Deutschland - Wirtschaftsbericht 2020 - Juni 2020 CH@WORLD: A754 - Switzerland Global ...

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Schweizerische Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland

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                                 CH@WORLD: A754

Deutschland – Wirtschaftsbericht 2020

Juni 2020

_________________________________________
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung – Executive Summary ...........................................................................3
1      Allgemeine Lage, wirtschaftliche Probleme und Herausforderungen ........................4
    1.1   Allgemeine Lage ........................................................................................................4
      1.1.1    Die wirtschaftliche Lage in Deutschland im Mai 2020 ..........................................6
      1.1.2    Massnahmen zur Eindämmung der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie...7
    1.2   Wirtschaftliche Probleme / Herausforderungen / Chancen .........................................8
      1.2.1    Verunsicherung im Aussenhandel: Handelsstreit USA-China und Brexit .............8
      1.2.2    Neue Rahmenbedingungen für die Wirtschaft durch die deutsche Energiewende 8
      1.2.3    Digitalisierung / Künstliche Intelligenz .................................................................9
      1.2.4    Bekämpfung des Fachkräftemangels ................................................................10
      1.2.5    Neuausrichtung der Industrie: Förderung von Schlüsselbereichen und «Hidden
      Champions» ...................................................................................................................10
      1.2.6    Angespannte Situation auf dem Immobilienmarkt..............................................12
      1.2.7    Stärkung des Innovations- und Gründergeistes.................................................13
2      Internationale und regionale Wirtschaftsabkommen .................................................13
    2.1      Politik, Prioritäten des Landes ..................................................................................13
    2.2      Perspektiven für die Schweiz (Konkurrenzpotenzial) ................................................14
3      Aussenhandel ...............................................................................................................15
    3.1   Entwicklungen und allgemeine Aussichten...............................................................15
      3.1.1    Die coronakrisenbedingte Lage im März 2020 ..................................................16
      3.1.2    Massnahmen zur Stützung des Handels infolge der Coronakrise......................16
      3.1.3    Warenhandel.....................................................................................................16
      3.1.4    Dienstleistungshandel .......................................................................................17
    3.2   Bilateraler Handel.....................................................................................................18
      3.2.1    Warenhandel.....................................................................................................18
      3.2.2    Dienstleistungshandel .......................................................................................18
4      Direktinvestitionen .......................................................................................................19
    4.1      Entwicklung und allgemeine Aussichten...................................................................19
    4.2      Bilaterale Investitionen .............................................................................................20
5      Handels-, Wirtschafts- und Tourismusförderung, „Landeswerbung“ ......................20
    5.1   Instrumente der Aussenwirtschaftsförderung............................................................20
      5.1.1    Swiss Business Hub, Switzerland Global Enterprise .........................................20
      5.1.2    Handelskammer Deutschland-Schweiz und VSUD ...........................................21
      5.1.3    Verbände und Wirtschaftsclubs.........................................................................21
      5.1.4    Schweiz Tourismus ...........................................................................................21
      5.1.5    Präsenz Schweiz (PRS) ....................................................................................21
      5.1.6    swissnex ...........................................................................................................22
    5.2   Interesse Deutschlands an der Schweiz...................................................................22
      5.2.1    Tourismus .........................................................................................................22
      5.2.2    Bildung und Forschung .....................................................................................22
      5.2.3    Investitionen......................................................................................................22
      5.2.4    Finanzplatz Schweiz .........................................................................................23
6      ANNEX...........................................................................................................................25
Zusammenfassung – Executive Summary
2019 verzeichnete die deutsche Wirtschaft ein geringes Wachstum: 2019 betrug dieses preisbereinigt
0.6 %, im Vorjahr noch 1.5 %. Hierfür ist hauptsächlich die negative Entwicklung im Industriesektor verant-
wortlich, der über das Jahr hinweg stetig sinkende Produktionszahlen zu gewärtigen hatte. Die schwierige
Lage der Automobilindustrie, die sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess befindet und zuneh-
mend zu einem «Klumpenrisiko» wird, hat massgeblich hierzu beigetragen. Der Dienstleistungssektor hin-
gegen expandierte auch 2019 solide. 1 Der Wachstumstreiber in Deutschland war auch 2019 einmal mehr
der starke Binnenkonsum, welcher durch die hohen verfügbaren Einkommen in den Privathaushalten er-
möglicht wurde. Die Reallöhne nahmen im Jahr 2019 um 1.2 % zu, die Nominallöhne um 2.6 % sowie die
Verbraucherpreise um 1.4 %. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg 2019 auf einen Höchststand von 45.3 Mio.,
während die Arbeitslosigkeit mit 5 % den tiefsten Stand seit 1990 erreichte.23 Der deutsche Bausektor war
auch 2019 stark ausgelastet und erzielte zum siebten Mal in Folge einen Umsatzanstieg. 4 Die Hochkon-
junktur im Wohnungsbau hält somit an, Fachkräfte fehlen nach wie vor.

