Kalkuliertes Risiko auf Skitouren dank einem - Schweizer Portal
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Samstag 20. März 2021 BILDER ANNICK RAMP / NZZ UND KEYSTONE (2). «Ich habe keine Angst vor Corona, wir haben unser Leben gelebt.» Frau Weber, 88 SEITE 42–46 Kalkuliertes Risiko Elternmord – was steht Der Jumbo schreibt auf Skitouren dank einem hinter der Bluttat Luftfahrtgeschichte – Schweizer Portal SEITE 54 im Familienkreis? SEITE 50, 51 auch in der Schweiz SEITE 57
42 WOCHENENDE Samstag, 20. März 2021 Was am Ende vom Leben bleibt Ein Jahr lang kämpfen die Bewohnerinnen, die Mitarbeiter und der Leiter des Alters- und Pflegeheims «Ruhesitz» gegen die Pandemie. Als sie glauben, die schwierigsten Monate seien vorbei, bricht das Virus aus. VON BARBARA KLINGBACHER, ALINE WANNER (TEXT); ANNICK RAMP (BILDER) Frau Müller, 80, Bewohnerin: «Irgendwie wird uns alles erspart, was die Jungen draussen ertragen müssen.» «Der Entwurf für meine Todesanzeige vid-19-Patienten räumen mussten, zo- hier als Pflegefachfrau arbeitet, würde Gysin kennt die wichtigsten Regeln, Leuten einen Vorsprung: Er weiss um liegt schon lange in der Schublade»: Herr gen hoch auf andere Etagen, und weil er jetzt auf einen verschneiten Berg bei die beim Einsargen von Corona-Opfern die Widersprüchlichkeiten des Lebens, Schwyn, 78, Bewohner. ein Platz fehlte, gab auch Gysin sein Pontresina steigen. Stattdessen steigt gelten: möglichst schnell arbeiten, aber und er hält sie aus. Die Menschen, die kleines Reich gleich neben dem Ein- Gysin an diesem Sonntagmorgen hinab mit möglichst wenig Bewegungen. Die im «Ruhesitz» zusammenkommen, sind «Ich hätte nie gedacht, dass es so unlus- gang auf. Er nahm sein Laptop, die wich- in die Isolierstation, um die Leiche von Leiche soll nicht wie sonst schön her- nun einmal ganz verschieden. Alt und tig ist im Alter»: Frau Müller, 80, Bewoh- tigsten Unterlagen, dann stellte man ein Frau Walter einzusargen. Frau Walter, gerichtet werden. Man schickt die Men- jung, krank und gesund, verwirrt und nerin. Bett in den Raum und machte aus dem eine der vier Infizierten, ist in der Nacht schen nicht in Kleidern auf die letzte klar, impfkritisch, wissenschaftsgläubig, Büro des Heimleiters ein Bewohnerzim- gestorben. Weil ihr Zustand so schlecht Reise, sondern in dem Nachthemd, in emotional, stur oder umgänglich. Jede «Jetzt bist du so ein Brandherd»: Selina mer auf Zeit. gewesen war, hatte Gysin schon am Tag dem sie gestorben sind. Aber das bringt und jeder findet hier seinen Platz. Bommer, 16, Fachfrau Gesundheit in Drei Tage nach dem Corona-Aus- zuvor das Beerdigungsinstitut angeru- Gysin nicht übers Herz. Er zieht Frau «Richtig» und «falsch» sind nicht Ausbildung. bruch hätten Daniel Gysins Ferien be- fen – und andere Heimleiter, die sich mit Walter ein frisches Hemd an. Die 97-Jäh- Gysins Kategorien. Sein Prinzip ist die gonnen. Mit seiner Frau Franziska, die so einer Situation auskannten. rige ist die erste Corona-Tote in seinem Offenheit, in jeder Hinsicht. Deshalb Es ist ein Mittwochmorgen im Februar Heim. Sie wird nicht die letzte sein. öffnete er den «Ruhesitz» auch für diese 2021, als die Zuversicht der Angst Die Pandemie beschert Daniel Gysin Recherche, soweit es die Pandemie ge- weicht. Daniel Gysin arbeitet seit zwei die schwierigsten Monate in seiner lan- stattet. «Reden Sie mit so vielen Leu- Stunden in seinem Büro im Altersheim gen Karriere als Leiter eines Alters- und ten wie möglich», sagte er. Die Men- «Ruhesitz» im schaffhausischen Be- Pflegeheims. Er muss diesen Ort vor schen, die in einem Altersheim leben ringen. Kurz nach acht Uhr wählt der dem Virus bewahren. Er muss das Le- oder arbeiten, sollten endlich zu Wort Heimleiter die Nummer des kantona- ben der verletzlichsten Menschen unse- kommen. len Abklärungsteams. rer Gesellschaft schützen. Und gleich- Sie alle beschäftigte im vergange- Nachdem eine Bewohnerin Sym- zeitig ermöglichen, was den letzten Ab- nen Jahr die gleiche Frage: Was bleibt ptome gezeigt hatte und ein Schnelltest schnitt ihres Lebens lebenswert macht: am Ende des Lebens vom Leben übrig? positiv ausgefallen war, hat Gysin am den Kontakt zu Angehörigen und Be- Herr Schwyn ist 78-jährig und zieht Vortag das ganze Heim durchtesten las- kannten, den sozialen Austausch, das im Februar 2020 im «Ruhesitz» ein, vor- sen. Die letzte Hoffnung auf ein fehler- gemeinsame Backen, die Spielenach- übergehend, wie er damals denkt: «Ich haftes Resultat des Schnelltests zerfällt mittage, den Gottesdienst und das Es- hätte nach einer Operation in eine edle innert Sekunden. Das Virus ist da, bestä- sen in der Gruppe. Es ist ein Kampf zwi- Reha-Klinik gehen können. Stattdes- tigt die Stimme am Telefon.Vier Bewoh- schen Freiheit und Abschottung, zwi- sen fragte ich den Heimleiter, ob ich für ner haben sich angesteckt und auch vier schen Risiko und Sicherheit, zwischen ein paar Wochen hierherkommen dürfe. Mitarbeiterinnen. Lebensqualität und Tod. Meine Frau lebte bereits hier, sie hatte «Ich konnte es nicht glauben», sagt Demenz, und ich besuchte sie jeden Tag. Gysin, «ich konnte nicht glauben, dass Frühling: Das Heim schliesst Aber