(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

 
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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
Henriettenstiftung Altenhilfe gGmbH

                                                           Unternehmensgruppe

                              (K)ein Kraut
                              gegen Alzheimer?
                              Leben mit Demenz

                                                                   Diagnosik
                                                   Beratung und Selbsthilfe
                                                               Kunsttherapie
                                                 Musikalische Gruppenarbeit
                                                     Interaktives Musizieren

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
Pastor Volker Milkowski
                 Vorsteher der Henriettenstiftung

                 Vorwort
                 (K)ein Kraut gegen Alzheimer? – So lautete der Titel einer      (K)ein Kraut gegen Alzheimer? – Die Henriettenstiftung
                 Veranstaltungsreihe zum Thema Demenz, zu der die Hen-           Altenhilfe und das Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung
                 riettenstiftung Altenhilfe im September 2009 in Hannover        haben in den letzten Jahrzehnten ein engmaschiges De-
                 eingeladen hatte. In Vorträgen und Workshops wurden             menz-Versorgungsnetz aufgebaut: Dazu gehören neben
                 neue Forschungsergebnisse vorgestellt, Fragen zur Krank-        der „Gedächtnisambulanz“, die sich mit der Diagnostik
                 heitsentstehung, zur Diagnostik und zur Krankheitsentwick-      und Behandlung von Gedächtnisstörungen befasst, teil-
                 lung beantwortet und praktische Beispiele im Kampf gegen        stationäre und stationäre Pflegeeinrichtungen, die speziell
                 das Vergessen und Vergessenwerden vorgestellt. Diese            auf die Betreuung demenzkranker Menschen ausgerichtet
                 Broschüre fasst einige Beiträge daraus zusammen.                sind. In einem Beratungszentrum können sich Angehörige
                                                                                 über Unterstützungsmöglichkeiten informieren. Einen
                 (K)ein Kraut gegen Alzheimer? – Die Antwort auf diese           weiteren wichtigen „Netzknoten“ bildet die Selbsthilfe-
                 Frage hängt wesentlich von den Erwartungen ab, die wir          gruppe „AlBe“ für Alzheimerbetroffene und Angehörige.
                 mit ihr verknüpfen. Auch wenn trotz intensiver medizinischer
                 Forschung und der Entwicklung therapeutischer Konzepte          Die Broschüre will einen Einblick in die Arbeit dieses
                 gegenwärtig die Heilung der Alzheimerkrankheit nicht mög-       Netzwerks geben. Und sie möchte Mut machen und ein-
                 lich ist, so kann doch durch ärztliche Behandlung und so-       laden, mit dem wichtigsten Schlüssel zu experimentieren,
                 ziale Beratung, fachkundige Pflege und manches andere           den es gibt, um die Lebensqualität Demenzkranker zu
                 die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen        verbessern: Dieser Schlüssel heißt „Beziehung“.
                 in vieler Hinsicht nachhatig verbessert werden. So behalten
                 Demenzkranke auch im fortgeschrittenen Stadium ihre             Ein eher unspektakuläres Kraut – aber eines, das schon
                 Fähigkeit, sich mitzuteilen, sich als Persönlichkeit zu erle-   in kleinen Dosen viele segensreiche Nebenwirkungen
                 ben, Freude zu empfinden und zu genießen. Wie diese             entfalten kann.
                 Fähigkeiten aktiviert und gefördert werden können, zeigen
                 beispielhaft die Beiträge zur Musik und Kunst(-therapie).

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

                                                                     Gelegentliches Vergessen ist noch keine Demenz

                                                                     Nicht jede Vergesslichkeit ist schon eine Demenz, sondern
                                                                     oft nur ein normaler geringer Rückgang der Merkfähigkeit
                                                                     im Alter oder eine Konzentrationsstörung. Im Gegensatz
                                                                     dazu findet bei einer demenziellen Erkrankung ein starker
                                                                     Abfall der Merkfähigkeit und anderer Elemente der geisti-
                                                                     gen Leistungsfähigkeit statt. Dies geschieht meist schlei-
                                                                     chend über mehrere Monate oder über ein bis zwei Jahre
                                                                     und ist so ausgeprägt, dass die Betroffenen ihren Alltag
                                                                     nicht mehr wie früher meistern können. Ein gelegentliches
                                                                     Vergessen von Dingen und Namen oder ein etwas lang-
                                                                     sameres Erinnern alleine ist noch keine Demenz, vor allem
        Professor Klaus Hager                                        dann, wenn ein solches Vergessen schon lange besteht,
        Chefarzt der Klinik für medizinische Rehabilitation und      sich nicht rasch verändert und den Alltag nicht störend
        Geriatrie des Diakoniekrankenhauses Henriettenstiftung.      beeinflusst. Wenn Betroffene oder ihre Angehörigen unsi-
        apl. Prof. für das Fach „Medizin des Alterns und des alten   cher sind, können Hirnleistungstests zur Klärung beitragen.
        Menschen“ an der Medizinischen Hochschule Hannover.          Manchmal muss man auch einige Monate beobachten,
                                                                     ob sich die Störungen spürbar verschlechtern.

                                                                     Ursachen von demenziellen Erkrankungen

                                                                     Hinter einer Demenz können sich viele verschiedene
                                                                     Ursachen verbergen, zum Beispiel körperliche Erkrankun-
        (K)ein Kraut                                                 gen wie Hirntumore, Hirnentzündungen oder Schilddrüsen-
                                                                     unterfunktionen (ca. 5 Prozent), Durchblutungsstörungen

        gegen Alzheimer?                                             (ca.15 bis 20 Prozent), ein krankheitsbedingter Untergang
                                                                     von Hirngewebe (ca. 70 Prozent) oder eine Kombination
                                                                     daraus. Um die genaue Ursache herauszufinden, wird der
                                                                     Arzt in den meisten Fällen ein Computer- oder ein Kern-
        Jeder fünfte Deutsche über 80 Jahren erkrankt an einer       spintomogramm des Schädels veranlassen und einige
        Demenz. Die Krankheit, deren Hauptmerkmal ein starker        Blutwerte untersuchen. Bei weiterer Unklarheit können
        Abfall der geistigen Leistungsfähigkeit ist, kann zurzeit    Messungen der Durchblutung oder des Zuckerstoffwech-
        nicht geheilt oder gestoppt werden. Die momentan zur         sels im Gehirn zusätzlich Aufschluss geben. Eine Punk-
        Verfügung stehenden Medikamente können nur eine Ver-         tion des Rückenmarkswassers kann andere Ursachen
        zögerung des Krankheitsverlaufs für etwa ein Jahr bewir-     wie Entzündungen ausschließen und gegebenenfalls
        ken. Deshalb stehen im Umgang mit den Erkrankten vor         „Demenzeiweiße“ im Hirnwasser nachweisen.
        allem die Verbesserung der individuellen Lebensqualität
        durch verschiedene nicht-medikamentöse Maßnahmen
        wie Angehörigenschulungen, Gedächtnistraining und an-        Sonderform: Alzheimer-Krankheit
        regende Betreuungsangebote im Blickpunkt.
                                                                     Die Alzheimer-Krankheit zählt zu der Krankheitsgruppe,
        Nahezu jede Familie hat mittlerweile aus eigener Anschau-    bei der es zu einer Zerstörung von Hirngewebe kommt.
        ung Erfahrungen mit dem Krankheitsbild. Die Häufigkeit       Sie ist eine Unterform der Demenz und mit Abstand deren
        einer Demenz nimmt ab dem 75. Lebensjahr stark zu, von       häufigste Ursache (ca. 60 Prozent der Demenzerkrankun-
        den über 80-jährigen leidet etwa jeder fünfte an einer de-   gen). Viele Bausteine und Gene, die zu den Veränderungen
        menziellen Erkrankung wie etwa der Alzheimer-Krankheit.      im Gehirn bei Alzheimerpatienten führen, sind bereits

                                                                                                                              3

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

        wissenschaftlich erforscht worden; trotzdem konnte die         Gesunde Menschen können durch regelmäßige geistige
        Entstehung der Erkrankung noch nicht in allen Einzelheiten     und körperliche Tätigkeit, wenig Alkohol und eine insge-
        geklärt werden.                                                samt gesunde Ernährung ihre geistige Leistungskraft er-
                                                                       halten oder verbessern.

