Michael Braun * Italien unter Berlusconi: Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

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Michael Braun *
                                                            Italien unter Berlusconi:
                                                            Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

Seit dem Amtsantritt Silvio Berlusconis im Jahre 2001       tanz der europäischen Einigung mithin keine Rolle
                                                                   1
ist Europa in Italien zunehmend zu einem Thema politi-      spielt.
scher Auseinandersetzungen geworden. Die zweideu-               Dass das Engagement der politischen Eliten, aber
tige Politik in der Irak-Krise, die eingangs von Eklats     auch der Bürger für Europa nicht nur rhetorisch ist,
und am Ende von verpassten Chancen gekennzeichne-           zeigte sich nicht zuletzt in den massiven Anstrengun-
te Ratspräsidentschaft im Jahre 2002, der Dauerkon-         gen Italiens, den Beitritt zur Europäischen Wirtschafts-
flikt Berlusconis mit dem Kommissionspräsidenten Ro-        und Währungsunion schon in der ersten Phase zu
mano Prodi, all dies zeugt davon, dass der über Jahr-       schaffen, obwohl das Land noch 1996 gleich vier der
zehnte im Lande unumstrittene europapolitische              in Maastricht fixierten Parameter verfehlte (Nettoneu-
Grundkonsens in Frage steht.                                verschuldung, Staatsschulden, Zinsniveau, Inflationsra-
                                                            te). Im Herbst 1996 gab die gerade gewählte Mitte-
                                                            Links-Regierung unter Ministerpräsident Romano Prodi
Der Ausgangspunkt                                           die Marschroute aus, mit einem massiven Haushalts-
                                                            Sparprogramm im Umfang von damals gut 60 Mrd.
Von der zweiten Hälfte der 70er Jahre an bis zum Re-        DM binnen kurzem die Staatsverschuldung von seiner-
gierungsantritt Silvio Berlusconis (2001) war Italien ein   zeit jährlich noch knapp 7% unter die magische 3%-
Land, in dem europapolitische Debatten so gut wie           Schwelle zu senken. Wesentlicher Teil dieses Kraftaktes
keine Rolle spielten – aus dem schlichten Grund, dass       war die vorübergehende Einführung eines Aufschlags
das Engagement in Europa unumstritten war. Die poli-        auf die Einkommenssteuer; die Regierung griff wie
tischen Eliten aller Parteien, von der eurokommunisti-      selbstverständlich zu der Bezeichnung „Europasteuer“
schen KPI (Kommunistische Partei Italiens, aus der          – im sicheren Wissen, dass dies nicht Ressentiments
1991 die Linksdemokraten hervorgehen sollten) bis hin       gegen Europa mobilisieren, sondern die Akzeptanz für
zu den Christdemokraten, waren proeuropäisch einge-         die Sonderabgabe erhöhen würde.
stellt, lediglich die am rechten Rand isolierten Neofa-         Und die damalige Rechtsopposition unter Silvio Ber-
schisten wichen davon ab. Die übergroße Mehrheit der        lusconi machte zwar Stimmung gegen das Konsolidie-
Bevölkerung unterstützte diesen Konsens: Seit je ver-       rungsprogramm der Regierung, der vorgeworfen wur-
zeichnen die Umfragen von Eurostat zur Akzeptanz der        de, sie werde „Italien kaputtsparen“ – zu keinem Zeit-
EU-Institutionen in Italien Zustimmungswerte von 70-        punkt aber stellte die Opposition das Ziel, die Beteili-
80%.                                                        gung am Euro, offen in Frage. 1999 dann, nach dem
    Italiens Regierungen trugen vor diesem Hintergrund      Wechsel an der Spitze der italienischen Regierung von
alle Integrationsschritte der Union mit, vom Europäi-       Romano Prodi zu Massimo D’Alema, unterstützte auch
schen Währunhssystem über die Einheitliche Europäi-         Silvio Berlusconi die Berufung Prodis zum Präsidenten
sche Akte zu Maastricht und Nizza, ohne dass dies je        der EU-Kommission. Ebenso wenig musste die Mitte-
Anlass zu politischen Kontroversen gegeben hätte. Es        Links-Regierung sich vom Gros der Opposition Kritik
ist bezeichnend, dass in der italienischen Öffentlichkeit   für die von ihr mitgetragene Verabschiedung der EU-
Begriffe wie „Eurokratie“ schlicht unbekannt waren,         Grundrechtecharta in Nizza gefallen lassen; einzig die
dass politische Auseinandersetzungen im deutschen           offen EU-feindliche Lega Nord unter Umberto Bossi
Stile („Zahlmeister Europas“) über Kosten und Erträge       lehnte die Charta ab.
der EU-Mitgliedschaft völlig fehlten, und dass Italiens         Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass
Bürger in ihrer übergroßen Mehrheit bis heute schlicht      Italiens Rolle in Europa im Wahlkampf von 2001 kein
nicht wissen, ob ihr Land in der EU Netto-Zahler oder -
Empfänger ist – und dass diese Frage für die Akzep-         1 Die Lösung des Rätsels: Italien gehört zu den Nettozahlern,
                                                              die hohen Zustimmungswerte sind also nicht wie in anderen
                                                              südeuropäischen Staaten auf den „Geldsegen aus Brüssel“
* Friedrich-Ebert-Stiftung, Rom.                              zurück zu führen.
Michael Braun Italien unter Berlusconi: Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

       2                        Thema war. Auf den ersten Blick war auch bei einem                  vor. Traditionell war diese Partei EU-feindlich gewe-
                                Regierungswechsel kein prinzipieller Richtungswechsel               sen; sie hatte diese Position der offenen Gegner-
                                der Europapolitik des Landes absehbar. Nicht zuletzt                schaft im Zuge ihrer demokratischen Wendung auf-
                                wurde diese Erwartung durch die Tatsache gestärkt,                  gegeben und plädierte nun für ein „Europa der Va-
Europäische Politik (06/2004)

                                dass Berlusconi – anders als während seiner kurzen                  terländer“.
                                Regierungszeit 1994 – im Jahr 2001 auf der europäi-              • Offen EU-feindlich blieb dagegen die rechtspopulis-
                                schen Bühne nicht mehr als Fremdkörper erschien: Sei-               tische Lega Nord (3,9%) unter Umberto Bossi; der
                                ne Forza Italia war, nicht zuletzt dank der Unterstüt-              von Berlusconi zum Minister für Verfassungsrefor-
                                zung Helmut Kohls, mittlerweile Vollmitglied der Euro-              men Berufene hetzte in rüdem Ton gegen Europa
                                päischen Volkspartei geworden.                                      mal als neue „Nazi-Herrschaft“, mal als wiederge-
                                                                                                    kehrte „Sowjetunion“.
