Kindern Religiöse Diversität in der Lebenswelt von in Deutschland und Ghana 2023 - World Vision Kinderstudie
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Religiöse Diversität in der Lebenswelt von Kindern in Deutschland und Ghana 2023 5. World Vision Kinderstudie
3 WORLD VISION KINDERSTUDIE Vorwort Als internationale Kinder- Auch wenn die meisten Kinder in Deutschland und Ghana hilfsorganisation arbeiten grundsätzlich offen und tolerant gegenüber Menschen wir auf der ganzen Welt anderer Glaubensweisen sind, zeigen unsere Daten doch mit unterschiedlichen einen interessanten Unterschied: Während in Ghana bei Religionsgemeinschaften Kindern, für die ihr eigener Glaube eine sehr hohe Bedeu- zusammen. Während in tung hat und die ihn sehr intensiv mit ihren Familien Deutschland die Zahl der praktizieren, die Toleranz für andere Religionen zunimmt, Christoph Waffenschmidt Konfessionslosen zunimmt, scheint dies in Deutschland der umgekehrte Fall zu sein. Vorstandsvorsitzender World gehören global gesehen 84 Dieses Ergebnis weist darauf hin, dass es nicht den einen, Vision Deutschland e. V. Prozent der Weltbevölke- unmittelbaren Zusammenhang zwischen Religiosität und rung einer Religion an. Aus Toleranz gibt, sondern gesamtgesellschaftliche Kontexte unserer Arbeit wissen wir, dass in vielen Ländern der Welt, beachtet werden müssen. wie auch in unserem Partnerland Ghana, das interreligiöse Zusammenleben und der Dialog zwischen den Religions- Dass hohes Wissen über andere Religionen nicht mit der gemeinschaften stärker ausgeprägt ist als in Deutschland. Entfremdung von der eigenen Religion einhergehen muss und eine intensive Religionspraxis die Toleranz gegen- Wenn in Deutschland über das Thema der religiösen über anderen Glaubensweisen fördern kann, zeigen uns Diversität gesprochen wird, geschieht dies zumeist im die Interviews mit Kindern in Ghana. Religiöse Diversität Zusammenhang mit mutmaßlich daraus resultieren- wird auch in Deutschland ein nicht mehr wegzudenken- den gesellschaftlichen Problemen oder Konflikten. Das der Bestandteil unserer Zukunft sein, für viele Kinder ist es ist bemerkenswert, weil ein großer Teil der erwachsenen längst ihr Alltag. Wir als deutsche Gesellschaft sind aufge- Bevölkerung in Deutschland kaum engeren persönlichen rufen, mit diesem Wandel, der sich in den Erfahrungswel- Kontakt zu Angehörigen anderer Religionen hat und damit ten der Kinder längst vollzieht, mitzugehen und insbeson- religiöse Diversität nur mittelbar erfährt, zum Beispiel über dere auch in unseren Glaubensgemeinschaften Konzepte Berichte in den Medien. Viele Kinder hingegen werden für das positive, konstruktive und zukunftsgerichtete inter- heute in völlig anderen Lebenswelten groß. Gerade im religiöse Zusammenleben voranzubringen. großstädtischen Raum haben sie durch Schule und Frei- zeit Kontakte zu Gleichaltrigen unterschiedlicher Herkunft. Wer also etwas darüber wissen will, was religiöse Diversität Herzliche Grüße im Alltag bedeutet, welche Herausforderungen sie mit sich bringt, aber auch welche Chancen sie bietet, sollte gerade mit Kindern darüber sprechen. Beim Umgang miteinander weisen Kinder, wie unsere Studie zeigt, eine hohe Plura- lismuskompetenz auf. Ihre Bekanntschaften und Freund- schaften überbrücken unterschiedliche Religionen und nicht-religiöse Weltanschauungen. Sie akzeptieren ver- schiedene religiöse Glaubensweisen und Praktiken, auch wenn diese konträr zueinander zu stehen scheinen. Sie können sich auf gemeinsame Werte einigen und sich in ihren Begegnungen zuallererst als Kinder identifizieren, bevor andere gesellschaftliche Positionierungen relevant werden.
Inhalt Vorwort 3 01. Einleitung 6 02. Religiöse Diversität in den Untersuchungsländern 10 03. Theoretische und methodische Grundsätze der World Vision Kinderstudie 12 04. Religionszugehörigkeit und Glaube 18 05. Interreligiöse Kontakte und Toleranz 26 06. Religiöse Ablehnung, Stigmatisierung und Diskriminierung 36 07. Schlussfolgerungen 42 08. Politische Forderungen 46 09. Literatur 48 Impressum Herausgeber: World Vision Deutschland e. V. Autorinnen: Prof. Dr. Caterina Rohde-Abuba, Prof. Dr. Britta Konz Satz und Gestaltung: Wortballon, Klaus Schickor Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung durch das World Vision Institut: www.worldvision.de/informieren/institut Stand: März 2023
7 WORLD VISION KINDERSTUDIE World Vision Deutschland führt seit 2007 die World Vision Kindern einbeziehen, werden jedoch meist noch die Per- Kinderstudie durch. Die ersten vier Ausgaben wurden allein spektiven „westlicher Kulturen“ berücksichtigt (Hosny et al in Deutschland erhoben. Sie haben mithilfe repräsentativer 2020: 3521). Dieser eurozentrische Blick gerät in Deutschland Daten Auskunft darüber gegeben, wie es um das Wohl von aktuell in die Kritik, was die verstärkte Aufarbeitung der Kolo- Kindern und Jugendlichen in Deutschland steht und wie nialgeschichte, Debatten um Alltagsrassismus in Deutsch- Kinder auf unterschiedliche gesellschaftliche Probleme wie land (#metwo), die Anerkennung des Völkermordes an den Armut, soziale (Un-)Gerechtigkeit oder Flucht blicken. Die Herero und Nama von 1904 oder die Restitution geraubter vorliegende 5. World Vision Kinderstudie stellt ein Novum Kunst widerspiegeln. Hiermit einher geht die Forderung dar, weil sie erstmals nicht nur in Deutschland, sondern auch nach einem Abschied von paternalistischem Denken, das unserem Partnerland Ghana erhoben wurde. Durchgeführt afrikanische Länder als rückständig markiert und Kindheit in Kooperation mit der Religionspädagogin Prof. Dr. Britta außerhalb von Europa und Nordamerika weitgehend aus Konz, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, World Vision der Perspektive einer „westlichen Erzählung von Moder- Ghana und dem Datendienstleister Ipsos, haben wir in bei- nisierung“ (Morrison 2012; Liebel 2017: 12) beurteilt. Immer den Ländern jeweils 2500 Kinder im Alter von 6 bis 16 Jahren noch werden meist stereotype Bilder afrikanischer Länder befragt, die aus unterschiedlichen Landesteilen stammen und Menschen im öffentlichen und wissenschaftlichen Dis- und unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören. kurs transportiert. Kinder in Afrika werden überwiegend als „hilflose und bedürftige Opfer in außergewöhnlichen Bei der Planung dieser Studie haben wir uns auf den Umständen“ dargestellt, die kein „normales“ Leben haben. Umgang von Kindern mit religiöser Diversität fokussiert als Sie werden als „‘Kinder ohne Kindheit‘ belächelt, bemitleidet, eine aktuelle gesellschaftliche Herausforderung, die beide mitunter auch gefürchtet“ (Liebel 2017: 13), vor allem, wenn Untersuchungsländer mit großen christlichen und musli- sie nach Deutschland migrieren und gleichberechtigt an der mischen Glaubensgemeinschaften sowie diversen kleine- Gesellschaft partizipieren möchten. ren Religionsgruppen prägt. Während Ghana bereits auf eine längere Geschichte des interreligiösen Zusammenle- Auch in der Forschung werden die Stimmen von Kin- bens zurückblickt, sind Erfahrungen mit religiöser Diversi- dern aus afrikanischen Ländern bislang nicht ausreichend tät in Deutschland zumeist eine Generationenfrage. Kin- berücksichtigt. Zwar haben Entwicklungs- und Familien- der, Jugendliche und junge Erwachsene der heutigen Zeit studien zunehmend Ansichten von Kindern einbezogen, haben oft mehr lebensweltliche Erfahrungen und Kompe- diese stammen jedoch vorwiegend aus „westlichen Kultu- tenzen im Umgang mit Diversität als ihre Eltern und Groß- ren“ (Hosny et al 2020: 3522) oder sie werden als nicht rele- eltern (vgl. dazu