Im Aussenhandel war auch 2019 China der wichtigste Handelspartner Deutschlands (205.7 Mrd. Euro
Handelsvolumen), gefolgt von den Niederlanden mit 190.4 Mrd. Euro und den USA mit rund 190 Mrd.
Euro.5 Die deutschen Warenexporte lagen 2019 bei 1’328 Mrd. Euro, was einer Zunahme im Vergleich zum
Vorjahr von 0.8 % entspricht. Die Güterimporte nach Deutschland beliefen sich auf 2019 1’104 Mrd. Euro
(2018: 1'090 Mrd. Euro; +1.4 % im Vergleich zum Vorjahr).6 Der viel kritisierte deutsche Leistungsbilanz-
überschuss war bereits das vierte Jahr in Folge rückläufig: Während er 2015 noch bei 8.25 % des BIP lag,
reduzierte er sich 2019 auf 7.25 %.7

Die deutschen Staatsschulden sanken im Jahr 2019 um 16 Mrd. Euro und betrugen zum Jahresende
insgesamt 2.1 Billionen Euro. Die Schuldenquote fiel von 60.9 % auf 59.8 % und somit das erste Mal seit
2002 unter die Grenze des Maastrichts-Vertrages von 60 %.8

Die Schätzungen des Wirtschaftswachstums im Jahr 2020 gehen aufgrund der Coronakrise zwar weit
auseinander, sind aber durchweg stark negativ. Der Sachverständigenrat Wirtschaft der Bundesregierung
rechnet mit einer Verminderung der deutschen Wirtschaftsleistung um 5 %9, während das Münchner Ifo-
Institut von einem Rückgang von 7.5 % bis 20.6 % ausgeht.10 Gleichzeitig wird die Schuldenquote erstmals
wieder zunehmen: Zur Finanzierung des im März 2020 verabschiedeten Rettungsschirms in Höhe von 1.2
Billionen Euro zur Bekämpfung der Coronakrise war eine Nettokreditaufnahme des Bundes in Höhe von
156 Mrd. Euro notwendig. Dafür wurde die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ausgesetzt. Laut
der aktuellen Prognose der Europäischen Kommission wird die Schuldenquote Deutschlands im Jahr 2020
auf 75.6 % des BIP ansteigen.11 Im zweiten Halbjahr 2020 wird Deutschland sowohl auf der nationalen als
auch der EU-Ebene im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft stark mit der wirtschaftspolitischen Bewälti-
gung der Coronakrise beschäftigt sein.

Deutschland ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Schweiz und das seit 67 Jahren. Die
deutsch-schweizerischen Wirtschaftsbeziehungen können als intensiv und grundsätzlich unproblema-
tisch bezeichnet werden. Einzig die Blockierung von Ausfuhren von medizinischem Schutzmaterial zu Be-
ginn der Coronakrise sowie die Einführung von Kontingenten auf Stahl im Jahr 2018 führten zu Schwierig-
keiten. Im Bereich der medizinischen Schutzausrüstungen konnte jedoch rasch eine Lösung gefunden wer-
den. Die EU-Schutzmassnahmen auf Stahleinfuhren sind für die Schweizer Exporteure weiterhin proble-
matisch.