telefonieren konnte sie nicht mehr, das ausgerechnet jetzt noch passiert.» und ich hätte aus der Reha-Klinik nicht Jetzt, wo das Ende der Bedrohung in So neu das Coronavirus für Gysin ist, so mit ihr kommunizieren können. Also Sichtweite schien. Im Kanton Schaff- plötzlich es seine Welt verändert – der machte Daniel Gysin aus ihrem Einer- hausen gab es nur noch wenige Fälle, in 51-Jährige hat gegenüber vielen anderen ein Zweierzimmer, und ich zog ein. Zum den Heimen gar keine mehr.Ausserdem Glück. Denn als das Heim geschlossen hatte man im «Ruhesitz» zwei Wochen wurde, hätte ich meine Frau gar nicht zuvor fast allen Bewohnern und der mehr sehen können, das wäre furchtbar Hälfte der Mitarbeiter die zweite Impf- gewesen. So aber blieb ich einfach hier dosis gespritzt. wohnen, wir waren Tag und Nacht bei- Ein Jahr lang navigierte Gysin sein «Sonst hätte ich einander.» Heim wie eine Arche durch die erste An einem Donnerstag Mitte März und durch die zweite Welle. Zwar gab es meine Frau gar nicht 2020 schliesst der «Ruhesitz» wie alle hin und wieder positive Testresultate bei den Mitarbeitern, aber von den 87 Be- mehr sehen können, anderen Alters- und Pflegeheime in der Schweiz seine Türen für Besucher. Noch wohnerinnen und Bewohnern hatte sich nie jemand angesteckt. Und das, ob- das wäre furchtbar weiss niemand, was das neue Virus in den kommenden Wochen und Monaten wohl Gysin die Regeln manchmal weit dehnte, um den Menschen in seinem gewesen. So blieb ich anrichten wird. Klar aber ist: Die alten Menschen sind besonders gefährdet, sie Heim möglichst viel Freiheit zu lassen. einfach hier wohnen.» sollen geschützt werden. Doch zu wel- Die Isolierstation im «Ruhesitz» chem Preis? nimmt eine Dreiviertelstunde nach Herr Schwyn, 78 Von nun an darf niemand mehr das Bewohner der Hiobsbotschaft den Betrieb auf. Heim verlassen, und es darf niemand Seit Monaten ist man auf diesen Worst mehr die Treppe zum Eingang hoch- Case vorbereitet. Die Pflegerinnen und kommen, den Gang entlanggehen, durch Pfleger betreten die Station durch eine die Cafeteria, vorbei am Aquarium, in Schleuse, wo sie Schutzanzüge anziehen, den Lift, in eines der 74 Zimmer. Die Masken und Brillen aufsetzen und alles Bewohnerinnen und Bewohner sind desinfizieren. Die Gesunden, die ihre Selina Bommer, 16, auszubildende Fachfrau Gesundheit: «Ich hätte nie gedacht, hier gefangen, abgeschnitten von der Zimmer im Untergeschoss für die Co- dass es mich so heftig treffen könnte.» Aussenwelt. Daniel Gysin richtet sofort
Samstag, 20. März 2021 WOCHENENDE 43 «Nur jeder zehnte Bewohner antwortete, er wolle bei einer Erkrankung mit Covid-19 ins Spital.» Daniel Gysin Heimleiter, 51 zin arbeitete, dachte er, ein Altersheim sei ein Ort, wo Leute angestellt seien, die man im Spital nicht brauchen könne. Bis sein Vater ihn fragte, ob er nicht die Pflegedienstleitung im «Ruhesitz» über- nehmen wolle. Gysin kehrte zurück. Er war neugierig, und es war für ihn eine Karrierechance. «Im ‹Ruhesitz› merkte ich dann, dass ich mich geirrt hatte: Die Arbeit im Altersheim ist sehr vielfältig.» Daniel Gysin ist ein feingliedriger Mann, der überall gleichzeitig zu sein scheint. Er eilt durch die Gänge und bremst sofort ab, um sich geduldig das Anliegen eines Bewohners anzuhören. Er eilt die Treppe hinauf und spricht da- bei am Telefon einer Angehörigen ruhig Mut zu. Für jeden Mitarbeiter, dem er begegnet, findet er einen freundlichen Daniel Gysin, 51, Heimleiter: «Ich kann ihnen doch nicht alles wegnehmen. Satz. Vielleicht sind die vielen Jahre Herr Schwyn, 78, Bewohner: «Ich stellte mir vor, wie traurig das für meine Söhne wäre, Was hätten sie sonst noch?» Lebens- und Berufserfahrung im Alters- wenn gleich beide Eltern sterben würden.» heim der Grund, warum Gysin eine be- sondere Fähigkeit besitzt. Er kann Begegnungszonen ein: vor dem Haupt- Nähe bei uns, ich habe manchmal je- immer wieder aus dem Chaos heraus- ten sie sich mit dem Coronavirus anste- eingang, auf der Terrasse, bei den Bal- manden umarmt, auch wenn ich nicht wachsen, mit Distanz auf all die Wider- cken. «Nur jeder zehnte Bewohner ant- konen, überall dort, wo Distanz möglich durfte.» sprüche, Regeln, unterschiedlichen Be- wortete, er wolle bei einer Erkrankung ist. Aber diese Zonen können nur Be- Kein Ort ist Daniel Gysin vertrau- dürfnisse in seinem Heim blicken und mit Covid-19 ins Spital», sagt Gysin. wohner nutzen, die mobil sind, gut hören ter als der «Ruhesitz». Fast sein ganzes sich fragen, was wirklich zählt. Ist das Aber der Heimleiter, der früher selber und sich noch in einem Gespräch ver- Leben verbrachte er hier. Seine Eltern Leben das höchste Gut? Oder ist es die Pfleger in einem Spital war, weiss auch, «Ich weiss nicht, wie er ständigen können. zogen 1976 aus Langnau im Emmental Lebensqualität? dass solche Antworten nur Moment- Frau Weiss, 80, Bewohnerin: «Es war in das Heim, um es zu führen. Da war Die Pflegerinnen und Pfleger im aufnahmen sind. Der freie Wille verän- diese Zeit erlebt hat. manchmal wie im Gefängnis. Keine Enkel mehr, keine Familie mehr, gar Gysin 6-jährig. «Mein Vater wurde so- zusagen berufen», sagt Gysin heute. Als «Ruhesitz» gehen