Infobrief Biografiearbeit - LebensMutig eV

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Infobrief Biografiearbeit - LebensMutig eV
Infobrief Biografiearbeit
                                                                                                Oktober 2020

Liebe Leserin, lieber Leser,                           Anregungen für Seminare und mit Futter zum
immer wieder treffe ich in Biografieseminaren          selbst  lesen,    hemmungslos      subjektiv
auf andere begeisterte Leser*innen und wir             zusammengestellt     und     passend    zur
tauschen uns aus, was wir gerade lesen oder            Buchmesse. Und alle Bücher haben etwas mit
welches Buch uns gut gefallen hat. Oft geht es         Lebensgeschichten zu tun ...
darin um Lebensgeschichten, und so habe ich
schon Bücher kennengelernt, zu denen ich
sonst vielleicht nicht gegriffen hätte.
Vielleicht geht es Ihnen auch so? Dann freuen          Birgit Lattschar | post@birgit-lattschar.de

Sie sich auf diesen Infobrief mit methodischen

Lesen? Lesen!
Ende letzten Jahres lief im Kino „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, von
Charlotte Link wunderbar verfilmt. Der Film hat mich angeregt, einmal
wieder dieses Jugendbuch (und die folgenden zwei Bände) zu lesen und
mich mit der wahren Geschichte hinter den Büchern zu befassen, dem
Leben der Zeichnerin und Kinderbuchautorin Judith Kerr. Die von Astrid
von Nahl verfasste Biografie: „Judith Kerr. Die Frau, der Hitler das rosa
Kaninchen stahl“ erschien kurz nach dem Tod Judith Kerrs im Mai 2019.
Das Buch nimmt uns zunächst mit in die Kindheit Kerrs im
großbürgerlichen Berlin, wo sie glücklich umsorgt aufwächst, bis die
Familie vor den Nationalsozialisten fliehen muss. Soweit kennen wir die
Geschichte aus Kindersicht aus dem „Rosa Kaninchen“. In der Biografie
erfahren wir mehr über die Eltern Kerr und die Hintergründe, die den bekannten Theaterkritiker
Alfred Kerr dazu zwangen, am Abend vor der Machtergreifung Hitlers Hals über Kopf das Land zu
verlassen. Wie lesen über die bittere Armut im Exil und die Versuche der Eltern, für die Familie eine
                                                Existenz zu sichern. Die Jugendzeit von Judith Kerr
 Anregung für Seminare – der persönliche        (und ihrem Bruder Michael) in der Schweiz,
                                                Frankreich und England war die von
 Büchertisch: Jede*r bringt ein Buch mit,
                                                Flüchtlingskindern, die sich schwer zugehörig
 das ihm/ihr gefällt und legt es aus, gerne     fühlten und oft aufgrund ihrer fehlenden Sprache
 mit kleiner schriftlicher Empfehlung.          und der ärmlichen Kleider wegen ausgegrenzt
                                                wurden. Umso mehr Anstrengungen unternahmen
 Oder der Büchertauschtisch: Gelesene
                                                sie, die Eltern zu unterstützen und früh ein
 Bücher mit anderen tauschen.                   eigenständiges Leben zu führen. Judith Kerr
                                                arbeitete beim Roten Kreuz, wurde Illustratorin und

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Infobrief Biografiearbeit - LebensMutig eV
InfoBrief Biografiearbeit                                                               Monat Oktober

war als Redakteurin und Lektorin für die BBC tätig. In England berühmt wurde sie vor allem durch
ihre zahlreichen Kinderbücher über den Kater Mog. Die Biografie beschreibt in drei Abschnitten ihre
Kindheit in Berlin, das Exil und die Zeit nach dem Krieg, bevor sie am Schluss noch einmal die
Schriftstellerin und Zeichnerin Judith Kerr und ihr Werk würdigt. Das alles ist spannend, einfühlsam
geschrieben und äußerst lesenswert.