Auch mit der Schweiz erzielte die Deutschland 2019 einen Exportüberschuss in der Höhe von 9.5 Mrd.
Euro. Die Schweiz figuriert in der Rangliste der wichtigsten Handelspartner Deutschlands auf Platz neun
und damit vor Russland, Brasilien, Japan oder Indien.12
2019 ist das bilaterale Handelsvolumen zwischen Deutschland und der Schweiz auf 104.9 Mrd. CHF
(2018: 103.8 Mrd. CHF, +1.1 %) angestiegen Es beträgt somit die Hälfte des Handelsvolumens zwischen

1
  Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020), Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Ausgaben von Februar und März 2020.
2
  Ibid.
3
  Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Pressemitteilung Nr.018, Mitteilung zur Erwerbslosigkeit.
4
  Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Pressemitteilung Nr. 085.
5
  Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Zusammenfassende Übersichten für den Aussenhandel 2019.
6
  Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Pressemitteilung Nr. 039.
7
  Deutsche Bundesbank (2020): Deutscher Leistungsbilanzüberschuss 2019 auf 245½ Milliarden Euro zurückgegangen.
8
  Deutsche Bundesbank (2020): Deutsche Staatsschulden 2019 um 16 Mrd Euro auf 2,05 Billionen Euro gesunken – Schuldenquote von 61,9 % auf
59,8 %.
9
  Sachverständigenrat Wirtschaft (2020): Sondergutachten 2020: Die gesamtwirtschaftliche Lage angesichts der Corona-Pandemie.
10
   ifo-Institut (2020): Pressemitteilung vom 23.März 2020.
11
   Statista (2020): Europäische Union: Prognose zur Staatsverschuldung in den Mitgliedsstaaten von 2019 bis 2021.
12
   Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Aussenhandel, Zusammenfassende Übersicht für den Aussenhandel 2019.
Deutschland und seinem grössten Handelspartner China und macht für die Schweiz rund 18 % ihres ge-
samten internationalen Handelsvolumens aus. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind vor allem im
deutsch-schweizerischen Grenzgebiet intensiv. Im Falle des Bundeslandes Baden-Württemberg ist die
Schweiz seit 2010 das wichtigste Ursprungsgebiet für Waren und Dienstleistungen vor China, Italien und
den USA. Das Handelsvolumen der Schweiz mit Baden-Württemberg und Bayern zusammen ist grösser
als dasjenige der Schweiz mit China.13 Bezüglich Direktinvestitionen ist die Schweiz mit einem Volumen
von 40.2 Mrd. Euro der viertgrösste Direktinvestor in Deutschland.

1     Allgemeine Lage, wirtschaftliche Probleme und Herausforderungen

1.1        Allgemeine Lage
Allgemeines/BIP: Das Bruttoinlandprodukt der Bundesrepublik Deutschland ist im Jahr 2019 preisberei-
nigt um 0.6 % gewachsen. Zwar war damit die Wirtschaftsentwicklung zum zehnten Mal in Folge positiv,
jedoch bedeutete das BIP-Wachstum von +0.6 % die tiefste Zunahme in den vergangenen fünf Jahren.
Während dieser Periode hatte das Wirtschaftswachstum im Durchschnitt rund 2 % betragen.14 Ähnlich
schwach war das Wachstum zuletzt 2013 ausgefallen. Pro Einwohner gerechnet stagnierte die nominale
Wirtschaftsleistung damit 2019 annähernd bei 41’345 Euro.

Gründe für diese merkliche Abkühlung waren die seit 2018 gedämpfte Weltkonjunktur und die Risiken im
aussenwirtschaftlichen Umfeld, insbesondere die internationalen Handelskonflikte und die damit einherge-
henden Androhungen von Zollerhöhungen trafen die exportorientierte deutsche Industrie schwer. Die Wirt-
schaftsleistung im verarbeitenden Gewerbe ging 2019 um 3.6 % zurück. Dies ist hauptsächlich auf die
schwache Produktion in der Automobilindustrie zurückzuführen.