                                                                                                 • Klar in der europapolitischen Kontinuität Italiens
                                Der Regierungsantritt Berlusconis: die                              steht allein der kleinste Koalitionspartner, die christ-
                                vorgespiegelte Kontinuität                                          demokratische Unione dei Democratici Cristiani
                                                                                                    (UDC, 3,2%).
                                Silvio Berlusconi gelang es zudem bei seinem Regie-              Offiziell galt aber in den ersten Monaten der Regierung
                                rungsantritt, gegen das ihm in Europa entgegenschla-             Berlusconi die Marschroute außenpolitischer Kontinui-
                                gende Misstrauen mit einer Personalentscheidung ent-             tät, und einige Zeichen deuteten auch in diese Rich-
                                scheidenden Boden gutzumachen: Er berief den partei-             tung. So favorisierte die italienische Regierung die
                                losen Renato Ruggiero zum Außenminister. Der Karrie-             Kandidatur Giuliano Amatos, der als letzter Minister-
                                rediplomat und frühere WTO-Direktor verfügte nicht               präsident der Mitte-Links-Koalition gewirkt (2000-
                                nur über ausgezeichnete Kontakte in die USA (begin-              2001) und auf europäischer Bühne in Nizza als über-
                                nend bei seiner Freundschaft mit Henry Kissinger),               zeugter Vertreter einer weiteren Vertiefung der Union
                                sondern galt auch als überzeugter Europäer. Ruggiero             ebenso wie ihrer Erweiterung aufgetreten war, zum
                                enttäuschte die von der Öffentlichkeit in ihn gesetzten          Präsidenten des EU-Verfassungskonventes und setzte
                                Erwartungen nicht und fiel in den folgenden Monaten              ihn schließlich als Vizepräsidenten durch; so wurde
                                immer wieder durch eindeutige Bekenntnisse zur Fort-             Gianfranco Fini, der Stellvertretende Ministerpräsident,
                                setzung des europäischen Einigungswerkes auf.                    als Italiens Regierungsvertreter in den Konvent ent-
                                    Damit jedoch stand er in der Regierung weitgehend            sandt – ein Signal, dass die Regierung durch ein
                                allein; Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat es von           Schwergewicht vertreten sein wollte, ein Signal ande-
                                seinem Amtsantritt im Juni 2001 bis heute vermieden,             rerseits auch, dass der frühere Faschist Fini durch aktive
                                je auch nur in Umrissen die Europapolitik seiner Koali-          Mitwirkung im Konvent seine Wendung vom EU-
                                tion zu skizzieren, etwa in einer Grundsatzrede, in ei-          Gegner zum Protagonisten des Einigungswerkes be-
                                ner Regierungserklärung, in einem Dokument die                   weisen wollte.
                                wichtigsten Linien des europäischen Engagements sei-                Zugleich aber mehrten sich schnell die Zeichen da-
                                nes Kabinetts darzulegen. Dahinter steckt vorderhand             für, dass Italiens gerade ins Amt gelangte Rechtsregie-
                                die Tatsache, dass er einer Vier-Parteien-Koalition vor-         rung völlig neue und für das Land ungewohnte Zei-
                                steht, in der nur eine Partei sicher in der Tradition des        chen in der europäischen Politik zu setzen gedachte.
                                proeuropäischen Engagements Italiens steht:                      Den Beginn machte Verteidigungsminister Antonio
                                • Berlusconis Forza Italia (2001: 29,4% der Stimmen)             Martino. Der überzeugte Atlantiker und Europa-
                                    ist und bleibt das persönliche Projekt des gegen-            Skeptiker verkündete den Rückzug Italiens aus dem
                                    wärtigen Ministerpräsidenten, eine „Partei“, bei de-         Projekt eines europäischen Militärtransporters, des Air-
                                    ren Gründung wie bei deren Politik die Außenpolitik          bus A400M, mit dem schlichten Argument, das Vor-
                                    zweitrangig war und ist. Sicherer Fixpunkt der Partei        haben sei „zu teuer“.
                                    – wie auch Berlusconis – ist allein die Treue zu den            Mochte dies noch als kontingente Erwägung und
                                    USA; daneben ist die Präsenz einiger ausgewiesener           damit als europapolitische Routine erscheinen, so war
                                    Europaskeptiker wie des Verteidigungsministers An-           der im Herbst 2001 vorgetragene italienische Wider-
                                    tonio Martino und des Finanzministers Giulio Tre-            stand gegen die Einführung des Europäischen Haftbe-
                                    monti zu verzeichnen.                                        fehls weit grundsätzlicherer Natur. Justizminister Ro-
                                • Alleanza Nazionale, die mit 12% zweitstärkste Koa-             berto Castelli von der Lega Nord blieb es überlassen,
                                    litionspartei unter dem Stellvertretenden Minister-          die Einwendungen Italiens gegen das Vorhaben im Rat
                                    präsidenten Gianfranco Fini, ging 1994 aus der fa-           der Innen- und Justizminister vorzutragen. Italien nahm
                                    schistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) her-           vor allem Anstoß an der Liste der Verbrechen, die dem
Internationale Politikanalyse
                                                                                        International Policy Analysis Unit

europaweiten Haftbefehl unterliegen sollten: Zu ihnen          geißelte in Zeitungsinterviews die Haltung seiner Regie-
zählten auch Korruption und Geldwäsche. Wegen Kor-             rung zum Change over als „Trauerspiel“. Sollte er ge-
ruption war Silvio Berlusconi Ziel staatsanwaltlicher          hofft haben, mit dieser Attacke Silvio Berlusconi zu ei-
Ermittlungen nicht nur in Italien, sondern auch in Spa-        ner Klärung der europapolitischen Haltung der Regie-
nien – dies mag den italienischen Widerstand erklären.         rung im eigenen Sinne bewegen zu können, so wurde
Zugleich aber argumentierten sowohl die Lega Nord als          er enttäuscht. Berlusconi erklärte zwar, an der „euro-
auch Berlusconis Forza Italia weit grundsätzlicher, mal-       päischen Inspiration“ seiner Politik können kein Zweifel
ten die Gefahr einer Terrorherrschaft der Staatsanwälte        bestehen, er dachte seinerseits aber mitnichten daran,
in Europa an die Wand, beschworen die EU als neues             die Euro-feindlichen Äußerungen seiner Minister zu
„Galgenland“ (Bossi). Mit dieser Position war Italien in       korrigieren; stattdessen übte er kaum verhüllt Kritik an
der EU völlig isoliert und musste die Gefahr gewärti-          Ruggiero, der schließlich bloß als „Techniker“ im Kabi-
gen, den anderen 14 Mitgliedstaaten gegenüber zum              nett sitze und als solcher die „politische Linie“ Berlus-
Opting out gezwungen zu sein. Nur aus diesem Grund             conis umzusetzen habe. Derweil beschimpfte Umberto
stimmte Berlusconi schließlich einem Kompromiss zu,            Bossi Ruggiero als „Provokateur“, der an der Seite
der die Liste der Verbrechen unverändert ließ. Faktisch        „der Großfinanz und der Eurokraten“ stehe. Ruggiero
aber hält Italien an seiner Blockadehaltung bis heute          zog die Konsequenz und reichte im Januar 2002 sei-
weiter fest: Die Umsetzung der Norm in italienisches           nen Rücktritt ein.
