Ist ein anderer Umgang mit Ressentiments denkbar? - Springer
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Sozial Extra 4 2022: 293–300 https://doi.org/10.1007/s12054-022-00509-9 Online publiziert: 15. August 2022
© Der/die Autor(en) 2022
Durchblick: Community Organizing
Ist ein anderer Umgang
mit Ressentiments denkbar?
Saul D. Alinsky neu gelesen
Spätestens seit Nietzsche spielt der Begriff des Ressentiments nicht nur in der Philosophie, sondern auch
in der politischen Analyse und der gesellschaftlichen Praxis, eine Rolle. Das Ressentiment, so Nietzsche, sei
ein Kennzeichen der Herde und Merkmal einer Sklavenmoral. Es führe zu Unterwürfigkeit, Verführbarkeit
und politischer Manipulation. Anders als im angelsächsischen Sprachraum hat sich der Begriff im Deutschen
nicht alltagssprachlich durchgesetzt. Ressentiment wird übersetzt und umschrieben mit „tiefem Groll“,
„verborgenem Zorn“, „Unmut“. Es bezeichnet die Unfähigkeit oder auch die Unmöglichkeit, Zumutungen
und Dinge, die einem nicht gefallen, kritisch zur Sprache zu bringen oder zurückzuweisen.
R
essentiment ist verbunden mit einem Gefühl der in der politischen Agitation. Wenn sich die Menschen
Hemmung und der Ohnmacht. Während es im ärgern, kann man sie mobilisieren. Wenn die Menschen
Englischen mit „to resent“ ein entsprechendes blind vor Wut sind, kann man ihren Hass und auf be-
Verb gibt, das mit „sich ärgern über“ oder „zurück- liebige Ziele und „Sündenböcke“ lenken. Da sie nicht
weisen von“ übersetzt werden kann, fehlt ein passen- mehr rational denken, sondern nur noch ihren Gefühlen
des Verb im Deutschen. Das Ressentiment wird hier oft und Instinkten folgen, haben die Agitatoren ein leich-
als Gegenstand von Handlungen bezeichnet. Ressenti- tes Spiel und machen sich die Hände nicht schmutzig.
ments werden „geschürt“, Ärger wird „angefacht“, Wut Dieser Beitrag versucht, einen anderen Umgang mit
wird „angestachelt“, Erregung wird „erzeugt“ und so- und ein anderes Verständnis von Ressentiments zu ent-
gar „bewirtschaftet“ (Sloterdijk 2006)1. Das Ressenti- wickeln. Dazu wird der Umgang mit dem Ressentiment
ment selbst aber wird als etwas Verborgenes, Dunkles, bei Saul David Alinsky (1907 bis 1972) vorgestellt und
Gefährliches wahrgenommen. Als nützlich gilt es nur untersucht. Alinsky ist ein amerikanischer Kriminologe
und Soziologe, der in Deutschland vor allem als Begrün-
der des „Community Organizing“ bekannt geworden
Peter Szynka
ist. Als politischer Aktivist war er zunächst in Gewerk-
Hochschule Hannover, Hannover, Deutschland
*1954, Dr., Studium der Sozial- und Sozialarbeitswissenschaft.
schaften tätig und übertrug die damalige Strategie der
Bis 2018 Referent für Wohnungslosenhilfe beim Diakonischen Bildung von Dachverbänden („Organization of Organi-
Werk evangelischer Kirchen in Niedersachsen e. V., seit 2020
Verwalter der Professur für „Sozialarbeitswissenschaft, zations“) auf den Reproduktionsbereich, das heißt auf
Gemeinwesenarbeit und Community Organizing“ an der die multiethnisch zusammengesetzten Nachbarschaften
Hochschule Hannover.
szynka@uni-bremen.de rund um die neu entstandenen Industriegebiete. Dort
organisierte er Vereine, Kirchengemeinden, Wohlfahrts-
einrichtungen usw. zu Nachbarschaftsräten (people’s or-
Zusammenfassung Mein Beitrag versucht, die philosophi- ganizations). Er schuf die „Industrial Areas Foundation
schen und geschichtlichen Hintergründe eines zentralen Begriffs
bei Saul D. Alinsky neu auszuleuchten, dem Begrif des Ressenti-
(IAF)“ als Ausbildungsinstitut. Er gilt als Klassiker der
ments. Alinsky, der Begründer des Community Organizing, hat Gemeinwesenarbeit und als Förderer städtischer Demo-
bei der Organisation von Bürgergruppen versucht, vorhandene kratie. Als politischer Schriftsteller verfasste er Bestsel-
Ressentiments aufzulösen, indem er die zugrundeliegende Diskri- ler über das Organisieren sowie zahlreiche Artikel zu
minierungen artikulierbar macht, sie in politische Forderungen
unterschiedlichen sozialen Fragestellungen (vgl. Szyn-
verwandelt, die schließlich in Verhandlungen umgesetzt werden.
Er sah darin auch ein Verfahren, die Menschen vor falschen ka 2005). Hilary Clinton und Barack Obama haben
Agitatoren zu schützen. sich mit der Arbeit von Alinsky auseinandergesetzt und
politisch inspirieren lassen (Müller und Szynka 2010).