Der Schlüsselsektor der deutschen Industrie steht seit einigen Jahren unter grossem Druck: Wirtschafts-
politische Konflikte verursachen Probleme in wichtigen Absatzmärkten, die Klimaziele der Bundesregierung
führen zu einem hohen Anpassungsdruck bei den deutschen Herstellern und die zunehmende Digitalisie-
rung sorgt für neue, ursprünglich branchenfremde Konkurrenten. Mit der Coronakrise hat sich die Situation
des Sektors im Frühjahr 2020 nochmals dramatisch verschlechtert. Die grössten Konzerne haben ihre Pro-
duktionsstätten vorerst geschlossen. Die negativen Auswirkungen gilt es in ihrem vollen Ausmass erst noch
abzuschätzen, doch schon im März hat der Konzern Volkswagen 80'000 Mitarbeitende in die Kurzarbeit
geschickt. Im Zuge der Coronakrise forderte die Autolobby eine Kaufprämie für Elektro-, aber auch für neue
Benzin- und Dieselfahrzeuge, was auf Kritik stiess. Stein des Anstosses ist, dass die Autohersteller über
grosszügige finanzielle Polster verfügen und Dividenden an ihre Aktionäre auszahlen, gleichzeitig aber
Staatshilfe beantragen. Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung beinhaltet nun zwar nur eine Erhö-
hung der Kaufprämie für Elektro-Fahrzeuge, durch die zeitlich beschränkte Senkung des Mehrwertsteuer-
satzes aber indirekt auch eine für herkömmliche Fahrzeuge.

Der Binnenkonsum blieb 2019 eine verlässliche Stütze für die Binnenwirtschaft und wuchs um 1.6 % im
Vergleich zum Vorjahr.15 Hierfür verantwortlich waren die erhöhten verfügbaren Einkommen in den Privat-
haushalten, wobei die Reallöhne im Jahr 2019 um 1.2 % und die Nominallöhne um 2.6 % zunahmen.
Zur Steigerung der Einkommen trugen folgende Faktoren bei:

      ·    Anhaltend hohe Erwerbstätigkeit: Nicht zuletzt weil die Dienstleistungskonjunktur nach wie vor
           intakt ist, nahm die Beschäftigung auch 2019 weiter zu.16 Die Zahl der Erwerbstätigen stieg 2019
           auf einen Höchststand von 45.1 Mio., während die Arbeitslosigkeit mit 5 % den tiefsten Stand seit
           1990 erreichte.

      ·    Erhöhung des Mindestlohns: Am 1.1.2015 wurde in Deutschland zusätzlich zu branchenspezifi-
           schen Mindestlöhnen erstmals eine allgemeine, gesetzlich verankerte Lohnuntergrenze eingeführt
           und zwar bei 8.5 Euro brutto pro Stunde. Der Wert wird alle zwei Jahre auf Vorschlag der Mindest-
           lohnkommission hin angepasst. Seit 1.1.2020 gilt der Mindestlohn von 9.35 Euro. Gleichzeitig stie-
           gen in mehreren Branchen die weit höheren Branchen-Mindestlöhne zum 1. Januar 2020. Die Min-

13
   Das Aussenhandelsvolumen zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg sowie Bayern beläuft sich gemäss eigenen Berechnungen basierend
auf den Daten der entsprechenden Statistikämter auf 41.6 Mrd. Euro, während sich jenes zwischen der Schweiz und China auf 32.8 Mrd. Euro beläuft.
Eidgenössische Zollverwaltung (2019): Kumulierter Außenhandel der Schweiz nach Handelspartnern 2018;
Bayerisches Landesamt für Statistik (2019): Aussenhandel 2018;
Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2019): Aus- und Einfuhr nach ausgewählten Ländern; (Umrechnung von CHF in EUR bei einem Kurs
von 0.8966, Stand 05.06.2019).
14
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020), Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Ausgaben von Februar und März 2020.
15
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020): Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Ausgaben von Februar und März 2020.
16
   Statistisches Bundesamt Destais (2020): Erwerbstätigkeit, Eckzahlen zum Arbeitsmarkt.
destlohnkommission hat Ende Juni 2020 ihre Empfehlung für die Erhöhung des gesetzlichen Min-
           destlohns für die Jahre 2021 und 2022 beschlossen. Der Mindestlohn soll bis 2022 in vier Schritten
           von derzeit 9,35 Euro auf 10,45 Euro steigen.