Recht ist bis heute nicht erfolgt.                                 Ganz wie Ruggiero sahen auch die Oppositionspar-
    Schon diese Episode stieß auf die heftige Kritik des       teien die Vorgänge rund um den Change over als kla-
Außenminister Renato Ruggiero, doch nur wenige                 res Signal für den Vollzug einer Abkehr Berlusconis von
Wochen später zeigte die Rechtskoalition in sehr prin-         der bisherigen Europapolitik Italiens. Der im Ölbaum-
zipieller Manier ihre Haltung zu Europa. Als zum Jah-          Bündnis vereinten Mitte-Links-Parteien riefen nach
reswechsel 2001/2002 der Change over erfolgte,                 dem Rücktritt Ruggieros jedenfalls in Rom zu einer So-
sprich die Einführung des Euro in den täglichen Zah-           lidaritätsdemonstration mit dem Außenminister auf,
lungsverkehr, wurde dieses Ereignis in sämtlichen am           auf der Massimo D’Alema von den Linksdemokraten
Euro beteiligten Staaten offiziell gefeiert – nur in Italien   erklärte, das Land habe es „mit einer politischen, nicht
nicht. Ministerpräsident Berlusconi war, ebenso wie            mit einer technischen Wende zu tun“.
sein gesamtes Kabinett, „in Urlaub“. Die einzigen Bei-             Bizarr an dieser Wende aber war zunächst, dass das
träge aus den Regierungsreihen zum Change over be-             Moment der Abkehr vom bisherigen überzeugten
standen in sarkastischen Bemerkungen diverser Minis-           Engagement Italiens für die europäische Einigung zwar
ter. So erklärte Umberto Bossi von der Lega Nord, ihm          klar auszumachen war – dass aber vollkommen unklar
sei die Einführung des Euro „wurstegal“; so brachte            blieb, welche Linie Italien in Zukunft zu verfolgen ge-
Finanzminister Giulio Tremonti seine Skepsis gegen-            dachte. Stattdessen setzte die Regierung auf ein Ver-
über dem neuen Geld zum Ausdruck, und so erklärte              wirrspiel, redete zum Beispiel Verteidigungsminister
Verteidigungsminister Antonio Martino gar, der Euro            Martino nun plötzlich vom Euro als „epochalem Ereig-
sei zum Scheitern verurteilt: Sein Wertverlust sein un-        nis“, versicherte Berlusconi, der im Interim für elf Mo-
aufhaltbar, schon heute habe er selbst „gegenüber              nate auch das Außenministerium übernehmen sollte,
den Kartoffeln aus Macao“ Wert eingebüßt.                      Italien bleibe proeuropäisch – machte aber zugleich in
    Hinter der Unlust, den Euro zu feiern, mochte              seiner Rede vor dem Parlament deutlich, dass in Zu-
durchaus die Erwägung stehen, dass die Beteiligung             kunft die Vertretung des „nationalen Interesses“
Italiens an der Gemeinschaftswährung von der Mitte-            höchste Priorität genieße, und witzelte über den „Eu-
Links-Koalition durchgesetzt und von den Bürgern mit           ropa-Furor“ der Opposition, über „unkritischen und
dem Namen Romano Prodi identifiziert wurde – dass              dogmatischen europäistischen Maximalismus“. Und
es der Rechtsregierung also oblegen hätte, den Erfolg          Europa-Minister Rocco Buttiglione verkündete, in Rom
ihrer Konkurrenz zu würdigen. Die scharfen Äußerun-            seien nun eben „Europa-Realisten“ statt „Europa-
gen wichtiger Vertreter von Berlusconis Forza Italia und       Enthusiasten“ am Ruder.
der Lega Nord aber standen für mehr: für ein europa-
politisches Outing der Regierung, die auf den Schein
politischer Kontinuität verzichtete und stattdessen den        Italien in der Irak-Krise
offenen Bruch mit der bisherigen pro-europäischen
Haltung Italiens inszenierte.                                  Spätestens mit der Irak-Krise wurde die Verschiebung
    In dieser Weise jedenfalls interpretierte Außenminis-      der außenpolitischen Akzente – und damit auch das
ter Ruggiero die Vorstöße seiner Kabinettskollegen. Er         Zerbrechen des Grundkonsens der italienischen Partei-         3
Michael Braun Italien unter Berlusconi: Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

       4                        en auf diesem Feld – deutlich. Das Land, das bisher              Parlament, Italien habe den Status einer „nicht krieg-
                                sowohl in der europäischen Integration als auch in den           führenden Macht“ nicht zuletzt deshalb gewählt, weil
                                wichtigsten außenpolitischen Richtungsentscheidun-               die Regierung die „besondere Sensibilität der öffentli-
                                gen in weitgehendem Einklang mit den anderen EWG-                chen Meinung“ in dieser Frage berücksichtigt habe.
Europäische Politik (06/2004)

                                Gründerstaaten, vorneweg mit Deutschland und Frank-                  Mit dieser Haltung isolierte die Rechtsregierung Ita-
                                reich, agiert hatte, bezog nun unter Berlusconi offen            lien einerseits vom Lager der um Deutschland und
                                gegen die „deutsch-französische Achse“, gegen das                Frankreich gruppierten Kriegsgegner in der EU, ohne
                                „karolingische Europa“ Stellung, schlug sich stattdes-           andererseits nennenswert sein Gewicht im Lager der
                                sen an der Seite Spaniens unter Aznar und Großbri-               Kriegsbefürworter erhöhen zu können. Dort gaben die
                                tanniens unter Blair auf die Seite der USA.                      – auch aktiv am Krieg beteiligten – Regierungschefs
                                   Deutlich wurde dies spätestens mit dem „Brief der             Großbritanniens und Spaniens, Blair und Aznar, den
                                acht“, in dem Italien, Spanien, Großbritannien, Portu-           Ton an, die zum Beispiel mit Bush zum Azoren-Gipfel
                                gal, Dänemark, Polen, Tschechien und Ungarn im Na-               zusammentrafen, zu dem Berlusconi nicht geladen
                                men der transatlantischen Solidarität offen für die USA          war.