zu Beginn der Pande- mie mit einem Formular von Bewohner dert sich. Gysin hat oft erlebt, dass je- mand in der Patientenverfügung ange- Ob er verstanden hat, nichts. Ich habe zwei Söhne und eine Tochter und zwei Enkelkinder. Ich habe er sich selbst zum Krankenpfleger aus- bilden liess und später in der Akutmedi- zu Bewohner und fragen, ob sie noch ins Spital verlegt werden wollten, soll- geben hat, er wolle keine Antibiotika mehr, sollte er eine Lungenentzündung was passiert. Manchmal sie sehr vermisst. Eine liebe Freundin konnte auch nicht mehr kommen. Mit bekommen. «Und als dann der Arzt am Bett stand und fragte, wollte der Patient hat er bessere Tage, ihr gehe ich normalerweise posten, zum das Medikament trotzdem.» Ob ein Le- manchmal schlechtere.» Coiffeur und zur Pediküre. Hier, an der ben noch lebenswert sei, findet Daniel Wand, hängen alles Bilder von meinen Gysin, könne man nur für sich selbst be- Frau G. Ehefrau eines Parkinson-Patienten, 72 Liebsten. So habe ich sie wenigstens urteilen «in dem Moment, in dem sich immer bei mir.» die Frage stellt». Frau Arena, 80, Bewohnerin: «Meine Frau G. sitzt im kargen Zimmer Kinder wohnen in Beringen. Die konn- ihres Mannes. Sie streicht ihm über den ten dann plötzlich nicht mehr zu mir. Kopf und den Nacken. «Was willst du Meine Tochter hat MS, sie hatte auch sagen?» Ihr Mann ist 79, er leidet seit Angst. Manchmal sind die Kinder und fünfzehn Jahren an Parkinson und kann Enkel und Urenkel gekommen, dann nicht mehr sprechen. Vor drei Jahren haben wir draussen, vor dem Alters- hatte er einen Schlaganfall und sitzt im heim, miteinander gesprochen.» Rollstuhl. Im Januar 2020 zog er in den Die Pandemie soll niemanden im «Ruhesitz», weil seine 72-jährige Frau Probst: «Ausser am Dienstagnach- «Ruhesitz» einsam machen. Darum er- ihn nicht mehr zu Hause pflegen konnte. mittag, da ging eine Freundin bei ihr öffnet Daniel Gysin im Frühling eine Frau G. erzählt: «Mein Mann war dabei, vorbei.» Skype-Station im Entrée und eine Glas- sich einzuleben, als das Virus kam. Das Schneider: «Unsere Mutter hatte box im Wintergarten. Darin können sich war schon schwierig, man durfte nicht nicht viel Kontakt zu anderen Heim- Bewohnerinnen und Angehörige tref- mehr kommen. Ich habe manchmal an- bewohnern, sie sagte immer: Ich habe fen, getrennt durch eine Scheibe. Aber gerufen und gefragt, wie es ihm gehe. ja euch.» wer nicht mehr gut hören und sprechen Gut, haben sie gesagt. Aber ich weiss Probst: «Während des Besuchsver- kann, will fühlen. Körperkontakt ist für natürlich nicht, wie er diese Zeit erlebt bots probierten wir die Kontaktbox im viele ältere Menschen wichtig, um sich hat. Ob er verstanden hat, was passiert. Wintergarten aus, aber sie war überfor- zu verständigen, um Nähe herzustellen, Manchmal hat er bessere Tage, manch- dert damit, weil sie einen Knopf drücken um Gefühle zu zeigen und Trost oder mal schlechtere. Irgendwann konnten musste, wenn sie reden wollte.» Zuneigung zu empfangen. Auf den Pfle- wir uns wiedersehen, in der Glasbox. Er Schneider: «Sie hat Demenz und ver- genden lastet in diesen Monaten eine hat mich gefragt, was los sei. Ich habe gisst mehr als früher. Also sind wir zum besondere Verantwortung. Sie werden es ihm erklärt. Die Enkel dürfen nicht ‹Ruhesitz› spaziert und haben sie ange- für die Bewohner zu den wichtigsten mehr zur Schule, das Militär wurde auf- rufen, sagten, komm raus auf den Bal- Bezugspersonen – und zum grössten geboten. Da hat er schon gemerkt, dass kon. Und dann standen wir vor ihrem Risiko. Tragen sie das Virus ins Heim, es ernst ist. Es war für mich viel besser, Balkon, und wir sprachen eine Viertel- könnte das Dutzende von Todesfällen als wir uns sehen konnten.» stunde miteinander.» zur Folge haben. Frau Müller, 80, Bewohnerin: «Man Probst: «Zu meinem Geburtstag im Selina Hedinger, 18, Fachangestellte wurde so richtig überrollt von der Pan- April seilte unsere Mutter in einem ge- Gesundheit: «Ich wurde am 14. März demie. Als niemand mehr ins Heim häkelten Täschchen einen kleinen Pro- 18 Jahre alt, zwei Tage vor dem Lock- durfte, hat der Leiter eine Besucherbox secco ab, und alle sangen gemeinsam down. Ich konnte gar nie machen, was installiert. Ein Journalist machte dar- ‹Happy Birthday› für mich.» ich jetzt dürfte: in den Ausgang gehen, über einen Bericht, und ich kam in der Frau Weiss, 80, Bewohnerin: «Ich in irgendeinen Klub.Turnfeste sind auch Zeitung.» habe häufig telefoniert, als das Heim ge- gestrichen, Lager und Konzerte fallen Heidi Schneider und Margret Probst, schlossen war. Ich bin auch eine Lese- aus. Manchmal bereue ich, dass ich vor 67 und 68, Töchter einer Bewohnerin. ratte, ich habe viele Bücher hier, ge- der Pandemie nicht öfter weg war. Als Schneider: «Vor der Pandemie be- rade lese ich eine Saga über ein Land- Corona angefangen hat, dachten wir zu- suchten meine Schwester und ich unsere gut. Die Stimmung hier war nicht immer erst, das betrifft uns nicht. Aber das hat 89-jährige Mutter jeden Tag. Wir waren gut. Es hat jeden Tag Tränen gegeben. sich rasch geändert. Es war traurig, dass abwechslungsweise zwischen halb zwei Für demente Bewohner war es schwie- die Bewohner ihre Angehörigen nicht und vier bei ihr und nahmen sie am rig, sie haben nicht verstanden, was pas- mehr sehen konnten. Sie suchten mehr Der Hometrainer ergänzt Spaziergänge im Freien. Sonntag jeweils nach Hause.» siert. Mir war klar, die Massnahmen sind
