Inflation - diesmal ist es anders - Policy Brief 2023

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Inflation - diesmal ist es anders - Policy Brief 2023
Policy Brief 2023 | 01

                                                      Steh

                 Inflation – diesmal ist es anders
                                         Thieß Petersen
                                           t eine weiß
 Zu einer Inflation kommt es, wenn die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Gütern größer
ist als das entsprechende Angebot. In den vergangenen Jahrzehnten resultierten die für eine
        Inflation notwendigen Nachfrageüberhänge in der Regel aus einem Anstieg der
    Güternachfrage. In der Coronapandemie und während des russischen Angriffs auf die
   Ukraine kommt es hingegen vor allem zu einer Verringerung des gesamtwirtschaftlichen
    Güterangebots. Die aktuelle Inflation hat also eine andere Ursache als die inflationären
  Prozesse der Vergangenheit. Gleiches ist für die kommenden Jahre zu erwarten. Das ver-
          langt wirtschaftspolitische Reaktionen, die über die Geldpolitik hinausgehen.

Inflation und Inflationsursachen                         Auch wenn es in beiden Fällen zu einem Preisni-
Von einer Inflation wird gesprochen, wenn die            veauanstieg kommt, unterscheiden sich diese In-
Preise für Konsumgüter auf breiter Front steigen         flationsarten hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die
und das gesamtwirtschaftliche Preisniveau somit          Höhe der Produktion und der Beschäftigung. Der
zunimmt. Zu einem Anstieg des gesamtwirt-                Unterschied lässt sich mithilfe von Preisniveau-
schaftlichen Preisniveaus kommt es, wenn die             Mengen-Diagrammen verdeutlichen. In diesen
gesamtwirtschaftliche Güternachfrage größer ist          sind die angebotene und die nachgefragte Güter-
als das Güterangebot.                                    menge in Abhängigkeit vom gesamtwirtschaftli-
                                                         chen Preisniveau abgebildet.
Falls eine höhere gesamtwirtschaftliche Güter-
nachfrage Ursache eines Anstiegs des gesamt-             Wenn es zu einem Anstieg der gesamtwirtschaft-
wirtschaftlichen Preisniveaus ist, liegt eine nach-      lichen Güternachfrage kommt, bedeutet dies,
fragegetriebene Inflation vor. Sofern der gesamt-        dass die Güterangebotsgerade nach rechts ver-
wirtschaftliche Nachfrageüberhang jedoch aus             schoben wird. Es ergibt sich ein neues Gleichge-
einer Angebotsreduktion resultiert, handelt es           wicht mit einem höheren Preisniveau und einer
sich um eine angebotsgetriebene Inflation.               größeren Menge an produzierten und nachge-
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fragten Gütern (siehe Abb. 1). Im Normalfall geht    Eine angebotsgetriebene Inflation ist so gesehen
eine größere Güterproduktion mit einem höheren       problematischer, weil sie mit einer Verringerung
Beschäftigungsniveau einher.                         von Produktion und Beschäftigung einhergeht.
                                                     Und es ergibt sich eine weitere Herausforderung:
Zu einer Reduzierung des Güterangebots kommt         Während sich eine nachfragegetriebene Inflation
es u. a., wenn die Unternehmen im Inland ihre        durch geldpolitische Maßnahmen bekämpfen
Produktion einschränken, weil ihnen wichtige         lässt, sind bei einer angebotsgetriebenen Infla-
Vorleistungen oder Arbeitskräfte fehlen. Auch        tion zusätzliche wirtschaftspolitische Maßnah-
steigende Produktionskosten führen zu einem          men erforderlich. Ansonsten käme es zu weite-
geringeren Güterangebot. Wenn die Produkti-          ren Rückgängen bei Produktion, Beschäftigung
onskosten der Unternehmen steigen, wird es für       und Einkommen.
sie weniger attraktiv, ihre Produkte bei einem un-
veränderten Marktpreis anzubieten. Sie reduzie-
ren daher ihr Güterangebot.                          Inflationsbekämpfung durch die
                                                                      Geldpolitik
                                                                             Die Zentralbank hat in ei-
                                                                             ner Volkswirtschaft die
                                                                             Aufgabe, für Preisni-
                                                                             veaustabilität zu sorgen.
                                                                             Dieses Ziel gilt für die Eu-
                                                                             ropäische Zentralbank als
                                                                             erfüllt, wenn die Inflati-
                                                                             onsrate zwei Prozent be-
                                                                             trägt. Auch in den USA, in
                                                                             Japan, im Vereinigten Kö-
                                                                             nigreich und in Schweden
                                                                             betragen die Inflations-
                                                                             ziele zwei Prozent (vgl.
                                                                             KfW 2020: 2).