Schlüsselwörter Partizipation, Community Organizing,
Alinsky, Ressentiment, Chicago School of Sociology, Gemein-
schaften
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Durchblick: Community Organizing
Resentment und Agitation bei Saul D. Alinsky Adam Smith zufolge sind die Gefühle des Ressenti-
Im Jahr 2016 veröffentlichte das Federal Bureau of ments (resentment) und der Dankbarkeit (gratitude)
Investigation (FBI) auf 458 Seiten Dokumente über zwei Seiten ein und derselben Medaille. Gefühle der
Ermittlungen, die von 1940 bis 1972 gegen Saul D. Dankbarkeit und des Ressentiments müssen allerdings
Alinsky durchgeführt worden sind. Alinsky wurde ver- umgehend artikuliert werden, damit sie eine sozia-
dächtigt, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten und le Funktion haben können. Indem sie artikuliert wer-
Strategien des Klassenkampfs anzuwenden. Er wurde den, verstärken sie gesellschaftliches Wohlverhalten und
im Rabble-Rouser-Index der Stadt Chicago gelistet und kennzeichnen und verhindern im besten Falle Ungerech-
als potenzieller Aufrührer beobachtet. Weiterhin wurde tigkeit als solche.
er verdächtigt, Rassenhass aufzustacheln, d. h. gewalt- Friedrich Nietzsche hingegen ist skeptisch gegenüber
tätige Aktionen gegen Weiße vorzubereiten. In der Tat dieser gesellschaftlichen Funktion des Ressentiments. Er
hat er mit den Black Communities in Woodlawn (Chi- stellt fest, dass in der Geschichte die spontane, öffentli-
cago) und in Rochester (New York) zusammengearbei- che Artikulation von Unmut oft durch Macht und Ge-
tet und so der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in Chi- walt unterdrückt wird. Die Richtung des Ressentiments,
cago den Weg geebnet und Bürgerinnen und Bürgern so Nietzsche, wird dadurch verändert und zurück in
von Woodlawn und Rochester eine Stimme gegeben. Ein den Einzelnen, also nach innen geleitet. Dort verbleibt
wichtiger Ansatzpunkt der FBI-Untersuchungen waren seine Energie als unterdrückte Emotion von Wut und
Alinskys Aussagen zu Ressentiments (resentments): Groll stecken.
• „Zuerst gilt es, die Ressentiments der Menschen frei- Alinsky kennt den Unterschied zwischen Smiths „re-
zulegen“ (“First rub raw the resentments of the peo- sentment“ und Nietzsches „Ressentiment“ und er weiß
ple”) (Alinsky 1971, S. 118) um die Richtungsveränderung und die Traumata, die
• „Fächle den bei vielen Menschen vorhandenen Feind- zum Verlust der Fähigkeit führen, sich zu öffentlich zu
seligkeiten Luft zu, bis sie offen artikuliert werden äußern. Er kennt die damit verbundene Ohnmacht. Er
können“ (“Fan the latent hostilities of many of the versucht aber, die beiden Ansätze in praktischer Absicht
people to the point of overt expression”) (ebd.) zu verbinden. Er will sich dabei aber nicht in theoreti-
• „Schaffe Kanäle, durch die die Menschen ihre negati- schen Erörterungen verlieren, sondern wagt den Durch-
ven Gefühle darüber, dass sie die vorangegangene Si- bruch ins Soziale.
tuation so lange ertragen haben, abfließen lassen kön- Hier einige Stellen bei Alinsky, bei denen er das Ressen-
nen“ (“Provide a channel into which the people can timent zunächst mit einem Mangel an Philanthropie in
drain their underlying guilt for having accepted the Verbindung bringt (Alinsky 1946, S. 7–13):
previous situation for so long”) (ebd.)
So, Du bist also ein weißer, im Lande geborener Pro-
Die Verdächtigungen des FBI scheinen ganz auf der Li- testant! Liebst Du die Menschen? Du liebst deine Fa-
nie der Furcht vor Umwälzungen und Revolten zu lie- milie, deine Freunde, einige Deiner Geschäftspartner
gen, wie wir sie auch auf dem europäischen Kontinent (aber nicht zu viele von ihnen), und einige deiner Nach-
kennen. Alinskys Nachdenken über Ressentiments/Re- barn. Magst Du Katholiken, Iren, Italiener, Juden, Po-
sentments speist sich aus zwei Quellen: den Schriften len, Mexikaner, Schwarze, Puerto-Ricaner und Chine-
des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche sowie sen? Betrachtest Du sie mit dem warmen Gefühl des
des schottischen Moralphilosophen Adam Smith. Nietz- Mitmenschen oder mit der kalten Verachtung, die in
sche sah das Ressentiment als Plage an, weil es „die solchen Ausdrücken zur Sprache kommt wie: Papisten,
Seele vergiftet“, zu Nihilismus führt und zu „sozialem Micks, Wops, Kikes, Hunkies, Greasers, Niggers, Spies
Sprengstoff“ wird. Anders stellt sich das Ressentiment oder Chinks? Wenn Du einer von jenen bist, die in solch
für Adam Smith dar. Für Smith ist das Ressentiment beleidigenden Begriffen von diesen Menschen denken,
(im englischen Original: resentment) positiv. In seiner dann liebst Du die Menschen nicht.