Zimmer/Stein 2020: 6). Gerade städtische vant erachtet. Selten werden sie im Sinne einer Globalge- Gebiete sind für junge Generationen durch den gemeinsa- schichte in Beziehung gesetzt, bei der „die verschiedenen men Besuch von Schulen und Freizeitorten „Kontaktzonen“ und sich wandelnde[n] Lebensverhältnisse und -formen (Pratt 1991) unterschiedlichster sozialer, ethnischer, kulturel- von Kindern weltweit in ihren raumzeitlichen Dimensionen ler und religiöser Gruppen. rekonstruiert“ werden (Liebel 2017: 13). Dies entwertet die potenzielle Bedeutung der Perspektiven, Erzählungen und 01. Einleitung Zur Problemstellung internationaler Lebensansichten von Kindern als Zugang zu bestehenden soziokulturellen Skripten jenseits des „westlichen Rahmens“ (Hosny et al 2020: 3521, in Bezug auf: Harwood et al. 1997; Tamis-LeMonda et al. 2008). Kindheitsforschung In den verschiedenen Ländern des Globus melden sich Die World Vision Kinderstudie geht davon aus, dass Kin- Kinder zu Wort, bringen ihre individuellen Kulturen hervor der zwar in gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen und mischen sich „mit eigenen Initiativen und Bewegungen Kontexten sozialisiert werden und eingebunden sind, dass in die Welt der Erwachsenen“ ein (Liebel 2017: 71). Dabei sie aber als Ko-Konstrukteurinnen und Konstrukteure ihrer können sie sich darin, welche Interessen sie verfolgen, wie Lebenswelt die „Strukturen und Muster mit beeinflussen, sie ihre Lebenswelten deuten und welche Partizipations- prägen und somit auch verändern (können)“ (Liebel 2017: möglichkeiten sie nutzen, erheblich unterscheiden (Liebel 11). Infolgedessen gibt es auch „nicht nur eine Kindheit, son- 2017: 71). Die vom ‚globalen Norden‘ pauschal auf den ‚glo- dern immer verschiedene Kindheiten [...] sei es mit Blick balen Süden‘ übertragenen Wahrnehmungs- und Denk- auf die Geschichte, sei es mit Blick auf den individuellen muster müssen deshalb hinterfragt werden, was auch für Lebenslauf, sei es mit Blick auf verschiedene Gesellschaften die Begriffe von Kindheit gilt, „ebenso wie für die Frage, in und Kulturen“ (Liebel 2017: 11). Während Kindheits-, Entwi- welcher Weise Kinder und Jugendliche als Subjekte oder cklungs- und Familienstudien zunehmend die Stimmen von Akteure verstanden werden können“ (Liebel 2017: 71). Foto: AJ_Watt
8 WORLD VISION KINDERSTUDIE Fragestellung und Aufbau der vorliegenden Studie Mit Bezug auf die Herausforderungen der postkolonialen Entwicklungszusammenarbeit intendieren wir mit der vor- liegenden Studie eine doppelte Abkehr von einem paterna- listischen Denken: Zum einen sollen Kinder als Subjekte und kompetente Gesprächspartnerinnen und -partner wahr- und ernst genommen werden und zu Wort kommen. Dies gilt im Besonderen für Kinder aus afrikanischen Ländern, die im öffentlichen Diskurs überwiegend als passive Opfer von Armut in den Blick geraten, nicht aber in ihrer gesellschaftli- chen Handlungsmacht. Bislang ist dementsprechend wenig bekannt über die subjektiven Erfahrungen von Kindern in Ghana, ihre Wahrnehmungen, Überzeugungen und Werte, die ihr tägliches Leben prägen (Hosny et al 2020: 3523). Zum anderen möchten wir mit der international vergleichenden Studie Anregungen geben, in ein Gespräch über Bedeut- samkeiten und Orientierungen zu treten und nicht pauschal ‚westliche‘ Annahmen auf alle übertragen. Dies betrifft ins- besondere auch die Frage nach der Bedeutung von Religion und (nicht-)religiösen Lebensorientierungen und Weltan- schauungen. Während Religion im deutschen Diskurs oft eine sekundäre oder marginale Bedeutung zugeschrieben wird und die Zahl der konfessionslosen Menschen zunimmt, kommt ihr weltweit gesehen eine weitaus bedeutsamere Rolle zu: Ca. 84 % der Menschheit sind Mitglied einer Reli- gionsgemeinschaft (Pew Research Center 2012 & 2017). Religiöse Praktiken und Rituale sind gemeinschaftsbildend, religiöse Deutungsmuster werden für den Umgang mit Kon- tingenzerfahrungen herangezogen, aber auch für politische Zwecke missbraucht, und religiöse Positionierungen werden – auch konflikthaft – ausgehandelt. Insofern wenden wir uns mit dem Schwerpunkt dieser Kinderstudie zu religiöser Diversität einem Themenspek- trum zu, das global gesehen eine große Brisanz und für unser Partnerland Ghana eine besondere Bedeutung hat. In der vorliegenden Studie gehen wir zunächst der Frage nach, welche Bedeutung Religiosität in den Lebenswel- ten der befragten Kinder hat, über welche interreligiösen Kontakte sie verfügen und wie sie mit dem (Nicht-)Glau- ben anderer umgehen. Von besonderem Interesse für den Vergleich der Untersuchungsländer Deutschland und Ghana ist, dass im deutschen Diskurs eine starke Religiosi- tät oft mit einer potenziell ablehnenden Haltung gegen- über anderen Religionen in Verbindung gebracht wird, was in Ghana wenig zur Diskussion steht. Abschließend unter- sucht diese Studie deshalb, in welchem Zusammenhang Religiosität und Toleranz für andersglaubende Menschen stehen und ob und wie Kinder aufgrund ihrer Religionszu- gehörigkeit Ablehnung, Stigmatisierung und Diskriminie- rung erfahren. Foto: PeopleImages
11 WORLD VISION KINDERSTUDIE Insgesamt kann die Bevölkerung in Ghana als sehr gläu- Das religiöse Feld in Deutschland unterliegt derzeit mas- big beschrieben werden; Religion ist ein wichtiger siven Veränderungen (Polke 2020: 28). „Nicht nur empi- Bestandteil im Alltag der meisten Menschen (Aidoo/Bot- risch, sondern auch narrativ ist Deutschland ein Einwan- chway 2021: 425). Die meisten Menschen in Ghana wid- derungsland, das sich in einem Transformationsprozess men der Teilnahme an religiösen Veranstaltungen viel befindet. In ihm werden Zugehörigkeiten, Identitäten, Zeit, auch nicht-religiöse Treffen werden oft mit Gebe- Partizipation und Chancengerechtigkeit“ ausgehandelt ten begonnen und Religion durchdringt die Bereiche (Winkler 2022: 286). Als Migrationsgesellschaft erlebt das der Politik, Wirtschaft, Bildung und Erziehung (Hosny et Land zum einen eine wachsende religiöse Pluralisierung, al 2020: 3522 unter Bezugnahme auf; Okyerefo und Fia- zum anderen ist es in den letzten Jahren zu einer massi- veh 2017). Historisch reicht das interreligiöse Zusammen- ven Entkonfessionalisierung gekommen, die aller Voraus- leben in Ghana bis in das 15. Jahrhundert zurück. Durch sicht nach in den nächsten Jahren nicht abebben wird die Kolonialisierung kam die ghanaische Bevölkerung, die (vgl. Polke 2020: 28). Das Recht auf Religionsfreiheit ist bis dahin mehrheitlich indigene Glaubensweisen prakti- durch das Grundgesetz in Deutschland festgelegt und zierte, mit dem Christentum und im 18. Jahrhundert mit es gibt ein vielfältiges Spektrum an religiösen und nicht- dem Islam in Kontakt. religiösen Positionierungen und Weltanschauungen: So treffen in der Schule beispielsweise Kinder mit säkula- Das Christentum in seinen unterschiedlichen Ausprägun- ren Orientierungen auf Kinder, „für die Religion poten- gen, der Islam und indigene Religionen, oft umgangs- ziell und häufig real eine tragende Lebensdimension sprachlich als ‚traditioneller Glaube/Religion‘ bezeichnet, sowie ein zentraler Identitätsmarker ist“ (Simojoki/Kühn sind heute die hauptsächlichen Glaubensrichtungen in 2020: 209). Während mehrere Jahrzehnte der Zuwachs an Ghana (Nonterah 2016: 197; Nkrumah-Pobi/Owusu-Afriyie muslimischen Bevölkerungsgruppen wenig Beachtung 2020: 74). In Bezug auf das interreligiöse Zusammenleben erfuhr und eher kulturelle Unterschiede problematisiert wird der Ansatz einer „peaceful cohabitation“ verfolgt (vgl. wurden, markierten die terroristischen Anschläge am 11. auch Nonterah 