Im Preisniveau-Mengen-Diagramm wird so die           Die wichtigste geldpolitische Maßnahme zur In-
gesamtwirtschaftliche Güterangebotsgerade            flationsbekämpfung ist eine Verringerung der
nach links verschoben. Alternativ bedeuten hö-       Geldmenge, die der Volkswirtschaft zur Verfü-
here Produktionskosten, dass die Unternehmen         gung steht. Eine solche Politik wird als restriktive
eine bestimmte Gütermenge nur zu einem höhe-         Geldpolitik bezeichnet. Wenn die Geldmenge in
ren Preis anbieten. In diesem Fall wird die Güter-   einer Volkswirtschaft zurückgeht, sinkt das Kre-
angebotsgerade nach oben verschoben, was je-         ditangebot der Geschäftsbanken. Die Folge ist
doch zum gleichen Ergebnis führt wie eine Links-     ein Anstieg des Zinses. Alternativ kann die Zent-
verschiebung der Geraden (siehe Abb. 2).             ralbank ihren Leitzins erhöhen und damit einen
                                                     gesamtwirtschaftlichen Zinsanstieg hervorrufen.
Auch bei einer angebotsgetriebenen Inflation
kommt es zu einem Anstieg des gesamtwirt-            Ein Zinsanstieg hat eine Verringerung der ge-
schaftlichen Preisniveaus. Angebotene und            samtwirtschaftlichen Güternachfrage zur Folge.
nachgefragte Gütermenge gehen jedoch zurück.         Höhere Zinsen bedeuten, dass sich unternehme-
Das bedeutet einen Rückgang des gesamtwirt-          rische Investitionsprojekte mit einer geringen
schaftlichen Produktionsniveaus und der Be-          Rendite nicht mehr lohnen. Eine Investition mit
schäftigung.                                         einer erwarteten Rendite von 3,5 Prozent ist bei

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einem gesamtwirtschaftlichen Zinssatz von 2,5         Verschiebung der gesamtwirtschaftlichen Güter-
Prozent lohnend. Wenn das Zinsniveau jedoch           nachfragegeraden nach links. Diese Verschie-
auf 4,5 Prozent steigt, ist diese Investition be-     bung müsste so groß sein, bis es zu einem
triebswirtschaftlich nicht mehr sinnvoll. Ein höhe-   Schnittpunkt mit der neuen Güterangebotsgera-
res Zinsniveau bewirkt also einen Rückgang der        den auf Höhe des alten Preisniveaus kommt. Die
Investitionsgüternachfrage.                           Folge wäre eine weitere Verringerung von Pro-
                                                      duktion und damit auch Beschäftigung.
Höhere Zinsen erhöhen zudem die Kosten eines
Kredits für private Haushalte. Daher lassen kre-      Die skizzierten Grenzen einer restriktiven Geld-
ditfinanzierte Konsumgüterkäufe nach. Gleichzei-      politik zur Reduzierung einer angebotsinduzier-
tig macht ein höherer Zins das Sparen attrakti-       ten Preisniveausteigerung bedeuten jedoch
ver. Wenn die privaten Haushalte deshalb ihre         nicht, dass die Zentralbank überhaupt nicht rea-
Ersparnisbildung erhöhen, verringern sie ihre         gieren sollte. Eine Zinssteigerung hat auch im
Konsumgüternachfrage.                                 Fall eines zu geringen Güterangebots zwei infla-
                                                      tionsdämpfende Effekte.
Ein Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Güter-