44 WOCHENENDE Samstag, 20. März 2021 «Unsere Mutter ist kontaktfreudiger geworden, als wir sie seltener sehen konnten. Sie kennt jetzt viel mehr Leute im Heim.» Margret Probst Tochter einer Bewohnerin, 68 wir dann ein kleines Fest im Gemeinde- haus machen können, mit neun Erwach- senen und einem Kind.» Herbst: Keine Feste mehr Herr Schwyn, 78, Bewohner: «Meine Frau ist vor einer Woche gestorben, aber nicht an Corona. Ich bin froh, dass wir die letzten Monate so eng beieinander verbringen durften. Wir haben die Geis- sen im Innenhof besucht, zuerst mit dem Rollator, später dann mit dem Rollstuhl. Im Zimmer habe ich ihr Liedtexte und Geschichten vorgelesen, und wenn sie meine Hand drückte, wusste ich, sie hat mich verstanden. Wir waren 56 Jahre lang verheiratet. Nachdem meine Frau gestorben war, blieb sie noch eine Nacht in unserem Zimmer, und ich dachte Frau Weiss, 80, Bewohnerin: «Es war manchmal wie im Gefängnis. mir, es wäre nicht das Schlimmste, jetzt Selina Hedinger, 18, Fachfrau Gesundheit: «Ich habe manchmal jemanden umarmt, Keine Enkel mehr, keine Familie mehr, gar nichts.» auch zu gehen. Aber dann stellte ich mir auch wenn ich nicht durfte.» vor, wie traurig das für meine Söhne wäre, wenn gleich beide Eltern sterben zu unserem Schutz. Trotzdem habe ich meine Eltern, sie leben in Kosovo. Dort würden.» ertragen müssen. Wir haben uns in der vergleichen. Wegen Corona kommen oft mit meiner eigenen Stimmung ge- gibt es nicht so gute Spitäler wie in der Frau Weber, 88, und Frau Müller, Zeitung informiert.» weniger Leute hierher. Besuch sollte kämpft. Corona ging einem auf die Psy- Schweiz. Im April wollten wir sie besu- 80, sitzen nebeneinander im Esssaal. Frau Weber: «An Informationen hat man im Zimmer empfangen. Die Pfle- che. Mein Mann ist vor dreieinhalb Jah- chen, dann kam der Lockdown. Wir ver- Frau Müller hat einen Cappuccino be- es hier drin schon ein bisschen gehapert. ger bringen dann einen Kuchen hoch, ren an einem Tumor gestorben, ich bin schoben die Ferien in den Juli, aber da stellt. Das Rühren in der Tasse fällt ihr Und das Essen ist manchmal nicht so gut. das machen sie schon.» immer noch sehr traurig, ich habe einen kam Kosovo auf die Quarantäneliste. schwer, sie hat Parkinson und oft starke Es gibt oft Hackfleisch. Mein Mann und Es ist sein Bedürfnis nach Sicherheit, sehr lieben Mann gehabt. Ich hatte ge- Meine Mutter sagte zu mir, sie denke Schmerzen. ich haben früher gewirtet.Man hat ja hier das Daniel Gysin immer wieder in den hofft, wir können vielleicht noch einmal jeden Abend, es sei in Ordnung, wenn Frau Weber: «Ich habe keine Angst nicht mehr so viel Freude am Leben,aber Keller seines Altersheimes treibt. An zusammen nach Hause. Jetzt bin ich sie sterbe. Wenn sie uns nur wenigstens vor Corona, wir haben unser Leben ein guter Zmittag wäre etwas. Ich habe einem Mittwochvormittag im Oktober, hier, weil ich auf Hilfe angewiesen bin noch einmal sehen dürfe.» gelebt.» am liebsten Tomatenspaghetti.» kurz vor der Znünipause, steigt er hin- und meine Kinder es so wollen.» Cornelia Flammer, 40, Fachfrau Ge- Frau Müller: «Irgendwie wird uns Frau Müller: «Man kann das Leben unter und zählt die Schutzmasken und sundheit: «Im Sommer haben wir einen alles erspart, was die Jungen draussen im Altersheim nicht mit dem zu Hause Kittel, die Brillen und Hauben. Noch Sommer: Ein Drink in der Bar Pool für die Terrasse gekauft. Sonst be- ist genug Material da, nur Handschuhe suchte ich fast täglich die Badi, aber in sind gerade schwierig zu besorgen. Die Patrick Portmann, 31, Pflegefachmann: diesem Jahr war ich nur zweimal dort, Fallzahlen steigen wieder, und Gysin hat «Ich arbeite seit dem 3. Juni im ‹Ruhe- ich hatte Angst, mich anzustecken. Und grosse Angst, dass sich jetzt doch noch sitz›. Als ich hier angefangen habe, war ich ging auch nur ein einziges Mal in Bewohner infizieren. Erste Fälle unter die Situation relativ entspannt. Wir den Ausgang, in eine Bar. Bevor ich sie den Mitarbeitern gab es schon, «ich rufe haben Masken getragen bei der Arbeit, betrat, habe ich durch die Tür hinein- die Betroffenen dann jeden Tag an und daran gewöhnt man sich. Wir Pflegen- geschaut, ob der Raum leer genug war. frage, wie es geht», sagt er. den erfahren viel Solidarität. Ich hatte Meine Kollegin und ich waren dann die Fast täglich schicken der Kanton und das Gefühl, wir bekommen Respekt und einzigen Gäste.» der Bund nun neue Verordnungen und Anerkennung. Ich arbeite nur 75 Pro- Heidi Schneider und Margret Probst, Empfehlungen. Die neusten hat Gysin zent, auf 100 Prozent würde ich 5300 67 und 68, Töchter einer Bewohnerin: um drei Uhr nachts gelesen, danach Franken verdienen. Das finde ich einen Schneider: «Auch wenn das Heim seit konnte er nicht mehr schlafen. «Wie fairen Lohn. Aber klar, wir fordern bes- ein paar Monaten wieder offen ist, kom- sollen wir das bloss machen?», fragt er. sere