                                Partei ergriffen. Dennoch verfolgte Italien auch wäh-                Zudem war Berlusconi mit heftiger Gegnerschaft
                                rend der Irak-Krise auf den ersten Blick eine Schaukel-          nicht nur einer breiten Friedensbewegung – zu der An-
                                politik. Berlusconi nämlich erteilte sich selbst den Auf-        ti-Kriegs-Demonstration im Februar 2003 strömten in
                                trag, als „Vermittler“ zwischen den USA einerseits,              Rom etwa zwei bis drei Millionen Menschen zusam-
                                Deutschland, Frankreich und Russland andererseits                men –, sondern auch der parlamentarischen Mitte-
                                aufzutreten.                                                     Links-Opposition konfrontiert. In jeder Phase der Irak-
                                   Das Ergebnis dieser Vermittlungsbemühungen wa-                Krise nahm das Gros der Oppositionsparteien explizit
                                ren in den kritischen Monaten vor dem Kriegsausbruch             und befürwortend auf die französisch-deutsche Hal-
                                bisweilen im Tagesrhythmus wechselnde Positionen                 tung Bezug – und zeigte so, dass die Spaltung der EU
                                der italienischen Regierung. So erklärte Berlusconi nach         in zwei Lager sich als inneritalienische Spaltung abbil-
                                einem Zusammentreffen mit Wladimir Putin, es gebe                dete: Die Stichworte Multilateralismus, Krisenlösung
                                ernste Zweifel an der Existenz irakischer Massenver-             unter der Ägide der UNO, autonome europäische Au-
                                nichtungswaffen – bloß um nach einem Gespräch mit                ßenpolitik wiederholten sich ebenso in den Stellung-
                                Bush zu versichern, deren Existenz sei zweifelsfrei              nahmen der Opposition, wie die Befürwortung unilate-
                                erwiesen, und ebenso den Auftritt des US-Außen-                  ral geführter Präventivkriege, transatlantischer Solidari-
                                ministers Powell vor dem UN-Sicherheitsrat als restlos           tät, des „Exports der Demokratie“ auch mit militäri-
                                überzeugend zu würdigen. Und so erklärte Italiens Re-            schen Mitteln die Stellungnahmen des Regierungsla-
                                gierung zunächst, ein Angriff auf den Irak könne legi-           gers charakterisierten.
                                timerweise erst beim Vorliegen einer zweiten Sicher-                 Vor diesem Hintergrund war es nach der Niederlage
                                heitsrats-Resolution erfolgen, um später die Verab-              Saddam Husseins nur konsequent, dass Italien ein Kon-
                                schiedung einer solchen Resolution für überflüssig zu            tingent von knapp 3000 Soldaten in den Irak entsand-
                                erklären.                                                        te, auch wenn die Regierung erneut nicht auf verbale
                                   Als vermittelnde Kraft schied Berlusconi aber weni-           Zwei- bei faktischer Eindeutigkeit verzichten mochte.
                                ger wegen seiner abrupten Positionswechsel denn we-              So verkündete sie offiziell, das italienische Kontingent
                                gen der nie in Zweifel stehenden Treue zur Position der          sei keine Besatzungsmacht, sondern habe alleine einen
                                USA aus. So trat Italien schließlich auch der „Koalition         humanitären Auftrag. Es gehe um die Entsendung von
                                der Willigen“ bei – auch wenn das Land einen aktiven             Ärzten und anderem Hilfspersonal, während der große
                                Kriegsbeitrag ausschloss. Hinter dieser Entscheidung             Rest der Truppen bloß zu deren Sicherheit mitgeschickt
                                standen einerseits die verfassungsmäßigen Bedenken               würde. Faktisch aber nahmen – und nehmen – die bri-
                                des Staatspräsidenten Carlo Azeglio Ciampi, der als              tischem Kommando unterstellten italienischen Truppen
                                Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates eine              im südirakischen Nassiriya vorwiegend Sicherungsauf-
                                Vetoposition innehat – und der aus seiner Überzeu-               gaben wahr. Diese Zweideutigkeit erlaubte es Außen-
                                gung kein Hehl machte, dass eine Beteiligung Italiens            minister Franco Frattini auch, sich erneut verbal vor der
                                an einem unilateral entschiedenen Präventivkrieg ver-            UNO zu verneigen: Natürlich sei für die Entsendung
                                fassungswidrig sei. Andererseits aber trug Berlusconi            der Truppen ein UNO-Mandat wünschenswert – we-
                                auch der kriegsfeindlichen Stimmung in der Bevölke-              gen der brennenden humanitären Probleme aber kön-
                                rung – bloß gut 30% billigten eine italienische Beteili-         ne die Erteilung des Mandates leider nicht abgewartet
                                gung, während knapp 60% sie ablehnten – Rechnung;                werden.
                                er selbst erklärte bei Ausbruch der Feindseligkeiten im
Internationale Politikanalyse
                                                                                     International Policy Analysis Unit

Die EU-Ratspräsidentschaft im zweiten                       hatte, die italienische Marine solle in Zukunft auf
Halbjahr 2003 – der Eklat zum Auftakt                       Flüchtlingsboote im Mittelmeer schießen. Statt auf die-
                                                            se Fragen einzugehen, antwortete Berlusconi mit dem
In dieser sehr schwierigen und aufgeheizten Situation       Vorschlag, Schulz könne sich doch für die Rolle des
war Italien aufgerufen, mit der Übernahme der EU-           Kapo in einem KZ-Film bewerben, und setzte nach hef-
Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2003 eine           tigen Protesten aus den Reihen des Parlaments nach,
zentrale Vermittlerrolle zu übernehmen und nicht bloß       indem er die EP-Abgeordneten als „Touristen der De-
die außenpolitischen Scherben in einer gespaltenen          mokratie“ schmähte.