2016: 197). Allerdings ist die gesellschaft- September 2001 für das interreligiöse Zusammenleben liche Ablehnung des Atheismus und indigener religiöser in Deutschland einen wichtigen Wendepunkt in Hin- Glaubensweisen und Praktiken verbreitet und es kommt blick auf das Auftreten von Islamophobie (vgl. dazu Nagel auch bei den großen Religionsgruppen immer wieder zur 2015: 201). Hiermit geht einher, dass Religion (oft in Über- Instrumentalisierung von Religion für gesellschaftliche schneidung mit anderen Differenzkategorien wie Kultur Konflikte (vgl. auch Nonterah, 2016: 197). Der Norden Gha- und Nationalität) im gesellschaftlichen Diskurs bezüglich nas ist durch muslimische Bevölkerungsgruppen domi- der Fragen nach Zugehörigkeit und Teilhabe problemati- niert, während im Süden die christliche Bevölkerung in der siert wird (Vollmer/Karakayali 2017). Nach Mecheril (2002: Mehrheit ist. In allen Landesteilen ist es bereits zu gewalt- 109) dominiert in Deutschland aufgrund der historischen samen Ausschreitungen zwischen Angehörigen der unter- Entwicklung als ethnisch und kulturell begründeter Natio- schiedlichen Religionsgruppen gekommen (Nkrumah- nalstaat ein „natio-ethno-kulturelles“ Zugehörigkeitsver- Pobi/Owusu-Afriyie 2020: 76). Auch tritt immer wieder eine ständnis. Religiöse Minderheiten werden als ‚die Anderen‘ 02. Religiöse Politisierung von Religion oder Ethnizität in Wahlkämpfen in Erscheinung, wird gleichzeitig aber stark kritisiert (Aidoo/ Botchway 2021: 439). Dementgegen versuchen Parteien konstruiert (vgl. Lingen-Ali/Mecheril 2016: 17), was mit unterschiedlichen Formen von Diskriminierung und Mik- roaggression im Alltag einhergehen kann (Sue et al 2007: Diversität in den auch, durch die Aufstellung christlicher und muslimischer 278f.; Pica-Smith 2009; Elkassem et al 2018). Mit Religion Kandidierender eine breitere Gruppe an Wählerinnen und wird im gesellschaftlichen Diskurs oftmals eine Gefahr für Wählern zu erreichen (ebd. 231). Viele christliche und mus- das „Modell individueller Freiheit“ assoziiert: Es wird her- limische Gemeinschaften bemühen sich um Frieden und vorgehoben, dass unter „dem Deckmantel von Religion“ Untersuchungs- Toleranz (Nkrumah-Pobi/Owusu-Afriyie 2020: 77). Entspre- gemordet wird, Missbrauch stattfindet, „Errungenschaften chend der Annahme, dass Religion oder Glaubensweise individueller Selbstbestimmung und Gleichberechtigung einen exklusiven Wahrheitsanspruch hat (Nkrumah-Pobi; bestritten“ und „unzeitgemäße Privilegien verteidigt“ wer- Owusu-Afriyie 2020: 80), wird Religion häufig der Stellen- den (Wißmann 2020: 47). Aktuell erhalten in Deutschland ländern wert einer „neutral platform“ zugewiesen (Aidoo/Botchway 2021: 425), welche die politischen und ethnischen Zugehö- rigkeiten überschreitet und die Partizipation von Bürgerin- nen und Bürgern in gesellschaftlichen Auseinandersetzun- zudem Verschwörungsmythen eine neue Brisanz, so wie sich auch der Antisemitismus verschärft. Daneben gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens für einen demo- kratischen Umgang mit religiöser Diversität und vielfältige gen jenseits des politischen, ethnischen, geschlechtlichen kirchliche und gesellschaftliche Initiativen für die Stärkung oder klassistischen Ungleichgewichts ermöglicht (Aidoo/ des interkulturellen (bzw. transkulturellen) und interreligiö- Botchway 2021: 425). sen Zusammenlebens. Foto: FatCamera
13 WORLD VISION KINDERSTUDIE (Religiöse) Weltzugänge und Orientierung geben, indem sie helfen, einen „Sinn in von Kindern der Welt und in den Geschehnissen des eigenen Lebens zu finden“ (Klein/Albani 2011: 229). Zudem stellen Religio- Als internationale und interreligiös arbeitende Kinder- nen Rituale und Traditionen bereit und bieten Geschich- hilfsorganisation war es unser Ziel, mit dieser Ausgabe ten, die einen „umfangreichen Erfahrungsschatz an Leid- der Kinderstudie Einblick in das vielfältige religiöse und wie auch Bewältigungserfahrungen“ (Klein/Albani 2011: nicht-religiöse Wertespektrum von Kindern unterschied- 229) und Handlungsstrategien beinhalten. licher Lebenskontexte zu geben, wobei die 5. World Vision Kinderstudie den Schwerpunkt auf die Einstellungen von Die Forschung über Kindheit und Religiosität von Kindern Kindern zu religiösen Fragen und religiöser Diversität legt. hat in den letzten Jahrzehnten einen starken Wandel erfahren. Während Kinder bis in die 1980er-Jahre als eher Kindheit und Jugend sind biografische Phasen, in denen passiv Lernende einer ‚Erwachsenenkultur‘ wahrgenom- Identitätsbildungsprozesse eine große Rolle spielen, zu men wurden, verlagerte sich der Fokus in den 1990er-Jah- denen auch die Entwicklung einer eigenen Religiosität ren darauf, welchen Beitrag Kinder als soziale Akteurin- gehören kann. In die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer Religi- nen und Akteure zur Gestaltung der Gesellschaft leisten onsgruppe wird im Sozialisationsprozess durch das soziale (Corsaro 1996; Honig 2009; Mayall 2001) und wie sie ihre Umfeld, Familien und Peers eingeführt. Die Teilhabe an „eigene[n] Interessen und Bedürfnisse in ihren Entschei- Praktiken und Ritualen der jeweiligen Religionszugehörig- dungen, im Handeln zum Ausdruck bringen“ (Wihstutz keit kann eine „emotional bedeutsame soziale Verortung“ 2019: 28). Dementsprechend hat sich auch in der Reli- (Pfaff-Czarnecka 2011: 201) und soziale Einbindung in eine gionspädagogik die Perspektive verändert, dass Kinder Gemeinschaft ermöglichen (2013: 13). Sie kann aber auch religiöse Akteurinnen und Akteure in ihren Lebenswel- mit gesellschaftlicher Diskriminierung und Ausschluss ten sind, anstatt sich lediglich im Prozess des Werdens einhergehen. zu befinden (in Anlehnung an Kammeyer 2012: 40). Die Kindertheologie geht davon aus, dass Kinder in der Lage Religion kann dabei zum einen als „Mittel zur Konstruk- sind, eigenständig Fragen an Gott zu formulieren und tion von Kollektiven, zur Inklusion und Exklusion sowie zur religiöse Deutungen auf Erlebnisse in ihrer Lebenswelt Herstellung und Durchsetzung sozialer Hierarchien“ gese- anzuwenden. Je nach individueller Ausprägung weisen hen werden, „wobei der Konstruktcharakter von Religion sie bestimmten religiösen Praktiken für sich (k)eine per- in Analogie zu Kategorien wie Kultur und Ethnizität oder sönliche Bedeutung zu und beantworten, inwiefern sie auch gender und dis/ability zu betonen wäre“ (Willems Gott als eine „ansprechbare Wirklichkeit“ (Ulfat 2017: 245) 2020: 11-12). Neben einem Verständnis von Religion als wahrnehmen, mit der sie auf ihre Weise über Erfahrun- „Modus der Vergemeinschaftung“ kann Religion auch als gen, ihre Wünsche, Ängste und alltäglichen Sorgen kom- „spezifischer ‚Modus der Welterschließung‘“ (Willems 2020: munizieren können (vgl. Ulfat 2017: 245). Hierbei greifen 12) verstanden werden, „innerhalb dessen Fragen von sie auf die über die Sozialisation vermittelten (religiösen) Sinn, Lebensorientierung und Umgang mit Kontingenz Deutungen zurück. Sie übernehmen die Weltinterpreta- 03. Theoretische bearbeitet werden“ (Willems 2020: 12). Religiöse Identität gerät hierbei in Hinsicht auf ihre inner- tionen ihres Umfeldes aber nicht einfach, sondern vollzie- hen als „Konstrukteure ihrer Wirklichkeit“ (Kraft 2004: 172) eigenständige Adaptionsleistungen. und methodische psychische Dimension in den Blick, insofern sie Antwor- ten auf Sinnfragen bieten und Wertorientierungen für den Umgang mit schwierigen Situationen vermitteln kann Mit Kindern sprechen: (Betz et al 2014: 8; Konz/ Rohde-Abuba 2022). Hiermit kann Das Forschungsdesign Grundsätze Religion ein bedeutsamer Bestandteil der persönlichen Identität sein, die es Menschen ermöglicht, einen „Sinn der Kinderstudie der Kohärenz und Kontinuität“ gerade in schwierigen Situ- ationen oder Umständen für sich selbst und andere her- Die 5. World Vision Kinderstudie wurde von 2020 bis 2023 der World Vision zustellen (Kohli 2000: 115; vgl. auch Konz 2022: 75). Bei der Bewältigung von Kontingenzerfahrungen, also der Unge- wissheit menschlichen Lebens, die besonders in Krankheit in enger Kooperation zwischen World Vision Deutschland, World Vision Ghana und Teams des Datendienstleisters Ipsos in beiden Ländern durchgeführt. Sie wurde als qua- Kinderstudie und Tod ins Bewusstsein treten, können in der Sozialisa- litativ-quantitativ triangulierte Erhebung konzipiert. Dies tion erworbenen religiösen Relevanzsystemen und Deu- bedeutet, dass wir als ersten Schritt der Untersuchung tungsmustern eine hohe Bedeutung zukommen (Ritter et sogenannte qualitative Tiefeneinzelinterviews mit einer al 2006: 194-195). Die religiösen Erklärungen können Halt kleinen Anzahl (15 Personen im Alter von 6 bis 16 Jahren) Foto: World Vision