nachfrage hat zur Folge, dass der Nachfrage-          Zum einen macht eine Zinserhöhung es für aus-
überhang, der für einen Anstieg des gesamtwirt-       ländische Anleger:innen attraktiver, ihr Geld im
schaftlichen Preisniveaus verantwortlich ist, re-     Inland anzulegen. Damit steigt die Nachfrage
duziert wird. Damit geht auch die Inflation zu-       nach inländischen Wertpapieren. Mit ihr wird
rück.                                                 auch die Nachfrage nach der inländischen Wäh-
                                                      rung größer, denn wenn ausländische Anle-
Eine restriktive Geldpolitik ist geeignet, eine       ger:innen diese Wertpapiere erwerben wollen,
nachfragegetriebene Inflation zu bekämpfen.           benötigen sie dafür die Währung des Inlands.
Grund ist, dass die Ursache dieser Inflation – ein
zu starker Anstieg der Güternachfrage – durch         Falls also die Europäische Zentralbank ihren
einen Zinsanstieg direkt adressiert wird. Bei ei-     Zinssatz zur Inflationsbekämpfung erhöht, steigt
ner angebotsgetriebenen Inflation ist eine restrik-   die Nachfrage nach europäischen Wertpapieren
tive Geldpolitik hingegen weniger erfolgreich,        und damit auch nach dem Euro. Daraus resultiert
weil sie den Grund des gesamtwirtschaftlichen         eine Aufwertung des Euro. Sie hat zwei inflati-
Nachfrageüberhangs – den Rückgang des Gü-             onsdämpfende Effekte:
terangebots – nicht beseitigt. Falls diese Form
der Inflation ausschließlich durch die Geldpolitik        ▪   Eine Aufwertung des Euro verteuert eu-
bekämpft wird, bedeutet dies in Abbildung 2 eine              ropäische Produkte im Ausland. Wenn
                                                                              der Euro gegenüber
                                                                              dem Dollar aufgewertet
                                                                              wird, werden Produkte
                                                                              aus Europa – gemes-
                                                                              sen in Dollar – in den
                                                                              USA teurer. Die Ameri-
                                                                              kaner:innen fragen da-
                                                                              her weniger europäi-
                                                                              sche Güter nach. Für
                                                                              Europa bedeutet das
                                                                              einen Rückgang der
                                                                              Exporte. Dieser verrin-
                                                                              gert die gesamtwirt-
                                                                              schaftliche Güternach-
                                                                              frage und wirkt somit
                                                                              inflationsdämpfend.