„Theorie der moralischen Gefühle“ beschreibt er das So, Du bist also ein irischer Katholik? Einer der un-
Ressentiment als für das gesellschaftliche Wohl unver- ter den weißen, im Lande geborenen Protestanten lei-
zichtbar und geradezu als eine bürgerliche Tugend. Al- det? (…). Lass’ uns das einmal genauer anschauen.
lerdings nur dann, wenn es zur Sprache gebracht wird: Liebst Du die Menschen? Natürlich tust Du das. Aber
„Das Ressentiment wurde uns von der Natur zur Ver- was ist mit den Protestanten? Was ist mit den Juden?
teidigung gegeben und zwar nur zur Verteidigung. Es ist Was ist mit den Schwarzen und den Chinesen? Was ist
ein Schutz für die Gerechtigkeit, Justiz und eine Sicher- mit deinen Mit-Katholiken, den Italienern, den Polen,
heit für die Unschuld.“ (Smith 1759, S. 116) den Litauern, den Slowaken, den Mexikanern, den Pu-
294erto-Ricanern und den anderen? Was ist mit den ande- „Hinter den Schlachthöfen“3 in Chicago war zu jener
ren Iren? Auf wie viele schaust Du herab als seien sie Zeit eine Hölle des Hasses – die Polen, die Mexikaner,
weniger wert als Du? Nennst Du deine verarmten Mit- die Schwarzen, die Litauer, die Ungarn und die Deut-
Iren, die nicht Lesen und schreiben können „Shanty- schen, alle hassten einander und alle hassten die Iren,
Irish“? (…) Es gibt nur wenige von Euch, die auf das weil diese Teil der Machtstruktur waren. Ich hatte einen
Schlachtfeld gegen den engen Nationalismus, gegen den gewissen Vorteil, weil ich als Jude mit keiner dieser Nati-
Anti-Semitismus und die Jim-Crow-Gesetze2 ins Feld onalitäten konkurrierte. Eine Menge dieser Leute wurde
ziehen und für die Verbesserung der wirtschaftlichen angezogen von faschistischen Agitatoren wie Coughlin
Verhältnisse für die ganze Menschheit eintreten. und Pelley4. Aber das kam nicht daher, weil sie irgend-
welche Gefühle für den Faschismus gehabt hätten. Es
Ein paar Sätze weiter verwendet er das Verb „to re- war, weil sie keinen Ausweg wussten, keine Richtung,
sent“: kein Instrumentarium, das ihnen Hoffnung gab. Daher
brauchten Sie Sündenböcke. Aber sobald das Bürger-
So, Du bist also ein Jude? Möglicherweise bist Du ei- programm aufgestellt war und die Bewegung sich entwi-
ner von den wenigen, die in der Park Avenue wohnen, ckelt hatte, wurden keine Sündenböcke mehr gebraucht.
oder in den oberen Sechzigern. Anti-Semitismus weist Wenn die Menschen heute über das Gebiet hinter den
Du bitterlich von Dir (to resent) und Du betrachtest Schlachthöfen sprechen, benutzen einige Überschrif-
Menschen mit Vorurteilen als unzivilisiert, unreligiös ten wie „Ressentiments aufdecken“ (rub resentments
und definitiv als unamerikanisch. Lass Dich genauer raw), um meine Organisationsmethoden zu beschrei-
anschauen. Was empfindest Du gegenüber Juden, die im ben. Nun, glauben Sie, dass ich es nötig gehabt hätte,
Bezirk Williamsburg in Brooklyn ihren Kaftan tragen? den Menschen dort oder wenn ich heute in eine schwar-
Magst Du sie? Oder denkst Du, sie seien laut, ungeho- ze Community gehe, zu erzählen, dass sie diskriminiert
belt und schmutzig? (…) werden? Denken Sie, ich gehe dorthin, um sie zu verär-
gern? Glauben Sie nicht, dass sie nicht schon genug Res-
Von den „religiösen“ Gemeinschaften geht er zu den sentiments (resentments) hatten, mit denen wir anfan-
„ethnischen“ Gemeinschaften über: gen mussten zu arbeiten? Um wieviel mehr hätten wir
sie offenlegen können (how much rawer could we rub
So, Du bist also Schwarz! Du bist schwarz und weist them)? Was passiert ist Folgendes: Wenn du dich kom-
aus ganzem Herzen die Heuchelei und die Borniertheit plett eingefangen fühlst, untergeordnet und an einer Si-
der Weißen zurück (to resent). Du hasst die Jim-Crow- tuation zerbrichst, dann hast Du zwei Möglichkeiten:
Gesetze aus tiefstem Herzen. Du lebst in einem Gefäng- die eine Möglichkeit besteht darin, dir eine Kugel zu
nis aus Vorurteilen. (…) geben. Du sagst ‚Wer hat mich gefragt, ob ich in dieser
So, Du bist also ein Pole! Du hasst es, wenn man Dich Welt leben möchte?‘ (…) Der andere Weg besteht aber
Hunkie nennt. Du weist es zurück (to resent) immer nur darin – und das tun 99 % der Leute! – zu rationalisie-
als begriffsstutzig zu gelten, nur für einfache Arbeiten ren. Und dann sagst Du schließlich ‚Komm, wir gehen
gebraucht zu werden und immer auf der anderen Seite zum Rathaus und streiten für unsere Rechte.‘ (Sanders
der Eisenbahngleise wohnen zu müssen. (…) 1965, S. 32, Übersetzung und Hervorhebungen PS).