                             Pascal Hugues ist eine französische Journalistin mit deutschen
                              Wurzeln, die in Berlin lebt und für deutsche und französische
                              Zeitungen schreibt. In ihrem Buch „Ruhige Straße in guter Wohnlage.
                              Die Geschichte meiner Nachbarn“ (2013) hat sie sich auf die Suche
                              gemacht nach Geschichten, sammelt Tratsch und Klatsch über die, die
                              dort einmal wohnten in einer „ganz gewöhnlichen Straße“ in Berlin-
                              Schöneberg. Sie findet heraus, dass Otto Waalkes und sogar David
                              Bowie dort zeitweise zuhause waren und die Straßenälteste mit ihren
                              98 Jahren 79 davon an derselben Adresse gelebt hat. Hugues fragt
                              sich, ob einige der Juden, die dort lebten, vielleicht noch am Leben sind
                              und gibt eine Suchanzeige auf. Und tatsächlich- dreizehn ehemalige
                             Bewohner*innen der Straße antworten, die inzwischen weit über die
Welt verstreut leben. Sie trifft sich mit Einzelnen, telefoniert und schreibt Mails und sammelt die
Lebensgeschichten einer ganzen Straße. „Ein kleines Wunder von Buch“, schreibt die neue Zürcher
Zeitung darüber, „brilliant und voller Empathie“ die Weinheimer Nachrichten. Dem ist nichts
hinzufügen.

„Ich habe keine Vergangenheit, an die ich mich
klammern könnte, die letzten dreiundzwanzig Jahre         Kleine Anfangsmethode fürs Seminar:
gehören jemand anderem, jemandem, den ich nicht           Stelle dich anhand eines Buches, das
mehr kenne.“ Das sagt Deborah Feldman, in einer
                                                          dir etwas bedeutet, vor. Was gefällt
ultraorthodoxen jüdischen Gemeinde in New York
geboren und aufgewachsen, die sie mit 23 Jahren           dir daran?
verlässt. In „Unorthodox“ (2017) beschreibt sie ihr
Leben in einer streng religiösen Umgebung, in der so vieles verboten ist und vor allem Lesen und
Bildung für Mädchen nicht vorgesehen sind. Strenge Lebensgesetze, Körper- und Lustfeindlichkeit,
arrangierte Ehen, Verbote und Einschränkungen – das liest sich wie eine Beschreibung aus längst
                      vergangenen Zeiten und findet doch mitten im New York der 1990er Jahre
                       statt. Feldman findet den Mut und die Kraft, sich aus diesem Leben zu
                      befreien, studiert englische Literatur und verlässt die Glaubensgemeinschaft
                      mit ihrem kleinen Sohn. Sie veröffentlicht diesen autobiografischen Roman,
                      der schlagartig die Bestsellerliste der „New York Times“ anführt und lebt
                      heute in Berlin. 2020 entstand nach Motiven des Buches eine vierteilige
                      Miniserie bei Netflix, die mit einem Emmy für die Regie ausgezeichnet wurde.
                      Beides unbedingt lesens-              und sehenswert!

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InfoBrief Biografiearbeit                                                            Monat Oktober

                                             Ein behindertes Kind – das muss in Deutschland doch
  Bücher meines Lebens:                      heute nicht mehr sein. Dafür gibt es Diagnostik,
   Die Top Ten der Bücher, die mir in        Abtreibungen, notfalls Spätabtreibungen. Es
                                             erfordert Mut, sich für ein Kind mit Behinderung zu
   meinem Leben wichtig waren oder
                                             entscheiden, auch wenn die Fehlbildung erst im
   sind. Auflisten und Austausch in der      neunten Monat festgestellt wird. Davon erzählt
   Kleingruppe dazu.                         Sandra Roth in dem wunderbaren Buch „Lotta
                                             Wundertüte. Unser Leben mit Bobbycar und
                                             Rollstuhl“ (2013). Sie lässt uns
teilhaben an der Achterbahnfahrt der Gefühle zwischen Diagnose und der
Entscheidung für das Kind, erzählt von schiefen Blicken und übergriffigen
Fragen anderer, vom Kampf mit Behörden, vom Bangen bei medizinischen
Eingriffen, von Förderstunden und der Solidarität unter Eltern behinderter
Kinder und vor allem von Lotta, der Schlawinerin, die außer blond, süß, zickig,
zäh, zu dünn eben auch behindert ist – als eine Eigenschaft unter vielen. Ein
Buch zum Weinen und Lachen, voller Fragen und voller Optimismus.

