Jongleur im Orkan Der Ukraine-Krieg zwingt Recep Tayyip Erdoğan, den Kurs des Lavierens zwischen Moskau und dem Westen zu hinterfragen. Steht eine ...
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Weltspiegel Jongleur im Orkan Der Ukraine-Krieg zwingt Recep Tayyip Erdoğan, den Kurs des Lavierens zwischen Moskau und dem Westen zu hinterfragen. Steht eine Wen- de in der türkischen Außenpolitik bevor? Von Luisa Seeling Z um Schicksal einer Mittelmacht len 2023 zu, traditionell eine Zeit heftigster gehört die Frage: Ist sie Spieler Verwerfungen. Als Wahlkämpfer ist Recep oder Spielball? Kann sie den Lauf Tayyip Erdoğan berüchtigt, nun aber ist er der Dinge beeinflussen oder werden die angezählt. Schon jetzt ist absehbar, dass weltpolitischen Plattenverschiebungen, die Eskalation in der Ukraine und die in- wie sie sich seit Russlands Überfall auf die ternationalen Sanktionen gegen Russland Ukraine vollziehen, sie einfach mitreißen? die türkische Wirtschaft belasten werden. Das gilt für die meisten Mittelmächte, auch Das könnte ihm zum Verhängnis werden. für Deutschland, das allerdings fest einge- bunden ist ins westliche Bündnisgefüge. Von „null“ zu „nur“ Problemen Für die Türkei, die an der Schnittstelle Im Inneren ist die Lage also angespannt, extrem unruhiger Weltregionen zwischen nicht anders sieht es außenpolitisch aus. allen Stühlen sitzt, die nicht der EU ange- Der Ukraine-Krieg ist auch für die Türkei hört und deren NATO-Zugehörigkeit schon ein Einschnitt. Gnadenlos hat er die Wider- mehr als einmal infrage stand, ist die Lage sprüchlichkeit von Erdoğans Kurs offenge- viel komplizierter. Man könnte sagen, dass legt, sein Lavieren und Taktieren zwischen Komplexität das prägende Prinzip türki- Moskau und dem Westen. Bis dahin hatte scher Außenpolitik darstellt. sich Ankara ganz gut in diesem Zwischen- Mit dem Ukraine-Krieg sind die Kom- raum eingerichtet. Nun aber sind die Wi- Luisa Seeling ist Leiterin Schrei- plikationen noch einmal exponentiell ge- dersprüche zu groß geworden; der Druck ben, Editing und wachsen, auch weil er die Türkei in einem auf die Türkei wächst, sich eindeutiger zu inhaltliche Kom- empfindlichen Moment trifft. Der Zustand positionieren. Bedeutet der Ukraine-Krieg munikation bei der Stiftung Neue Ver- der Wirtschaft ist desolat, der Verfall der eine strategische Wende in der türkischen antwortung. Zuvor Lira und explodierende Lebensmittel- und Außenpolitik? Und vor allem: Was bedeu- hat sie u.a. für Energiepreise machen den Menschen zu tet das dann für Erdoğans Zukunft? die Süddeutsche Zeitung über die schaffen, immer wieder gibt es Proteste. Lange gab es auf die Frage, wie es die Türkei berichtet. Das Land steuert außerdem auf die Wah- Türkei mit Russland und dem Westen 84 | IP • Mai / Juni 2022
Jongleur im Orkan Weltspiegel hält, eine einfache Antwort. Sie war ins in dem die Türkei Partei geworden ist und westliche Bündnis einbetoniert, als anti der auch den innertürkischen Konflikt mit kommunistisches Bollwerk der NATO. Ab den Kurden angeheizt hat. Mitte der 1990er Jahre drehte sich dann 2013 war auch das Jahr der Gezi-Auf- alles um den angestrebten EU-Beitritt, ein stände, ausgelöst durch Proteste gegen ein Projekt, das Erdoğan und seine Partei, die Einkaufszentrum auf dem Istanbuler Tak- islamisch-konservative AKP, in ihren ers- sim-Platz. Im Westen brachte man den De- ten Regierungsjahren stark vorantrieben. monstranten viel Sympathie entgegen, was 2005 eröffneten die Europäer offiziell Ver- Erdoğan in der Überzeugung bestärkte, es handlungen, doch schon bald stagnierte handele sich um eine aus dem Ausland ge- der Prozess, und die Türkei entdeckte ihre steuerte Aktion. Nach dem Putschversuch Nachbarn im Süden und Osten. Es war 2016 nahm das fast paranoide Züge an. In die Stunde Ahmet