        Krankheitsverlauf                                              Fragen an Prof. Dr. Klaus Hager
        Der Verlauf einer Demenz erstreckt sich etwa über 5 bis
        10 Jahre, auch kürzere oder längere Verläufe kommen            Ist Alzheimer/Demenz vererbbar?
        vor. Die Anfangssymptome sind oft mit Traurigkeit bezie-
        hungsweise Depressionen verbunden, später zeigt sich           Die Anlage zu den fehlerhaften Prozessen im Gehirn bei
        ein stetiger Abfall der Hirnleistung. Schließlich kann sich    der Alzheimer-Krankheit kann vererbt werden. Bei etwa der
        das Verhalten des Betroffenen ändern, er wird unter Um-        Hälfte der Alzheimer-Patienten gab es bereits Demenz-
        ständen unruhiger oder aggressiver und erkennt Mitglieder      erkrankungen in der Familie.
        der eigenen Familie nicht mehr. Am Ende lassen auch die
        körperlichen Funktionen nach, der Betroffene kann sein
        Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren, er kann nicht         Wie unterscheidet man „normale“ Vergesslichkeit
        mehr laufen, er ist nicht mehr wie früher, wird bettlägerig    von einer ernsthaften Demenzerkrankung?
        und muss schließich gepflegt werden.
                                                                       Bei der normalen Vergesslichkeit im Alter ist diese meist
                                                                       über einen langen Zeitraum hinweg (Jahre) aufgetreten,
        Behandlungsmöglichkeiten und Prävention                        bei einer Alzheimer-Demenz hingegen innerhalb von 1 bis
                                                                       2 Jahren. Nicht selten sind bei einer normalen Vergess-
        Die Behandlung der Demenz beziehungsweise der Alz-             lichkeit die Defizite früher auch schon vorhanden gewesen,
        heimer-Krankheit mit Medikamenten kann eine kleine             wenn auch in leichterer Form. Die Störungen sind nicht so
        Verbesserung der Hirnleistung und eine Verzögerung             stark ausgeprägt, ändern sich im weiteren Verlauf über die
        des Krankheitsverlaufs um etwa ein Jahr bewirken. Das          Jahre kaum merkbar, der Alltag ist noch gut zu bewältigen.
        scheint nicht sehr lang, ist aber im Einzelfall trotzdem
        eine große Hilfe. Medikamente, die den Prozess der             Bei einer Demenz kommen zur Vergesslichkeit noch an-
        nachlassenden Hirnleistung tatsächlich aufhalten, gibt         dere Faktoren hinzu. Die Fähigkeit zur Selbstkritik nimmt
        es noch nicht. Allerdings sind einige Präparate in der         ab. Die Fähigkeit zum abstrakten Denken nimmt ab. Der
        Erprobung (zum Beispiel Sekretasehemmer, „passive              Betroffene hat mitunter Wortfindungsschwierigkeiten und
        Impfung“), die es in Zukunft vielleicht ermöglichen, den       umschreibt Begriffe. Frühere komplexe praktische Fähig-
        Krankheitsverlauf bei Alzheimer zu stoppen. Diese Medi-        keiten gelingen nicht mehr (Kochen, Auto fahren).
        kamente werden aber frühestens in einigen Jahren ver-
        fügbar sein, falls die in sie gesetzten Hoffnungen nicht       Wie soll man sich gegenüber Demenzkranken
        wieder enttäuscht werden, wie es schon oft in der Ver-         verhalten?
        gangenheit mit anderen Präparaten der Fall war.
                                                                       • Nicht tadeln. Wenn der Betroffene logischen Argumen-
        Bis dahin steht die Verbesserung der Lebensqualität der          ten gegenüber nicht mehr zugänglich ist, muss man
        Betroffenen und ihrer Angehörigen im Vordergrund der             das akzeptieren und andere Wege finden, zum Beispiel
        Maßnahmen, wie etwa die Schulung und Entlastung der              geduldig etwas mehrfach versuchen, nicht diskutieren
        Angehörigen sowie Hilfen für den Alltag der Betroffenen.         oder widersprechen.
        In jedem Fall sollte der Demenzpatient sich nicht zurück-      • Eine einfache, klare Sprache verwenden.
        ziehen, sondern so aktiv wie möglich bleiben und seine         • Ruhig und höflich bleiben.
        Fähigkeiten so gut es geht nutzen. Mittlerweile gibt es        • Dem Betroffenen das Gefühl vermitteln,
        viele Hilfen (Tagesbetreuungsangebote, Wohngruppen,              angenommen zu werden.
        spezielle Heime, Beratungsdienste, Alltagsbegleiter, Selbst-
        hilfegruppen usw.), die die Betroffenen und ihre Angehöri-
        gen unterstützen.

                                                                                                                                   5

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
Frau Kenklies, was unterscheidet eine Demenz von
                                                                                 normaler Altersvergesslichkeit?

                                                                                 Marlies Kenklies:

                                                                                 Als „normal“ bezeichnet man es, wenn die Denkgeschwin-
                                                                                 digkeit im höheren Alter geringfügig verlangsamt ist.
                                                                                 Alarmzeichen einer krankhaften Veränderung sind zum
                                                                                 Beispiel, wenn immer wieder Dinge verlegt werden, der
                                                                                 Betroffene sehr oft etwas sucht, wenn jemand oft Wort-
                                                                                 findungsstörungen hat oder in immer wiederkehrenden
                                                                                 Redewendungen spricht. Auch wenn jemand seine
                                                                                 Bankgeschäfte nicht mehr erledigt, beim Autofahren
                 Marlies Kenklies
                                                                                 zunehmend langsamer reagiert oder im Urlaub Orientie-
                 Dipl. Pädagogin, Neuro-Psychologin, Leiterin der                rungsschwierigkeiten zeigt, kann dies ein Hinweis auf
                 Gedächtnisambulanz der Klinik für Medizinische                  eine Hirnleistungsstörung sein. Das sollte man dann vom
                 Rehabilitation und Geriatrie im Diakoniekrankenhaus             Facharzt untersuchen lassen. Wenn sich aus diesen Be-
                 Henriettenstiftung                                              funden kein klares Bild ergibt, können sich die Betroffenen
                                                                                 anschließend in unsere Sprechstunde überweisen lassen.