14 15 WORLD VISION KINDERSTUDIE WORLD VISION KINDERSTUDIE von Kindern in beiden Ländern durchgeführt haben. Bei großen Teil in den Fragebogen übertragen werden, um Um die konkreten Fragestellungen und Antwortkatego- und Ghana entwickelt und in die unterschiedlichen Spra- Tiefeninterviews handelt es sich um leitfadengestützte eine kindgerechte Befragung zu ermöglichen, was deutlich rien für den später folgenden standardisierten Fragebogen chen übersetzt wurde. Der Interviewleitfaden umfasste Einzelgespräche von ca. einer bis eineinhalb Stunden, bei schwieriger ist, wenn sich im Fragebogen allein die Pers- möglichst breit zu explorieren, wurde darauf geachtet, dass episodisch-narrative, begrifflich-semantische sowie pro- denen es darum geht, Kinder dazu anzuregen, möglichst pektive und Terminologie Erwachsener niederschlägt. das qualitative Sample Kinder unterschiedlichster Gesell- jektive Fragen, um das Forschungsthema möglichst umfas- unbeeinflusst über ihre Erfahrungen oder Haltungen zu schaftsgruppen beinhaltet. In Bezug auf die Religiosität wur- send und multiperspektivisch zu explorieren. Zudem bestimmten lebensweltlichen Themen zu sprechen. Wir Aufgrund der gegenwärtigen Situation enthielt der stan- den in Deutschland Kinder interviewt, die sich als römisch- wurde Stimulusmaterial erstellt, welches den Kindern und haben hierbei unter anderem mit Kindern darüber gespro- dardisierte Fragebogen zwei Blöcke, die allerdings inhalt- katholisch, evangelisch, muslimisch, freikirchlich, jüdisch, Jugendlichen während des Interviews als Unterstützung chen, in welchen Situationen sie sich an Gott wenden und lich teilweise miteinander verwoben waren. Dies sind 1) griechisch-orthodox oder atheistisch bezeichneten. Die in dienen sollte, um ihre Gedanken und Gefühle zu formulie- wie sie sich dabei fühlen, ob ihnen alltägliche Situationen die Perspektive von Kindern auf religiöse Diversität in ihrer Ghana interviewten Kinder bezeichneten sich als katho- ren. Für den Fragekomplex zur Covid-19-Pandemie nutz- einfallen, in denen sie entsprechend oder entgegen der Lebenswelt und 2) ihr Erleben der Covid-19-Pandemie. Die lisch, evangelikal, freikirchlich, protestantisch, charismatisch, ten wir z.B. Bildkarten, die unterschiedliche Emotionen ihnen bekannten religiösen Werte handeln, ob sie die Reli- vorliegende Veröffentlichung bezieht sich vornehmlich auf pentekostal, muslimisch oder einem indigenen (‚traditionel- und Tätigkeiten zur Strukturierung des Tagesablaufs dar- gionszugehörigkeit von anderen Kindern in ihrem Leben die religionsbezogenen Daten, andere Aspekte des Pan- len‘) Glauben anhängend. Atheistische oder anderweitig stellten und denen Emojis zugeordnet wurden, um einen kennen und in welchen Situationen unterschiedliche Glau- demieerlebens wie z.B. Erfahrungen im Home-Schooling nicht-religiöse Kinder konnten wir hier nicht für ein Inter- Gesprächsanlass für den Alltag und die mit der Pandemie bensweisen oder Praktiken auffallen bzw. zur Sprache wurden bereits in Vorabveröffentlichungen im Frühjahr view gewinnen, was mit der geringen Verbreitung und der einhergehenden Emotionen zu erhalten. kommen. In Erzählungen von Kindern zu diesen und ähn- 2021 und Herbst 2022 publiziert. Stigmatisierung des Atheismus in Ghana in Zusammenhang lichen Themen vollziehen sie spontan und eigenständig stehen kann. Neben der Religionszugehörigkeit wurde auch Sinnzuweisungen mit Rückgriff auf ihr Relevanzsystem, in darauf geachtet, dass das Sample in Hinblick auf die sozio- Erhebung und Auswertung dem Religion als kollektive Zugehörigkeit und/oder indivi- Erhebung und Auswertung ökonomische Schicht und das Siedlungsgebiet divers war. der quantitativen Daten duelle Gottesbeziehung bedeutsam sein kann, aber nicht der qualitativen Daten Über die Regionen beider Länder verteilt wurden unter- muss, und hierbei die Bandbreite unterschiedlicher Pers- schiedliche Großstädte ausgewählt, in denen Interviews pektiven aufzeigt (zum Sample, weiter unten). (Tiefeninterviews) geführt wurden und von wo aus Interviewreisen in ländliche Aufbauend auf den qualitativen Ergebnissen wurde Gebiete ausgingen. In Deutschland wurde in den Städten in Zusammenarbeit mit World Vision Ghana und Ipsos Hervorgehend aus den Ergebnissen der qualitativen Befra- Zwischen Juni und September 2020 wurden in Deutschland Bremen, Berlin, Leipzig, Köln, München, Frankfurt am Main Deutschland und Ghana in der ersten Hälfte des Jah- gung haben wir anschließend einen bedeutungsgleichen, und Ghana jeweils 15 Tiefeninterviews mit sechs- bis sech- und umliegenden ländlichen Gebieten erhoben. In Ghana res 2021 ein standardisierter Fragebogen entwickelt. Der standardisierten Fragebogen für beide Erhebungsländer zehnjährigen Kindern und Jugendlichen geführt. Die Inter- wurde in den Städten Accra, Cape Coast, Tamale, Bolga- bedeutungsgleiche, standardisierte Fragebogen wurde in entwickelt, mit dem wir die repräsentativen, statistischen views dauerten zwischen einer und eineinhalb Stunden. In tanga, Hohoe und ländlichen Gebieten erhoben. Deutschland in deutscher Sprache und in Ghana in den Daten erhoben haben. Die vorherigen Tiefeninterviews vier Fällen wurden Geschwisterpaare interviewt. Bis auf ein Sprachen Englisch, Ewe, Fante, Ga und Gurma erhoben. erlauben es gerade bei einem bisher wenig erforschten Interview, das mit einem fünfzehnjährigen Mädchen per Das Sample umfasste darüber hinaus unterschiedliche ethni- Thema, zu erheben, was Kinder über Religionen wissen, Skype stattfand, wurden alle Interviews face-to-face in den sche Gruppen. In Deutschland bestand bei sieben Fällen ein Befragt wurden in beiden Ländern Kinder unterschiedlichs- welche Glaubensinhalte und Praktiken für sie überhaupt Haushalten der Kinder geführt. Bei den Interviews wurden ‚Migrationshintergrund‘ (türkisch, polnisch, griechisch, italie- ter Herkunftsschichten im Alter von sechs bis sechzehn Jah- bedeutsam sind und mit welchen Begriffen sie über Reli- grundsätzlich die in der jeweiligen Region zu dieser Zeit gel- nisch, pakistanisch). Alle Kinder wurden entsprechend ihrer ren sowie in einem separaten Interview ein Elternteil bzw. giosität sprechen. Diese von Kindern in unsere Forschung tenden Hygiene- und Kontaktregeln eingehalten, wie bei- Sprachfähigkeit auf Deutsch interviewt. Kinder, die in Ghana eine fürsorgeberechtigte Person. Das Sample umfasste ca. eingegebenen Inhalte und Begriffe konnten zu einem spielsweise Abstand, Händehygiene oder Masken. interviewt