten, ein Punkt              Christen), Myanmar (Buddhisten gegen Muslime) Für die Geschichte
wird sich kaum jemals verändern: Solange persönliche Erfah-          des Christentums mit dessen früherem gewaltsamen Vorgehen gegen
                                                                     Andersdenkende genügt der Hinweis auf die zehn umfassenden Bände
rung andauert, wird der Unterschied zwischen Glück und Leid
                                                                     Die Kriminalgeschichte des Christentums von Dr. Karl-Heinz Deschner,
unsere höchste Priorität sein! Aus diesem Grunde werden wir          mit einem Zusatzband Die Politik der Päpste. Bei all diesen Konflikten
jene Prozesse – biochemischer, verhaltensmäßiger, ethischer,         kommt außer der religiösen Dimension sicherlich noch das Motiv der
politischer, ökonomischer und spiritueller Art – verstehen wol-      Konkurrenz um Macht, Einfluss, Territorium oder Rohstoffe und
                                                                     Reichtum mit ins Spiel. Aber trotzdem spielen dabei die religiösen
len, die für diesen Unterschied verantwortlich sind. Wir verfü-      Polaritäten im Sinne von Sam Harris eine wesentliche und nicht selten
gen heute noch keineswegs über ein endgültiges Verständnis           die Hauptrolle (Anm. d. Übersetzers).

44   BUDDHISMUSaktuell 3 | 14
Sie können auch lesen