So, Du bist also ein Mexikaner! Du bist ausgeschlos-
sen und leidest unter den vielen Beleidigungen wie die Die von Alinsky präferierte Forderung nach Rationa-
Schwarzen. Du weist dies zurück (to resent) (…) und lisierung und Artikulation des Unmuts klingt hier nach
Du weist bitterlich die Meinung eines großen Teils der der von Albert Camus vorgeschlagenen Revolte. Wie
weißen Nordamerikaner zurück (to resent), die denken, Camus hält er in einer absurden, von Ungerechtigkeit,
dass Mexikaner nicht zu den Weißen gehören. Demokratiedefiziten und Diskriminierung geprägten
Welt die „Revolte“ als die einzig verbleibende Alterna-
Im Interview mit Marion K. Sanders erklärt Alinsky tive zu Gewalt und Selbstaufgabe. Camus formuliert:
schließlich seine Strategie und wie er zum Antifaschisten „Wer revoltiert, macht kehrt. Er schritt unter der Peit-
wurde. Wir sehen einen superdiversen, amerikanischen sche des Herrn. Nun bietet er ihm die Stirn.“ Das Res-
Meltingpot und die vorhandenen Vorbehalte der einen sentiment weist dann nicht mehr nach innen auf ein
gegen die anderen, mit denen jede Organisationsarbeit eigenes Unvermögen, sondern wird wieder nach au-
beginnen muss: ßen gerichtet und wirksam. Die Äußerung des Ressen-
timents ist eine erneute Hinwendung zum Recht (Ca-
mus 2021, S. 28).
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ben.“ Die mit Alinskys politischen Strategien bestens
vertraute amerikanische Stadtsoziologin und Sozial-
psychologin Hellen Lynd hatte dieses Gefühlskonglo-
merat differenziert (Horwitt 1992, S. 529; Lynd 1958,
S. 204). Es gehe nicht nur um Schuld, sondern auch um
Scham, es geht um Gefühle, die gewöhnlich abgewehrt
werden. Schuld, so Lynd, stehe immer in Verbindung mit
Handlungen und Verstößen gegen spezielle gesellschaft-
liche Tabus, Scham hingegen mit dem der Erfahrung des
Nicht-Genügens.
Beide Gefühle sind in der Praxis nicht immer leicht zu
trennen, aber wenn wir auf Alinskys obige Beispiele zu-
Abb. 1 Little Red Songbook rückkommen, dann können wir sehen, dass die Mitglie-
der der „religiösen Gemeinschaften“, also die weißen,
Wie also sind die Statements von Alinsky zum Umgang angelsächsischen Protestanten, die irischen Katholiken
mit Ressentiments zu interpretieren? Vor dem Hinter- und die Juden aus der Park Avenue eher zur (gehobenen)
grund seiner Verwendung der Begriffe und seiner Er- Mittelschicht gehören und mit ihren Status-Unterschei-
klärung zum Umgang mit Ressentiments in Organisa- dungen Abgrenzungen und Ungerechtigkeiten verursa-
tionsprozessen, erscheinen seine Statements wie eine chen. Ein Effekt daraus ist gesellschaftliche Spaltung.
medizinische Metapher zur Heilung von Wunden: Die in den obigen Beispielen angesprochenen „ethni-
• „to rub raw“ = die Wunde offenlegen, den Schorf ab- schen Gruppen“, also die Iren, Italiener, verarmte Juden,
tragen, die Wunde reinigen Polen, Mexikaner, Schwarze, Puerto-Ricaner, Chinesen
• „to fan“ = die Entzündung kühlen und die Wundober- usw. aber eher an ihrem Ungenügen leiden, erfolgreich
fläche trocknen dem American Way of Life zu folgen. Sie entwickeln
• „to channel“ = eitrige Sekrete ableiten Scham, die zu überwinden ist.
Die Beispiele der religiösen Gruppen verweisen da-
Beim „rubbing raw“ ist zuerst ist herauszufinden, wel- gegen eher auf „Schuld“ im Sinne Helen Lynds. Von
che Erfahrung, welches Trauma dem Ressentiment zu- den „Have little, want mores“ könnte man Besseres er-
grunde liegt. Dem geht Alinsky in den oben genannten warten als auf andere herabzublicken. Alinsky hat da-
Beispielen nach. Es handelt sich um Erfahrungen der für eine besondere Strategie entwickelt: „Schlagt sie
Nicht-Anerkennung, des Ausschlusses und der Diskri- mit ihren eigenen Büchern, erinnert sie an ihre eigenen
minierung aufgrund von Herkunft und Zuschreibun- Grundsätze!“ (Alinsky 1971, S. 128). Mit dieser Stra-
gen. Es kann sich aber auch um die Ergebnisse von ge- tegie bezieht sich Alinsky neben den jeweiligen religiö-
sellschaftlicher Spaltung und Vorurteile handeln. Die sen Texten auch auf die amerikanische Verfassung und
Angehörigen der Mittelschicht, in Alinskys Begriffen, die Menschenrechte. Alinskys Instrumente zur Über-
die „Have-little-want-mores“ halten sich für etwas Bes- windung von Ohnmacht und Scham sind also Ratio-
seres als die „Have-nots“, die Unterschicht. nalisierung, Artikulation, Verhandlung. Die notwendi-
Beim „fanning“ geht es darum, an die verdrängten gen Fähigkeiten dazu vermittelt er durch Training und
Gefühle, die durch die Verletzungen und Gefährdun- Ausbildung.