wurden, gehören den ethnischen Gruppen Ga, 2500 Fälle in Deutschland und ca. 2500 Fälle in Ghana. Die Akan, Kasin, Ewe, Gurma, Ga-Adangbe und Mole Dagbani Altersgruppen 6-9 Jahre, 10-13 Jahre und 14-16 Jahre vertei- an. Interviews wurden in den Sprachen Englisch, Ewe, Fante, len sich in beiden Ländern annähernd gleich und es wurden Ga und Gurma geführt. Hauptsächlich wurde während der jeweils zur Hälfte Jungen und Mädchen interviewt. Die Inter- Forschungsprozess der 5. Kinderstudie Interviews Englisch gesprochen, aber Kinder wechselten teil- views mit den Kindern dauerten in Deutschland im Durch- weise in eine andere Sprache, um zusätzliche Erklärungen zu schnitt ca. 38 Minuten und in Ghana ca. 52 Minuten. Sie Orientierung zur pandemischen Gemeinschaftliche Entwicklung des standardi- Gemeinschaftliche Analyse Situation, Entwicklung von Frage- Datenanalyse in sierten Erhebungsinstruments der Daten in Deutschland und geben. Zum Zwecke der Anonymisierung wurden die Kinder wurden unter Beachtung der jeweils gültigen Kontakt- und stellungen und dem qualitativen Deutschland auf Grundlage der qualitativen Ghana, Berichtslegung, Entwick- gebeten, sich einen Vornamen auszusuchen, unter dem sie Hygieneregeln bei den Kindern zu Hause als face-to-face- Erhebungsinstrument und Ghana Ergebnisse lung politischer Forderungen zitiert werden wollen. Viele Kinder in Ghana wählten Akro- Interviews durchgeführt. nyme (wie z.B. QZN), die sich entweder aus Initialen meh- 2020 2021 2022 2023 rerer Vornamen zusammensetzen oder eine Umschrift von Namen in ihrer jeweiligen Sprache sind. Die Stichprobe wurde in Deutschland nach Alter, Geschlecht, Region, ‚Migrationshintergrund‘, Religions- zugehörigkeit quotiert. In Ghana wurde eine nach Alter, Für alle Interviews wurde ein bedeutungsgleicher Inter- Geschlecht, Region, ethnische Zugehörigkeit, Religions- viewleitfaden verwendet, der in der Zusammenarbeit mit zugehörigkeit quotierte Stichprobe verwendet1. Quoten- World Vision-Kolleginnen und -Kollegen in Deutschland stichproben beruhen auf einer bewussten Auswahl von Erhebung der qualitativen Durchführung der Pretests Standardisierte face-to-face- Veröffentlichung Daten in beiden Ländern und anschließende Über- Datenerhebung in Deutsch- durch jeweils 15 qualitative arbeitung des Instruments land und Ghana 1 In Deutschland basiert die regionale Verteilung auf dem Auswahlrahmen des Arbeitskreises Deutscher Markt- und Sozialforschungsinstitute face-to-face-Tiefeninterviews GmbH (ADM) und fußt auf einer Flächenstichprobe, die das gesamte Wohngebiet Deutschlands abbildet. Die Ziehung der Netze erfolgt durch den ADM, der diese Ipsos als ADM-Mitgliedsinstitut zur Verfügung stellt. 150 Sample Points dienten als Ausgangspunkt für die Befragung. In Ghana ist die Studie auf einer mehrstufig geschichteten und randomisierten Stichprobenmethodik aufgebaut, die eine proportionale Verteilung der Stichprobe (N=2.500) auf die Regionen in Ghana umfasst.
16 WORLD VISION KINDERSTUDIE Zielpersonen. Bei einer Quotenstichprobe erfolgt eine der oben beschriebenen Merkmale repräsentativ sind und Zusammensetzung der Stichprobe durch die Festlegung somit miteinander verglichen werden können. Die Soll- von Quotenmerkmalen. Die Verteilung dieser Merkmale vorgaben stammten dabei für Deutschland aus dem Mik- wurde entsprechend zu ihrem Vorkommen in der Grund- rozensus, erhoben durch das Statistische Bundesamt. Für gesamtheit festgelegt, z.B. Anteil der Kinder mit ‚Migra- Ghana wurden Veröffentlichungen der amtlichen Statistik tionshintergrund‘ in Deutschland bzw. Anteil der Kinder herangezogen. einer spezifischen Ethnizität in Ghana. Die erhobenen Daten wurden zunächst einer deskriptiven Im Anschluss an die Erhebung wurden die Daten einer Analyse unterzogen, die unter anderem die Häufigkeit der Deutschland Breitengrad 51.165691 Gewichtung2 unterzogen, um Anpassungen der demo- Werte oder die Lage der Daten (z.B. als Mittelwerte) aus- Längengrad 10.451526 grafischen Strukturen in der realisierten Stichprobe an gibt. Daneben führte Ipsos auch eine multivariate Regres- Einwohner ca. 83,2 Mio. die Vorgaben der amtlichen Statistik vorzunehmen und sionsanalyse durch. Hierbei handelt es sich um ein statisti- Hauptstadt Berlin normale Schwankungen auszugleichen, die sich durch sches Analyseverfahren, das untersucht, ob Beziehungen verschiedene Selektivitäten der einzelnen Stichproben- zwischen einer abhängigen Variablen, z.B. religiöse Tole- elemente ergaben. Als Vergleichsgrößen wurden dazu ranz, und einer oder mehreren unabhängigen Variablen, die Merkmale Alter, Geschlecht, Region, ‚Migrationshin- z.B. Religiosität oder Schichtzugehörigkeit, bestehen. Bei tergrund‘ (Deutschland) bzw. ethnische Zugehörigkeit multivariaten Regressionen können dabei mehrere Variab- (Ghana) sowie die Religionszugehörigkeit herangezogen. len zugleich untersucht werden. Anders als bei deskripti- Die Altersgruppen 6-9 Jahre, 10-13 Jahre und 14-16 Jahre ven Verfahren ist es so möglich, kausale Zusammenhänge wurden jeweils separat gewichtet, sodass sie hinsichtlich zwischen Variablen zu beschreiben. 2 Als Standardgewichtungsprozedur bei Ipsos gilt die IPF-Wichtung (Iterative Proportional Fitting nach Deming) aus dem Quantum-Programm- paket. Anhand dieses Gewichtungsverfahrens wurde die Ist-Verteilung der Stichprobe sukzessive an die vorgegebenen Soll-Zahlen der Gewich- tungsvariablen angepasst. Dazu wurde für jede Zelle ein bestimmter Gewichtungsfaktor berechnet, der über den Quotienten aus Ist- und Soll- Zahlen gebildet wurde. Diese so berechneten Gewichtungsfaktoren bildeten dann den Ausgang für die Anpassung des folgenden Merkmals. Diese Berechnung erfolgte iterativ, bis schließlich alle Variablen an die vorgegebenen Soll-Zahlen angepasst waren. Breitengrad 7.946527 Längengrad -1.023194 Einwohner ca. 28,8 Mio. Hauptstadt Accra Ghana
19 WORLD VISION KINDERSTUDIE Das Sample der Studie spiegelt die vielfältigen Lebens- Auch in Bezug auf Deutschland war es uns ein großes welten der befragten Kinder in beiden Ländern wider, in Anliegen, mit Kindern unterschiedlicher Religionszuge- denen sie Kontakt zu Angehörigen unterschiedlichster hörigkeit zu sprechen. 36 % der in Deutschland befrag- Herkunftsgruppen haben, und entspricht dabei annähe- ten Kinder gehören keiner Religion an. 27 % bezeichnen rungsweise der Verteilung dieser Herkunftsgruppen in der sich als katholisch, 25 % als evangelisch und 7 % als musli- Gesamtgesellschaft: misch. Weitere kleinere Religionsgruppen sind die ortho- doxe Kirche, das Judentum und die Freikirchen. Teilweise Mit jeweils 18 % bezeichneten sich die meisten der in überschneidend mit der Religionszugehörigkeit haben wir Ghana interviewten Kinder als protestantisch oder musli- außerdem den sogenannten ‚Migrationshintergrund‘ (min. misch. Andere gehören der Pfingstkirche an, sind katho- ein Elternteil ist im Ausland geboren) als Quotenmerkmal lisch, charismatisch, evangelisch, freikirchlich oder gehö- festgelegt, wobei sich beide Merkmale – Religion und ren sogenannten ‚traditionellen Religionen‘ an. 5 % der in Migration – an der Verteilung in der Gesamtbevölkerung Ghana interviewten Kinder gaben an, keiner Religion anzu- orientierten. gehören, was, wie weiter unten dargestellt, aber nicht mit dem Atheismus gleichgesetzt werden darf. In Bezug auf Bei 12 % der interviewten Kinder liegt ein beidseitiger ‚Mig- die ethnische Zugehörigkeit gehört die Hälfte der inter- rationshintergrund‘ vor, d. h. beide Eltern sind im Ausland viewten Kinder den Akan als größter Ethnie in Ghana an, geboren. Bei 21 % der Kinder ist ein Elternteil im Ausland gefolgt von Angehörigen der Mole-Dagbon, Ewe, Ga- geboren (insgesamt 33 % vs. 68 %3 ohne ‚Migrationshinter- Dangme, Gurma, Guang, Grusi sowie etlicher kleinerer grund‘). Die Eltern der befragten Kinder mit ‚Migrationshin- Gruppen. tergrund‘ stammen zum Großteil aus den Ländern Polen, Türkei, Russland, Syrien, Italien und Rumänien. Religionszugehörigkeit in Ghana* Ethnische Zugehörigkeit in Ghana* Protestantisch Akan 18 % 48 % Muslimisch Mole-Dagbon 18 % 17 % Pfingstkirche Ewe 14 % 14 % 04. Religions- Charismatisch Ga-Dangme 14 % 7% Katholisch Gurma zugehörigkeit 13 % 6% Evangelisch Guang 6% 4% und Glaube Freikirche Grusi 5% 3% Traditionell Andere Ethnie 5% 3% Andere Religion 1% Keine Religion 5% * Etwaige Abweichungen zu 100 % durch Rundung Foto: dreamstime.com 3 Etwaige Abweichungen zu 100 % durch Rundung