Davutoğlus, dem spä- diesen Jahren wurde die Türkei immer teren Ministerpräsidenten, der unter dem repressiver, Erdoğan ließ Oppositionelle griffigen Slogan „Null Probleme mit den verfolgen und Medien schließen. Mit Euro- Nachbarn“ eine Öffnung der Türkei in alle pa kooperierte er in der Flüchtlingspolitik, Richtungen und stärkeres Engagement in doch ansonsten herrschte Dauerkrise, und der Region propagierte. Der Westen war Brüssel legte den Beitrittsprozess auf Eis. nicht mehr einziger Ankerpunkt. Dort liegt er bis heute. Die Null-Probleme-Politik brachte zu- Nicht viel anders lief es mit den Ameri- nächst Erfolge. So näherte sich die Türkei kanern. Die Liste der Streitpunkte wurde dem verfeindeten Armenien an, versöhnte immer länger, insbesondere verlangten die sich mit Assads Syrien, vermittelte zwi- Türken die Auslieferung des in den USA schen Israel und den arabischen Staaten, lebenden Predigers Fethullah Gülen, den verbesserte ihre Beziehungen zu Russland. Erdoğan für das Mastermind hinter dem Doch Ankara überschätzte die Wirkmacht Putschversuch von 2016 hält. Der jüngste seiner Soft Power. Rückschläge führten zu Konflikt entzündete sich daran, dass Er- Enttäuschungen, Enttäuschung zu Streit doğan 2017 trotz NATO-Protesten das rus- und Verwerfungen, etwa mit Israel wegen sische Flugabwehrsystem S-400 bestellte. des Gaza-Krieges 2008/2009. Washington verhängte Sanktionen und Ihr endgültiges Ende fand die optimisti- beendete unter anderem die türkische Be- sche Null-Probleme-Phase nach dem Ara- teiligung am Bau des Kampfflugzeugs F-35 bischen Frühling. Die Türkei hatte die Mas- – ein beispielloser Vorgang in der NATO. senproteste in der Hoffnung unterstützt, Aus „Null Probleme“ war in wenigen dass Parteien der Muslimbruderschaft, die Jahren „Verwerfungen überall“ geworden. der AKP nahestehen, an die Macht kom- Dabei verfolgte die Türkei zugleich eine men würden. Spätestens 2013, mit dem immer unverhohlenere, expansive, oft ag- Putsch in Ägypten, zerplatzte Ankaras gressive Großmachtpolitik. In vielen Län- Traum, in der muslimischen Welt zur Füh- dern ihres erweiterten Umfelds baute sie rungsmacht aufzusteigen. Als besonders ihre ökonomische, politische und militä- fatal erwies sich die Fehleinschätzung, der rische Präsenz massiv aus, etwa in Afrika. Sturz Assads – mit dem Ankara kurz nach Im libyschen Bürgerkrieg sieht man, Ausbruch des Syrien-Krieges gebrochen wie die Bündnislinien der türkischen Au- hatte – stehe unmittelbar bevor. Stattdes- ßenpolitik sich ständig kreuzen, eigentlich sen tobt dort bis heute ein blutiger Krieg, ergeben sie ein Gekritzel. In L ibyen unter- IP • Mai / Juni 2022 | 85
Weltspiegel Bild nur in Printausgabe verfügbar Reich an Russen: Nicht nur die fossile Abhängigkeit lässt Ankara zögern, sich an Sanktionen gegen Moskau zu beteiligen. Auch die türkische Tourismusindustrie (hier: am Flughafen Antalya) wäre betroffen. stützt die Türkei militärisch die Einheits- von einem „problemfreien Kreis“, schreibt regierung in Tripolis, während Russland, der türkische Journalist Murat Yetkin. „Wir Ägypten und die Vereinigten Arabischen erleben intensive Anstrengungen, die bi- Emirate aufseiten des Gegenspielers, Gene- lateralen Beziehungen zu regionalen Wi- ral Chalifa Haftar, stehen. Türkische Trup- dersachern zu reparieren.