                                                                                 Es heißt ja immer, dass es bislang keine Heilung bei
                                                                                 einer Demenz gibt. Warum empfehlen Sie dann eine
                 Vergesslichkeit                                                 fachärztliche Untersuchung und gegebenenfalls die
                                                                                 Vorstellung in der Gedächtnissprechstunde?

                 oder Demenz?                                                    Marlies Kenklies:

                                                                                 Medikamente, die eine Demenz vom Typ Alzheimer heilen,
                 Ambulante Gedächtnissprechstunde testet und                     gibt es zurzeit wirklich noch nicht. Einige Präparate bewir-
                 berät Menschen mit Gedächtnisstörungen                          ken dennoch bei einem Teil der Patienten eine leichte Ver-
                                                                                 besserung beziehungsweise Stabilisierung. Ein weiterer
                 Das Geriatriezentrum im Diakoniekrankenhaus Henrietten-         wichtiger Grund für eine fachärztliche Klärung besteht
                 stiftung wurde 1972 als eine der bundesweit ersten Einrich-     darin, dass es sich bei etwa 40 Prozent der Fälle nicht um
                 tungen dieser Art eröffnet und gehört zu den mittlerweile       Demenzen des Alzheimer-Typs handelt, sondern dass der
                 16 geriatrischen Kliniken in Niedersachsen. Zum Angebot         eingeschränkten Gedächtnisleistung verschiedene andere
                 der Klinik gehört seit 1995 auch eine ambulante Gedächt-        Ursachen oder Krankheiten zugrunde liegen, die in vielen
                 nissprechstunde, in der eine Testung verschiedener kog-         Fällen behandelbar sind. Bei etwa 30 Prozent der Patienten,
                 nitiver Funktionen (zum Beispiel logisches Denken, räum-        die sich bei uns in der Gedächtnissprechstunde vorstellen,
                 liche Vorstellungsfähigkeit, Kurzzeitgedächtnis) durchgeführt   wird zum Beispiel eine depressive Erkrankung festgestellt,
                 werden kann. Patienten, die unter Gedächtnisstörungen           die oft mit diversen Lebensproblemen verbunden ist und zu
                 leiden, deren Ursachen nicht oder nicht abschließend            massiven Konzentrationsstörungen führen kann. Diese Men-
                 geklärt sind oder bei denen eine Demenz vermutet wird,          schen brauchen dann natürlich ganz andere medizinische
                 können dort nach einer fachärztlichen Überweisung an            und therapeutische Hilfen als die von einer demenziellen
                 einer neuropsychologischen Testung teilnehmen und sich          Erkrankung Betroffenen.
                 beraten lassen. Im Gespräch erläutert Marlies Kenklies
                 das Test- und Diagnoseverfahren und berichtet von Be-
                 handlungsmöglichkeiten bei demenziellen Erkrankungen.

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

        Was passiert in der Gedächtnissprechstunde und
        welche Untersuchungen führen Sie durch?

        Marlies Kenklies:

        Wir klären zunächst im Gespräch mit den Betroffenen und,
        wenn möglich, auch mit Angehörigen oder nahestehenden
        Personen, welche Beeinträchtigungen empfunden werden
        beziehungsweise von anderen wahrgenommen werden.
        Dieser Anamnese und Fremdanamnese folgen dann, so-           Darstellung einer Uhr in der Gedächtnissprechstunde
        weit noch nicht geschehen, körperliche Untersuchungen,
        wie beispielsweise eine Blutuntersuchung, um zu klären,      ähnlich denen in Intelligenztests, also mit Zahlenreihen
        ob der Gedächtnisstörung andere Krankheiten zugrunde         oder Wortreihen, die gemerkt oder ergänzt werden sollen.
        liegen. Und wir führen standardisierte neuropsychologische   Zudem wird festgestellt, ob die Patienten über eine ange-
        Tests durch. In wenigen Fällen ist eine stationäre weitere   messene zeitliche und räumliche Orientierung verfügen.
        Diagnostik erforderlich.                                     Wir fragen beispielsweise danach, ob sie das Datum des
                                                                     Untersuchungstages kennen und wissen, wo sie sich be-
                                                                     finden. Ein besonders aufschlussreicher Test ist für uns in
        Wie hat man sich die Tests vorzustellen?                     Zweifelsfällen der so genannte Uhrentest. Der Patient soll
                                                                     dabei in einen vorgedruckten Kreis eine analoge Uhr zeich-
        Marlies Kenklies:                                            nen. Wem das nicht oder nicht richtig gelingt, leidet mit
                                                                     großer Wahrscheinlichkeit an einer degenerativen Demenz,
        Das sind wissenschaftlich entwickelte Testungen zur Kon-     also einer Alzheimer-Erkrankung. Entscheidend ist aber
        zentration, zur Merkfähigkeit, zum logischen und abstrak-    die Gesamtauswertung aller Untersuchungen und Tests.
        ten Denken und zur Orientierung. Einige der Fragen sind

                                                                     Und welche Hilfen können die Betroffenen
                                                                     bei Ihnen erwarten?

                                                                     Marlies Kenklies:

                                                                     Wenn die Diagnostik abgeschlossen ist, führen wir mit den
                                                                     Betroffenen und ihren Angehörigen ein Gespräch über die
                                                                     Ergebnisse der Untersuchungen und Tests und beraten
                                                                     sie hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten. Die weitere
                                                                     Behandlung und gegebenenfalls Medikation führt dann
                                                                     wieder der Haus- oder Facharzt durch, der von uns einen
                                                                     Bericht erhält. In einigen Fällen empfehlen wir eine Wieder-
                                                                     holung der Tests in einem halben oder dreiviertel Jahr.
                                                                     Außerdem bieten wir den Patienten, bei denen eine be-
                                                                     ginnende oder bestehende demenzielle Erkrankung fest-
                                                                     gestellt wird, an, sich an einen Selbsthilfeverein von Patien-
                                                                     ten und Angehörigen zu wenden, mit dem wir kooperieren.
                                                                     Dort werden für die Betroffenen, ergänzend zur ärztlichen
                                                                     Behandlung, verschiedene unterstützende Gruppenange-
                                                                     bote wie Hirnleistungstrainings, spezielle Bewegungspro-
                                                                     gramme und kunsttherapeutische Angebote gemacht und
                                                                     Gesprächskreise für Angehörige angeboten.

                                                                                                                                 7

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
Theorie eines personenzentrierten Ansatzes als Reaktion
                                                                          auf eine einseitig von der Medizin geprägte Sozialpsycho-
                                                                          logie und Pflegekultur.

                                                                          Angesichts des irreversiblen kognitiven Abbaus, den
                                                                          Menschen mit demenziellen Erkrankungen erleben, dürfen
                                                                          die noch vorhandenen Kompetenzen nicht aus dem Blick
                                                                          verloren werden. Betroffene leiden an kognitiven Einbußen,
                                                                          nehmen aber Stimmungen und die Atmosphäre, die in
                                                                          einer Gruppe herrscht, sehr gut wahr. Im Alltag erleben
                                                                          sie oft, dass sie nicht verstanden werden. Musik hören
                                                                          und erleben und das Musizieren selbst ermöglicht ihnen
                                                                          (nonverbales) Kommunizieren und Verstehen. Musizieren
                 Prof. Dr. Theo Hartogh                                   und Musikerleben sind „Leiberleben“ und zeigen, dass
                                                                          der Mensch mehr ist als seine Hirnfunktion. Durch Musik,
                 Hochschule Vechta, Lehrgebiet Musikpädagogik und         insbesondere durch Singen, durch Bewegungen und
                 historische Musikwissenschaft                            Gesten sowie körperlichen Kontakt können sich Demenz-
                                                                          kranke ausdrücken. Der Blick auf die Ressourcen der
                                                                          Erkrankten ergänzt die rein medizinische Diagnose, die
                                                                          den Verlust an Hirnleistung fokussiert, zu einem Blick
                                                                          auf den ganzen Menschen.

