Ist eine EU-weite Corona-Impfpflicht zulässig? Eine unionsrechtliche Analyse
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Ist eine EU-weite Corona-Impfpflicht zulässig? Eine unionsrechtliche Analyse Gastautorin 2021-12-10T10:46:11 von LISA-MARIE LÜHRS Die europaweite Diskussion über eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 nimmt zunehmend an Fahrt auf: Nunmehr hat auch EU- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, eine allgemeine Corona-Impfpflicht für die gesamte EU zu „prüfen“ und damit ein enormes Medienecho hervorgerufen (siehe z.B. hier, hier und hier). Sie begründet diese Überlegungen mit der zunehmenden Ausbreitung der neuen Omikron- Variante und damit, dass ein Drittel der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger bislang nicht gegen Covid-19 geimpft ist. Außerdem fügte sie hinzu, dass es einen „gemeinsamen Ansatz der Mitgliedstaaten“ brauche. Epidemiologisch scheint diese Überlegung auf den ersten Blick sinnvoll zu sein, denn eine globale Pandemie lässt sich effektiv nur global bekämpfen. Ein gemeinsamer europäischer Ansatz ist insofern ein Schritt in die richtige Richtung. Auch deshalb wurde jüngst der Grundstein für eine Europäische Gesundheitsunion gelegt. Doch wie ist der Vorschlag der EU-Kommissionspräsidentin bezüglich einer allgemeinen, EU-weiten Corona-Impfpflicht rechtlich zu beurteilen? Die Idee einer europaweiten Corona-Impfpflicht könnte als Anstoß der EU- Kommission verstanden werden, um die Mitgliedstaaten zeitnah zu eigenen Impfregelungen anzuhalten, bevor ihnen von Seiten der EU eine Vorgabe gemacht wird. Während in Deutschland die Debatte über die Einführung und – gegebenenfalls – Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht noch in vollem Gange ist, hat Österreich als erster EU-Mitgliedsstaat mittlerweile verlautbart, zum Februar 2022 eine solche einzuführen. Frankreich, Italien und Griechenland haben bereits Impfpflichten eingeführt für Personen, die im Gesundheitsbereich arbeiten. Ein aus nationalen Einzelmaßnahmen bestehender, bloßer „gemeinsamer Ansatz der Mitgliedstaaten“ würde der EU aber über den moralischen Zeigefinger hinaus keinen -1-
neuen, eigenen Aktionsradius eröffnen. Insofern stellt sich die Frage, ob die EU selbst eine entsprechende Impfpflicht einführen könnte. I. Überlegungen de lege lata: Eine Frage der Kompetenz Hinsichtlich der Zulässigkeit einer allgemeinen, EU-weiten Corona-Impfpflicht stellt sich zunächst die Kompetenzfrage. Denn nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 I 1, II EUV) darf die EU nur tätig werden, wenn die Mitgliedstaaten ihr entsprechende Kompetenzen übertragen haben. Der Politikbereich Gesundheit zählt klassischerweise zum Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten. Doch auch die EU-Verträge sehen in diesem Bereich einige möglicherweise einschlägige Kompetenztitel vor. 1. Art. 168 IV AEUV So teilt sich die Union die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten für „gemeinsame Sicherheitsanliegen im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ (Art. 4 II lit. k AEUV). Was diese geteilte Kompetenz umfasst, führt Art. 168 IV AEUV aus. Danach hat die Union u.a. die Möglichkeit, „Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte“ festzulegen (Buchstabe c). Dies meint v.a. produktbezogene Gesundheitsschutzmaßnahmen wie Qualitätsstandards für Covid-Impfstoffe, taugt aber nicht als Kompetenzgrundlage für eine Impfpflicht an sich. 2. Art. 168 I, II, V AEUV Zuständig ist die Union zudem für Maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der menschlichen Gesundheit (Art. 6 S. 2 lit. a) AEUV i.V.m. Art. 168 I- III, V-VII AEUV). Dies umfasst u.a. die „Bekämpfung schwerwiegender grenzüberschreibender Gesundheitsgefahren“ (Art. 168 I UAbs. 2 S. 2 AEUV), der eine unionsweite Corona-Impfpflicht durchaus dienen