Kerstin Palm - gender thoughts New Perspectives in Gender Research Kommentar - gender thoughts
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gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series 2020, Volume 1 Kerstin Palm Kommentar
gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series (ISSN 2509-8179) EDITORS-IN-CHIEF Christoph Behrens, Julia Gruhlich, Solveig Lena Hansen, and Susanne Hofmann Gender(ed) Thoughts Goettingen as a scholarly platform for discussion and exchange on Gender Studies. The series project-related results. - ments to each contribution. The series aims at interdisciplinary exchange among Humanities, Social as an individual and social perspective in academia and day-to-day life. 2020, Volume 1 Kerstin Palm Kommentar Suggested Citation Palm, K. (2020): Kommentar, Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series, Vol. 1, https://dx.doi. org/10.3249/2509-8179-gtg-15 Göttingen Centre for Gender Studies Georg-August-Universität Göttingen Centrum für Geschlechterforschung Platz der Göttinger Sieben 7 D - 37073 Göttingen Germany
gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series 2020, Volume 1 DOI: 10.3249/2509-8179-gtg-15 Kommentar Kerstin Palm Humbold-Universität zu Berlin, kerstin.palm@hu-berlin.de Was heißt es, das Materielle in den Gender Stu- mit spezifischer Agency anerkannt werden müss- dies neu zu denken? Und wieso sollte eine ten, als auch auf davon abhängige menschliche Neubewertung des Materiellen in der Genderfor- Subjekte in ihren Vielfältigkeiten und dynami- schung überhaupt nötig und sinnvoll sein? Und schen Unangeschlossenheiten bezogen sein. schließlich: für welche fachlichen Bereiche der Dieser neue Care-Begriff mit seinen weitrei- Gender Studies könnte eine materialistische chenden ethischen Implikationen motiviert Neuausrichtung relevant sein? Das sind nur ei- daran anknüpfende Fragen und weitere For- nige der Fragen, die sich stellen lassen angesichts schungsdesiderate. Eine der Fragen könnte sein, der neuen an heterogene philosophische Strö- wie dem Paradox begegnet werden kann, für eine mungen anknüpfenden Materialitätsansätze, wie neue ökorelationale Theorie und Praxis eine De- sie inzwischen im Zuge des Neuen Materialismus zentrierung des menschlichen Subjektes zu auch in den Gender Studies Einzug gehalten ha- fordern und zugleich aber auf die widerständige ben. Die in dieser Ausgabe von gender[ed] Handlungsfähigkeit, Rationalität und moralische thoughts versammelten vier Texte geben auf ver- Souveränität ökoaktivistischer menschlicher schiedene Weise exemplarische Antworten auf Subjekte angewiesen zu bleiben. Noch unbear- diese Fragen und verweisen gleichzeitig auf wei- beitet bleibt in dem Text auch das Problem des teren Diskussions- und Klärungsbedarf. bloß appellierenden Charakters der vorgeschla- Da sind zum einen die Gedanken von Daniela genen Empathie-geleiteten Caring-Haltung ein Gottschlich und Christine Katz, die über einen Grundproblem, dem jeder neue Ethikentwurf zentralen ontologischen New-Materialism-As- begegnet. Appelle dürften nämlich die Profiteure pekt, nämlich die Einsicht in die existenzielle des bisherigen Systems gar nicht beeindrucken Relationalität alles materiell Existierenden, eine und zielen zunächst auch eher auf individuelle neue politisch wirksame Verantwortungsethik ethische Einsichten als auf strukturelle politische begründen wollen. Anstatt wie bisher die gesell- Umbrüche ab. Wie kann hier der Schritt von per- schaftlichen Naturverhältnisse als sozial und sönlichen Einzelüberzeugungen zu politisch ökologisch desaströse Ausbeutungsverhältnisse wirksamen Maßnahmen gelingen? Bisher auch entlang kapitalistischer Logiken aufrechtzuerhal- noch nicht ausgeführt ist schließlich, was dieses ten sei es an der Zeit, über ein erweitertes Caring- neue Caring-Konzept explizit mit