                                                                          Nichtmedikamentöse Behandlungs- und
                                                                          Betreuungsformen

                 Der Klang der Erinnerung                                 Musikhören und Musizieren gehört zu den nichtmedika-
                                                                          mentösen Behandlungsformen bei demenziellen Erkran-
                                                                          kungen, wie die geistige Aktivierung, der Umgang mit
                                                                          Tieren, Gymnastik und Bewegung, Tanzen und künstle-
                 Die Bedeutung von Musik für demenziell                   risches Gestalten. Singen, Musik hören und Musizieren
                 erkrankte Menschen                                       fördern Lebensfreude und Wohlbefinden und ermöglichen
                                                                          soziale Kontakte, Erinnerungen und Ich-Erleben.
                 Bei der Auseinandersetzung mit der Krankheit Demenz,
                 von der zurzeit ca. 1,2 Millionen Menschen in Deutsch-
                 land betroffen sind, wird oft übersehen, dass das        Binnen- und Außenperspektive in der Betreuung
                 kognitive Leistungsvermögen der Betroffenen zwar         Demenzkranker
                 nachlässt, sie aber weiterhin auch über Ressourcen
                 verfügen. Dazu gehören insbesondere meist die Hör-       Der Verlust von Gedächtnis und Erinnerung „bedeutet
                 fähigkeit und das Wahrnehmen von Stimmungen und          nicht nur den Verlust an Fähigkeiten, das alltägliche Leben
                 Gefühlen. Musik kann deshalb eine wichtige Rolle         zu bewältigen, sondern auch den Verlust der Person-
                 spielen bei der Pflege und Betreuung demenziell er-      orientierung, das heißt, sich als Individuum an sich selbst
                 krankter Menschen und ermöglicht bis zum letzten         erinnern zu können. Demenzkranken geht nicht nur ihre
                 Stadium der Krankheit positive Erlebnisse und            Umwelt verloren, sie kommen auch sich selbst abhanden.“
                 Kommunikationsmöglichkeiten für die Betroffenen.         (R. Schwerdt & S. Tschainer, 2002)

                 „Die Hauptaufgabe der Demenzpflege (…) besteht im        Demenzkranke können sich in ihrer eigenen Welt nur wohl
                 Erhalt des Personseins angesichts versagender Geistes-   fühlen, wenn sie von außen nicht zerstört wird. Deshalb
                 kräfte“, formulierte der Psychogerontologe Tom Kitwood   sollten im Zentrum der Betreuung Demenzkranker der
                 (1937–1998). Er entwickelte in den 1990er Jahren die     verstehende Zugang, die Einfühlung in die Befindlichkeiten

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?
(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

        und Interessen sowie der Identitätserhalt stehen. Pflege-     ale, Lieder und Musikfarben sind hier vorteilhaft. So kann
        und Betreuungskräfte sollten die Binnenperspektive des        zum Aufwachen fröhliche Musik erklingen und nach dem
        Demenzkranken einnehmen und verstehen wollen, Nähe            Frühstück ein gemeinsames Singen stattfinden. Zum
        zulassen können und personen- und situationsbezogen           Mittagessen gibt es etwa Barockmusik, und beim Kaffee-
        reagieren. Musik und insbesondere das Singen können           trinken erklingt stets Walzermusik. Mit umgetexteten
        dabei sehr behilflich sein und Kommunikation ermöglichen,     Liedern können Aktivitäten vorbereitet werden, auf die
        wo man mit Sprache nicht weiterkommt.                         Nachtruhe weist ein Schlaflied hin.

                                                                      Auch in den neuen Konzepten der Betreuung von Demenz-
        Rahmenbedingungen für die musikalische Gruppen-               kranken (z.B. Sensorische Kurzaktivierung, Basale Stimu-
        arbeit mit Demenzkranken                                      lation, Therapeutischer Tischbesuch, Snoezelen) können
                                                                      musikalische Elemente integriert werden: Ein kurzes Lied
        • Angenehme und entspannte Atmosphäre schaffen                oder musikalisches Bewegungsspiel, Singen oder Musik
        • Starre Sitzordnungen möglichst vermeiden, eine              hören. Nicht nur ausgebildete Musiker können musikali-
          Mitte im Raum gestalten                                     sche Angebote machen. Mittlerweile gibt es eine Fülle
        • Einzelbedürfnisse berücksichtigen: Akzeptieren,             von gut geeigneten Materialien, die auch musikalischen
          dass einige nur dabeisitzen, Einzelansprache                Laien den Einsatz von Musik ermöglichen (Beispiel: Bewe-
        • Entscheidungssituationen für die Mitwirkenden               gungsspiel/Sitztanz zur Musik von einer CD).
          einplanen
        • Versagenssituationen und Überstimulation vermeiden
        • Vormachen (singen, klatschen, bewegen, musizieren)          Ausblick
          und wiederholen
        • Bewegungen in einfache Bilder verpacken (Haare              Ein wichtiges Thema in der Zukunft, das auch die musika-
          kämmen, Baby wiegen, Wäsche bügeln)                         lische Arbeit mit Demenzkranken beeinflussen wird, ist die
        • Auf Langzeitgedächtnis statt Kurzzeitgedächtnis             „Kultursensible Pflege“. Ca. 12.500 Migranten sind zur-
          bauen                                                       zeit in Deutschland von Demenz betroffen. Dazu kommen
        • „Störungen“ wenn möglich integrieren, sonst ablenken        die weitere Individualisierung von Lebensstilen und ver-
          oder ignorieren                                             änderte Biographien mit ganz anderen – auch musikali-
        • Angehörige und Mitarbeiter einbinden                        schen - Lebenserfahrungen (Rock&n Roll, Hip Hop). Eine
                                                                      Vernetzung von Pflegeeinrichtungen, ambulanten Versor-
                                                                      gern, Angehörigen, örtlichen Vereinen, kommunalen Insti-
        Indikatoren für die Wirkung der Musik im Umgang               tutionen (Musikschulen) und anderen Institutionen im
        mit Demenzkranken                                             Seniorenbereich sollte ausgebaut werden.

        Musik aktiviert, regt an, trägt zur Entspannung bei, er-      Literatur und weitere Informationen:
        möglicht Kommunikation und Genussempfinden. Manche
        ältere Menschen reagieren mit Lächeln und Aufmerksam-         • Hartogh, Theo & Wickel, Hans Hermann (2008).
        keit oder kommen in Bewegung und klatschen in die               Musizieren im Alter. Arbeitsfelder und Methoden in
        Hände. Bei anderen verändern sich Gestik und Mimik,             der Seniorenarbeit. Mainz: Schott
        sie entwickeln ein verstärktes Mitteilungsbedürfnis oder      • Kitwood, Tom (2008). Demenz. Der personzentrierte
        ihre Unruhe nimmt ab.                                           Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen.
                                                                        (5., ergänzte Auflage). Bern: Huber
                                                                      • Schwerdt, R. & Tschainer, S. (2002). Spezifische Anfor-
        Musik integrieren im Pflege- und Betreuungsalltag               derungen an die Pflege demenziell erkrankter Men-
                                                                        schen. In: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.),
        Neben der musikalischen Einzel- und Gruppenarbeit gibt          Expertisen zum Vierten Altenbericht der Bundesregie-
        es vielfältige Möglichkeiten, Musik in den Betreuungsalltag     rung, Bd. 3: Hochaltrigkeit und Demenz als Herausfor-
        einzubauen. Sie kann zur Unterstützung der Tagesstruktur,       derungen an die Gesundheits- und Pflegeversorgung
        zum Entspannen und Aktivieren und zur Begleitung von            (S. 181–287). Hannover: Vincentz
        Alltagshandlungen genutzt werden. Wiederkehrende Ritu-        • www.musikgeragogik.de

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        Sich von Musik 		                                               die jetzige Generation der älteren Menschen über 70 Jahre
                                                                        habe eine weitgehend homogene musikalische Prägung,
                                                                        erklärt Hartogh, „sie kennen das gleiche Repertoire, denn
        verführen lassen                                                Liedersingen war in Schule und Freizeit weit verbreitet.“
                                                                        Singen ermögliche, so Hartogh weiter, das Erleben
                                                                        „normaler“ sozialer Situationen, in denen man gemeinsam
        Niedrigschwellige musikalische Gruppen-                         etwas mache. Lieder seien häufig „Erinnerungsinseln“ der
                                                                        Demenzkranken, die sie für einige Zeit mobilisieren und
        angebote für Menschen mit Demenz                                aktivieren.
        Workshop mit Prof. Dr. Hartogh