20 21 WORLD VISION KINDERSTUDIE WORLD VISION KINDERSTUDIE Religionszugehörigkeit in Deutschland* Migrationshintergrund in Deutschland* Glaube und religiöse ihrer Eltern an religiösen Veranstaltungen teilnehmen. Praktiken von Kindern Viele Kinder beider Länder geben in der Studie an, dass sie dies selbst entscheiden können und dürfen. In den Neben der nominellen Zugehörigkeit zu einer Religionsge- Tiefeninterviews berichteten Kinder oft, dass sie Gottes- Katholisch meinschaft wird Religiosität im Alltag auch über religiöse dienste aus freier Entscheidung besuchen, aber wissen, 27 % Praktiken hergestellt, die einerseits lebensweltlich in ihrer dass ihre Eltern dies begrüßen, wie die 15-jährige Anna Evangelisch 12 % Form, Ausführung und Intensität stark variieren können aus Deutschland, die einer freikirchlichen Gemeinde 25 % und andererseits auch für das Individuum unterschiedliche angehört: Muslimisch Bedeutung haben können. 68 % 7% „Also ich würde sagen, meine Mut- Entsprechend der oben bereits erläuterten höheren Bedeu- ter ist halt relativ locker, wenn ich Orthodox tung von Religion im ghanaischen Alltag besuchen die 3% jetzt sage ich bin heut- ich will am befragten Kinder in Ghana insgesamt häufiger religiöse Veranstaltungen als Kinder in Deutschland. Zwei von fünf Sonntag mal nicht zur Kirche gehen. Jüdisch 1% (38 %) der Kinder in Ghana besuchen mehrmals pro Woche Dann darf ich auch zu Hause blei- religiöse Veranstaltungen. In Deutschland trifft das nur auf ben. Es ist jetzt nicht so, dass ich Freikirche 21 % 8 % der Kinder zu. Jedes vierte Kind in Ghana (26 %) gibt an, gezwungen werde da hinzugehen. 0,4 % mehrmals im Monat an einer Veranstaltung teilzunehmen. Aber ich glaube sie ist ganz froh, Hingegen sind es nur 16 % der deutschen Kinder. Eine Häu- Andere Religionen wenn ich wenigstens einmal im 1% figkeit von „mehrmals im letzten halben Jahr“ wurde von Ja, beide Elternteile Monat mitgehe.“ nur 15 % der ghanaischen Kinder, aber 23 % der Deutschen Keine Religion Ja, ein Elternteil (Deutschland, Anna, Mädchen, 15 Jahre, freikirchlich) angegeben. Der Anteil an Kindern in Ghana, die nie an reli- 36 % Nein giösen Veranstaltungen teilnehmen, ist mit 6 % sehr gering. * Etwaige Abweichungen zu 100 % durch Rundung Hingegen ist es unter deutschen Kindern mit fast der Hälfte Unsere quantitativen Daten zeigen, dass es zwischen von ihnen (49 %) der größte Anteil, der angibt, nie zu religiö- Ghana und Deutschland keine nennenswerten Unter- sen Veranstaltungen zu gehen. schiede in Hinblick auf den Einfluss der Eltern bezüg- lich der Gottesdienstbesuche ihrer Kinder gibt. In beiden Unter den verschiedenen Religionsgruppen zeigt sich, dass Teilnahme an religiösen Veranstaltungen (Häufigkeit)* muslimische Kinder sowohl in Ghana als auch in Deutsch- land häufiger an religiösen Veranstaltungen teilnehmen als „Ich entscheide selbst, andere Religionen. Fast ein Drittel (30 %) der muslimischen 14 % ob ich zum Gottesdienst gehe“ Einmal am Tag Kinder in Ghana besucht jeden Tag eine Veranstaltung. 70 % 1% Unter den evangelischen Kindern ist es knapp ein Viertel (24 %). In Deutschland besuchen 8 % der muslimischen 63 % Ghana 38 % Kinder einmal am Tag eine religiöse Veranstaltung. Fast Mehrmals pro Woche Deutschland 8% die Hälfte (47 %) der muslimischen Kinder in Ghana nimmt 50 % mehrmals die Woche an einer religiösen Veranstaltung teil, 26 % während es in Deutschland 21 % sind. Auch unter denen, 44 % 44 % 45 % Mehrmals im Monat 16 % die mehrmals im Monat an einer Veranstaltung teilneh- men, sind es in Deutschland mit mehr als einem Drittel 15 % (35 %) die muslimischen Kinder, die den größten Anteil Mehrmals im letzten halben Jahr 23 % ausmachen. In der Antwortgruppe „mehrmals im letzten 27 % 23 % halben Jahr“ sind es mit 63 % die orthodoxen Kinder, die 6% besonders stark vertreten sind. Nie 49 % Bezüglich der religiösen Praxis von Kindern und Jugend- 1% lichen wird oft kritisch hinterfragt, ob diese aus eigenem Keine Angabe 2% Antrieb vollzogen oder durch die Familie herbeigeführt werden. Zwar spielt die Familie als Sozialisationsinstanz Gesamt 6-9 Jahre 10-13 Jahre 14-16 Jahre eine große Rolle, indem teilweise religiöse Praktiken und Routinen in den „Familienhabitus“ (Ecarius 2013: 64) einge- Ghana Deutschland * Etwaige Abweichungen zu 100 % durch Rundung bettet sind. Wie unsere Daten zeigen, bedeutet dies aller- Basis Ghana: Befragte, die an religiösen Veranstaltungen teilnehmen (n=2.337), Basis Deutschland: Befragte, die an religiösen Veranstaltungen teilnehmen (n=1.211) dings nicht, dass Kinder grundsätzlich nur auf Veranlassung
22 23 WORLD VISION KINDERSTUDIE WORLD VISION KINDERSTUDIE Ländern geben jeweils 44 % der Kinder an, dass sie die Ent- Ritualisierte Gebete Ghana: Wie oft betest Du? scheidung über einen Gottesdienstbesuch selbst treffen. In beiden Ländern gilt, je älter die Kinder sind, desto eher Neben dem Gottesdienstbezug sind Gebete eine wei- 52 % 53 % 51 % treffen sie die Entscheidung selbstständig. tere religiöse Praxis, die für viele Kinder eine hohe 48 % 49 % Bedeutung in Hinblick auf ihre emotionale Religions- 44 % 43 % 41 % Mehr als die Hälfte der muslimischen Kinder in Ghana zugehörigkeit hat. Kinder in Ghana beten insgesamt (55 %) dürfen selbst entscheiden, ob sie eine religiöse häufiger als Kinder in Deutschland. Während 44 % der Veranstaltung besuchen. Dies ist ein signifikant größerer Kinder angeben, oft zu beten, sind es unter den Kin- Anteil als in anderen Religionsgruppen. Hingegen wird dern in Deutschland nur 11 %. Weitere 51 % der Kinder in Deutschland bei muslimischen (66 %) und orthodo- in Ghana beten manchmal, während es in Deutschland xen Kindern (64 %) im Vergleich zu anderen Religionen 37 % sind. Der Anteil der Kinder in Ghana, die nie beten die Teilnahme an religiösen Veranstaltungen öfter von oder nicht gläubig sind, ist zusammengenommen mit den Eltern vorgegeben. Dieses Ergebnis weist darauf 5 % sehr gering und entfällt auf alle Glaubensweisen in hin, dass spezifische Erziehungsstile nicht einer Religion ähnlichem Ausmaß. 3% 4% 3% 3% 3% 2% 1% 1% zugeordnet werden sollten, sondern vom kulturellen Kontext und Lebenskontext der Familien beeinflusst In Deutschland gibt jeweils ein Viertel der Befragten an, Gesamt 6-9 Jahre 10-13 Jahre 14-16 Jahre sind. Mutmaßlich steht die stärkere Einwirkung von mus- nie zu beten (25 %) bzw. nicht gläubig zu sein (25 %). limischen und orthodoxen Eltern in Deutschland auf den 31 % der evangelischen Kinder, 25 % der orthodoxen Oft Manchmal Nie Ich bin nicht gläubig Gottesdienstbesuch ihrer Kinder auch damit in Zusam- Kinder, 21 % der katholischen Kinder und zu geringeren menhang, dass viele dieser Eltern einen ‚Migrations- Anteilen Kinder der anderen Religionen beten nie. Kinder, hintergrund‘ haben und der Gottesdienstbesuch auch die keiner Religion angehören, sind die weitaus größte Deutschland: Wie oft betest Du? in Hinblick auf der Erhaltung einer ethnischen Identität Gruppe, die am häufigsten erklärt, nie zu beten. Trotzdem bedeutsam ist oder in Zusammenhang mit der sozio- geben unter ihnen immerhin 3 % an, dass sie oft oder ökonomischen Schicht steht. manchmal beten. 