“ Ein bisschen pen sind in Nordsyrien und im Nordirak klingt das nach einer Neuauflage der „Null stationiert. Im Streit um Gasvorkommen im Probleme“, wenn auch unter neuen Vor- östlichen Mittelmeer provozierte Ankara zeichen. Dazu gehört, dass die Türkei seit die EU-Mitglieder Griechenland und Zy- vergangenem Jahr wieder mit Ägypten pern mit Probebohrungen in umstrittenen spricht. Kurz darauf folgte die Aussöhnung Gewässern. Rund ums Schwarze Meer kon- mit Israel. Nachdem das Land mit den Ab- kurriert man mit Russland um Einfluss. Im raham-Abkommen seine Beziehungen zu armenisch-aserbaidschanischen Krieg mehreren arabischen Staaten normalisiert half Erdoğan Aserbaidschan mit Drohnen, hat, wollte Ankara wohl nicht außen vor während Putin den Armeniern den Rücken bleiben. Auch mit Golf-Monarchien wie stärkte. Russland fungiert als befreundeter den Vereinigten Arabischen Emiraten, Gegner, als verfeindeter Freund. mit denen die Türkei seit dem Arabischen In Ankara machte sich allerdings zuletzt Frühling über Kreuz gelegen hatte, gibt es die Einsicht breit, dass die Türkei die Prob- wieder eine rege Besuchsdiplomatie. Fein- leme in ihrem Umfeld nicht alleine lösen de muss man sich leisten können – und die kann. Die Regierung spreche neuerdings Türkei braucht dringend Geld. 86 | IP • Mai / Juni 2022
Jongleur im Orkan Weltspiegel Aber natürlich ist es alles andere als Sonnenblumenöl. Ankara hat die Anne- ein Zufall, dass die Türkei beständig zwi- xion der Krim 2014 scharf verurteilt, weil schen Null-Problemen und Nur-Problemen man sich als Schutzmacht der muslimi- schwankt. Sie ist eine Mittelmacht in ma- schen Krimtataren sieht. Den jüngsten ximal komplexer Lage mit einem Mann an Überfall hat die türkische Regierung als der Spitze, der sich verfolgt fühlt und der „inakzeptable“ Verletzung ukrainischer keinen Plan für das Ende seiner Macht hat. Souveränität bezeichnet. Erst Anfang Feb- Mit Putin zu gleicher Zeit befreundet und ruar war Erdoğan nach Kiew gereist, wo er verfeindet zu sein, das ist so ein Wider- mit Wolodimir Selenskij ein Freihandels spruch, der sich ohne die Persönlichkeit abkommen und eine vertiefte Rüstungs- beider Männer und ihren Status als altern- kooperation beschloss. de Autokraten ohne Exit-Strategie kaum erklären lässt. Beide sind seit rund zwei Schwenk Richtung Westen? Jahrzehnten an der Macht, beide verach- In dieses Knäuel von Neujustierungen ten die liberale Demokratie. Beide regieren und Widersprüchen hinein ist nun der Länder, die bis heute an imperialem Phan- Ukraine-Krieg geplatzt. Solange sich der tomschmerz leiden. Beide unterdrücken Westen in Bezug auf Russland uneinig Opposition und Zivilgesellschaft, wobei war, blieb Ankara genug Spielraum, um Putin auf diesem Weg weiter vorangekom- seine Schaukelpolitik zu betreiben. Nun men ist als der türkische Präsident. aber ist der Westen zusammengerückt, Erdoğan hat in der Vergangenheit kei- und das Land gerät unter Zugzwang. nen Hehl daraus gemacht, dass er die Ab- hängigkeit vom Westen reduzieren will. Die strategische Freundschaft zu Putin Rund die Hälfte ihres Erd- sollte ihm dabei helfen. Die Kehrseite die- gasbedarfs deckt die Tür- ser Strategie ist eine neue Abhängigkeit. Rund die Hälfte ihres Erdgasbedarfs deckt kei aus Russland, beim Öl die Türkei aus Russland. Ähnlich sieht es beim Öl aus, da beträgt der russische An- sind es rund 40 Prozent teil etwa 40 Prozent. Überdies bezieht die Türkei rund 70 Prozent ihres Weizens aus Entsprechend zögerlich agierte die Russland. Beunruhigt ist auch die Touris- türkische Regierung zunächst. Mehrere musbranche: Viereinhalb Millionen russi- Tage dauerte es, bis sie den Krieg als sol- sche Touristen waren es vergangenes Jahr chen bezeichnete, weil damit auch die im in der Türkei, in diesem kommen der Krieg Montreux-Vertrag 1936 festgeschriebene und die Sanktionen dazwischen. Kaum Pflicht einherging, die Dardanellen und ein Russe möchte wohl in Badeschlappen den Bosporus für russische Kriegsschiffe vor dem Geldautomaten stranden. Kein zu sperren. Und als sich der Kreml beklag- Wunder also, dass sich Erdoğan den Sank- te, dass türkische Drohnen auf ukraini- tionen zunächst nicht angeschlossen hat. scher Seite zum Einsatz kämen, beteuerte Die Türkei hat allerdings auch sehr gute Vize-Außenminister Yavuz Selim Kıran, Beziehungen zur Ukraine. Zu den russi- Kiew habe die Drohnen von einer privaten schen Touristen gesellten sich 2021 mehr Firma gekauft. (Unerwähnt ließ er dabei, als zwei Millionen Ukrainer, die Türken dass die Herstellerfirma im Besitz der Fa- importieren ukrainischen Weizen und milie von Erdoğans Schwiegersohn ist.) IP • Mai / Juni 2022 | 87