Gen- Konzept Caring with Nature/s einen morali- der/Genderverhältnissen zu tun haben könnte. schen Transformationsprozess in Richtung Hier bestünde die komplexe Herausforderung Nachhaltigkeit in Gang zu bringen. Caring soll, vor allem darin, jenseits stereotypisierender Ge- wie exemplarisch am Streitfall Hambacher Forst schlechterzuschreibungen herauszustellen, ob verdeutlicht, auf der Grundlage von Empathie überhaupt und ggf. wie bisherige und zukünftige sowohl auf Naturen, die als relationale Subjekte Caring-Konzepte auf Geschlechterverhältnisse Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 72
Palm: Kommentar einwirken, von ihnen getragen oder auch von ontologischen Setzungen ist das Weltenganze in ihnen konterkariert werden. seinem Sein und seinen Bedeutungen ein kom- Mit Lisa Kralls Beitrag wird der Fokus auf re- plexes ständig im Werden begriffenes Gebilde lationale Ontologie und Verantwortungsethik mit fluiden Strukturierungen, die durch ineinan- beibehalten, der Blick schwenkt aber hier auf dergreifende Agencies menschlicher und eine weitere Herausforderung des Neuen Mate- nichtmenschlicher Instanzen entstehen und ver- rialismus, nämlich die Suche nach neuen antwortet werden. Meines Erachtens wird durch methodischen Zugriffen jenseits konstruktivisti- das von ihr praktizierte diffraktive Durcheinan- scher oder positivistisch-empirischer Analysen. derlesen von Perspektiven verschiedener Wie also lässt sich das Materielle angemessen be- Fachrichtungen diese Prozessualität aber nicht schreiben, ohne nur die ihr von menschlichen analysiert, sondern unreflektiert ontologisch ge- Subjekten zugeschriebene Bedeutung zu rekon- setzt: Barad erzeugt mit der Überlagerung struieren oder sie andererseits objektivistisch nur verschiedener fachlicher Perspektiven den Ef- als mechanisch-passives Regelwerk zu verste- fekt der Überlagerung verschiedener Aspekte, hen? Am Beispiel eines aktuellen genetischen die sie dann ontologisiert als Welt- und Erkennt- Forschungsfeldes, der Umweltepigenetik, er- nischarakteristika. probt Krall die von Karen Barad vorgeschlagene Dieses unbemerkte Hineinlegen/Hineinlesen diffraktive Methode des Durcheinanderlesens vorher festgelegter Ontologien sehe ich auch bei von Theorien aus verschiedenen Fachrichtun- Kralls Versuch am Werke, die Umweltepigenetik gen, Bezügen und Kontexten, da dieser Zugriff diffraktiv zu lesen. Als Ergebnis bekommt sie die situative Entstehung oder Auflösung von Di- wie Barad, an der sie sich orientiert, genau das chotomien in einer erweiterten, die Aktivität der wieder heraus, was sie vorher hinein gelegt hatte Materie einschließenden Weise zu rekonstruieren Unbestimmtheiten, Verschränkungen, Binari- verspräche. Denn umweltepigenetische For- tätsauflösungen, Unschärfen. Erst am Schluss schung untersucht den Einfluss nicht nur von des Textes kehrt die Autorin mit der Erwähnung chemischen und physikalischen Faktoren, son- weiterer kritischer Perspektiven von Hedlund dern auch von sozialen Erfahrungen und und Richardson, Mansfield und Guthman wieder Kulturtechniken auf Genaktivitäten und eignet zurück zu einem kritischen Zugriff, der auch die sich damit als Fallbeispiel für das Studium von gesellschaftlichen Ambivalenzen aktueller epige- potenziell sphärenvermengenden neuen Per- netischer Forschung zu analysieren vermag. Hier spektiven. könnte ein kritischer Vergleich der analytischen Das Anliegen, die Umweltepigenetik aus einer Erträge der beiden dargestellten methodischen Genderperspektive reflexiv aufzuarbeiten, er- Zugriffe sicherlich noch weiteren Aufschluss scheint angesichts dieses neuen Verhältnisses darüber geben, welche Methode sich für die Be- von Natur- und Gesellschaftsfaktoren grund- arbeitung der Epigenetik in Bezug auf welche sätzlich vielversprechend. Allerdings be- Zwecke überhaupt eignet. schleichen mich doch