40 % 37 % 37 % 32 % 31 % Häufigkeit des Betens* 26 % 26 % 25 % 25 % 23 % 23 % 21 % Ghana Deutschland 37 % 13 % 11 % 10 % 9% 44 % Gesamt 6-9 Jahre 10-13 Jahre 14-16 Jahre 11 % Oft Manchmal Nie Ich bin nicht gläubig Basis Ghana: Alle Befragten (n=2.500), Basis Deutschland: Alle Befragten (n=2.500) / etwaige Abweichungen zu 100 % durch Rundung 2% 3% Der interreligiöse Vergleich der quantitativen Daten Dass Kinder in Ghana häufiger beten als in Deutschland 25 % zeigt, dass in beiden Ländern muslimische Kinder häufi- kann mit der größeren Bedeutung von Religion im öffent- ger beten als Kinder anderer Religionsgruppen. In Ghana lichen Leben Ghanas zusammenhängen, infolge derer 51 % 25 % geben fast drei Viertel (72 %) der muslimischen und die gemeinsame Gebete in vielen Alltagsbereichen verankert Hälfte (50 %) der katholischen Kinder an, oft zu beten. In sind, z. B. in der Schule, im Freizeitbereich oder bei fami- oft oft Deutschland ist es fast die Hälfte (49 %) der muslimischen liären Zusammenkünften. Gebete können auch mit einer manchmal manchmal Kinder, die oft betet. Dies wird im deutschen Kontext nur stärkeren persönlichen Religiosität der Kinder zusammen- nie nie noch gesteigert von Kindern, die Freikirchen (58 %) oder hängen. Auskunft darüber, inwiefern sich Kinder im Gebet ich bin nicht gläubig ich bin nicht gläubig dem Judentum (52 %) angehören. mit Gott in Beziehung setzen, als Ausdruck ihrer Selbstre- * Etwaige Abweichungen zu 100 % durch Rundung lationierung zu ihm, kann darüber hinaus auch die Frage nach freien Gebeten und Gesprächen mit Gott geben.
25 WORLD VISION KINDERSTUDIE Freie Gebete und Gespräche mit Gott Bereits in unseren Tiefeninterviews zeigte sich, dass die Abfrage von Gebetsroutinen oder die Häufigkeiten des Gebetes nur bedingt Auskunft über religiöse Praktiken von Kindern gibt. Einige Kinder verstehen unter dem Begriff „Gebet“ ausschließlich ritualisierte Gebete, die sie manch- mal nicht selbst durchführen können, da sie keine Gebets- verse auswendig sprechen können. Die Angabe, sie wür- den selten oder nie beten, kann dazu führen, dass ihre freien Gebete in der Forschung übersehen werden, oder wie sie es oft nennen, „Gespräche mit Gott“ oder „Gedan- ken an Gott“. Wir haben deshalb neben der Gebetspraxis in unserer quantitativen Erhebung auch nach Gesprächen mit Gott gefragt. Gut ein Drittel (34 %) der Kinder in Ghana sucht oft das Gespräch mit Gott auch außerhalb des Gebets. Mehr als die Hälfte (53 %) der Kinder in Ghana spricht manchmal mit Gott, während nur 12 % sich gar nicht an Gott wenden. In Deutschland wenden sich 44 % der Kinder an Gott, aller- dings nur 6 % oft. Hingegen spricht über die Hälfte (53 %) der Kinder in Deutschland nie zu Gott. In Hinblick auf interreligiöse Unterschiede geben muslimische Kinder in beiden Ländern häufig an, oft mit Gott zu sprechen (59 % in Ghana, 31 % in Deutschland). In Deutschland tun dies auch Kinder aus freikirchlichen (52%) und jüdi- schen Glaubensgemeinschaften (46 %). 4 % der Kinder aus Deutschland, die keiner Religion angehören, berichten oft oder manchmal, mit Gott zu sprechen. Interessanter- weise trfft das auch auf fast die Hälfte (49 %) der Kinder aus Ghana zu, die keiner Religion angehören. Somit ist davon auszugehen, dass ein nennenswerter Anteil konfessionslo- ser Kinder in Ghana eine eigenständige Gottesbeziehung hat, die durch freie Gespräche mit Gott ausgelebt wird, auch wenn ritualisierte religiöse Praktiken der Glaubens- gemeinschaften für sie nicht zugänglich oder persönlich nicht bedeutsam sind. Foto: World Vision
27 WORLD VISION KINDERSTUDIE Interreligiöse Kontakte Religionszugehörigkeit haben. In Ghana sagt jedes zweite und Freundschaften Kind (50 %), das in einem Elternhaus mit geringen sozio- ökonomischen Ressourcen lebt, dass es viele Freundinnen In beiden Ländern, Deutschland und Ghana, kommt der und Freunde anderer Religionsgemeinschaften hat. Das Frage nach dem Zusammenleben von Menschen unter- sind signifikant mehr als bei Kindern, deren Eltern es wirt- schiedlicher Religionen eine besondere – wenn auch schaftlich besser geht (37 %), was möglicherweise auch unterschiedliche – Bedeutung zu. Nur wenige Kinder pfle- auf den Effekt von religiösen Privatschulen zurückzuführen gen keine Freundschaften zu Kindern anderer Religions- ist. Dies zeigt sich zum Beispiel im Interview mit der drei- gemeinschaften, sogenannte „cross-Freundschaften“. Als zehnjährige Elizabeth aus Ghana, die einer freikirchlichen „cross-Freundschaften“ (Quillian/Campbell 2003; Rose/ Gemeinde angehört, aus der urbanen Mittelschicht im Hospital 2016; auch Badhwar 1993: 2-3; Bilecen 2014: 5-6) Norden des Landes stammt und ausführt, dass sie in ihrem werden Beziehungen zwischen Kindern bezeichnet, die Umfeld nur auf christliche Kinder trifft: Gruppenzugehörigkeiten, wie Religionen, überspannen. Voraussetzung dafür sind das Vorhandensein von Kontakt- möglichkeiten, aber wenn diese gegeben sind, steht inter- Interviewerin: Ok do you have friends religiösen Freundschaften wenig im Wege, wie wir bereits that belong to other religions or class- in der 4. World Vision Kinderstudie (2018: 31) und unserer mates that belong to other religions? Studie zu Religion als Resilienzressource zeigen konnten. Elizabeth: No. In Ghana haben 46 % der Kinder viele Freundinnen und Interviewerin: Ok so you don’t have Freunde, die eine andere Religionszugehörigkeit haben Muslim friends? als sie selbst. Weitere 42 % haben manche Kinder in ihrem Elizabeth: Yes. […] Freundeskreis, die zu einer anderen Religionsgemeinschaft Interviewerin: So why don’t you have gehören. some friends that are Muslims? Elizabeth: Because they don’t live Insbesondere Kinder in Ghana mit einem traditionel- len Glauben (55 %) sowie muslimische Kinder (52 %) around me. haben viele Freundinnen und Freunde, die eine andere (Ghana, Elizabeth, Mädchen, 13 Jahre, freikirchlich) Freundinnen und Freunde mit einer anderen Religionszugehörigkeit* 46 % Ghana Deutschland 05. Interreligiöse 22 % Kontakte und Toleranz 3% 11 % 7% 68 % 42 % 1% Viele Viele Manche Manche Keine Keine * Etwaige Abweichungen Weiß nicht/keine Angabe Weiß nicht/keine Angabe zu 100 % durch Rundung Foto: World Vision