        Bewegen, Tanzen, Musik erfinden und Spielen mit                 Musik und Bewegung belebt
        Musik. Dies alles erlebten Teilnehmerinnen und Teil-
        nehmer eines Workshops für Mitarbeiter in Pflege-               Zur Aktivierung trägt auch bei, dass in musikalischen
        einrichtungen und Multiplikatoren, den Prof. Dr. Theo           Gruppenstunden viel mit Bewegung und Gesten gear-
        Hartogh von der Hochschule Vechta im Rahmen der                 beitetwird. „Hast du Freude, klatsche in die Hand ...“
        Alzheimer-Woche der Henriettenstiftung anbot. Neben             singen die Workshopteilnehmer. In jeder Strophe, die
        dem Ausprobieren verschiedener Instrumente, Tech-               mehrmals wiederholt wird, kommt eine andere Bewegung
        niken und Methoden gab es zahlreiche filmische Bei-             an die Reihe: Auf die Knie klopfen, mit den Füßen stam-
        spiele aus der Praxis – und es wurde viel gesungen.             pfen oder auch mit dem Nachbarn schunkeln – die Gruppe
                                                                        kommt in Schwung und hat viel Spaß. „Aber ist das nicht
        Am Ende stand die Überzeugung: Musik eignet sich sehr           vielleicht zu schwer?“, fragt eine Teilnehmerin und ver-
        gut für die Betreuung demenzkranker älterer Menschen            weist auf eigene Erfahrungen mit Demenkranken im
        und ist auch von musikalischen Laien einsetzbar.                Pflegealltag.

        Schon nach weniger als fünf Minuten herrscht ausgelassene       Prof. Hartogh gibt Tipps: „Wählen Sie bekannte oder
        Stimmung im Altenzentrum in Kirchrode: „Guten Morgen,           einfache Melodien, singen Sie nicht in einer hohen Lage
        Frau Schmidt, guten Morgen“ tönt es durch die Räume.            und passen Sie das Tempo an“, rät er, „und wenn nicht
        Prof. Dr. Hartogh, Musikpädagoge und Musikwissenschaft-         alle alles mitmachen, ist das nicht schlimm. Entscheidend
        ler an der Hochschule Vechta, wechselt rasch von der kur-       ist, dass alle Spaß an der Sache haben!“ Empfehlenswert
        zen theoretischen Einleitung in den „Praxis-Modus“ und          sind Strophenlieder mit Texten, die bereits Bewegungs-
        die 25 Teilnehmer machen gerne mit.                             elemente enthalten, sowie Sitztänze und Singspiele.
                                                                        Manche Lieder oder umgetextete Melodien können auch
        Am Beispiel eines Begrüßungsliedes macht Hartogh deut-          zu ganzen Geschichten verbunden werden („Seereise“,
        lich, worauf es bei der Gruppenarbeit mit Demenzkranken         „Spaziergang“).
        ankommt: „Sprechen Sie die Menschen an, singen Sie sie
        an und berühren Sie sie dabei ruhig“, meint Hartogh, „Sie       Ein Film zeigt die Musikstunde in einer Pflegeeinrichtung.
        werden erleben, wie sich auch in sich gekehrte, verschlos-      Zwischen den älteren Menschen in der Gruppe sitzen
        sene Menschen nach und nach öffnen und, so gut es geht,         auch einige Angehörige und sogar Kinder. „Versuchen
        am Geschehen beteiligen.“ Das Begrüßungslied sei auch           Sie, in die Angebote Ehepartner, Enkelkinder oder andere
        ein Beispiel für die Struktur einer musikalischen Gruppen-      Mitarbeiter einzubeziehen“, rät Hartogh, der die Filmbilder
        stunde, erläutert der Experte. Wichtig seien klare Einteilun-   kommentiert, „damit haben Sie mehr Möglichkeiten,
        gen, wiederkehrende Elemente sowie Signale für den An-          beispielsweise auch einmal einen Kanon zu singen. Eine
        fang und das Ende einer Aktivität.                              solche gemischte Gruppe bringe auch noch weitere
                                                                        Effekte: „Angehörige haben ja auch oft Probleme in der
                                                                        Kommunikation mit ihren demenzkranken Familienmitglie-
        Gemeinschaftserlebnis: Volkslied                                dern“, weiß Hartogh, „und in einer Musikstunde können
                                                                        sie dann einmal wieder etwas gemeinsam erleben und
        Ob „Von den blauen Bergen kommen wir“, „Das Wandern             gestalten.“
        ist des Müllers Lust“ oder „Wenn alle Brünnlein fließen“,

                                                                                                                                 11

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Musikstunden bieten Anlässe zur Kommunikation                   Tipps des Experten: „Verwenden Sie höchstens zwei bis
                                                                                 drei Klangfarben, wiederholen Sie die Strophen und zeigen
                 Auch Musikhören schafft Anlässe zur Kommunikation. Prof.        Sie mit deutlichen Gesten, welche Gruppe die Instrumente
                 Hartogh spielt bekannte Operettenmelodien und Schlager          einsetzen soll.“ Als Instrument in Gruppenangeboten eigne
                 vor und lässt die Runde die Titel erraten. Eine der älteren     sich insbesondere das Orff-Instrumentarium.
                 Teilnehmerinnen ist mit Abstand die Schnellste. „Kein
                 Wunder“, konstatiert Hartogh mit Blick auf die Runde, in        Demenzkranke könnten auch Instrumente erlernen,
                 der sich überwiegend 30- bis 50-Jährige befinden, „Sie          berichtet der Workshopleiter der staunenden Gruppe
                 kennen die Titel oft nicht, aber Sie werden staunen, was        und zeigt filmische Beispiele einer älteren Dame, die ein-
                 die meist hochaltrigen Demenzkranken noch wissen.“              faches Klavierspiel und Improvisationen erlernt mithilfe
                 Erinnerungen, Gefühle und Assoziationen werden erinnert         farbig gekennzeichneter Tasten und einer besonderen
                 und mitunter verbalisiert. Auch Natur- und Alltagsgeräu-        Notation. Mit der „Veeh-Harfe“ stellt Hartogh schließlich
                 sche, von einer CD vorgespielt (Vogelstimmen, Hähne-            ein spezielles Instrument vor, daß mit seiner besonderen
                 krähen, Motoren), schaffen Anlässe zur Kommunikation.           Ausstattung und Stimmung eine assoziative Handhabung
                                                                                 und aktives Musizieren von Demenzkranken ermöglicht.
                 Musik ist so oft auch ein Einstieg in die Sprache, die vielen
                 im fortgeschrittenen Stadium abhanden kommt. „Nutzen
                 Sie die geweckten Erinnerungen und sprechen Sie in der          Musik zur Entspannung und zum Wohlbefinden
                 Gruppe darüber“, ermuntert Hartogh, „oft fangen die
                 Gruppenteilnehmer an, aus der Zeit zu erzählen, in der          Musik kann Schwerkranke auch bis in ihre letzten
                 sie ein Lied, einen Tanz oder ein Musicalstück kennen.          Lebenstage begleiten und ihnen positive Erlebnisse
                 Nehmen Sie das auf, es hebt das Selbstwertgefühl der            ermöglichen. Die Workshopteilnehmer sind bewegt, als
                 Demenzkranken, die sich sonst oft als inkompetent und           zuletzt ein Filmausschnitt gezeigt wird, in dem eine
                 hilflos erleben.“ Der Musikprofessor berichtet von Praxis-      bettlägerige hochaltrige Frau von einer Musikpädagogin
                 erlebnissen, wo die Beteiligten auch eigene Bewegungs-          am Bett „besungen“ und „angespielt“ wird.
                 ideen zu Liedern einbringen. „Wenn Teilnehmer in der
                 Musikstunde kleine Gesten zu bestimmten Texten oder             Durch Singen und Summen eines bekannten Volksliedes
                 Melodien einbringen, greifen Sie das auf und bauen Sie          gelingt auch hier, die Aufmerksamkeit der ansonsten
                 es in das Lied ein“, rät er.                                    apathisch wirkenden Seniorin zu gewinnen. Mit kleinen
                                                                                 Gesten, dem Wenden der Kopfes, dem Öffnen der Augen,
                                                                                 zeigt sie ihre Anteilnahme an der Musik und der
                 Instrumentalspiel mit demenzkranken Menschen                    Kontaktaufnahme.