gen hervorgerufen und worden sind, zu erinnern, sie Das FBI stoppte die Ermittlungen gegen Alinsky im
bewusst zu machen und schließlich „abzukühlen“. Auf Jahre 1970. Er wurde auch vom Rabble-Rouser-Index
diesem Weg sollen weniger affektive und dafür mehr der Stadt Chicago gestrichen. Trotz zahlreicher Bemü-
rationale und effektive Möglichkeiten zur Reaktion ge- hungen konnte das FBI keinerlei Beweise oder Hinweise
schaffen werden. Bei der Unzufriedenheit anzusetzen auf Gewalt oder die Vorbereitung von Aufständen fin-
(„To fan the Flames of Discontent“) war damals eine den. Er wurde zwar als radikal eingestuft, aber nicht als
übliche Strategie der „Industrial Workers of the World“ revolutionär. Zeugen, die im Verlauf der Untersuchun-
(IWW). Sie wurde u. a. mit den Protestliedern aus dem gen vernommen wurden, gaben zu Protokoll, dass es
„Little Red Songbook“ verfolgt (s. Abb. 1). Alinsky darum gegangen sei, die Menschen zu verstehen
Beim „channeling“ geht es noch einmal darum, den (Hervorhebung durch den Autor). Es geht bei Alinsky
dunklen, verborgenen Gefühlen einen Weg ans Licht zu also darum, Ressentiments zu verstehen und sie zu ra-
bahnen. Alinsky spricht von „den negativen Gefühlen, tionalisieren, das heißt sie in einer angemessenen Form
die vorangegangene Situation so lange ertragen zu ha-
296zu artikulieren. Dabei helfen ihm Konzepte, die er wäh- men sie hervor und machten sich auf in die offene Ge-
rend seines Studiums aufgenommen hatte. sellschaft.“ (Alinsky 1960, Übersetzung PS)
Schließlich ist Max Weber zu nennen, dessen Konzept
Zugrundeliegende Konzepte der Chicago School of vom Sinnverstehen für Alinsky relevant wurde. Die ers-
Sociology ten Weber-Übersetzungen entstanden in der Chicago
Es ist sinnvoll, sich noch einige zeitgenössische Kon- School of Sociology. Dort hatten jiddisch sprechende
zepte zu vergegenwärtigen, die Alinsky während seines Immigranten wie Edward Shils oder Louis Wirth einen
Studiums an der Universität von Chicago aufgenommen sprachlichen Vorteil bei der Rezeption deutscher Sozio-
hat und die bei der Entwicklung seines eigenen Ansatzes logie. Alinsky kannte daher die Weber’sche Definitio-
eine Rolle gespielt haben. nen und Unterscheidungen („Idealtypen“) von ratio-
Ein wichtiges Konzept ist das sog. Thomas-Theorem, nalem, wertrationalem, traditionellem und affektuellen
benannt nach Wiliam Isaak Thomas (Thomas 1928): Sinn sozialen Handelns, den es zu verstehen galt. Die-
„Wenn Menschen ihre Situation als real definieren, se „operation called Verstehen“, also das Entschlüsseln
dann ist sie real in ihren Konsequenzen.“ des subjektiven gemeinten Sinns sozialer Handlungen
Menschen definieren vorgefundene Situationen oft zu nach Weber, basiert auf dem Verstehen der Gründe und
Unrecht „als real“. Aber selbst dann, wenn sie ihre Si- Zwecke bei rationalem Handeln, der moralischen oder
tuation falsch wahrnehmen oder definieren, sind die da- ästhetischen Wertentscheidungen Entscheidungen bei
raus resultierenden Handlungen real und sozilogisch re- wertrationalem Handelns, der Bräuche und Gewohn-
levant. Sie lassen eine neue, subjektive „Realität“ zu, heiten bei traditionellem Handeln, sowie der Gefühle
auch und obwohl sie auf falschen Prämissen beruht. und Emotionen bei affektuellem Handeln, die dem sozi-
Der Beobachter kann versuchen, die Menschen dazu alen, also dem auf andere bezogenen Handeln, als Sinn
zu bringen, ihre Realitätsdefinitionen zu äußern und zu zu Grunde liegen (Weber 1976, S. 38-41). Die Verän-
überprüfen. Dies ist der Ursprung von Gruppendiskussi- derung subjektiver Situationsdefinitionen, die Öffnung
onen als Mittel der empirischen Sozialforschung. Unter- kultureller Kokons und soziologisches Sinnverstehen
schiedliche Realitätsdefinitionen werden in der Gruppe gehörten also zu Alinskys Repertoire beim Umgang mit
zur Sprache gebracht, verglichen, auf ihre Richtigkeit dem Ressentiment.
geprüft und reflektiert. Hierdurch ist es möglich, so die
optimistische Annahme, die Entstehung neuer „Reali- Warum ist ein anderer Umgang mit Ressentiments
täten“, die auf falschen Annahmen beruhen, zu mini- in Deutschland so schwierig?