würde. Maßnahmen der EU dürfen in diesem Bereich aber nur „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ (Art. 168 V AEUV) erfolgen. Dieses Harmonisierungsverbot hat zur Folge, dass die EU gestützt auf diese Kompetenznorm keinen eigenen, europäischen Rechtsakt für eine allgemeine Corona-Impfpflicht erlassen kann. Sie muss sich vielmehr darauf beschränken, die Regelungen und Maßnahmen der Mitgliedstaaten in Form von Leitlinien zu fördern und erforderlichenfalls zu unterstützen (vgl. Art. 168 II UAbs. 1 S. 1, UAbs. 2 S. 2 AEUV). Diese Unterstützungsfunktion nimmt die Kommission seit Beginn der Coronapandemie bereits wahr: Sie koordiniert beispielsweise die mitgliedstaatlichen Maßnahmen durch einen Coronavirus-Krisenstab und handelt die Verträge mit den Impfstoffherstellern aus. 3. Art. 114 I AEUV Mangels einer einschlägigen speziellen Kompetenzgrundlage im Politikbereich Gesundheitswesen könnte auf die allgemeine Harmonisierungsklausel des Art. 114 I AEUV zurückgegriffen werden. Diese dient der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarktes und wurde in der Vergangenheit z.B. herangezogen, um -2-
unionale Maßnahmen hinsichtlich Tabakwaren einzuführen. Auch die Bestimmungen über Tabakerzeugnisse dienen dem Gesundheitsschutz; könnte also auch eine allgemeine Corona-Impfpflicht auf diese Regelung gestützt werden? Dazu bedürfte es eines Bezuges zum Binnenmarkt, der sich durchaus herstellen lässt. So setzt ein funktionsfähiger Binnenmarkt u.a. voraus, dass Personen frei zwischen den Mitgliedstaaten verkehren können. Die Ausbreitung von Covid-19 erschwerte dies, wie die zeitweise Einführung von Grenzkontrollen innerhalb der EU eindrücklich belegen. Berufspendler:innen und Waren mussten an den Binnengrenzen Schlange stehen. Die Schengen-Regelungen, wonach grundsätzlich keine Grenzkontrollen an den EU-Binnengrenzen stattfinden dürfen, unterstreichen zusätzlich die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Lösung. Art. 114 I AEUV stellt jedoch hohe Anforderungen an den Binnenmarktbezug: Die betreffende Maßnahme muss „tatsächlich den Zweck haben, die Voraussetzungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zu verbessern“ (EuGH, Rs. C-376/98, Rn. 84). Die Verwirklichung des Binnenmarktes muss also „Hauptzweck und nicht lediglich ein beiläufiges oder ergänzendes Ziel der Rechtsangleichungsmaßnahme sein“ (Calliess/Ruffert-Kingreen, EUV/AEUV, 6. Auflage 2022, Art. 168 AEUV, Rn. 31.). Hinsichtlich einer allgemeinen Corona-Impfpflicht wäre Hauptzweck der Gesundheitsschutz durch Eindämmung des Covid-19-Virus. Die Stärkung eines funktionsfähigen Binnenmarktes würde als Nebenzweck, quasi „en passant“ miterfüllt. Um eine EU-weite allgemeine Corona-Impfpflicht zu stützen, kann Art. 114 I AEUV damit als Kompetenzgrundlage nicht herhalten. 4. Art. 352 AEUV Einschlägig könnte schließlich die sogenannte Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV sein. Sie kann herangezogen werden, wenn Ziele der EU-Verträge anders nicht zu verwirklichen wären. „Gesundheit“ wird als Ziel der EU in Art. 3 I EUV nicht genannt und die Förderung des „Wohlergehens ihrer Völker“ in dieser Norm ist zu abstrakt, um daran eine allgemeine Impfpflicht aufzuhängen. Zudem darf Art. 352 AEUV laut seines dritten Absatzes nicht dazu genutzt werden, um an anderer Stelle normierte Harmonierungsverbote der Verträge zu umgehen. Wie oben dargestellt schließt Art. 168 V AEUV eine Harmonisierung in Bezug auf eine allgemeine Corona-Impfpflicht aber gerade aus. Insofern genügt auch Art. 352 AEUV nicht als Rechtsgrundlage für eine EU-Corona-Impfpflicht. II. Überlegungen de lege ferenda: Weitere rechtliche Hindernisse Nach der aktuellen Rechtslage verfügt die EU somit nicht über eine Rechtsgrundlage zur Einführung einer unionsweiten allgemeinen Corona-Impfpflicht. Es bestünde jedoch die Möglichkeit, eine neue Kompetenzgrundlage zu schaffen. Bei den folgenden Überlegungen de lege ferenda geht es mir allein darum, mögliche rechtliche Hindernisse aufzuzeigen. Die Frage, ob eine allgemeine Corona- Impfpflicht tatsächlich unionsweit eingeführt werden sollte, wird hierbei weder geprüft oder bewertet. -3-