Arbeitsbedingungen. Ich habe auf men wir nicht jeden Tag zu Besuch – nur Die Regeln sind für viele Alltagssitua- jeden Fall im Moment sehr das Gefühl, noch donnerstags und sonntags.» tionen nicht eindeutig, und Gysin ent- gebraucht zu werden. Systemrelevant, Probst: «Unsere Mutter ist kontakt- scheidet von Fall zu Fall. Müssen die Be- sagt man doch.» freudiger geworden, als wir sie seltener wohner in Altersheimen Masken anzie- Der Sommer 2020 bringt zurück, wo- sehen konnten. Sie kennt jetzt viel mehr hen? Nein, findet Gysin vorerst: «Wir nach sich alle seit Monaten sehnen: eine Leute im Heim. Und sie hat eine beste sind ja eigentlich wie eine Familie hier.» Pandemie-Pause, ein Stück Normalität, Freundin gefunden, ihre Zimmernach- Kann der Pfarrer den Gottesdienst im ein paar Freuden des Alltags. Die Be- barin, die beiden sind wie Zwillinge.» «Ruhesitz» noch durchführen? «Ja», wohnerinnen und Bewohner im «Ruhe- Schneider: «Im November wird sagt Gysin, «aber ohne Abendmahl.» sitz» dürfen wieder Besucher empfan- unsere Mutter 90. Wir hoffen sehr, dass Darf man weiterhin gemeinsam mit den gen, Daniel Gysin spielt wieder Ten- Bewohnern backen? «Ich kann ihnen nis. Es sind Wochen, in denen sich der das doch nicht alles wegnehmen. Was Heimleiter etwas erholen kann von den hätten sie sonst noch?» vielen Momenten der Anspannung, von Ram Bhalla, 64, Angehöriger: den vielen Auseinandersetzungen. «Daniel Gysin hat Zivilcourage. So viele Gysin erinnert sich an Mails von An- «Ich selber sorgte mich Leute sind im Moment von Angst getrie- gehörigen, die ihn beschimpften. «Die ben, die oft irrational ist.Wir alle müssen einen wollten mehr Freiheiten und um meine Eltern, sterben, auch wenn wir das gerne ver- haben nicht verstanden, warum sie ihre Mutter oder ihren Vater nicht mehr be- sie leben in Kosovo. drängen. Natürlich soll man vorsichtig sein im Umgang mit dem Virus. Meine suchen dürfen. Den anderen waren die Massnahmen zu lasch.» Er habe immer Dort gibt es nicht Tochter Ursina leidet an einer unheil- baren Krankheit des Nervensystems versucht, ruhig zu bleiben und alles zu erklären. «Aber manche Nachrich- so gute Spitäler und liegt hier auf der Pflegeabteilung. Sie ist erst 35 Jahre alt, muss beatmet ten habe ich rasch wieder gelöscht, aus wie in der Schweiz.» werden und kann nur noch einen ein- Selbstschutz.» Für Gysin ist klar, dass zigen Muskel am linken Mundwinkel sich nicht mehr wiederholen soll, was Halimi Beqir bewegen. Aber sie nimmt alles wahr. Stationsleiter, 48 im Frühling geschah: eine Schliessung Ich finde, man muss das Leid, das man des Altersheimes. Er hofft, eine zweite durch die Corona-Massnahmen verhin- Welle bleibe aus, er hofft auf eine Imp- dern möchte, in Relation stellen zu dem fung, vielleicht auch auf ein Wunder. Leid, das man mit ihnen verursacht. Halimi Beqir, 48, Stationsleiter: «Im Zum Beispiel, wenn man Angehörige in Sommer war die Situation stabiler, die schweren Stunden nicht besuchen darf. Bewohner und die Angestellten hatten Wir dürfen das Leben nicht ersticken sich beruhigt. Ich selber sorgte mich um Frau Wollek, 74, Bewohnerin: «Ich brauchte einfach wieder einmal ein Bier.» vor lauter Angst.»
Samstag, 20. März 2021 WOCHENENDE 45 «Ich war auch seit Monaten in keiner Bar mehr und nicht mehr im Ausgang. WG-Partys gibt es keine, auch keinen Fondueplausch.» Patrick Portmann Pflegefachmann, 31 Heimleiter hat Musiker eingeladen, unter ihnen auch eine Flötenspielerin. «Sie hat jedes Mal einen Corona-Test gemacht, sie hatte grossen Abstand zu den Bewohnern, und es war keine Quer- flöte, also nicht so gefährlich.» Gysin hat abgeklärt, welche Flöte wie viele Aero- sole verbreitet. «Zur Sicherheit habe ich Daniel Koch angerufen, den ehema- ligen Leiter der Abteilung für übertrag- bare Krankheiten beim BAG. Ich habe ihn im Sommer persönlich kennenge- lernt. Er sagte mir, so wie wir die Feste planten, sei das kein Problem.» Frau Müller, 80, Bewohnerin: «Die Feier war schön, eine Flötistin hat klas- sische Musik gespielt. Das Essen war wirklich sehr gut, ich habe nichts zu meckern. Es gab Salat und Terrine, Kalb- fleisch und Kroketten und zum Dessert Patrick Portmann, 31, Pflegefachmann: «Es ist ein einsames Sterben. Ein Sterben, Glace. Wir durften auch singen. Sie zün- Cornelia Flammer, 40, Fachfrau Gesundheit: «Ich war lange hin- und hergerissen, wie ich es niemandem wünsche.» deten echte Kerzen an, wunderschön. ob ich mich impfen lassen soll.» Ich habe mich entschlossen, hierzublei- ben über Weihnachten. Meine Toch- Patrick Portmann, 31, Pfleger: «In diesen Monaten zu einer Schaltzentrale ter wohnt viel zu weit oben, ich müsste Heims. «Es gibt Angehörige, die mir sa- rein, dann können wir wieder zusam- den vergangenen zwei, drei Wochen hat geworden ist. Hier telefoniert er mit den lange Treppe steigen.» gen, es sei ihnen egal, wenn ihre Mutter men sein, ohne nachzudenken.