                 „Es regnet, es regnet, es regnet den ganzen Tag ...“ singen     Musik in Verbindung mit Licht, Gerüchen, Geräuschen zur
                 die Workshopmitglieder. Zuvor wurden einige Instrumente         sensorischen Wahrnehmungsstimulation („Snoezelen“)
                 verteilt: Klangstäbe und Trommeln, Rasseln und Xylo-            und Hintergrundmusik in Pflegeeinrichtungen (Walzer
                 phone. In der zweiten Strophe des Liedes werden dann die        zum Mittagessen, Operettenmusik am Nachmittag und
                 Rasseln eingesetzt, die den Regen symbolisieren. Die            Schlaflieder zur Nachtruhe) sind weitere Beispiele, wie
                 Trommeln kommen später zum Einsatz, wenn etwa ein               Musik außerhalb von Gruppen- oder Einzelangeboten in
                 „Donner“ ertönt, und das Becken wird angeschlagen, wenn         der Arbeit mit Demenzkranken eingesetzt werden kann.
                 es „blitzt“. Ein weiterer Film dokumentiert, dass auch der
                 Einsatz von Instrumenten in der musikalischen Arbeit mit
                 Demenzkranken gut gelingen kann.

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In der klientenzentrierten Kunsttherapie wird der
                                                                              Zugang zu Menschen über Emotionen gesucht. Das
                                                                              aktuelle Erleben und die damit zusammenhängenden
                                                                              Gefühle stehen in der Therapiestunde im Vordergrund,
                                                                              nicht die nachträgliche Analyse eines Bildes. Das
                                                                              unterscheidet diese Therapierichtung von anderen
                                                                              Ansätzen. Im Fokus dieser besonderen Form der
                                                                              Psychotherapie steht der Wunsch, Menschen in Krisen
                                                                              zu begleiten und ihnen therapeutisch beizustehen.

                                                                              Im Förderverein für Alzheimer Betroffene und Angehörige
                                                                              (AlBe) arbeiten wir mit kleinen Gruppen von maximal
                                                                              sechs Teilnehmenden. Auf dem Programm stehen zum
                 Nicole Jürgens                                               Beispiel Hirnleistungstraining und körperliche Aktivierung
                 Diplom Kulturpädagogin und Kunsttherapeutin,                 – und eben auch Kunsttherapie. Manchmal nehmen
                 Hannover                                                     auch Angehörige, insbesondere Ehepartner der Betrof-
                                                                              fenen, teil. In der Regel treffen sich die Angehörigen je-
                                                                              doch separat, während die Betroffenen an den verschie-
                                                                              denen Gruppen teilnehmen.

                                                                              Was macht Kunsttherapie für Demenzkranke wertvoll?

                                                                              Man kann sich in der Bildenden Kunst ausdrücken, ohne
                                                                              Worte benutzen zu müssen. Es ist wichtig, Ausdrucks-
                                                                              möglichkeiten für emotionale Spannungen zu haben. Das
                 Spuren der Erinnerung:                                       ist die Voraussetzung dafür, sie zu lindern und so Stress
                                                                              reduzieren zu können. Klientinnen und Klienten erleben in
                                                                              der Kunsttherapiestunde, dass sie keine Leistungen erbrin-
                 Bilder gegen das                                             gen müssen. Sie dürfen das tun, was sie möchten. Auch
                                                                              wird nichts für sie getan, sondern sie werden selbst aktiv.
                 Vergessen(werden)
                                                                              „Malen – das kann ich nicht!“ Das ist häufig der erste Satz,
                                                                              den ich von neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern höre.
                                                                              Manche denken, sie müssten Kunstwerke produzieren oder
                 Kunsttherapie mit demenziell                                 das, was sie selbst und andere dafür halten. Ich stelle dann
                 erkrankten Menschen                                          klar, dass sie hier jede Freiheit haben. Nicht das Endergeb-
                                                                              nis entscheidet über den Erfolg des entstandenen Werks –
                 Potenzial ist immer da. Ich sehe das Potenzial der           es geht um das Tun. Die Menschen genießen diese Freiheit.
                 Menschen, ihre Stärken, ihre Individualität. Mich interes-
                 sieren nicht die Mängel. Ich frage danach, wie jemand
                 etwas Neues, Positives erleben kann – trotz vorhande-        Was passiert in der Kunsttherapiestunde?
                 ner Einschränkungen. Das ist mir auch in meiner Arbeit
                 mit demenziell erkrankten Menschen wichtig. Es geht          Wir beginnen meist mit Gesprächen, manchmal entwickeln
                 mir darum, meinen Klientinnen und Klienten Möglichkei-       sich daraus Themen oder Bilder, manchmal gebe ich auch
                 ten aufzuzeigen, wie sie ihr Leben auch mit der Krankheit    ein Thema vor. Es gibt Tage, da stehen heftige Gefühle,
                 positiv gestalten können. Ich möchte das Potenzial, das      Ärger zum Beispiel, im Raum, und es macht sich Unruhe in
                 da ist, fördern. Und Potenzial ist immer da.                 der Gruppe breit. Wenn man dann ein Angebot macht, das

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

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den Betroffenen Gelegenheit gibt, etwas Sinnvolles zu tun,     sie können entscheidend sein. Als Therapeutin muss
                 werden sie meist ruhiger. Häufig ist es so, dass alle ganz     man herausfinden und ausprobieren, welche Hand-
                 versunken in ihr Tun sind. Mit der Zeit wächst die Lust am     reichungen als Unterstützung nötig sind.
                 Experimentieren und damit das Selbstvertrauen. Wenn die
                 Schwellenängste überwunden sind und Vertrauen in die
                 Gruppe und zur Therapeutin entstanden sind, wagt man           Vergesst mich nicht – ich bin noch da!
                 mehr. Als Therapeutin muss man lernen, sich zurückzu-
                 nehmen und nicht zu schnell Hilfe anzubieten. Man muss         Die Erinnerung an das eigene Bild bleibt den Betroffenen
                 Geduld haben und viel Zeit lassen, damit die Teilnehmer        oft über Wochen im Gedächtnis. Malen hinterlässt Spuren,
                 eigene Lösungen finden können. Kreativität entwickeln          innen und außen, für den Malenden selbst und für andere.
                 heißt: Aus dem Vorhandenen das Beste machen.                   Was ich gemalt habe, bleibt. Das ist besonders für
                                                                                Menschen, die an Demenz erkrankt sind, ganz wichtig.
                 Außenstehende sehen immer nur das Endergebnis beim             Mit Worten können sie oft nicht mehr über sich Auskunft
                 Malen. Manchmal gibt es, was die Bewertung der Bilder          geben und dadurch ein Stück Persönlichkeit zeigen; aber
                 durch die Angehörigen angeht (oder vielmehr: den Drang         sie können mit ihren Bildern etwas über sich mitteilen.
                 zur Bewertung), einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten.       Mit ihren Bildern geben die Betroffenen auch uns etwas.
                 Dass es für die Teilnehmenden nicht darum geht, fremden        Sie zeigen uns, wie es in ihnen aussieht, und schenken
                 Ansprüchen und Maßstäben zu genügen, sondern Freude            uns dadurch Trost. Und sie setzen ein Signal: Vergesst
                 am Tun zu entwickeln. In einem sind sich allerdings alle       mich nicht – ich bin noch da! Malen gegen das Vergessen
                 Angehörigen einig: Das therapeutische Malen macht die          (werden).
                 Betroffenen insgesamt aktiver und entspannter. Man merkt
                 nach einer Stunde: Da ist Glanz in den Augen und es be-        Nicole Jürgens
                 wegt sich etwas im Inneren.                                    Diplom Kulturpädagogin
                                                                                Freiberufliche Kunsttherapeutin
                 Die Gruppe wirkt in vielerlei Hinsicht inspirierend und ver-
                 mittelt starke Gemeinschaftserlebnisse. Man lacht und          Studienschwerpunkte: Kunsttherapie, Psychologie
                 weint zusammen, ist stolz auf das, was man geschafft           Weiterbildung in Klientenzentrierter Kunsttherapie
                 und geschaffen hat. Man kann dort sein, wie man ist –
                 was ja nicht überall der Fall ist. Zu Hause fehlt vielen der   Arbeitsschwerpunkt: Kunsttherapie bei Menschen
                 Anreiz zum Malen. Manchmal sind auch einfach kleine            • mit leichten bis mittelschweren Demenzen,
                 Hilfestellungen nötig: Dass jemand beispielsweise den          • mit depressiven Störungen
                 Pinsel anfeuchtet oder abwäscht, sind Kleinigkeiten, aber      • in Krisensituationen