     ·     Steuerliche Entlastungen: Gleich mehrere Reformen zur Einkommensverbesserung von Privat-
           haushalten wurden 2018 und 2019 umgesetzt. Zum einen wurde mit dem Familienentlastungsge-
           setz (FamEntlastG) nicht nur das Kindergeld, sondern auch der Kinderfreibetrag erhöht. Der
           Grundfreibetrag wurde an das gestiegene Existenzminimum angepasst und die kalte Progression
           ausgeglichen.17 Allein mit dem Familienentlastungsgesetz ergibt sich in den Jahren 2019 und 2020
           eine geschätzte Entlastung in Höhe von 9.8 Mrd. Euro bei voller Jahreswirkung.18 Hinzu kommt die
           weitgehende Abschaffung des Solidaritätszuschlags ab 2021. Dieser war nach der Wende als Son-
           dersteuer vor allem für den Aufbau Ostdeutschlands eingeführt worden. Er beträgt 5.5% der Kör-
           perschaft- und Einkommensteuer. Insgesamt brachte er dem Staat 2019 18.9 Mrd. Euro ein. Ab
           2021 soll der Zuschlag für 90% aller Einkommenssteuerzahlenden vollständig wegfallen, während
           für weitere 6.5% die Abgabe zumindest teilweise entfällt. Die Steuerzahlenden werden hierdurch
           von 2021 an um rund 10 Mrd. Euro entlastet, bis 2024 steigt die Wirkung dieser Massnahme auf
           etwa 12 Mrd. Euro an.19 Durch den Teil-Abbau nimmt der Bund ab 2021 rund 10.9 Mrd. Euro we-
           niger ein.

     ·     Stabilisierung der Sozialversicherungsabgaben: Per 1.1.2019 wurde der Beitragssatz zur Ar-
           beitslosenversicherung dauerhaft um 0.4 % und per Verordnung um weitere 0.1 % befristet bis
           zum Jahr 2022 gesenkt. Damit wurden die Beitragszahlenden 2019 um insgesamt sechs Mrd. Euro
           entlastet. 20 Damit will die Bundesregierung ihr Ziel, die Sozialversicherungsabgaben unter der
           Marke von 40 % zu halten, erreichen.

Gegen Ende des Jahres entwickelten sich die Einkommen allerdings weniger dynamisch, was sich in einem
geringeren Konsum niederschlug.21 Mit dem Ausbruch der Coronakrise im März 2020 ist der Konsum laut
der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) drastisch eingebrochen. Einen ähnlich schlechte Konsumen-
tenstimmung wurde zuletzt 2009 während der Finanz- und Wirtschaftskrise gemessen.22

Ein weiterer wichtiger Faktor für die BIP-Entwicklung ist die Bauhochkonjunktur in Deutschland. Die Auf-
tragsbücher sind prall gefüllt, die hohe Nachfrage nach Wohnraum dauert an, Kapazitätsengpässe könnten
der Dynamik jedoch Grenzen setzen (siehe Kapitel 1.2.).