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    ▪     Das Pendant einer Euroaufwertung ist           Maßnahmen zur Bekämpfung einer
          eine Abwertung des Dollar. Damit wer-          angebotsbetriebenen Inflation
          den amerikanische Produkte für europäi-
                                                         Wenn ein Angebotsrückgang die Ursache für ei-
          sche Nachfrager:innen – ausgedrückt in
                                                         nen Preisniveauanstieg im Inland ist, sollten wirt-
          Euro – preiswerter. Der Import billigerer
                                                         schaftspolitische Maßnahmen eine Erhöhung
          Waren und Dienstleistungen aus dem
                                                         des Güterangebots anstreben. Dies lässt sich
          Ausland senkt die Verbraucherpreise in
                                                         durch einen Ausbau der Produktionskapazitäten
          Europa und wirkt dadurch inflations-
                                                         einer Volkswirtschaft erreichen. Dafür ist es er-
          dämpfend. Gleichzeitig geht die Nach-
                                                         forderlich, die Quantität und/oder die Qualität der
          frage nach in Europa produzierten Gü-
                                                         Produktionsfaktoren zu erhöhen.
          tern zurück, weil diese durch preiswer-
          tere Produkte aus dem Ausland substitu-        Hierzu bietet sich ein breites Spektrum wirt-
          iert werden. Zudem erhöhen Importe die         schaftspolitischer Instrumente an: eine Steige-
          in Europa zur Verfügung stehende Gü-           rung der Arbeitsproduktivität durch bildungspoliti-
          termenge. Der damit verbundene Ange-           sche Maßnahmen, eine Intensivierung der Aktivi-
          botsüberschuss wirkt ebenfalls preisni-        täten im Bereich Forschung und Entwicklung, um
          veaureduzierend.                               so neue Produktionsverfahren und Technologien
                                                         zu entwickeln, eine Erhöhung des Arbeitskräfte-
Zum anderen kann die Zentralbank durch eine
                                                         angebots durch die Zuwanderung von qualifizier-
Leitzinserhöhung die Inflationserwartung der
                                                         ten Arbeitskräften aus dem Ausland, Änderun-
Wirtschaftsakteur:innen stabilisieren. Wenn die
                                                         gen im Steuerrecht zur Steigerung der unterneh-
Zentralbank einer Volkswirtschaft sich zu diesem
                                                         merischen Investitionen und die Förderung der
Schritt entscheidet, signalisiert sie damit ihre
                                                         Gründungsdynamik, um nur einige zu nennen.
Entschlossenheit, ihr angestrebtes Inflationsziel
                                                         Ihren angebotserhöhenden Effekt entfalten der-
zu erreichen. Das kann die Inflationserwartungen
                                                         artige Maßnahmen jedoch erst mit einer zeitli-
der Wirtschaftsakteur:innen dahin gehend beein-
                                                         chen Verzögerung.
flussen, dass diese selbst bei aktuell hohen Infla-
tionsraten für die Zukunft nur mit Steigerungen          Eine unmittelbare Ausweitung des Güterange-
des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus rech-            bots im Inland ergibt sich aus einer Steigerung
nen, die dem Inflationsziel der Zentralbank ent-         der Importe. Um dies zu erreichen, bietet es sich
sprechen.                                                an, Importzölle und andere handelsbeschrän-
                                                         kende Maßnahmen abzubauen.
Diese Erwartungshaltung kann wiederum zur
Folge haben, dass als Reaktion auf eine aktuell          Darüber hinaus lässt sich ein gesamtwirtschaftli-
hohe Inflationsrate keine zu hohen Nominallohn-          cher Nachfrageüberhang durch eine Reduzie-
forderungen gestellt werden. Dadurch lässt sich          rung der Konsumgüternachfrage erreichen. Dies
eine Lohn-Preis-Spirale verhindern (vgl. Illing          betrifft auch die staatliche Güternachfrage. Aller-
2022: 433). Die durch eine Leitzinserhöhung der          dings zieht eine geringere Güternachfrage dann
Zentralbank hervorgerufene Stabilisierung der In-        auch Produktions- und Beschäftigungseinbußen
flationserwartungen der inländischen Wirt-               nach sich. Sinnvoller sind daher Nachfrageredu-
schaftsakteur:innen verhindert zudem, dass               zierungen, die nicht unmittelbar zu Produktions-
diese Güterkäufe vorziehen. Das vermeidet ei-            rückgängen führen. Im Fall von Deutschland
nen Anstieg der Güternachfrage, der inflationser-        wäre dies vor allem bei Rohstoffen der Fall, weil
höhend wirken würde.                                     diese primär importiert werden. Dafür bieten sich
                                                         beispielsweise Maßnahmen an, die die Energie-
Im Ergebnis bleibt es dennoch dabei, dass eine
                                                         und Ressourcenproduktivität erhöhen und somit
restriktive Geldpolitik alleine nicht in der Lage ist,
                                                         den Bedarf an Rohstoffen verringern.
eine angebotsgetriebene Inflation zu bekämpfen.