Weltspiegel Fürs Erste suchte die türkische Regie- weniger geneigt, einer neuen Regierung rung ihr Heil in der Vermittlerrolle, und ihr Vertrauen zu schenken. sie hatte damit einigen Erfolg. Zweimal Sollte sich Erdoğan wirklich, wie viele gelang es ihr im März, die Kriegspartei- hoffen, wieder stärker dem Westen an- en in der Türkei zusammenzubringen. nähern, stellt sich ihm noch ein weiteres Türkische wie internationale Kommen- Problem: Er muss diesen Schwenk einer tatoren bescheinigten dem Land einen in nicht geringen Teilen antiwestlichen Imagegewinn. „Der Türkei gehen bald Bevölkerung beibiegen. Jahrelang hat Er- die roten Teppiche aus“, konstatierte eine doğan Ressentiments geschürt, er kann türkische Journalistin, als Bundeskanzler sie nun nicht einfach zum Verschwinden Olaf Scholz, der niederländische Premier bringen. In einer Metropoll-Umfrage ga- Mark Rutte, der griechische Ministerprä- ben im März 48 Prozent der Befragten an, sident Kyriakos Mitsotakis und NATO- Washington und die NATO seien für die Eskalation in der Ukraine verantwortlich. Die türkische Bevölkerung Hinzu kommt, dass Erdoğans Koaliti- onspartner, die stramm nationalistische ist in nicht geringen Teilen MHP, Kräfte in den Staatsapparat gebracht hat, die sich einem autokratischen Russ- antiwestlich eingestellt land näher fühlen als den USA oder Euro- pa. Erdoğans persönliche Machtlogik folgt Generalsekretär Jens Stoltenberg kurz also nicht unbedingt einem denkbaren nacheinander in die Türkei reisten. neuen Rational türkischer Außenpolitik. Rational betrachtet könnte die Konfron- Erdoğan hat sich und die Türkei lan- tation zwischen dem Westen und Russland ge als globalen Player gesehen; als Füh- eine Reduktion von Komplexität für die rungsfigur in einer neuen Weltordnung, in Türkei bringen – dann nämlich, wenn sich der es auf Russland und China ankommt. das Land wieder mehr dem Westen zuwen- Nun sind Europa und die USA unerwartet det anstatt einem mutmaßlich geschwäch- wieder zusammengerückt und basteln an ten Nachkriegsrussland. Die Frage ist nur, einer neuen Sicherheitsarchitektur. „Die ob Erdoğan mit seiner persönlich gefärb- Türkei ist ein starkes Mitglied der NATO“, ten und getriebenen Außenpolitik dazu in beteuert man in Ankara kurz nach dem der Lage ist, zumal es innenpolitisch für Einmarsch. Gut möglich, dass die Türkei ihn mal wieder um alles geht. den Wert der Westbindung wiederent- Manche Beobachter glauben indes, deckt. Doch viele Fragen bleiben offen. dass der Krieg auch Erdoğans Image auf- Etwa die, ob die Politik des Brücken- polieren könnte. Für die AKP-Führung sei schlags Bestand hat oder bei der nächsten die Krise „eine von Gott gesandte Möglich- Gelegenheit Erdoğans innenpolitischem keit, die Wahlen 2023 herumzureißen“, Kalkül zum Opfer fällt, wie schon so oft. schreibt die Journalistin Pınar Tremblay. Und auch, welchen Platz die Türkei für Erdoğan könnte den Krieg zur Begrün- sich in der neuen Sicherheitsarchitektur dung der schlechten Wirtschaftslage he- sieht, wenn sie sich absehbar nicht aus der ranziehen, während er bisher vor allem Abhängigkeit von Russland lösen kann. selbst für sein mieses Krisenmanagement Ist die Türkei nun Spieler oder Spiel- in der Kritik stand; auch seien die Men- ball? Weder noch. Sie ist ein Jongleur – in schen in Zeiten der Unsicherheit vielleicht einem Orkan. 88 | IP • Mai / Juni 2022
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