mieren. Warum ist es in Deutschland so schwer, sich kon-
Ein weiterer Einfluss auf die Chicago School of Socio- struktiv mit Ressentiments zu befassen? Alinskys An-
logy ging vom Deutschen Soziologen Ferdinand Tön- satz hätte „nicht von ungefähr für die Soziale Arbeit
nies aus und seine grundlegende Unterscheidung von in den 70er Jahren keine erfolgreiche Praxis befeuert“
Gemeinschaft und Gesellschaft. Tönnies war lange heißt es. „Eine rebellische Veredelung der GWA im
Mitglied des Editorial Board des einflussreichen, von deutschsprachigen Raum“ bliebe bisher „ohne prak-
der University of Chicago herausgegebenen „Ameri- tische Basis“. Eine „entsprechende Praxis im Umgang
can Journal of Sociology“, in dem auch Alinsky ver- mit ‚resentiments‘“ sei darüber hinaus in „entwickel-
öffentlichte (Alinsky 1941). Tönnies Hauptwerk „Ge- ten Wohlfahrtsstaaten ein Wunschtraum“ (so zuletzt
meinschaft und Gesellschaft“ wurde in der englischen Schweitzer 20225, zuerst Hinte 1994).
Fassung mit „Community and Civil Society“ betitelt. Dafür gibt es mehrere Gründe:
In Deutschland wurde der Begriff der Gemeinschaft • Es fehlt in der Praxis ein philosophisch unterfütterter
durch den nationalsozialistischen Begriff der einheitli- Begriff des Ressentiments
chen „Volksgemeinschaft“ verdrängt, Gemeinschafts- • Die Rezeption Alinskys erfolgte auf zum Teil sinn-
fremde wurden verfolgt. Anders als in Deutschland ver- entstellenden Übersetzungen und einer irreführenden
steht Alinsky im Anschluss an Tönnies die Community Rahmung als „aggressive Gemeinwesenarbeit“6. Die
als Übergangsstadium, als „kulturellen Kokon“. Dieser Originaltexte wurden nicht gelesen. Neuere Beiträge,
öffnet sich zu gegebener Zeit: „Nachdem die Immigran- etwa ab 2000 erschienene Beiträge, wurden nicht oder
ten und ihre Kinder sich einige Zeit lang in diesen kul- nur unzureichend zu Kenntnis genommen.
turellen Kokons entwickelt hatten, in ihren Köpfen (…) • der „entwickelte Wohlfahrtsstaat“ wird für effekti-
Informationen und Einstellungen aufgenommen hatten ver gehalten als er tatsächlich ist. Die gesellschaftli-
und in ihren Taschen (…) Geld angehäuft hatten, ka- che Spaltung hat sich in den letzten Jahrzenten weiter
vertieft. Im sozialen Bereich sind Wirtschaftsunter-
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nehmen immer dominanter geworden, kommunale indem er den Schmerz stillt, den die Wunde macht,
Träger unterliegen Sparzwängen und zivilgesellschaft- vergiftet er zugleich die Wunde“ (GM III 15).
lichen Organisationen verlieren an Einfluss. • „Er ist der ‚Richtungs-Veränderer‘ des Ressenti-
ments.“ Er sagt: „Recht so, mein Schaf, irgendjemand
Gleichwohl oder gerade deshalb tragen heute wieder muss daran schuld sein (…) du selbst bist dir allein
zahllose Menschen – davon liest man in den Zeitungen schuld!“
und in den sozialen Netzwerken – ihre Ressentiments
mit sich herum, vor sich her, verbittern, geben auf, rich- Der im Inneren der „Schafe“ gespeicherte, nicht „ent-
ten sich in ihrer Ohnmacht ein, lassen sich bedauern ladene“ Explosivstoff des Ressentiments macht die
oder schließen sich krakeelenden und randalierenden „Herde“ schließlich anfällig für Agitation. Nietzsche
Gruppen an und „teilen“ Gewaltphantasien und Ver- geißelt zwar den „asketischen Priester“ als Urtyp des
schwörungstheorien, ohne sie jemals zu überprüfen, zur Verführers, dann aber auch alle anderen, modernen Agi-
Diskussion zu stellen oder gar an einen Verhandlungs- tatoren:
tisch zu bringen. Es kommt zu Spontandemonstrationen
und Kundgebungen gegen Einwanderer und vermeint- Ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht,
liche Eliten. Es kommt zu krausen politischen Forde- die eine Tarnkappe von Ideal auf ihrem Strohwisch von
rungen, aber Debatten werden nicht gesucht. Die Le- Kopf tragen; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die
benswelt des „unteren Drittels“ der Bevölkerung wird den Asketen und Priester bedeuten möchten und im
nicht mehr als Gegenstand wohlfahrtsstaatlicher Maß- Grunde nur tragische Hanswürste sind; ich mag auch sie
nahmen in Betracht gezogen, sondern Influencern und nicht, die neuesten Spekulanten in Idealismus, die Anti-
falschen Agitatoren überlassen. semiten, welche heute ihre Augen in christliche-arisch-
Die Ausblendung des Ressentiments als Gegenstand biedermännischer Weise verdrehn und durch eine jede
gesellschaftlicher Praxis hat dabei in Deutschland eine Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilen Agi-
lange Tradition, obwohl schon Friedrich Nietzsche das tationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-
Ressentiment als etwas Negatives, Gefährliches und Ex- Elemente des Volkes anzuregen suchen (GM III 26).