Union zu kitten, sondern dazu noch, nach Abschluss              Dieser Auftritt des Ministerpräsidenten bescherte
der Konventsarbeiten, die Regierungskonferenz zur           Italien nicht nur eine – durch den Tourismusstaatssek-
Verabschiedung des europäischen Verfassungswerks            retär Stefani Stefani von der Lega Nord mit seinen Aus-
zu organisieren.                                            fällen gegen „lärmende und betrunkene Deutsche“
    Dieser schwierigen Mittlerfunktion schien sich Silvio   angeheizte – diplomatische Sommerkrise mit Deutsch-
Berlusconi in einer europapolitischen Debatte des ita-      land, die in der Absage des Sommerurlaubs von Kanz-
lienischen Parlaments wenige Tage vor der Übernahme         ler Gerhard Schröder in Italien gipfelte. Er wurde auch
der Ratspräsidentschaft durchaus bewusst. Er erklärte,      der Opposition im eigenen Land zum Anlass, dem Re-
einerseits die transatlantischen Verstimmungen im           gierungschef vorzuwerfen, er habe schon zum Auftakt
Geiste enger Zusammenarbeit zwischen den USA und            das italienische Halbjahr zu einem Desaster werden las-
einer geeint auftretenden EU beseitigen und anderer-        sen – damit war der gerade verkündete Burgfrieden im
seits binnen Dezember die Verabschiedung der EU-            Namen Europas schon wieder hinfällig. Und schließlich
Verfassung erreichen zu wollen. Zwar enthielt Berlus-       verschaffte Berlusconi sich mit dem von ihm provozier-
coni sich jeglicher Ausführung im Detail, wie er sein       ten Eklat europaweit eine ebenso breite wie negative
Schlichtungswerk anzugehen gedachte, er konnte aber         Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt der Reaktionen stand
durchaus verbuchen, dass die Mitte-Links-Opposition         dabei die Frage, was Berlusconi wohl zu dem Ausrut-
ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit zusagte, um ei-        scher bewegt haben mochte. Die Reaktionen in den
nen Erfolg des „italienischen Halbjahres“ zu gewähr-        Berlusconi-nahen italienischen Medien werfen dage-
leisten.                                                    gen die Frage auf, ob Berlusconi nicht absichtsvoll den
    Der fragile Konsens hielt aber nur einige Tage – es     Zusammenstoß gesucht hat. Denn weiterhin dominier-
war Silvio Berlusconi, der mit seinem denkwürdigen          te in Zeitungen wie dem „Giornale“ (von der Familie
Ausfall gegen den deutschen Abgeordneten Martin             Berlusconi kontrolliert) oder „Libero“ die These, Ber-
Schulz sofort wieder den Bruch herbeiführen sollte.         lusconi habe gut daran getan, die „Provokation“ des
Berlusconi war schon im Vorfeld durch die breite und        Deutschen Martin Schulz zurückzuweisen. Entspre-
negative Berichterstattung europäischer Medien er-          chend wurde das Wortgefecht im Europäischen Parla-
kennbar irritiert. In den Berlusconi-nahen Zeitungen        ment zu einer Richtungsentscheidung für Europa hoch-
Italiens waren die Presseberichte über Berlusconi sofort    stilisiert: Berlusconi habe Deutsche und Franzosen ge-
ins Licht einer französisch-deutschen Verschwörung          gen sich aufgebracht, weil er gegen deren Vision von
getaucht worden, auch wenn die inkriminierten Artikel       einem karolingischen Europa stehe und mit der Servili-
keineswegs nur im Spiegel oder in Le Monde, sondern         tät Italiens gegenüber Paris und Berlin Schluss gemacht
auch im britischen Economist („unfit to lead Europe“)       habe. Berlusconi selbst vertritt die Auffassung, er stehe
oder im spanischen El Mundo gestanden hatten. Alle          mit seinem Wirken für eine neue, selbstbewusste Au-
diese Artikel hatten weniger den Außen- und Europa-         ßenpolitik, die auch einen neuen Stil beinhalte. So
politiker Berlusconi im Visier gehabt denn den Prota-       heißt es in seinem Wahlaufruf zu den EP-Wahlen, Ita-
gonisten der italienischen Politik, der dank seiner Me-     lien müsse „in Europa noch mehr zählen“: „Und das
dienmacht ebenso wie dank seines Dauerkonfliktes mit        ist nicht dahergesagt, denn in diesen drei Jahren hat
der heimischen Justiz eine Anomalie darstellt.              unsere Regierung sich Respekt verschafft, sie hat sich
    Martin Schulz dagegen hatte im Europäischen Par-        nicht herumschubsen lassen, sie hat nicht passiv Maß-
lament bei der offiziellen Vorstellung des neuen EU-        nahmen hingenommen, sondern immer den eigenen
Ratspräsidenten am 2. Juli 2003 den Bogen auch zur          Anliegen Geltung verschafft“.
europäischen Politik geschlagen, hatte Berlusconi nicht
nur nach seinem Interessenkonflikt befragt, sondern
auch nach dem Widerstand der italienischen Regierung
gegen den Europäischen Haftbefehl ebenso wie nach
rassistischen Ausfällen Umberto Bossis, der gefordert                                                                     5
Michael Braun Italien unter Berlusconi: Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

       6                        Italiens Ratspräsidentschaft und der                             deren fortbestehenden Dissens gegenüber den übrigen
                                gescheiterte Verfassungskompromiss                               23 zu Protokoll zu nehmen. Wiederum hatte Italien
                                                                                                 eine Schaukelposition eingenommen: Offiziell hatte es
                                Zwar war das Klima so schon zum Auftakt der Ratsprä-             mit dem Eintreten für die doppelte Mehrheit im Ein-
Europäische Politik (06/2004)

                                sidentschaft Berlusconis vergiftet – in der Sache aber           klang mit der großen Mehrheit der EU-Staaten agiert,
                                hatte das Land dennoch eine hohes Interesse und gute             faktisch aber hatte Berlusconi Spanien und Polen die
                                Karten, um in den strittigen Verfassungsfragen die               Verhinderung einer Lösung erleichtert. Es überrascht
                                Kompromissfindung voranzutreiben. Berlusconis Inte-              vor diesem Hintergrund nicht, dass der italienische Mi-
                                resse resultierte aus dem offen eingestandenen                   nisterpräsident vor allem großes Verständnis für Miller
                                Wunsch, wenn eben möglich noch im laufenden Halb-                und Aznar bezeugte und sich andererseits der französi-
                                jahr zur Verabschiedung zu gelangen und dann eine                schen Aufforderung, der Kern der EU-Gründerstaaten
                                Unterzeichung des Verfassungswerkes in Rom wenige                solle beim Ausbleiben eines Verfassungskompromisses
                                Wochen vor den EP-Wahlen im Juni 2004 zu erreichen.              alleine vorangehen, sofort verweigerte.