Zweifel, ob gerade die im Ähnlich wie beim ersten Text steht es schließ- Beitrag vorgestellte diffraktive Methode gut ge- lich auch in Kralls Text noch aus, die spannende eignet ist, um die Potenziale der Epigenetik Frage zu beantworten, in welcher Weise genau insbesondere auch für genderrelevante Ontolo- die Epigenetik für die Gender Studies relevant gien herauszustellen. Denn diese Methoden- sein könnte. Einerseits scheint ja mit der Epige- anwendung mag zwar ein interessantes episte- netik eine Überwindung des so verbittert mologisches Experiment sein aber kann sie geführten Nature-Nurture-Streits möglich, also auch etwas Substantielles beitragen zu einer ver- der Frage, ob Geschlechtereigenschaften ange- antwortungsgeleiteten und kritischen Er- boren oder durch Sozialisation erlangt sind. schließung von gesellschaftlichen Herausforde- Stattdessen entstehen körperliche Merkmale aus rungen? Nach Barads an romantische dieser neuen genetischen Perspektive kooperativ Strömungen des 19. Jahrhunderts angelehnten als Gen-Umwelt-Komplexe. Andererseits läuft Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 73
Palm: Kommentar die aktuelle epigenetische Forschung Gefahr, Kunstprojekten an. Witzgalls instruktive Be- neue umweltdeterministisch konzipierte Stereo- schreibungen verschiedener Performances und type zu formulieren, z.B. indem sie den Einfluss Installationen sowie im Netz dazu zur Verfügung der mütterlichen Umgebung für die genetische gestellte Videos verdeutlichen komplexe Reali- Entwicklung des Kindes nach überkommenden sierungsweisen dieses Weltenverständnisses und Geschlechterklischees auslegt. Hier ist zurzeit Weltenempfindens. Diese sinnlich-reflexiven Ar- eine Debatte in der Gender&Science-Forschung rangements eines spezifischen Weltenzugangs zur Beurteilung der Potenziale und Gefahren der überzeugen durch ihre komplexe ästhetische An- aktuellen Epigenetikforschung in vollem Gange, sprache unabhängig davon, ob ich die damit an der auch Lisa Krall schon mit anderen Beiträ- vermittelte Ontologie teile, kann ich mich durch gen, die einen klaren Genderbezug haben, diese spezifische Medialisierung der herausfor- teilgenommen hat. Es wäre wünschenswert ge- dernden Wirkung der Aufführungen materiell wesen, auch den vorliegenden Beitrag deutlicher aussetzen und nachdenklich erkunden, welches als Genderreflexion auszuweisen. Verhältnis ich selbst zu den vermittelten Bot- An dieser Stelle könnte eine kurze selbstrefle- schaften entwickeln könnte und möchte. In den xive Zwischenbetrachtung eingeschoben wer- von Witzgall kommentierten Kunstwerken wird den: könnte es sein, dass ich als Anhängerin re- außerdem über materiell realisierte körperliche flexiver Analyse und Kritik vielleicht auch durch Uneindeutigkeiten, Nichtbinaritäten, Potenziali- die Allianz des Neuen Materialismus mit nichtra- täten und Prozessualitäten auch ein über- tionalen Zugängen von den bisher be- zeugender Bezug zu den im Neuen Materialis- schriebenen Auslegungen relationaler Ontolo- mus so zentralen deleuzianischen Körpern als gien nicht überzeugt bin? Hier könnte Susanne situative Assemblages vermittelt und damit zu- Witzgalls Text neue Einsichten eröffnen, der sich gleich eine Reflexion der stetig statthabenden anhand verschiedener Beispiele wie den Ansät- Signifizierung und Vereindeutigung von ge- zen von Jane Bennett und Isabell Stengers dem schlechtlichen Körpern angestoßen. spezifischen Verhältnis von Neuem Materialis- Diese konfrontative Herausforderung der mus und magischem Denken zuwendet. Sie Sinne und Gedanken durch Kunst ist auch in vertritt dabei überzeugend die These, dass die dem künstlerischen Essay von Katrin Mayer Ansätze des Neuen Materialismus als empirische spürbar, der umfangreiche Bild- und Textmateri- Kunst oder magisches Werkzeug zu begreifen a e he I a a T e S c seien, d e [ A eh g