plosives beschrieben hat. Er hat darüber hinaus das Res-
sentiment fast unauflöslich mit der Tätigkeit des fal- Dem historischen und kritischen Kommentar zu Nietz-
schen Agitators verbunden. In seiner Genealogie der sches „Genealogie“ der Moral ist zu entnehmen, dass
Moral verwendet er dafür in religionskritischer Absicht Nietzsche zu seiner Figur des „asketischen Priesters“
die Figur des „asketischen Priesters“. Die positive, ge- und seiner Agitation durch das „Handbuch für Dema-
sellschaftskritische Konnotation, die dem „resentment“ gogen“ des französischen Schriftstellers Raoul Frary in-
bei Adam Smith zukommt, wird im deutschsprachigen spiriert worden ist. Frary hatte nach der französischen
Raum so gut wie gar nicht wahrgenommen. Revolution versucht seinen Zeitgenossen, die Arbeits-
Nietzsche schreibt: weise der Agitatoren durchsichtig zu machen. (Sommer
• „Der Mensch des Ressentiments ist weder aufrichtig, 2019, S. 498 f.; Frary 1884). Auch Heinrich Heine äu-
noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und gerade- ßerte in „Deutschland – ein Wintermärchen“ eine ähn-
zu. Seine Seele schielt: sein Geist liebt Schlupfwinkel, liche Abneigung:
Schleichwege und Hintertüren, alles Versteckte mutet
ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er „Fatal ist mir das Lumpenpack,
versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, Das, um die Herzen zu rühren,
das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-de- Den Patriotismus trägt zur Schau
mütigen.“ Mit allen seinen Geschwüren.“
• Der asketische Priester „kämpft klug, hart und heim- (Caput XXIV)
lich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden
Selbstauflösung innerhalb der Herde, in welcher jener Die Agitatoren, so Heine, tragen ihren Patriotismus
gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressenti- „mit allen seinen Geschwüren“ nur „zur Schau“, sie
ment, sich häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu wollen „Aufmerksamkeit zu erregen“ und sich als
entladen, dass er nicht die Herde und nicht den Hir- „Männer des Volkes“ darzustellen zu können. Der von
ten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück.“ Heine beschriebene „Patriot“ biedert sich mit leidens-
• „Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel; und verständnisvoller Miene denjenigen an, die Nietz-
aber erst hat er nötig, zu verwunden, um Arzt zu sein; sche zunächst als die „Herde“ und später sogar als die
„Hornvieh-Elemente des Volkes“ bezeichnet, also als
298Träger schwärender Ressentiments und „vergifteter ment bemühen. Alinsky hingegen als falschen Agitator
Wunden“. Diejenigen also, die sich der von Nietzsche und Aufwiegler zu überführen, ist selbst dem FBI nach
so verachteten Herden- oder Sklavenmoral unterwor- 32 Jahren Beobachtung nicht gelungen. s
fen haben oder aber – was zu klären wäre – unterworfen
worden sind. Jene, lernen mussten, dass sie nichts ändern ∑
können und an ihrem Unglück allein die Schuld tragen.
Ein Psychiater, Studienfreund des badischen Revoluti- Eingegangen. 31. März 2022
onärs Karl Hecker (1811 bis 1881), Mitglied des Vor- Angenommen. 25. Juni 2022
parlaments in der Frankfurter Paulskirche (1848) und Funding. Open Access funding enabled and organized by Projekt
Kinderbuchautor – Dr. Heinrich Hoffmann – schlägt in DEAL.
die gleiche Kerbe. Unter dem Pseudonym Peter Struwwel
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Na-
hat er ein „Handbüchlein für Wühler“ verfasst, in dem mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die
er sich ebenfalls mit den Agitatoren befasst. Er bezichtigt Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wieder-
sie als „selbsternannte“ und falsche Patrioten und wirft gabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die
ihnen ähnlich wie zuvor Frary und Heine vor, ihren Patri- ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen,
einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob
otismus nur „zur Schau“ zu tragen. Auf diese Weise ver-
Änderungen vorgenommen wurden.
sucht er die „künstlichen Patrioten“, die „selbsternann- Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial
ten Männer des Volkes“ zu entlarven. Es ist aber wichtig unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, so-
darauf hinzuweisen, dass Hoffmann alias Peter Struwwel fern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern
die künstlichen Patrioten und selbsternannten Vertreter das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Com-
mons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach ge-
des Volkes sehr wohl zu unterscheiden weiß von den na-
setzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten
türlichen, ursprünglichen, echten Volksfreunden, die er Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen
ausdrücklich von seinem Spott und seiner Warnung aus- Rechteinhabers einzuholen.
nimmt: „Es sind diese Männer mit den Interessen des Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformati-
Volkes und des Vaterlandes so innig verwachsen, als ob on auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de.
ein Herzschlag sie beide belebe. Wie der Baum in der 1. In diesem Beitrag werden historische Texte besprochen, die gene-
Erde, so wurzelt ein solcher Vaterlandsfreund im Volke.“ rische Maskulina verwenden. Deshalb wurde im gesamten Artikel
(Hoffmann 1948, S. 6). In der ersten (unvollkommenen) nicht gegendert. Die getroffenen Aussagen sind auf alle Geschlech-
Übersetzung eines Alinsky-Textes in Deutschland finden ter bezogen.
wir eine ähnliche Metapher: „Wenn sich eine Volksor- 2. Diskriminierend gegen black Americans.