                                Dies hätte Berlusconi erlaubt, sich als Gastgeber der
                                Unterzeichnung der „Zweiten Römischen Verträge“
                                und damit als politischen Erben Alcide De Gasperis               Ein Ratspräsident auf Abwegen:
                                wahlkampfwirksam in Szene zu setzen.                             die außenpolitischen Alleingänge Italiens
                                   Weniger ausgeprägt war das Engagement der ita-
                                lienischen Rechtskoalition für die Inhalte der europäi-          Unorthodox war auch der Umgang Silvio Berlusconis
                                schen Verfassung. Doch wenn der Stellvertretende Mi-             mit seiner Aufgabe, als Ratspräsident die EU nach au-
                                nisterpräsident Gianfranco Fini im Konvent nicht als             ßen zu vertreten. Einen ersten Vorgeschmack erhielt
                                Antreiber der europäischen Integration aufgefallen               die Union, als der italienische Regierungschef drei Wo-
                                war, so hatte er doch ebenso wenig als Bremser auf               chen vor Übernahme seines europäischen Mandates in
                                sich aufmerksam gemacht. Italiens entscheidender Dis-            den Nahen Osten reiste. Im Nahost-Konflikt hatte Ita-
                                sens artikulierte sich alleine in der Frage des Gottesbe-        lien traditionell eine vermittelnde Rolle eingenommen:
                                zugs der Präambel.                                               Das Land unterhielt gute Beziehungen zu Israel, es hat-
                                   Aber auch in der Sache hatte Italien zumindest ei-            te sich aber zugleich in Europa als bevorzugter An-
                                nen Aktivposten. Seit der Irak-Krise verfügte die Regie-         sprechpartner der arabischen Staaten und der PLO pro-
                                rung Berlusconi über gute Beziehungen sowohl zu                  filiert. Doch auch auf diesem Feld vollzog Berlusconi
                                Spanien als auch zu Polen, den beiden Staaten, die in            eine radikale Wende – auch gegen die offiziellen Posi-
                                der zentralen Frage der Stimmrechte einem Kompro-                tionen der EU. Berlusconi selbst verkündete auf seiner
                                miss im Wege standen. Zugleich aber teilte Italien mit           Nahostreise, er habe einen Vermittlungsauftrag – aller-
                                Frankreich und Deutschland das Anliegen, zum Ab-                 dings nicht von der EU, sondern von US-Präsident
                                stimmungsmodus der doppelten Mehrheiten zu gelan-                Bush. Und er gestaltete seinen Aufenthalt in diesem
                                gen. Ebenso konnte erwartet werden, dass Italien das             Geist: Dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sha-
                                gute Klima in den Beziehungen zu Großbritannien nut-             ron bescheinigte er, Israel habe in Italien „seinen engs-
                                zen werde, um in der Frage der europäischen Außen-               ten Freund“, dem Präsidenten der Palästinenser Arafat
                                politik – Einstimmigkeit oder Mehrheitsentscheidungen            dagegen verweigerte er rundheraus ein Treffen. Und
                                – eine Lösung herbeizuführen.                                    als Frankreichs Außenminister Dominique De Villepin
                                   Zwar gelang es Außenminister Franco Frattini auf              kommentierte, Berlusconi habe im Nahen Osten in kei-
                                dem Außenminister-Konklave im November 2003, ei-                 ner Weise die Position der EU vertreten, konterte Ita-
                                nige Fragen wie die Zahl der Kommissare, die Zahl der            liens Ministerpräsident, De Villepin habe „eine gute
                                EP-Abgeordneten der kleinsten EU-Staaten, die Ein-               Gelegenheit verpasst, den Mund zu halten“.
                                stimmigkeit bei Fragen der Fiskal- und der Sozialpolitik             In ganz ähnlicher Manier machte Berlusconi dann
                                einer Lösung zuzuführen. In der wichtigsten Frage je-            im November 2003 anlässlich des EU-Russland-Gipfels
                                doch, der Gewichtung der Stimmen in der Union, zeig-             europäische Positionen zu Makulatur. Während der
                                te sich Silvio Berlusconi auf der abschließenden Regie-          abschließenden Pressekonferenz mit Präsident Putin
                                rungskonferenz in Brüssel völlig initiativlos. Berlusconi        erklärte Berlusconi rundheraus, die Verhaftung des Ju-
                                hatte noch im Vorfeld versichert, er habe eine Lösung            kos-Eigners Michail Chodorkowsky sei rechtsstaatlich
                                „in der Tasche“ – die aber zog er nicht heraus. Statt-           gesehen vollkommen korrekt erfolgt; und er beschei-
                                dessen beschränkte er sich darauf, ohne jeglichen ita-           nigte Putin auch, dass von Menschenrechtsproblemen
                                lienischen Vermittlungsvorschlag, ohne Druck auch auf            in Tschetschenien keine Rede sein könne: Die entspre-
                                die beiden widerstrebenden Länder Spanien und Polen,             chenden Anschuldigungen in der internationalen Pres-
Internationale Politikanalyse
                                                                                        International Policy Analysis Unit

se gegen die russische Armee seien haltlos. In beiden          gutgeheißen hatte; und so ließ Prodi es sich nicht
Punkten brach er offen mit der Position der EU gegen-          nehmen, nach dem diplomatischen Sommerkrise zwi-
über Russland. Sein Auftritt bescherte ihm diesmal             schen Italien und Deutschland demonstrativ Bundes-
nicht nur die Kritik des EU-Außenministerrates, son-           kanzler Gerhard Schröder zu einem Besuch in Verona
dern auch eine formale Zurechtweisung des Europäi-             einzuladen.