28 29 WORLD VISION KINDERSTUDIE WORLD VISION KINDERSTUDIE Viele der in Ghana interviewten Kinder haben konkretes Religiös und sozial heterogene Lebenswelten kommen Interviewerin: Wenn du an deine Stellung Älterer (hier bezogen auf ältere Kinder) zeigt sich Wissen über die Religionszugehörigkeit ihrer Freundinnen in Deutschland seltener vor als in Ghana, was sich vor Freunde denkst, weißt du eigent- auch in der Erziehung Jüngerer, für die auch Strafen ein- und Freunde und kennen Glaubensinhalte und Praktiken allem durch die soziale Segregation von Wohngebieten lich, ob die auch einer Religion gesetzt werden können. Erziehende Maßnahmen werden anderer Religionen. Kinder in Ghana reden oft mit Stolz und Schulen erklären lässt. In Deutschland gibt nur gut hierbei als Hilfe zur Besserung des Verhaltens Jüngerer ver- angehören? über ihre interreligiösen Kontakte und verstehen sie als ein Fünftel der Kinder (22 %) an, viele Freundinnen und standen und sind durch den vermeintlichen Wissensvor- Möglichkeit, etwas über andere Religionen zu lernen. So Freunde einer anderen Religionsgemeinschaft zu haben. Kerem: Ja. Die meisten meiner sprung der Älteren legitimiert (Ibrahim/ Komulainen 2016: führt Bless, 15 Jahre und Protestant, beispielweise aus, dass Gut zwei Drittel der Kinder (68 %) haben zumindest Freunde sind auch beim Islam. Aber 61 mit Bezug auf Imoh 2013: 482). er durch seine Freundschaften zu muslimischen Kindern einige Kinder in ihrem Freundeskreis mit einer anderen ich habe auch christliche Freunde. wichtige Kompetenzen erwerben kann. Wenn er wisse, wie Religionszugehörigkeit. Interviewerin: Woher weiß man es Auch wenn diese Aspekte für Kinder in Deutschland nicht er sich angemessen in anderen kulturellen und religiösen eigentlich, dass die christlich sind so wichtig sind, stimmen hier trotzdem viele der Aussagen Kontexten verhalte, könne ihm dies später einmal hilfreich Es sind in Deutschland eher die Kinder aus Haushalten oder dem Islam folgen? Redet man da zu, dass man Älteren nicht widersprechen und andere auf sein, wenn er beispielweise an einem anderen Ort leben der Mittelschicht, die sich in einem diversen religiösen ihre Fehler hinweisen sollte. Dies spricht dafür, dass Ghana drüber? sollte. Umfeld bewegen. So gibt hier jedes vierte Kind an und Deutschland beides sogenannte adultistische Gesell- (26 %), dass es viele Freundinnen und Freunde aus einem Kerem: Ja, manchmal redet man da schaften sind, in denen aufgrund von Alterskategorien ein anderen religiösen Umfeld hat. Das sind signifikant mehr drüber. Oder manchmal findet man bestimmtes Machtgefälle zwischen Älteren bzw. Erwach- “I think it can have a positive impact als bei Kindern aus einem Haushalt mit (sehr) niedrigem das auch – beim Ramadan – ein senen und jüngeren Menschen besteht und diese insbe- on my life. As in, when I’m old and sozioökonomischem Status (13 %) oder mit einem hohen Freund von mir ist jetzt nicht am sondere durch erziehende Praktiken Macht und Kontrolle sozioökonomischen Status (19 %). Darüber hinaus zeigt Fasten, dann frage ich ihn, warum er ausüben können. I’m being posted to a place of anot- sich in Deutschland ein Unterschied zwischen West und her religion and know nothing about nicht fastet und dann würde der mir Ost. Kinder, die in den ostdeutschen Bundesländern auf- Weitere geringe Unterschiede zeigen sich darin, dass in them I can refer to my young age and wachsen, haben vergleichsweise wenig Berührungs- halt sagen „Ich bin Christ“ oder so. Ghana die Akzeptanz des Atheismus etwas geringer ausfällt, remember all the things I know about punkte mit Kindern anderer Religionsgemeinschaften. Dann würde ich es ja herausfinden. die Akzeptanz anderer Glaubensweisen und Meinungen that religion and also how to behave So sagt etwa jedes sechste Kind (17 %), dass es gar keine So was eben. aber etwas größer ist. Auch die Vorstellung, dass mehrere and how to avoid any trouble.” Freundinnen oder Freunde mit einer anderen Religions- (Deutschland, Kerem, Junge, 14 Jahre, muslimisch) Religionen wahr sein könnten, wird von Kindern in Ghana (Ghana, Bless, Junge, 15 Jahre, protestantisch) zugehörigkeit hat. Das sind signifikant mehr als in den noch etwas stärker vertreten als von Kindern in Deutschland. alten Bundesländern mit 4 %. Ähnlich wie es die Kinder in Ghana beschreiben, dienen Eher untypisch für den Kontext in Ghana ist, dass christ- Alle Kinder einer religiösen Minderheit, die wir in den auch für Kerem unterschiedliche religiöse Rituale als Iden- Religiöse Toleranz liche oder muslimische Kinder über Freundschaften zu Tiefeninterviews in Deutschland befragten, verfügen tifikationsmerkmal für Religionszugehörigkeiten, denen er Kindern berichten, die einem ‚traditionellen Glauben‘ über interreligiöse Freundschaften. Für den zwölfjähri- ansonsten keine große Bedeutung für seine Freundschaf- In Bezug auf die Haltungen gegenüber Angehörigen angehören, da dieser in vielen Kontexten stigmatisiert ist. gen Juden Noam ist es völlig selbstverständlich, dass er ten beimisst. anderer Religionen zeigen die Daten der standardisierten Dennoch bringt beispielsweise die fünfzehnjährige Tiana, Freundschaften zu Kindern anderer Religionszugehörig- Erhebung, dass viele Kinder in Ghana scheinbar wider- die einer evangelikalen Gemeinde angehört, Kindern mit keit hat, da seine Eltern auch Freundschaften zu Christin- sprüchliche Deutungen vollziehen: Sie stimmen exklu- traditionellen Glaubensweisen die gleiche Wertschätzung nen und Christen pflegen. Wertevorstellungen sivistischen Aussagen zu, halten Religionen aber auch und das gleiche Interesse entgegen wie ihren muslimi- und Toleranz gegenüber prinzipiell für gleichwertig oder verstehen sie zumindest schen Freundinnen und Freunden. In ihrer Aussage klingt als ähnlich. Drei von fünf (60 %) Kindern in Ghana befür- jedoch an, dass über traditionelle Praktiken weniger offen Andersglaubenden worten die Aussage, dass ihre jeweilige Religion die Beste berichtet wird, weshalb ihr Kenntnisse über die Rituale „Wir haben ja viele Freunde, die sei, und 43 % stimmen der Aussage zu, dass andere Men- fehlen. In folgendem Zitat spricht sie über Unterschiede in Christen sind. Und mit denen tref- Auch wenn die Bedeutung von Religion im Alltag in Deutsch- schen zu ihrer Religion übertreten sollen. 58 % geben an, der Religionspraxis („mode of worship“). land und Ghana sehr unterschiedlich ist und in Deutschland dass die Religionen ähnliche Werte teilen. 61 % der inter- fen wir uns auch immer regelmäßig. über ein Drittel der Kinder angibt, überhaupt nicht an Gott zu viewten Kinder glauben, dass Gott Menschen anderer Die beste Freundin meiner Mutter ist glauben, zeigen sich in Bezug auf Werte und Vorstellungen Religionen im Jenseits bestrafe. Hier ist die Zustimmung Griechin. Die ist ja auch katholisch. zum Umgang der Menschen miteinander große Überein- bei allen Religionsgruppen ähnlich verteilt und liegt bei “The mode of worship [is] for them Die treffen wir jetzt am Wochenende stimmungen. Der wichtigste Wert für alle Kinder (97 % Ghana, Kindern, die einem traditionellen Glauben angehören, [Muslims] they pray to God only five und dann machen wir immer regel- 95 % Deutschland) ist, anderen Menschen in Not zu helfen. mit 49 % am geringsten. times but we, the Christians, we pray mäßig was.“ Hierbei handelt sich um Werte, die als Nothilfe, Nächstenliebe without ceasing. Yes, but for the Tra- oder Almosen große Bedeutung in Religionen haben, aber In der qualitativen Befragung äußerten sich Kinder aus (Deutschland, Noam, Junge, 12 Jahre, jüdisch) ditionalist like this, they pour liba- auch nicht-religiöse Weltanschauungen prägen. Ghana ebenfalls zur Frage, ob Gott Angehörige anderer tion. I don’t know how to do such Religionen bestrafen werde. Zumeist setzen Kinder dem things, so maybe when he comes then Die stärksten Unterschiede bei den Wertevorstellungen aber andere Deutungen entgegen, die von einer Gleich- Der vierzehnjährige Muslim Kerem, dessen Familie der von Kindern in Deutschland und Ghana ergeben sich wertigkeit der Glaubensweisen ausgehen und damit das he tells us what he did during the großstädtischen unteren Mittelschicht angehört, erzählt aus dem Verhältnis zu Älteren und der Bedeutung von Narrativ der Strafe konterkarieren. Beispielsweise argumen- weekends and we also listen to him.” Folgendes über die Religionszugehörigkeit seiner Freunde: Zurechtweisung/Korrekturen im Sozialleben. Die soziale tiert die elfjährige Muslima IS aus Ghana: „they are human (Ghana, Tiana, Mädchen, 15 Jahre, evangelikal)
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