› Aber es die Vorsicht zugenommen. Ich bin in Angehörigen, ruft neue Informationen Daniel Gysin rät den Bewohnerinnen oder ihr Vater Covid-19 bekomme.» Das gibt auch viele, die skeptisch sind. Es ist der Gewerkschaft, wir haben eine Pfle- zur Pandemie ab, bespricht mit Mit- und Bewohnern davon ab, zu tun, was sei natürlich in Ordnung, sagt Gysin. natürlich auch eine ethische Frage bei gedemo mit 250 Leuten organisiert. Die arbeitern die Lage und sucht nach Kom- viele am liebsten tun würden: über die «Aber ich sage ihnen dann, sie sollten uns, wir arbeiten mit der Risikogruppe.» habe ich dann wieder abgesagt, weil ich promissen und Lösungen. Etwa, wie er Festtage nach Hause zu gehen, zu ihrer vielleicht auch an die anderen Leute in Frau Weiss, 80, Bewohnerin: «Wir das nicht hätte verantworten können. dem Wunsch nach einem Fest gerecht Familie. Wer es trotzdem macht, muss der Gruppe denken.» tragen jetzt auch Masken, jeden Tag Ich war auch seit Monaten in keiner Bar werden kann, wenigstens ein bisschen. nachher in Quarantäne. So sind die Vor- Frau Weber, 88, Bewohnerin: «An bekommen wir eine frische. Ich halte mehr und nicht mehr im Ausgang. WG- Gysin organisierte dann kleine Weih- schriften des Kantons. Der Heimleiter Weihnachten gehe ich zu meinen Kin- mich an alle Regeln. Ich schaue jeden Partys gibt es keine, auch keinen Fon- nachtsfeiern in den Wohngruppen, damit ist wieder einmal hin- und hergerissen: dern. Ich habe keine Angst, mich an- Abend Fernsehen, ‹Schweiz aktuell› und dueplausch.» nicht zu viele Leute zusammen waren, zwischen Regeln und Wünschen, zwi- zustecken. Wir hatten immer so schöne die Nachrichten. Gestern habe ich ge- Cornelia Flammer, 40, Fachfrau Ge- damit sich nicht zu viele mischten. Der schen der Weltlage und der Welt seines Weihnachten. Jetzt ist leider mein Mann hört, dass es ein noch stärkeres Virus in sundheit: «Ich habe mich immer, wirk- gestorben. Meine beiden Enkel tschut- Grossbritannien gibt. Ich hoffe jetzt fest lich immer an alle Vorsichtsmassnahmen ten bei den Junioren. Ich mag Fussball auf die Spritze.» gehalten.Aber gestern Abend haben wir und bin ein Fan des FC Basel. Es gab Die Spritze bringt eine mobile Impf- ein Abschiedsfest für eine Kollegin ge- ein Weihnachtsfest hier im Altersheim. einheit des Kantons in den «Ruhesitz», feiert. Als wir es vor einem Monat ge- Das war schön. So lernt man auch an- an einem Donnerstag Anfang Januar plant haben, war die Situation viel bes- dere Bewohner kennen. Man sollte die 2021. Daniel Gysin wollte eigentlich ser. Wir haben einen Raum im ‹Nuevo Situation einfach annehmen, wie sie ist. früher starten. Als Schaffhausen ein Pi- Sombrero› reserviert, darin hätte es Ich denke, mir wäre es egal, wenn ich lot-Altersheim suchte, in dem sich alle eigentlich Platz für achtzig Leute. An- hier sterben könnte.» impfen lassen, hätte er sich gerne ge- gemeldet hatten sich sechsundzwanzig meldet. «Aber ich habe kein impffreu- Leute. Gerade gab der Bundesrat neue Winter: Wer will die Spritze? diges Personal», sagt er, «bei mir arbei- Verschärfungen bekannt, danach haben ten Impfskeptikerinnen.» Fast alle Be- sich viele wieder abgemeldet. Wir sind Frau Müller, 80, Bewohnerin: «Über die wohner haben sich für die erste Imp- dann zu zehnt an einer riesigen Tafel Impfung hat man uns noch nicht infor- fung angemeldet, aber nur die Hälfte gesessen, haben Fajitas gegessen und miert. Ich habe keine Angst vor dem des Personals. Gysin hofft, dass in den Mojito getrunken. Mir tat der Restau- Sterben. Ich bin Exit-Mitglied, ich habe vier Wochen zwischen erster und zwei- rantbesitzer ein bisschen leid. Wir muss- mir überlegt, wie ich mit der Sterbe- ter Dosis ein Umdenken stattfindet. ten das Fest einfach irgendwie durch- hilfeorganisation in Kontakt komme. Beim zweiten Termin, so glaubt er, wür- ziehen. Das hatte nichts mit Trotz zu tun. Ich hätte nie gedacht, dass es so unlus- den sich einige Mitarbeiter doch noch Alle anderen Abschiedsfeiern haben wir tig ist im Alter. Manchmal habe ich so die erste Dosis spritzen lassen. Aber der wieder abgesagt.» viele Schmerzen, dass ich gar nicht ge- Heimleiter irrt sich. Frau Weiss, 80, Bewohnerin: «Ich bin nau weiss, wo überall.» Der Impfstoff ist bereits knapp, als 80 geworden in diesem Jahr, zweimal Cornelia Flammer, 40, Fachange- die mobile Impfeinheit am 10. Februar habe ich ein Fest in einem Restaurant stellte Gesundheit: «Die Demenzkran- im «Ruhesitz» die zweite Dosis inji- organisiert und dreissig Leute eingela- ken auf meiner Abteilung brauchen ziert. Nicht nur hier, auch in den ande- den, zweimal habe ich es abgesagt. Jetzt Nähe, wollen auch einmal in den Arm ren Schaffhauser Heimen gibt es inzwi- mache ich keines mehr.» genommen werden, da ist es schwierig, schen Wartelisten von Pflegerinnen und den Abstand einzuhalten. Gegenüber Pflegern, die sich umentschieden haben. Weihnachten: Feier mit Flötistin dem Impfen bin ich trotzdem skeptisch. Auch die Bewohner, die den ersten Ter- Man weiss nicht, was die einem rein- min verpasst haben, können nun nicht Herr Schwyn, 78, Bewohner: «Einer lassen, und kennt die Nebenwirkungen geimpft werden. Und da gibt es noch meiner vier Söhne schickt mir in der nicht. Es gibt keine Langzeitstudien, das ein anderes Problem. «Bei uns ziehen ja Adventszeit per Mail jeden Tag ein geht alles viel zu schnell. Im Moment immer wieder Menschen neu ein», sagt Musikstück, das er selber aufgenom- würde