schen Parlamentes, das in einer Resolution die Äuße-              Es blieb aber Silvio Berlusconi überlassen, die Ausei-
rungen des amtierenden Ratspräsidenten „bedauerte“.            nandersetzung bis zum Versuch der offenen Delegiti-
                                                               mierung Romano Prodis zu eskalieren – auch um den
                                                               Preis, so in einer entscheidenden Phase der Entwick-
Silvio Berlusconi und Romano Prodi:                            lung der Union womöglich die Kommission entschei-
ein italienisch-europäisches Duell                             dend zu schwächen. Berlusconis Parlamentsmehrheit in
                                                               Rom nutzte hierzu einen parlamentarischen Untersu-
Dass Italien unter Silvio Berlusconi in Inhalt und Stil sei-   chungsausschuss zur Aufklärung der Modalitäten des
ne Europapolitik einem deutlichen Richtungswechsel             1998 erfolgten Kaufs der Telekom Serbien durch die
unterzogen hatte, dass darüber aber auch der Grund-            Telecom Italia. Mit Hilfe zwielichtiger Zeugen und ge-
konsens der italienischen Parteien über die europäische        fälschter Dokumente wollte die Berlusconi-Koalition
Politik zerbrochen war – dies wurde während des ita-           den Beweis führen, Romano Prodi habe als Minister-
lienischen Halbjahres auch personell sinnfällig.               präsident bei der Abwicklung dieses Geschäftes
   Denn dem Ratspräsidenten Silvio Berlusconi stand            Schmiergelder in Millionenhöhe eingestrichen; ausge-
mit Kommissionspräsident Romano Prodi ein führender            rechnet während des italienischen Halbjahres – in den
Exponent des italienischen Mitte-Links-Lagers gegen-           Sommermonaten 2003 – wurde die Tätigkeit des Un-
über. Es war Prodi gewesen, der als Spitzenkandidat            tersuchungsausschusses von einer massiven Kampagne
des „Ölbaum“-Bündnisses Berlusconi in den Wahlen               der Berlusconi-Medien, aber auch der staatlichen RAI
von 1996 geschlagen und dann zweieinhalb Jahre lang            gegen Prodi begleitet. Ihr Ziel erreichte diese Kampag-
als Ministerpräsident einer Mitte-Links-Koalition am-          ne allerdings nicht: Sie verpuffte klanglos, als Fäl-
tiert hatte. Und just im Juli 2003 hatte Prodi in Italien      schungen der Dokumente und Falschaussagen der
den Vorschlag lanciert, für die europäischen Wahlen            Zeugen – einige von ihnen saßen deshalb zeitweise in
des Juni 2004 die Parteien der Opposition in einer ge-         Untersuchungshaft – von der Justiz aufgedeckt wur-
meinsamen Liste zusammenzuführen. Prodi hatte da-              den.
mit weit vor dem Auslaufen seines europäischen Man-
dates (Oktober 2004) die Rückkehr auf die nationale
politische Bühne vollzogen. Denn als Spiritus rector der       Der Europawahlkampf
wichtigsten Oppositionsliste meldete er zugleich auch
seinen – in der gesamten Opposition gut geheißenen –           Das europäische Duell Prodi-Berlusconi dagegen setzte
Führungsanspruch als Herausforderer Berlusconis bei            sich in Italien mit Beginn des Europawahlkampfes im
den nächsten nationalen Wahlen im Jahre 2006 an.               Frühjahr 2004 fort. Beide Protagonisten waren in
   Dennoch versicherten die beiden Politiker zum Auf-          merkwürdiger Weise in diesem Wahlkampf präsent:
takt des italienischen Halbjahres, sie würden auf der          Berlusconi trat als Listenführer seiner Forza Italia in
europäischen Bühne konstruktiv und vertrauensvoll zu-          ganz Italien an, obwohl er das EP-Mandat als nationa-
sammenarbeiten. Es blieb bei dieser Versicherung: Das          ler Regierungschef nicht annehmen kann und wird;
Halbjahr wurde für die italienische wie für die europäi-       Romano Prodi dagegen konnte aufgrund seines euro-
sche Öffentlichkeit zur Demonstration des offen aus-           päischen Amtes nicht einmal kandidieren – war aber in
gebrochenen Konfliktes. So überging Berlusconi beim            der Werbung der von ihm inspirierten Liste als wahrer
ersten Gipfel der Staats- und Regierungschefs zur EU-          Chef der italienischen Opposition allgegenwärtig.
Verfassung im Oktober 2003 in Rom während der Ple-                 Zwar standen im Wahlkampf innenpolitische The-
narsitzung demonstrativ Romano Prodi und erteilte              men im Vordergrund, aber den italienischen Wählern
ihm erst nach Protesten der französischen Delegation           konnte dennoch nicht entgehen, dass sie zugleich über
das Wort; so wurden die gemeinsamen Auftritte bei              zwei Optionen für die Außen- und Europapolitik ihres
den Pressekonferenzen zur offenen Zurschaustellung             Landes abstimmten. Erneut dachte Berlusconi, wie
der auch faktisch zum Erliegen gekommenen Kommu-               schon immer während seiner Amtszeit, nicht daran,
nikation zwischen Kommissions- und Ratspräsident; so           offensiv auf Europaskepsis zu setzen – dies wäre ange-
stellte Prodi mit einem harschen Dementi Berlusconi            sichts der weiterhin überwiegend positiven Einstellung
bloß, nachdem der die Tschetschenien-Politik Putins            der Italiener zur EU ein zu riskantes Unterfangen. Doch       7
Michael Braun Italien unter Berlusconi: Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

       8                        erneut arbeitete seine Partei zur Erklärung wirtschafts-         Zurück zur nationalen Bühne
                                politischer Schwierigkeiten zu Hause – vorneweg die
                                Inflation und das geringe Wachstum – mit Schuldzu-               Der Zweikampf Prodi-Berlusconi, der sich nun auf nati-
                                weisungen an Europa. Offen machte so Finanzminister              onaler Ebene fortsetzen wird, sieht nunmehr eindeutig
Europäische Politik (06/2004)

                                Giulio Tremonti den Euro für die schwindenden Real-              das Mitte-Links-Bündnis in der Offensive In welchem
                                einkommen der Italiener verantwortlich: das Gemein-              Maße aber die Europa- und die Außenpolitik in den
                                schaftsgeld sei „schlecht gemacht“.                              nächsten Wahlkämpfen zum Gegenstand der politi-
                                    Und erneut verteidigte die Regierung ihre während            schen Konfrontation und Mobilisierung werden, ist zu
                                der Irak-Krise getroffene Richtungsentscheidung, ja              diesem Zeitpunkt noch in keiner Weise absehbar.
                                stellte die Möglichkeit einer Erhöhung des italienischen         Schon bei den EP-Wahlen dominierte in beiden Blö-
                                Kontingentes im Irak in Aussicht; Wahlkampfhilfe er-             cken der Versuch, vor allem mit innenpolitischen The-
                                hoffte sich so Silvio Berlusconi auch von dem Besuch             men zu punkten: Berlusconi suchte mit dem Verspre-
                                des US-Präsidenten Bush in Rom am 4. Juni, wenige                chen zukünftiger genereller Steuersenkungen die Ent-
                                Tage vor dem Urnengang, anlässlich des 60. Jahresta-             täuschung seiner Anhängerschaft über die bisherigen
                                ges der Befreiung Roms durch die US-Armee.                       Resultate seiner Regierungspolitik aufzufangen, wäh-
                                    Die „Liste Prodi“ dagegen verschärfte während des            rend die Mitte-Links-Koalition eben jene Enttäuschung
                                Wahlkampfes ihre Kritik an der Außenpolitik Berlusco-            für sich zu kapitalisieren suchte.