                          Die 1977 in Karlsruhe geborene Nora Krug lebt seit langem in den USA und
                          setzt sich dort mit ihrem Deutsch-sein auseinander, nicht zuletzt als Frau
                          eines amerikanischen Juden. In „Heimat. Ein deutsches Familienalbum“
                          (2018) unternimmt sie eine literarisch-grafische Spurensuche mit
                          handgeschriebenen Texten und Zeichnungen, Fotografien und
                          Dokumenten. „Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht
                          versteht, woher man kommt?“ fragt sie sich und erzählt die Geschichte
                          ihrer Familie. Es ist eine Reise in die Nazizeit, um sich Fragen zu
                          beantworten, die auf sie als Jugendliche keine Antworten bekam. Was
                          hatte Großvaters Fahrschule
mit dem jüdischen Unternehmer zu tun, dessen
Chauffeur er vor dem Krieg gewesen war? Warum riss
der Kontakt des Vaters mit seiner Schwester ab?
Private Familiengeschichte trifft auf Zeitgeschichte,
unterbrochen von einem „Katalog deutscher Dinge“,
Seiten, auf denen die „heimwehkranke Auswanderin“
Gegenstände porträtiert, die als sehr deutsch
empfindet wie etwa Hansaplast, Brot oder Gallseife,
                                                   die
   Denkanstoß (auch zum biografischen             aber
   Schreiben): Eine literarische Gestalt.       auch als Metapher für das Thema stehen. Ein
                                                wunderschön gestaltetes Buch, das man mit
   Was beindruckt dich an ihm/ihr? Was
                                                Spannung liest und das Interesse weckt, die eigenen
   möchtest du von ihm/ihr lernen?              Familiengeschichte zu hinterfragen.

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InfoBrief Biografiearbeit                                                                              Monat Oktober

Literaturtipps
                    Roth, Sandra (2018): Lotta Schultüte. Mit dem Rollstuhl ins
                    Klassenzimmer. Köln: Kiepenheuer und Witsch. |
                    Wie die Geschichte von Lotta weitergeht…

                    Pascale Hugues (2010 ): Marthe und Mathilde. Eine
                    Geschichte zwischen Frankreich und Deutschland. Reinbek:
                    Rowohlt | Auch äußerst lesenswert.

Zitate & Aphorismen
Lesen ist ein großes Wunder. | Marie von Ebner-Eschenbach
Nicht wer Zeit hat, liest Bücher, sondern wer Lust hat, Bücher zu lesen, der liest, ob er viel Zeit hat
oder wenig. | Ernst Reinhold Hauschka
Bücher lesen heißt, wandern gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne. | Jean Paul
Geschichten schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen. | Johann Wolfgang
von Goethe

Wenn ein alter Mensch stirbt, verbrennt eine Bibliothek. | Afrik. Sprichwort

Veranstaltungsempfehlungen
   23.10.2020, Heimat und Heimatlosigkeit – Relevanz von Ost-Perspektiven in der
   14 – 16 Uhr Biografiearbeit. Interaktive Online-Veranstaltung| ReferentIn: Cornelia Stieler |
               Information & Anmeldung: www.fabia-ev.de
  27.10.2020 - Meine Familie und ich – Familiengeschichte(n) auf der Spur | ReferentInnen:
   03.02.2021 Melanie Sommer | Karin Wimmer-Billeter | Stephanie Meyer-Steidl | Dr. Roland
                    Götz | Anton Löffelmeier M.A. | Dr. Jürgen Müller-Hohagen, | Petra Dahlemann
                   Veranstaltungsort: München | Information & Anmeldung: https://ebw-
                   muenchen.de/kalender/4543/640-b20
   2.11. | 9.11. | Novemberblues. Biografisches Schreiben im Virtuellen Seminarraum. |
 16.11. | 23.11. | ReferentIn: Susanne Hölzl Veranstaltungsort: Online |
     30.11. 2020
                   Information & Anmeldung: susanne.hoelzl@zuendhoelzl.at
      19 – 21 Uhr
     20.-22.11. Kompaktkurs für zukünftige Auftragsbiografen | Referent: Dr. Andreas Mäckler |
          2020 Veranstaltungsort: Mohr-Villa München | Information & Anmeldung:
                https://www.meine-biographie.com/workshop-termine/

 LebensMutige Seminare
 Ausführliche Informationen zu unseren Veranstaltungen finden Sie auf www.lebensmutig.de!
                               Infobrief Biografiearbeit l Oktober 2020 l Auflage: 1600
                               Redaktion l Birgit Lattschar l birgit.lattschar@lebensmutig.de
                               Herausgeber l Domberg-Akademie & LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V.
                               Kontaktadresse l Domberg 27 l 85354 Freising.
                               Sie können den InfoBrief bestellen bzw. abbestellen unter infobrief@lebensmutig.de

    LebensMutig – Gesellschaft für Biografiearbeit e.V. l www.lebensmutig.de                                          4
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