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

                                              Kontakt:
                                              Nicole Jürgens
                                              Bernwardstraße 12
                                              30519 Hannover
                                              Telefon: (0178) 402 35 50
                                              E-Mail: n.juergens@gmx.net

                                                                      17

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der das Medium Musik genutzt wird, nämlich nicht im Sinne
                                                                             eines Konzerts, das man sich anhört oder an dem man
                                                                             selbst mitwirkt. Interaktives Musizieren ist eine aufsuchen-
                                                                             de Arbeit, bei der die Musikerinnen oder Musiker spontan
                                                                             Kontakt aufnehmen zu Menschen, denen sie in der Klinik
                                                                             oder im Heim begegnen. Sie bleiben zum Beispiel auf dem
                                                                             Flur stehen und nutzen die Gelegenheit zur Kommunikati-
                                                                             on, oder sie begeben sich ans Krankenbett und sprechen
                                                                             die Patienten statt mit Worten mit den Mitteln der Musik,
                                                                             mit Klang, Rhythmus und Melodie, an, und „verführen“ sie
                                                                             so zu einem Gespräch, zu zwischenmenschlicher Kommu-
                                                                             nikation. Wichtig ist dabei: Die Kontaktaufnahme ist ein
                                                                             Angebot, die Angesprochenen müssen nicht darauf ein-
                 Prof. Dr. Thomas Grosse                                     gehen, sondern können auch ablehnen.
                 Fachhochschule Hannover, Fakultät für Soziale Arbeit,
                 Lehrgebiet Ästhetische Kommunikation                        Musik berührt
                 Arbeitsgebiete: Musik in der Sozialen Arbeit, Entwicklung   Musik ist die Sprache der Gefühle, sie transportiert Stim-
                 von Jugendmusikkultur, Interaktives Musizieren in           mungen und ist deshalb wie kein anderes Medium geeig-
                 Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, Neue Medien         net, Menschen emotional zu berühren. Wie und womit ich
                                                                             mich musikalisch ausdrücke, ist dabei gar nicht so wichtig.
                                                                             Alles kann zum Klangmacher werden oder zur Erzeugung
                                                                             von Musik genutzt werden „auch ein Schlüsselbund oder
                                                                             ein mit Reis gefülltes Überraschungsei eignen sich durch-
                                                                             aus als Rhythmusinstrument und dazu, sich musikalisch
                 Beim interaktiven Musizieren                                miteinander „zu unterhalten“.

                                                                             Doch die größte Bedeutung kommt dem Singen zu. Bei
                 … handelt es sich im Kern um eine Beziehungsarbeit, bei     alten Menschen ist es vor allem das meist breite (Volks)-
                 der sich speziell ausgebildete Musiker in der Regel einer   Liedrepertoire, über das viele noch verfügen, das sich
                 einzelnen Person zuwenden und das Medium Musik zu           anbietet und mit dem man auf Resonanz trifft. An Kinder-
                 einer intensiven zwischenmenschlichen Kommunikation         lieder können sich die meisten ebenfalls gut erinnern. Dazu
                 nutzen. Praktiziert wird die Methode zum Beispiel im        kann es hilfreich sein, wenn die Musizierenden vorab Infor-
                 Krankenhaus mit Kindern oder in Pflegeheimen mit            mationen zur Lebensgeschichte derjenigen einholen, die
                 älteren Menschen. Beides sind Orte, die eher klangarm       sie ansprechen möchten. Die Lieder fungieren sowohl als
                 sind. Was dort vor allem fehlt, sind Naturgeräusche, wie    Brücke zwischen den beteiligten Menschen wie als Brücke
                 das Summen des Windes, Vogelgezwitscher oder das            zwischen den Zeiten und lassen Erinnerungen an früher
                 Plätschern eines Baches, die selten aus der Außenwelt       aufleben.
                 in die Institution hereindringen. Natürlich gibt es auch
                 Musik im Stations- und Wohnbereichsalltag: Radio,
                 DVD-Player oder Fernseher sorgen für Musik, Töne und        Interaktives Musizieren lädt den Einzelnen ein
                 Beschallung. Sie sind jedoch kein Ersatz für ein leben-
                 diges musikalisches Geschehen.                              Wenn normalerweise in Pflegeheimen musikalische Ange-
                                                                             bote gemacht werden, heißt es: Heute zu einer festgelegten
                                                                             Zeit machen wir Musik. Und es wird erwartet, dass alle
                 Musik ermöglicht Kommunikation                              dann auch mitmachen mögen. Beim Interaktiven Musizie-
                                                                             ren ist das anders. Die Musizierenden laden Einzelne spon-
                 Ungewöhnlich sind weniger die Orte, an denen Interaktives   tan ein, sprechen sie direkt an, kommen ihnen entgegen
                 Musizieren zum Einsatz kommt, als die Art und Weise, in     mit einem auf sie ganz individuell gemünzten Lied, einer

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

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Melodie oder einem Klang, der sie motivieren will, sich       sind Ausdruck lebendigen Mensch-Seins und als solche
                 auf ein „Gespräch“ einzulassen. Großer Wert wird beim         wünschenswert: Sie alle gehören zu unserem Leben und
                 Interaktiven Musizieren darauf gelegt, niemanden in           sollen deshalb durch das Interaktive Musizieren in der
                 seiner Freiheit einzuschränken und die Menschen dort          eingeschränkten Lebenswelt der Angesprochenen einen
                 abzuholen, wo sie gerade sind, geistig und seelisch. An       Platz bekommen dürfen. In solchen Fällen ist die Sensibi-
                 einem konkreten Ort, in einer momentanen Verfassung,          lität der Musiker besonders gefragt und es bleibt immer
                 mit einer sich vielleicht gerade durch Haltung und Ge-        eine Herausforderung, die Betroffenen in solchen Situati-
                 sichtsausdruck abzeichnenden Stimmung.                        onen zu begleiten. Deshalb wird bei der Ausbildung zum
                                                                               Interaktiven Musizieren neben dem musikalischen Können
                                                                               auch besonderer Wert auf die sozialen Aspekte der Kom-
                 Wertschätzende Kommunikation                                  munikation gelegt.