1. Richtlinie oder Verordnung? Zunächst wäre zu bedenken, in Form welchen Rechtsakts – Verordnung oder Richtlinie – eine solche Impfpflicht geregelt werden könnte. Eine Verordnung (Art. 288 II AEUV) hätte den Vorteil, eine einheitliche, in allen Mitgliedstaaten verbindliche allgemeine Impfpflicht zu schaffen. Eine Richtlinie (Art. 288 III AEUV) würde hingegen allein das verbindliche Ziel vorgeben, dass eine allgemeine Corona-Impfpflicht in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen einzuführen ist. Die Mitgliedstaaten könnten selbst entscheiden, welche Rechtsform (Gesetz, Verordnung etc.) sie dafür wählen und wie die Impfpflicht durchgesetzt wird (z.B. durch eine Geldbuße oder unmittelbar durch Zwang). Eine Richtlinie wäre insofern die schonendere und daher zu bevorzugende Maßnahme, da den Mitgliedstaaten ein Gestaltungsspielraum belassen würde, der nationale Besonderheiten (z.B. des Gesundheitssystems) berücksichtigen kann. 2. Probleme bei der Durchsetzung Fragen der Durchsetzung einer allgemeinen Impfpflicht sind bereits auf der Ebene der Mitgliedstaaten hoch umstritten. Eine weitere Verkomplizierung träte ein, wenn es darum ginge, mit welchem Sanktionsmaßnahmen die EU gegen Verstöße der Impfpflicht vorgehen könnte. Maßnahmen wie 2G- bzw. 3G- Regelungen zum Zugang zu Gaststätten, Geschäften, Kultureinrichtungen oder zum Arbeitsplatz liegen in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die Einführung eines Bußgeldes, wie Österreich es zur Durchsetzung der Impfpflicht einzuführen plant, wäre auf europäischer Ebene durchaus möglich. Zur Verhängung und Eintreibung von möglichen Bußgeldern müsste die EU jedoch mangels europäischer Gerichtsvollzieher:innen auf die Mitgliedstaaten zurückgreifen. Auch insofern wäre der Erlass einer Richtlinie dem einer Verordnung vorzuziehen, da die konkrete Durchsetzung der Impfpflicht den Mitgliedstaaten überlassen bliebe. 3. Mangelhafter Rechtsschutz Eine unionsrechtliche allgemeine Corona-Impfpflicht müsste sich u.a. am Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3 I GRCh) messen lassen. Doch Individuen haben keine direkte grundrechtliche Beschwerdemöglichkeit zum Europäischen Gerichtshof (EuGH). Auch könnte eine solche EU-weite Impfpflicht vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nicht unmittelbar überprüft werden, da die EU keine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention ist. Eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit hinge insofern von der konkreten Ausgestaltung der Impfpflicht ab. So könnte nur eine mitgliedstaatliche, auf Unionsrecht beruhende Impfanordnung angegriffen werden. Vor nationalen Gerichten könnte somit zumindest mittelbar gegen eine EU-Corona- Impfpflicht geklagt werden und diese darüber ggf. auch zum EGMR gelangen. III. Fazit Zur Einführung einer von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in die Diskussion eingebrachten allgemeinen, EU-weiten Impfpflicht gegen Covid-19 fehlt es der Europäischen Union an einer Kompetenzgrundlage. Selbst wenn eine solche -4-
nachträglich in die europäischen Verträgen eingefügt werden sollte, ergäben sich Probleme hinsichtlich der Ausgestaltung des Rechtsakts, der Durchsetzbarkeit von und dem Rechtsschutz gegen eine unionsweite Impfpflicht. Zitiervorschlag: Lisa-Marie Lührs, Ist eine EU-weite Corona-Impfpflicht zulässig? Eine unionsrechtliche Analyse, JuWissBlog Nr. 111/2021 v. 10.12.2021, https:// www.juwiss.de/111-2021/. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz. -5-
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