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Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft | Policy Brief 2023 | 01

Eine geringere Ressourcennachfrage lässt sich          Dabei sind vor allem zwei Unterschiede zu be-
nicht nur durch technologische Innovationen er-        rücksichtigen: die Betroffenheit von steigenden
reichen, sondern auch durch veränderte Produk-         Preisen und die Möglichkeiten, auf steigende
tionskonzepte. Ein Beispiel dafür ist die zirkuläre    Preise zu reagieren.
Wirtschaft (Circular Economy). Bei diesem Wirt-
schaftskonzept verbleiben die Stoffe, die mit der      Die unterschiedliche Betroffenheit von höheren
Herstellung eines Produkts verbunden sind,             Preisen ist darauf zurückzuführen, dass ärmere
möglichst lange im Stoffkreislauf. Zentrale Ele-       Haushalte andere Konsumgewohnheiten haben
mente der zirkulären Ökonomie sind „die Wieder-        als Haushalte mit einem hohen verfügbaren Ein-
und Weiterverwendung von Waren, das Recyc-             kommen. Bei den Haushalten mit einem gerin-
ling von Materialien und Stoffen sowie eine Ge-        gen Einkommen ist der Anteil der Ausgaben für
staltung der Waren, die eine Kreislaufführung          Mieten, Energie und Nahrungsmittel höher als
ohne Verluste in der Qualität ermöglicht“ (Hiebel      bei einkommensreichen Haushalten. Steigende
et al. 2017: 7).                                       Preise für diese drei Konsumgüterarten treffen
                                                       die ärmeren Haushalte daher stärker. Die haus-
Zudem kann der Staat die Exportnachfrage               haltsspezifischen Inflationsraten sind deshalb bei
dämpfen, indem er den Export erschwert. Ein be-        den ärmeren Haushalten höher als bei einkom-
sonders hartes Instrument sind Exportbeschrän-         mensreichen Haushalten (vgl. Weichenrieder
kungen bzw. Exportverbote. Zu diesen Instru-           und Gürer 2020: 836).
menten griffen zahlreiche Regierungen in der
Coronapandemie. Um Versorgungsengpässe im              Auch die Möglichkeiten zum Umgang mit höhe-
eigenen Land zu verhindern, führten sie Export-        ren Preisen unterscheiden sich entlang der Ein-
beschränkungen für lebenswichtige Medika-              kommenshöhe. Einkommensreiche Haushalte
mente, Beatmungsgeräte, persönliche Schutz-            geben nicht ihr gesamtes verfügbares Einkom-
ausrüstung und Nahrungsmittel ein (vgl. Draper         men für Konsumgüter aus und haben deshalb fi-
2020: 14). Dadurch lassen sich Angebotsver-            nanzielle Puffer. Bei steigenden Preisen können
knappungen im Inland, die zu Preissteigerungen         sie ihre Ersparnisbildung einschränken, um so
führen, verhindern. Allerdings stellt dies einen er-   das Konsumniveau zu halten. Darüber hinaus
heblichen Eingriff in den grenzüberschreitenden        haben diese Haushalte in der Regel auch in der
Handel dar, der zu protektionistischen Antworten       Vergangenheit Ersparnisse gebildet. Diese kön-
im Ausland führen kann.                                nen sie im Fall einer Inflation auflösen und für
                                                       den Kauf von Konsumgütern verwenden. Ein-
Problematisch ist bei der Bekämpfung einer an-         kommensarme Haushalte müssen hingegen ihr
gebotsgetriebenen Inflation, dass die meisten          gesamtes verfügbares Einkommen für den Kauf
der skizzierten Maßnahmen erst mit einer zeitli-       von Konsumgütern ausgeben. Sie haben daher
chen Verzögerung wirken. Solange die Inflation         weder finanzielle Spielräume, mit denen sie hö-
noch besteht, kann eine sozialpolitische Flankie-      here Preise abfedern können, noch Ersparnisse,
rung der Inflation erforderlich werden.                die sie für den Kauf von Gütern verwenden kön-
                                                       nen.

Sozialpolitische Flankierung einer                     Angesichts der unterschiedlichen Auswirkungen
                                                       von hohen Inflationsraten auf ärmere und ein-
Inflation
                                                       kommensreiche Haushalte ist eine sozialpoliti-
Eine Preisniveauerhöhung trifft zwar alle Preise
                                                       sche Flankierung steigender Konsumgüterpreise
einer Volkswirtschaft und damit auch alle Wirt-
                                                       erforderlich, weil sonst soziale Spannungen dro-
schaftsakteur:innen. Allerdings fällt die individu-
                                                       hen, die zu politischen Polarisierungen führen
elle Betroffenheit der Kaufkraftverluste, die mit
                                                       können.
steigenden Preisen verbunden sind, bei einzel-
nen Wirtschaftsakteur:innen unterschiedlich aus.       Wie genau diese Flankierung aussieht, d. h. wel-
Dies gilt insbesondere für die privaten Haushalte.     che Personengruppen finanzielle Entlastungen