                                nis: Sie warf nach dem Wahlsieg der Sozialisten in                   Wie schon in der Vergangenheit ist deshalb nicht zu
                                Spanien der Regierung vor, sie isoliere Italien zuneh-           erwarten, dass die Selbstpositionierung Italiens zum
                                mend in Europa, und verlangte eine Umorientierung                breitenwirksamen politischen Konfliktpunkt werden
                                Italiens hin zur französisch-deutsch-spanischen Positi-          kann – wenn nicht wie im Falle des Irak-Krieges die
                                on. Sämtliche Oppositionsparteien brachten zudem                 Außenpolitik zum Gegenstand eines klar wahrzuneh-
                                eine Resolution ins Parlament ein, die den Abzug der             menden Entweder-Oder wird: Krieg oder Frieden,
                                italienischen Truppen aus dem Irak forderte.                     Multi- oder Unilateralismus, Treue zu den USA oder
                                    Auf den ersten Blick brachte das Wahlergebnis vom            Eintreten für eine gemeinsame europäische Orientie-
                                13. Juni keine Entscheidung: Die beiden großen politi-           rung. Sollten in der näheren Zukunft dagegen weltpoli-
                                schen Blöcke liegen mit je gut 45% gleichauf. Den-               tische Erschütterungen ausbleiben, die Italien wieder
                                noch wird bei näherer Betrachtung deutlich, dass Ber-            wie in den Jahren 2002/2003 mit einem solchen Ent-
                                lusconi eine klare Niederlage einstecken musste, in der          weder-Oder konfrontieren, dann wird die Opposition
                                innenpolitische Motive (Unzufriedenheit mit der wirt-            in ihren Kampagnen gegen die Regierung Berlusconi
                                schaftlichen Situation) und außenpolitische Faktoren             Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik in den Mittel-
                                (Unpopularität des Irak-Engagements) zusammenflos-               punkt stellen. Als gesichert aber darf gelten, dass das
                                sen: Seine Forza Italia erhielt nur noch 21% (statt              Mitte-Links-Bündnis bei einem Wahlsieg 2006 nicht
                                29,4% bei ihrem Wahlsieg 2001). Und innerhalb der                nur innenpolitisch die Wendepolitik Berlusconis rück-
                                Rechtskoalition konnte sich die aggressiv Europa-                gängig machen, sondern auch die Rückkehr Italiens zu
                                feindliche Lega Nord zwar über einen Zuwachs auf 5%              seiner traditionellen, integrationsfreundlichen Politik in
                                freuen (2001: 3,9%) – am stärksten aber prämiierten              der EU durchsetzen will.
                                die Wähler im Rechtsbündnis die gemäßigten und pro-
                                europäischen Christdemokraten, die sich von 3,2%
                                (2001) auf 5,9% verbesserten. Berlusconi musste je-
                                denfalls zur Kenntnis nehmen, dass die von ihm voll-
                                zogene Wende in der Außen- und Europapolitik in den
                                Wahlurnen keine Bestätigung erhalten hatte.
                                    Im Mitte-Links-Lager dagegen blieb das Resultat der
                                Liste Prodi mit 31,1% unter den Erwartungen: Wichti-
                                ge Protagonisten des Listenbündnisses hatten als
                                Erfolgsmarge 33% fixiert. In der Opposition
                                profitierten vor allem die kleinen, radikalen und
                                pazifistischen Listen am linken Rand (Grüne und
                                Kommunisten) vom Zulauf friedensbewegter Wähler.
                                Dies ändert jedoch nichts daran, dass es den
                                Oppositionsparteien erstmals seit 1994 gelungen ist,
                                die Rechte numerisch einzuholen.
Michael Braun
Italien unter Berlusconi:
Wie Europapolitik zur Innenpolitik wird

N    ie zuvor haben die Wahlen zum Europäischen Parlament in Italien
     so viel öffentliches Interesse erweckt. Aber sie bildeten lediglich den
vorläufigen Schlusspunkt einer Entwicklung, die sich bereits im Jahre
2003 abzeichnete: Europapolitik ist in Italien zum ersten Mal ein Thema,
an dem sich die politischen Geister scheiden.
Konnte Italien bis zum Jahr 2001 als einer der Integrationsmotoren der
EU gelten, als Land, dessen politische Eliten, gestützt auf breiten Kon-
sens in der Bevölkerung, über Jahrzehnte jeden der Erweiterungs- wie
der Vertiefungsschritte der Union mitgetragen hatten, so zerbrach diese
Gewissheit mit der Regierungsübernahme durch die Rechtskoalition un-
ter Silvio Berlusconi.
Berlusconi nahm seither zwar zu keinem Zeitpunkt programmatisch eine
Europa-skeptische Position ein, aber seine Regierung zeigte schnell, dass
sie auch in der Außenpolitik eine Wende herbeiführen wollte. In einer
Schaukelpolitik zwischen Bekenntnissen zur weiteren Integration und der
gezielten Inszenierung einer neuen, ungewohnten Distanz zu Europa
entfernte sie Italien zunächst vom harten Kern der Gründerstaaten – und
machte damit die Europapolitik auch zum kontroversen Thema zwischen
den politischen Lagern im eigenen Land.
Endgültig wurde dieser Richtungswechsel im Jahr 2003 deutlich, als Ber-
lusconi während der Irak-Krise trotz scheinbaren Lavierens sein Land zum
treuen Partner der USA machte und es so in Frontstellung gegen das von
Frankreich und Deutschland repräsentierte „karolingische Europa“ (Ber-
lusconi) brachte. Auch als EU-Ratspräsident fiel Berlusconi im zweiten
Halbjahr 2003 trotz verbaler Bekenntnisse zum europäischen Verfas-
sungswerk nicht nur durch den Eklat zu seinem Amtsantritt auf, sondern
auch durch Passivität bei den Versuchen, gegen die Widerstände Spa-
niens und Polens einen Verfassungskompromiss zu erreichen.
Die Mitte-Links-Opposition reagierte auf diese außenpolitische Wende,
indem sie sich im Namen der pro-europäischen Tradition Italiens auch als
außenpolitische Alternative zu Berlusconi profilierte. Sinnfällig wird die-
ser Konflikt mittlerweile auch personell: Seit den EP-Wahlen vom Juni
2004 ist der scheidende EU-Kommissionspräsident Romano Prodi der
von allen Mitte-Links-Parteien anerkannte Führer der Opposition – und
damit der designierte Herausforderer Berlusconis bei den im Jahr 2006
anstehenden nationalen Wahlen.
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