                 Diese Impulse nehmen die Musiker beim Interaktiven
                 Musizieren auf und antworten musikalisch auf das, was         Interaktives Musizieren …
                 sie wahrnehmen. Ob dieser „Ball“ positiv aufgenommen
                 und zurückgespielt wird, ist ungewiss. Auf jeden Fall         … ist eine Form der musikalischen Praxis, die darauf
                 aber wird die angesprochene Person zu einer Reaktion          angelegt ist, die elementare, berührende und beleben-
                 „verführt“, und sei es zu einem ablehnenden Signal.           de Wirkung von Musik in therapeutischen Kontexten
                 Dass ein solches Signal ohne Missbilligung respektiert        und in der Sozialen Arbeit zu nutzen, um miteinander
                 wird, gehört als Zeichen einer wertschätzenden Kom-           in Kontakt zu treten, Beziehung aufzubauen, Gefühle
                 munikation zum methodischen Handwerkszeug. Ebenso             zu stimulieren. Eingesetzt wird das Interaktive Musi-
                 wie das Sich-Begegnen auf „Augenhöhe“. Berührung              zieren beispielsweise in der Arbeit mit Kindern und
                 kann die Intensität der Kommunikation fördern und das         älteren Menschen.
                 emotionale Geschehen vertiefen. Wichtig ist es dabei
                 jedoch, dominante Gesten zu vermeiden.                        Erprobt wurde die Methode im Rahmen eines Modell-
                                                                               projekts unter anderem auch mit älteren Menschen.
                                                                               Kooperationspartner waren die Klinik für Medizinische
                 Brücken bauen zur Persönlichkeit                              Rehabilitation und Geriatrie des Diakoniekranken-
                                                                               hauses Henriettenstiftung und die Henriettenstiftung
                 Beim Interaktiven Musizieren geht es nicht darum, Men-        Altenhilfe. Am Zentrum für Weiterbildung und Tech-
                 schen mit und durch Musik glücklich zu machen. Und es         nologietransfer der Fachhochschule Hannover wird
                 verfolgt auch keine therapeutischen Ziele und will der        „Interaktives Musizieren im Gesundheitswesen“ als
                 Musiktherapie deshalb keine Konkurrenz machen. Was            zertifizierter Weiterbildungsstudiengang angeboten.
                 zählt, ist allein der Augenblick des Geschehens. Wenn
                 es zum Beispiel gelingt, mit einem Lied bei einer demenz-     Kontakt und Informationen:
                 kranken Bewohnerin Erinnerungen und Gefühle auszulö-          Prof. Dr. Thomas Grosse
                 sen, gewinnt sie für diesen Augenblick ein Stück Identität    Fachhochschule Hannover
                 zurück, erfährt, wer sie ist, wo sie herkommt. Gerade für     Fakultät für Soziale Arbeit
                 Menschen mit Demenz ist deshalb Musik ein Medium,
                 das wenigstens für Momente eine Brücke bauen kann zu          Telefon: (0511) 92 96 3104, 3143
                 der Persönlichkeit, die sie einmal waren und zu der sie oft   thomas.grosse@fh-hannover.de
                 durch die Krankheit den Zugang verloren haben. Wenn
                 es gelingt, die durch Demenz oder durch Depression ver-
                 ursachte Einkapselung aufzubrechen, wurde viel erreicht.

                 Nicht immer sind es schöne Erinnerungen und freudige
                 Gefühle, an die die Musik rührt, auch Trauer oder Wut
                 können zum Vorschein kommen. Doch alle Emotionen

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

        Sich von Musik                                              40 Bewohnerinnen und Bewohner mit der Diagnose De-
                                                                    menz leben in der Einrichtung in vier sogenannten Haus-
                                                                    gemeinschaften, die räumlich miteinander verbunden sind.
        verführen lassen                                            Zwischen den gemeinschaftlich genutzten Wohnzimmern,
                                                                    den Privatzimmern und dem Wintergarten herrscht reges
                                                                    Treiben auf den Fluren, viele Bewohner sind unterwegs,
        Interaktives Musizieren                                     schauen mal hier, mal dort herein, gehen ein Stück mit
        Praxisdemonstration mit den Musikerinnen                    dem Pflegepersonal und Besuchern mit oder folgen den
        Katja Arff und Angelika Nikolaus                            Stimmen und Geräuschen, die sie aus dem Wintergarten
                                                                    wahrnehmen.
        Der Wintergarten des gerontopsychiatrischen Pflege-
        bereichs Buchholz füllt sich an einem Mittwochmorgen,       Denn dass sich dort etwas tut, ist nicht zu überhören:
        Besucher treffen nach und nach ein und mischen sich         Mit Gesang und Akkordeonbegleitung machen zwei Mu-
        unter die Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses. Es         sikerinnen auf sich aufmerksam. Der Rhythmus, den sie
        gibt weder Stuhlreihen noch ein Podium noch eine klare      mit ihren Liedern vorgeben, ist auf ungezwungene Weise
        Trennung zwischen Publikum, Angehörigen, Mitarbeiten-       ansteckend und wird unwillkürlich körperlich von den An-
        den und Bewohnern des Hauses. Aber konventionell            wesenden aufgenommen. Er geht in die Beine, regt zum
        ist hier sowieso nichts. Wirklichkeit darf hier ganz aus-   Mitschwingen und Mitsummen oder -singen an. Noch
        drücklich viele Gesichter haben.                            haben wir es mit einer für das Interaktive Musizieren

                                                                                                                           21

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(K)ein Kraut gegen Alzheimer?

        eigentlich untypischen Gruppensituation zu tun. Nach        Im gerontopsychiatrischen Pflegebereich Buchholz ist
        und nach nehmen die Musikerinnen aus dieser Situation       Interaktives Musizieren Teil des regelmäßigen Betreu-
        heraus jedoch Kontakt zu einzelnen Bewohnern auf. Sie       ungsangebots für Bewohnerinnen und Bewohner.
        richten sich zum Beispiel mit einem spanischen Lied an
        eine ältere Dame, die nur spanisch spricht und sich darin   Informationen:
        als persönlich gemeint erkennt. Einem nach innen gekehrt    Patricia Gorski-Schmidt, Pflegedienstleitung
        wirkenden Herren legt Angelika Nikolaus behutsam einen      Gerontopsychiatrischer Pflegebereich Buchholz
        kleinen Klangkörper in die Hand und animiert ihn, darüber   Henriettenweg 5
        zu streichen und auf das Geräusch, das sie erzeugt hat,     30665 Hannover
        zu antworten. Das Akkordeon stimmt einige Augenblicke       Tel. (0511) 289-4646
        später ein Lied an, dessen Rhythmus die Bewegungen
        einer Bewohnerin aufgreift, die daraufhin nach und nach     www.henriettenstiftung-altenhilfe.de
        in Tanzschritte übergeht. Jemand fasst sie bei den Hän-
        den und die beiden tanzen als Paar weiter.

        Für die Dauer der nächsten halben Stunde ist die Alltags-
        routine ausgesetzt und auf den Gesichtern spiegelt sich
        die Berührung durch die Musik. Eine Erfahrung, die, wie
        die anschließenden Gespräche zeigen, bei allen Besuche-
        rinnen und Besuchern tiefen Eindruck hinterlassen hat.

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Henriettenstiftung Altenhilfe gGmbH

                                                                         Unternehmensgruppe

                 (K)ein Kraut gegen Alzheimer
                 Leben mit Demenz

                 Diagnostik
                 Beratung und Selbsthilfe
                 Kunsttherapie
                 Musikalische Gruppenarbeit
                 Interaktives Musizieren

                 Impressum:
                 Unternehmensgruppe Diakonische Dienste Hannover gGmbH

                 Redaktion:
                 Ines Goetsch
                 Thomas Klein
                 Anne-Elisabeth Ballhausen

                 Grafik und Fotografie:
                 www.marceldomeier.de
                 Foto Pastor Volker Milkowski: Henriettenstiftung
                 Foto Prof. Dr. Theo Hartogh: privat
                 Quelle Titelbild: Selbsthilfegruppe „AlBe“

                 Druck:
                 Druckerei Biewald GmbH

                 Auflage:
                 1000

                 Hannover 2010

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