a De e e d G a a ] S a e e . I h e 2016 ge e - neue wundersame Assemblagen und Verknüpfungen stif- sam mit Eske Schlüters gezeigten Werk werden e (vgl. diese Ausgabe, ihr Artikel S. 48) und d e über akustische, haptische, visuelle und räumli- Welt als verfilzte Geflechte aus menschlichen und nicht- che Dimensionen (Geschlechter)Identitäten, menschlichen Dingen, aus Kultur und Natur, Zeichen- (queere) Identitätswechsel und posthumane e e , Ma e a e d Le de chaf e (vgl. Identitätsmöglichkeiten im Spannungsfeld von diese Ausgabe, ihr Artikel S. 49) entwerfen. Ma- dinglicher Materialität und virtueller Digitalität gie erscheint auf diese Weise a a f a che erfahrbar. Die für gender[ed] thoughts aufberei- Praxis einer alternativen Wahrnehmung und Teil- tete collagenhafte Dokumentation der Aus- habe (ebd.), wie sie auch in der zeitgenössischen stellung kann über das zweidimensionale und Kunst erprobt werde. Diese Interpretation un- nicht begehbare Medium Bild die synästhetische terstützt meinen oben formulierten Eindruck, Qualität der Installation und die damit in Gang dass die beiden vorgestellten Texte weniger et- gesetzten Imaginationsprozesse aber natürlich was mit bisheriger analytischer Wissenschaft zu nicht ersetzen, weil wesentliche Gehalte körper- tun haben, auf noch einmal ganz neue Weise licher Wahrnehmung in ihrem simultanen mit Witzgall ließe sich jetzt ergänzen: die Texte Zusammenspiel mit Erinnerung, (Wieder)Erken- nähern sich in ihrem appellierenden bzw. Poie- nen, Interpretieren, Nachsinnen fehlen. Der sis-Charakter in ihrem Zugriffsgestus eher 74 Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1
Palm: Kommentar Essay wirkt dadurch aber auf mich wie eine Ein- Nötig wäre es aber meines Erachtens für die ladung, das Kunstwerk doch einmal zu Genderforschung, weiterhin effektive Methoden be che der Kritik an gesellschaftlichen Missständen und Diese ästhetisch-reflexive Auseinanderset- vor allem wirkmächtige politische Instrumente zung mit Kunst könnte wissenschaftliche und für gesellschaftliche Veränderungen zu entwi- ökopolitische Perspektiven und Praxen infor- ckeln. Und wie die interessante Gegen- mieren und unterstützen, jedoch meines überstellung von Kunst und Wissenschaft in die- Erachtens nicht ersetzen oder magisch bannen, sem Sammelband zeigt, wäre es sehr wünschens- so wie es mir in den ersten beiden Texten als wert, wenn Kunstperformances und Kunstrefle- Wunsch anzuklingen scheint. Wenn nämlich Na- xion wesentlich intensiver mit wissen- tur mit subjektiver Empathie begegnet werden schaftlichen Studien der Gender Studies auf Au- soll oder eine wissenschaftliche Praxis wie die genhöhe in einen gleichberechtigten Austausch Epigenetik durch Diffraktion in eine magische treten würden. Denn damit könnten die häufig in Assemblage verwandelt werden soll, wird Wis- der Genderforschung vernachlässigten ästhe- senschaft oder Ökopolitik damit nicht erneuert, tisch-reflexive Dimensionen von Geschlecht sondern in (bisher nicht-reflexive) Kunst aufzu- endlich gleichermaßen zur Geltung kommen wie lösen versucht und auf diese Weise abgeschafft, die rational-reflexiven Dimensionen von Ge- die Vielfalt der Weltenbezüge verkürzt und ver- schlecht und sowohl die epistemischen Er- ringert und darin enthaltene emanzipative kenntnisdifferenzen beider Zugriffe besser abge- Potenziale aufgegeben letztlich wird dadurch wogen und gewürdigt als auch eventuelle politische Wirkmächtigkeit aus den Händen ge- Kooperationen sinnvoller und reflexiver gestaltet geben. Eher wird damit einer romantischen werden. Weltflucht der Weg geebnet und die in den Gen- der Studies entwickelten so wertvollen Instrumente einer kritischen Gesellschaftsana- lyse und -veränderung werden vernachlässigt. Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1 75
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