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erhalten sollen und welche nicht, ist eine gesell-    bei einer lang anhaltenden Angebotsverknap-
schaftspolitische Entscheidung, die sich mit rein     pung lässt sich die Inflation nur bekämpfen,
wirtschaftswissenschaftlichen Argumenten und          wenn die gesamtwirtschaftliche Nachfrage sinkt.
Analysen nicht treffen lässt. Drei grundsätzliche
Tendenzaussagen sind jedoch möglich.
                                                      Ausblick und Schlussfolgerungen
Erstens sind nicht sämtliche Preisniveausteige-
                                                      In den letzten Jahrzehnten war die Weltwirtschaft
rungen Anlass für finanzielle Kompensationen.
                                                      geprägt von wachstumsfreundlichen Rahmenbe-
Zumindest bei Inflationsraten, die nahe an dem
                                                      dingungen: Der Abbau von Handelshemmnissen
Inflationsziel der Zentralbank liegen, ist eine so-
                                                      und die daraus resultierende voranschreitende
zialpolitische Flankierung nicht erforderlich. An-
                                                      Globalisierung riefen wachstumsfördernde Spe-
ders sieht es aus, wenn es beispielsweise wegen
                                                      zialisierungsgewinne hervor. Die Weltbevölke-
sehr stark oder sogar sprunghaft steigender
                                                      rung zeichnete sich durch einen hohen und
Energiepreise zu einem Anstieg der Inflation
                                                      wachsenden Anteil von Menschen im erwerbsfä-
kommt – wie es seit dem Ausbruch des Ukraine-
                                                      higen Alter an der Gesamtbevölkerung aus, was
kriegs im Frühjahr 2022 in Deutschland und Eu-
                                                      zu einem hohen Arbeitskräfteangebot führte.
ropa passiert. In diesem Fall kann es zu Energie-
                                                      Und natürliche Ressourcen standen preiswert
armut kommen. Sie liegt vor, wenn eine Woh-
                                                      zur Verfügung.
nung nicht mehr angemessen geheizt werden
kann, wenn nicht genügend Strom für alle elektri-     Das alles hatte zur Folge, dass das gesamtwirt-
schen Geräte vorhanden ist und die Mobilitäts-        schaftliche Güterangebot stärker wuchs als die
bedürfnisse nicht bedient werden können.              entsprechende Nachfrage – zumindest in den
                                                      entwickelten Volkswirtschaften. Bei wachstums-
Zweitens sollten finanzielle Transferzahlungen
                                                      freundlichen Rahmenbedingungen kommt es zu
und steuerliche Entlastungen möglichst bedarfs-
                                                      einem Wirtschaftswachstum mit geringeren Infla-
gerecht sein. Organisatorisch ist es einfacher,
                                                      tionsraten oder sogar zu einem Rückgang des
mit pauschalen Entlastungen zu arbeiten, also
                                                      gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus.
z. B. jeder Bürgerin und jedem Bürger eine Aus-
gleichszahlung in Höhe von 500,- Euro pro Jahr        Wenn es in den letzten drei Jahrzehnten zu infla-
zu zahlen oder die Mehrwertsteuer von 19 auf          tionären Tendenzen kam, waren diese primär
sieben Prozent zu reduzieren. Allerdings entlas-      das Resultat einer vorherigen expansiven Geld-
tet das auch einkommensreiche Haushalte, die          und Fiskalpolitik, mit der die Zentralbanken und
Preisniveauerhöhungen ohne staatliche Unter-          die Regierungen auf wirtschaftliche Schwäche-
stützung verkraften können. Ein sparsamer Um-         phasen reagierten. Die mit einer expansiven
gang mit staatlichen Mitteln spricht dafür, tat-      Geldpolitik einhergehenden niedrigen Zinsen
sächlich nur die Haushalte zu entlasten, die auf      kurbeln die Investitionstätigkeiten der Unterneh-
solche Mittel angewiesen sind. Das bedeutet je-       men und die kreditfinanzierten Konsumgüter-
doch einen höheren Verwaltungsaufwand, der            käufe der privaten Haushalte an. Es handelt sich
für eine individuelle Bedarfsprüfung erforderlich     also um eine nachfragegetriebene Inflation, die
ist.                                                  sich mit einer restriktiven Geldpolitik relativ gut
                                                      bekämpfen lässt.
Drittens sollte die konkrete Ausgestaltung von fi-
nanziellen Entlastungen so sein, dass es immer        Perspektivisch ist jedoch davon auszugehen,
noch genügend hohe finanzielle Anreize für ein        dass die weltweiten wirtschaftlichen Rahmenbe-
sparsames Ausgabeverhalten gibt. Dies ist not-        dingungen wachstumsdämpfend werden und das
wendig, weil die Ursache von hohen Inflationsra-      gesamtwirtschaftliche Güterangebot schwächer
ten ein gesamtwirtschaftlicher Nachfrageüber-         wächst als die Güternachfrage. Die Zunahme
hang ist. Ihn gilt es abzubauen – insbesondere        protektionistischer Maßnahmen und die Einprei-
bei einer angebotsgetriebenen Inflation. Gerade       sung der negativen externen Effekte des Klima-