ganisation (sic) als Baum abbilden ließe [= people’s or- 3. Im Stadtteil „Back of the Yards“ organisierte Alinsky das „Back
ganization, gemeint sind Nachbarschaftsräte, Anm. P.S.], of The Yards Neighborhood Council“ (BYNC), einen Nachbar-
schaftsrat aus 127 Vereinen, Kirchengemeinden und Gewerkschafts-
dann würden die informellen Führer (sic) die Wurzeln gruppen.
und die Bevölkerung das Erdreich darstellen [= native
4. Coughlin, der „Radiopriester“, war ein faschistischer Agitator
leaders, gemeint sind Bürgervertreter, Anm. P.S.]“ (Mül- der America First Bewegung, die sich für die Vorherrschaft der
ler und Nimmermann 1973, S. 197). Es gibt sie also, die weißen Rasse einsetzte und von den deutschen Nationalsozialisten
ursprünglichen Männer und Frauen des Volkes, die „Ex- finanziell unterstützt wurde.
perten und Expertinnen ihrer Lebenswelt“. 5. Persönliche Mitteilung H. Schweitzer
Durch die Dominanz Nietzsches beim Verständnis und 6.Siehe hierzu das Interview mit C. Wolfgang Müller in diesem
Gebrauch des Begriffes „Ressentiment“ wird die Figur Schwerpunkt.
des falschen Agitators immer gleich mitgedacht: jener
„aufgeblasenen“ Personen, welche die „Hornvieh-Ele-
Literatur
mente des Volkes“ aufzuwiegeln im Stande sind. Dahin-
Alinsky, S. D. (1946). Reveille for radicals. New York: Random House.
ter geht die Idee von Adam Smith, dass die Kundgabe
Alinsky, S. D. (1960). The urban immigrant. In T. T. McAvoy (Hrsg.), Ro-
erlittenen Unrechts, der Widerspruch gegen Ungerech- man catholicism and the American way of life. Notre Dame: University of
tigkeit, das Eintreten und Einstehen für eine gemeinsa- Notre Dame Press.
me Sache eine bürgerliche Tugend sei, verloren. Deshalb Alinsky, S. D. (1941). Community organizing and Analysis. American
Journal of Sociology, 5/1941 , 797–808.
gibt es so wenig Sprecher und Sprecherinnen, die sich
Alinsky, Saul D. (1971) Rules for Radicals - A Pragmatic Primer for Reali-
zivilgesellschaftlich organisieren. stic Radicals. Random House, Inc., New York
Vielleicht hilft Alinskys Ansatz, anders mit Ressenti- Camus, A. (2021). Der Mensch in der Revolte. Hamburg: rororo. Die
ments umzugehen allen, die sich ernsthaft um Aktivie- Erstausgabe erschien 1951. Die englische Ausgabe, die Alinsky in die Hän-
de gefallen sein mag, trägt den Titel: The Rebel
rung, Partizipation, Selbstorganisation und Empower-
299Sozial Extra 4 2022 Durchblick: Community Organizing Federal Bureau of Investigation (2016).FBI records: the vault—Saul Alins- ky part 01 of 01 https://vault.fbi.gov > Saul-Alinsky. Frary, R. (1884). Handbuch des Demagogen. Hannover. Übersetzt von Bruno Ossmann Hoffmann, H. (1948). Handbüchlein für Wühler oder kurzgefasste Anlei- tung in wenigen Tagen ein Volksmannzu werden von Peter Struwwel, De- magog. Leipzig: Gustav Mayer. Neuaufgelegt als autorisierter Raubdruck vom Kollektiv Berliner und Heidelberger Studenten und Assistenten (Hg.). Eingerichtet von Alice Wunderland, M.A. Diplom Politologin, Rotzphil Heidelberg.. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein 1972 Hinte, W. (1994). Fast Food als Vitaminspritze? Sozial Extra, 6, . www.fo- co.info. 6(6):4-6. Horwitt, S. D. (1992). Let the call me rebel. Saul Alinsky, his life and lega- cy. New York: Random House. Lynd, H. (1958). On shame and the search for identity. London: Rout- ledge and Kegan Paul. Müller, C. W., & Nimmermann, P. (1973). Stadtplanung und Gemeinwe- senarbeit. München: Juventa. Müler, C., & Szynka, P. (2010). Community Organizing, Enzyklopädie Erziehungswissenschaften Online (EEO). Weinheim und München: Juven- ta. Sanders, M. (1965). The professional radical—conversations with Saul Alinsky. Evanston: Harper and Row. Sloterdijk, P. (2006). Zorn und Zeit. Suhrkamp. Smith, Adam (1759). Theory of Moral Sentiments. London, A. Miller. Deutsche Ausgabe: Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg: Meiner Ver- lag 1994. Sommer, U. (2019). Nietzsche Kommentar – Zur Genealogie der Moral. Heidelberg: De Gruyter. Szynka, P. (2005). Theoretische und Empirische Grundlagen des Commu- nity Organizing bei Saul D. Alinsky (1909–1972). Bremen: Akademie für Arbeit und Politik. www.fo-co.info Thomas, W.I., & Thomas, D.S. (1928). The child in America. Behaviour, problems and programs. New York. In E.H. Volkart (Hrsg.) William I. Tho- mas -- Person und Sozialverhalten. (S. 63--85 und 102–116). Neuwied am Rhein und Berlin: Luchterhand. Weber, M. (1976). Grundbegriffe der Soziologie. UTB-Paul Siebeck. 300
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