ich mich nicht impfen lassen.» Gysin, «und die sind nicht geimpft.» men hat. Das Internet bringt mir viele Franziska Gysin, 52, Pflegefachfrau Tatsächlich ist es Rosmarie Wol- Vorteile in der Pandemie. Nur ‹de choge und Ehefrau von Daniel Gysin: «Ich lek, eine neue Bewohnerin, die am Parkinson› macht alles komplizierter. leide an einer chronischen Erkrankung 23. Februar als Erste positiv getestet Manchmal rutsche ich von der Tastatur und nehme Immunsuppressiva. Mein wird, obwohl sie beim Eintritt noch ne- ab. Wenn es geht, schalte ich mich am Arzt hat mir im Dezember empfohlen, gativ war. Sie kommt auf die Isolations- Sonntag per Live-Stream dem Gottes- mich nicht als Erste impfen zu lassen. station. Bald stellt sich heraus, dass sie dienst in Schaffhausen zu.» Ich weiss, dass eine Impfung den Be- an der mutierten englischen Variante Gott ist allgegenwärtig im «Ruhe- wohnern das Leben erleichtern würde. des Virus erkrankt ist. Eine zweite In- sitz». Das Alters- und Pflegeheim steht Aber ich habe nicht das Gefühl, dass fizierte hatte den Impftermin verpasst, der freikirchlichen Chrischona-Ge- ich andere gefährde, wenn ich mich an weil sie an diesem Tag krank war. Die meinde nahe. Auch Daniel Gysin ist die Schutzmassnahmen halte. Bei uns anderen beiden Patienten auf der Iso- ein gläubiger Mensch, Weihnachten ist im Team unter den Pflegenden sind die lationsstation hatten beide Impfdosen für ihn ein wichtiges Fest. Es ist Ende Meinungen sehr unterschiedlich. Die erhalten. Gysin glaubt, dass sich der Dezember 2020, der Heimleiter sitzt in Jungen sind eher für die Impfung. Sie Schutz bei besonders geschwächten seinem Büro im Eingangsbereich, das in Ein Kuscheltier über einem Pflegebett. sagen: ‹Jetzt ziehe ich mir dieses Zeugs Menschen langsamer aufbaut. «Aber
46 WOCHENENDE Samstag, 20. März 2021 «Die Isolierstation war das Schlimmste, was ich je mitgemacht habe. Meine Zimmernachbarin ist unten geblieben, sie ist gestorben.» Frau Wollek Bewohnerin, 74 auch gerne wieder einmal einen Ausflug machen, bis nach Bern mindestens.» Cornelia Flammer, 40, Fachfrau Ge- sundheit: «Ich war lange hin- und her- gerissen, ob ich mich impfen lassen soll. Schliesslich habe ich mir die Situation nüchtern angeschaut und gedacht:Wenn ich damit jemanden im Heim schützen kann, oder meine Eltern oder meinen Partner, dann stimmt es für mich. Jetzt bin ich froh, dass ich es gemacht habe.» Selina Bommer, 16, auszubildende Fachfrau Gesundheit: «Ich hätte nie gedacht, dass es mich so heftig tref- fen könnte. An einem Morgen bin ich mit 39,6 Grad Fieber aufgewacht, hatte Kopfweh, Husten, das ganze Programm. Ein paar Tage später hatte ich ein Ste- chen in der Brust, konnte kaum mehr atmen. Ich musste notfallmässig ins Spi- Heidi Schneider, 67, und Margret Probst (r.), 68, Angehörige: «Wir haben unsere tal. Dort war es sehr einsam, niemand Franziska Gysin, 52, Pflegefachfrau: «Das Virus macht so viel Arbeit, Mutter angerufen, sagten: ‹Komm raus auf den Balkon.›» durfte mich besuchen, nicht einmal Blu- da bleibt zu wenig Zeit für die Menschen, für das gemeinsame Leben.» men waren erlaubt. Ich dachte, jetzt bist du so ein Brandherd. Sechzig Leute das ist nur mein Eindruck.» Wieder stellt mein Glaube hilft mir auch: zu wissen, mussten meinetwegen in die Quaran- Patrick Portmann, 31, Pflegefach- sich die Frage, ob Gysin den «Ruhesitz» wir kommen in den Himmel, wir sehen täne, Mitschüler, Freunde, die Familie, mann: «Ich kann nicht nachvollziehen, schliesst. Der Heimleiter entscheidet uns alle wieder. Ich habe sowieso nie da- die Familie meines Freundes. Ich glaube, warum sich so viele nicht impfen las- sich dagegen, obwohl es die einfachste mit gerechnet,uralt zu werden.In meiner ich habe mich im Heim angesteckt. In- sen. Vor allem die Jungen: Sie rauchen, Antwort auf die Gefahr wäre. Obwohl Patientenverfügung steht, dass ich keine zwischen arbeite ich wieder. Mein Ge- trinken Alkohol, konsumieren im Aus- «Jetzt gehen diese er sich so absichern könnte – oder zu- lebenserhaltenden Massnahmen will, ruchssinn ist immer noch weg, ich könnte gang vielleicht auch mal was anderes – mindest sein Gewissen. Gysin führt aber und der Entwurf für meineTodesanzeige Desinfektionsmittel inhalieren, ohne es aber Impfen, das ist böse. Es ärgert mich, Menschen von der Welt, eine neue Regel ein: Von nun an muss jeder Besucher ein Gespräch mit ihm liegt schon lange in der Schublade. Vor- her möchte ich aber noch ein bisschen zu merken. Ich bin vorsichtig geworden, desinfiziere dreimal häufiger, putze alles wenn jemand sagt, das seien ja alles alte Leute, die sterben. Ich habe mich frei- und die Schuhe, die sie führen und eine FFP2-Maske tragen. Frau Wollek, 74, Bewohnerin: «Die Normalität zurück, mit meinen Söhnen und Enkeln ins Restaurant gehen, das doppelt nach. Nur impfen lassen würde ich mich immer noch nicht, da bleibe ich willig für den Dienst in der Isolations- station gemeldet. Die Leute dort atmen auf ihrem Weg Isolierstation war das Schlimmste, was ich je mitgemacht habe. Jeder hatte seine habe ich ihnen versprochen. Ich würde bei meiner Meinung.» schwer, ringen nach Luft, es ist ein Lei- densprozess. Ein