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wandels rufen Deglobalisierungstendenzen her-          Wenn es trotz dieser Anstrengungen zu Nachfra-
vor. Der Anteil der Personen im erwerbsfähigen         geüberhängen kommt, die die Preise für lebens-
Alter geht zurück – nicht nur in Europa und ent-       wichtige Produkte spürbar steigen lassen, sind
wickelten Industrienationen, sondern weltweit –,       als dritter Punkt flankierende sozialpolitische
was zu einem Arbeitskräftemangel führt. Natürli-       Maßnahmen erforderlich. Das betrifft zum einen
che Ressourcen werden zunehmend knapper                Transferzahlungen an einkommensschwache
und teurer – auch weil immer mehr Volkswirt-           private Haushalte, für die steigende Konsumgü-
schaften die gesellschaftlichen Zusatzkosten des       terpreise eine so große Belastung darstellen,
Verbrauchs nicht erneuerbarer Ressourcen ein-          dass sie sich nicht mehr alle lebensnotwendigen
preisen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2022).              Güter leisten können – also vor allem Strom,
                                                       eine ausreichende Menge an Lebensmitteln und
Zukünftig werden deshalb primär Angebotsver-           eine hinreichend große Wohnung.
knappungen für steigende Preise und höhere In-
flationsraten sorgen. Bei einer angebotsgetriebe-      Zum anderen geht es um die Unternehmen und
nen Inflation ist die Wirksamkeit einer restriktiven   die bei ihnen beschäftigten Personen, die bei ho-
Geldpolitik jedoch begrenzt. Höhere Zinsen kön-        hen Produktionskosten nicht mehr wettbewerbs-
nen zwar die gesamtwirtschaftliche Güternach-          fähig sind und ihre Produktion einschränken oder
frage dämpfen, sie sind jedoch nicht in der Lage,      sogar einstellen müssen. Hier ist allen voran die
die eigentliche Inflationsursache – ein zu gerin-      Arbeitsmarktpolitik gefordert, mit Qualifikations-
ges Güterangebot – zu beseitigen.                      maßnahmen und Mobilitätshilfen diejenigen zu
                                                       unterstützen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, da-
Um zu starke Preisniveauanstiege zu vermeiden,         mit sie an anderen Stellen eingesetzt werden
müssen also zusätzlich zur Geldpolitik der Zent-       können und damit auch dem demografisch be-
ralbanken weitere wirtschaftspolitische Maßnah-        dingten Arbeitskräftemangel entgegenwirken.
men ergriffen werden. Hier gibt es im Kern drei
Ansatzpunkte:                                          Die Inflationsbekämpfung wird damit zu einer
                                                       Aufgabe für die gesamte Wirtschaftspolitik und
An erster Stelle sind wirtschaftspolitische Maß-       nicht mehr nur ein Thema, für das die Zentral-
nahmen zur Steigerung des gesamtwirtschaftli-          banken verantwortlich sind. Das verlangt eine
chen Güterangebots zu nennen. Dabei sind je-           stärkere Koordinierung zwischen allen wirt-
doch die planetaren Grenzen zu berücksichtigen,        schaftspolitischen Akteur:innen. Die klassische
d. h., die Steigerung des gesamtwirtschaftlichen       wirtschaftspolitische Arbeitsteilung, nach der
Güterangebots muss im Rahmen eines grünen,             ausschließlich die Zentralbank eines Landes für
also klimaneutralen Wirtschaftswachstums erfol-        die Preisniveaustabilität verantwortlich ist, dürfte
gen.                                                   in Zukunft immer weniger anwendbar sein.

Zur Reduzierung eines preisniveauerhöhenden
Nachfrageüberhangs bieten sich zweitens Maß-
nahmen zur Verringerung der gesamtwirtschaftli-
chen Güternachfrage an. Ein Konsumverzicht ist
dabei nicht zwingend erforderlich. Denkbar sind
Maßnahmen, die die mengenmäßige Nachfrage
nach Gütern verringern, ohne dass es dabei zu
einem geringeren Konsumniveau kommt. Zu
denken ist dabei vor allem an einen gemeinsa-
men Gebrauch von physischen Produkten, z. B.
im Rahmen eines Carsharings. So lässt sich die
Nachfrage nach Pkws verringern, ohne dass die
Fahrleistungen eingeschränkt werden müssen.

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Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft | Policy Brief 2023 | 01

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des Verbands der Chemischen Industrie e. V.,           eric.thode@bertelsmann-stiftung.de
Landesverband NRW. Oberhausen.

                                                       Titelbild: © © photoschmidt - stock.adobe.com
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                                                         Autor   | Kontakt

                                                         Dr. Thieß Petersen
                                                         Senior Advisor
                                                         Nachhaltige Soziale Marktwirtschaft
                                                         thiess.petersen@bertelsmann-stiftung.de
                                                         Telefon: +49 5241 81 81218

                                                         ISSN: 2751-7373
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