Mensch leidet, ob er 20, getragen haben, werfen Kammer.Wir konnten praktisch mit nie- 30 oder 90 Jahre alt ist. Normalerweise wir einfach weg.» mandem reden und konnten auch nicht nehmen wir uns Zeit, wenn jemand im raus, es war grässlich. Die Pflegerinnen Sterben liegt. Wir lesen der Person vor, Franziska Gysin Pflegefachfrau, 52 trugen eine Art Pelerine. Ich habe mich beten mit ihr, halten ihre Hand.Aber auf schampaar gefreut, als es zu Ende war. der Isolationsstation ist die Vorgabe: nur Meine Zimmernachbarin ist unten ge- so viel Berührung wie nötig. Man trägt blieben, sie ist gestorben. Darum ist ihr einen Schutzmantel, Handschuhe, eine Bett jetzt leer. Ich hatte noch keine Imp- Maske, eine Taucherbrille, sieht aus wie fung, weil es zu wenige gibt. Unser Bun- ein Astronaut. Es ist ein einsames Ster- desrat gibt mir zu denken, so eine Bande ben. Ein Sterben, wie ich es in meinen da oben. Eigentlich wollte ich im ver- sechzehn Jahren in der Pflege nie erlebt gangenen Jahr zu meiner Schwester auf habe und niemandem wünsche. Das die Philippinen, aber dann kam dieses macht mich traurig. Ich hoffe, dass bald Hoffnung in die Zukunft. In der Cafete- Virus.Wir haben jeden Abend einen Gin Normalität bei uns einkehrt. Die Men- ria stellt er den Mitarbeitern den neuen getrunken, ich glaube, das hilft.Aber auf schen ausserhalb meinen mit Normali- «Ruhesitz» vor. Das Projekt ist seit zehn die Philippinen konnte ich dann nicht. tät, wieder ins Café oder an ein Konzert Jahren in Planung, nun sieht es so aus, Darum bin ich jetzt halt hier. Die Leute zu gehen. Für unsere Demenzkranken als könnten die Bauarbeiten im August im ‹Ruhesitz› sind sehr lieb. Sie küm- heisst Normalität, dass sie unsere Ge- beginnen. «Endlich einmal etwas Posi- mern sich und flechten mir einen Zopf sichter endlich wieder ohne Maske se- tives, das nichts mit Corona zu tun hat», mit den Haaren. Meine Schwester ist in- hen, wir ihnen vorlesen, mit ihnen sin- sagt Gysin, während er vor einem Bea- zwischen nach Schaffhausen gekommen. gen, sie in Gespräche involvieren kön- mer mit der Visualisierung steht. Im Sie besucht mich immer, und wir lau- nen. Normalität bedeutet, dass unsere neuen «Ruhesitz» soll es einen Rund- fen phantasielos irgendwo herum. Ges- Bewohner einen Alltag leben, der bes- lauf im Garten für die Demenzkranken tern waren wir hier draussen an diesem ser und fröhlicher ist.» geben, ein unterirdisches Parkhaus, eine Stand. Wir haben einen Döner gegessen Franziska Gysin, 52, Pflegefachfrau Terrasse für die Mitarbeiter, und viel- und ein Bier bestellt. Ich brauchte ein- und Ehefrau von Daniel Gysin: «Am leicht wird das Altersheim dereinst gar fach wieder einmal ein Bier.» Montag habe ich die Isolierstation ge- nicht mehr «Ruhesitz» heissen. «Hier ist Von den vier Menschen, die am Mitt- putzt. Vor den Betten der Toten lagen ja viel zu viel Bewegung.» wochmorgen die Isolationsstation be- noch vier Paar Finken. Ich musste sie in Heimleiter Gysin beantwortet die zogen haben, ist Frau Wollek die Ein- den Abfall werfen. Das hat mich sehr Fragen der Mitarbeiter, er lacht und zige, die sie wieder verlässt. Auch dies- getroffen. Ich dachte: Jetzt gehen diese scherzt, dann hastet er zu seinem Com- mal entscheidet sich Daniel Gysin dafür, Menschen von der Welt, und die Schuhe, puter zurück. Seit das Virus Ende ein Risiko einzugehen: Er lässt Ange- die sie auf ihrem Weg getragen haben, Februar den Weg ins Heim gefunden hörige zu den Sterbenden, natürlich mit werfen wir einfach weg.Wäre keine Pan- hat, haben sich nochmals zwei Bewoh- Schutzausrüstung. Er dürfe dies in Aus- demie, hätten wir ihnen die Schuhe an- ner angesteckt. Ein Mann ist gestor- nahmesituationen bewilligen, sagt er, er gezogen oder sie den Angehörigen ge- ben, eine Frau liegt noch auf der Iso- habe aber gar nicht beim Kanton nach- geben. Es war ein belastendes Jahr. Das lierstation; sie ist auf dem Weg der Bes- fragen wollen. «Warum sollte der Kan- Virus macht so viel Arbeit, da bleibt zu serung. «Wenn wir jetzt eine Woche lang tonsarzt diese Verantwortung tragen wenig Zeit für die Menschen, für das ge- keine neuen Fälle mehr haben», sagt der müssen? Ich kenne die Situation, also meinsame Leben. Belastend war auch, Heimleiter, «ist die Ansteckungskette muss ich entscheiden.» dass mein Mann so viel Verantwor- wahrscheinlich unterbrochen.» tung trägt. Als das Virus ausgebrochen Eine Woche später verlässt die Wieder Frühling: Angst bleibt ist, waren wir alle so müde. Zum Glück Patientin die Isolierstation. Aber noch konnte ich mich inzwischen doch imp- können die Bewohner nicht in ihre alten Herr Schwyn, 78, Bewohner: «Kürzlich fen lassen. Sonst wäre alles noch kom- Zimmer im Untergeschoss zurück und ist eine Frau von meinem Stockwerk plizierter.» Daniel Gysin nicht in sein Büro. Es gibt an Corona gestorben. Aber Angst habe Es ist der 10. März 2021, und Daniel zwei neue Verdachtsfälle. Die Angst ich keine, ich bin ja jetzt geimpft, und Die Isolierstation für Corona-Patienten im «Ruhesitz» bleibt bestehen. Gysin blickt einen Moment lang voller bleibt im «Ruhesitz».
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