Leistungsbilanzüberschuss: 2019 hat Deutschland das fünfte Jahr in Folge den weltweit grössten Leistungs-
bilanzüberschuss in der Höhe von 7.25 % des BIP erwirtschaftet. Dieser ist zwar immer noch beträchtlich,
aber einiges tiefer als das Rekordergebnis aus dem Jahr 2015, als der Überschuss 8.6 % betrug.23 Die
Bundesregierung erwartet für das laufende Jahr 2020 ein Leistungsbilanzüberschuss in Höhe von
6.5 % des BIP. 24

Die anhaltend hohen Leistungsbilanzüberschüsse bringen dem Land international Kritik ein. Laut der EU
gilt ein Exportüberschuss von mehr als sechs Prozent des BIP als nicht tragfähig. Deutschland überschrei-
tet diesen Wert seit Jahren, wofür es zahlreiche Ursachen sowohl temporärer als auch struktureller Natur
gibt: Neben der hohen deutschen Wettbewerbsfähigkeit ist auch die relative Schwäche des Euro für deut-
sche Verhältnisse ein entscheidender Faktor: Gemessen an der Exportstärke Deutschlands ist der Euro im
Vergleich zu anderen wichtigen Währungen zu schwach. Hätte Deutschland eine eigene Währung, würde
der Wechselkurs wohl steigen, damit dämpfend auf die Exporte wirken und die deutsche Nachfrage nach
Importen aus den dann günstigeren Nachbarländern stärken. Auch tiefe Rohstoffpreise spielen eine Rolle.

Staatshaushalt: Die staatlichen Haushalte beendeten das Jahr 2019 zum achten Mal in Folge mit einem
Überschuss. Mit 49.8 Mrd. Euro reicht dieser nicht ganz an das Rekordergebnis von 2018 heran, als der
Staat einen Überschuss von 62.4 Mrd. Euro erzielt hatte.25 Der Bund erwirtschaftete mit 20.1 Mrd. Euro
den höchsten Überschuss. Die Länder erzielten ein Plus von 13.6 Mrd. Euro, die Sozialversicherungen
schlossen das Jahr mit einem positiven Saldo von 9.9 Mrd. Euro ab und die Kommunen erwirtschafteten

17
   Bundesministerium der Finanzen (2018): Gesetz zur steuerlichen Entlastung der Familien sowie zur Anpassung weiterer steuerlicher Regelungen
(Familienentlastungsgesetz – FamEntlastG).
18
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020): Jahreswirtschaftsbericht 2020.
19
   Bundesministerium der Finanzen (2019): Pressemittelung vom 21.08.2019: Kabinett beschließt die weitgehende Abschaffung des Solidaritätszu-
schlags.
20
   Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2018): Pressemitteilung vom 19.09.2018: Qualifizierungsoffensive am Arbeitsmarkt.
21
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Schlaglichter der Wirtschaftspolitik, Ausgabe vom März 2020.
22
   GfK (2020): Pressemitteilung vom 26.03.2020: Konsumklima durch Coronavirus schwer infiziert.
23
   Ifo-Institut (2020): Zu den globalen Leistungsbilanzen im Jahr 2019.
24
   Bundesministerium der Finanzen (2020): Finanzbericht 2020.
25
   Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Pressemitteilung Nr. 057.
einen Überschuss von 6.2 Mrd. Euro. Auf der Einnahmenseite stiegen vor allem die Sozialversicherungs-
beiträge überdurchschnittlich um 4.4 % auf 597.8 Mrd. Euro. Die weiterhin gute Beschäftigung trug mass-
geblich zu dieser Entwicklung und den weiter steigenden Lohnsteuerzahlungen bei (+4.1 %). Der deutliche
Anstieg der Bruttoinvestitionen (Ausgabeseite) ist vor allem auf höhere staatliche Bauinvestitionen zurück-
zuführen. Wegen des weiterhin sehr niedrigen Zinsniveaus und eines gesunkenen Schuldenstandes sind
die Zinsausgaben erneut zurückgegangen (-13.2 %). Im Herbst 2019 wurde zum fünften Mal in Folge ein
Bundeshaushalt verabschiedet, der keine Neuverschuldung vorsieht. 26 Jedoch wurde aufgrund der
Coronakrise für 2020 zur Stützung der deutschen Wirtschaft ein Nachtragshaushalt beschlossen. Dadurch
werden zusätzliche Ausgaben von 122.5 Mrd. Euro ermöglicht und die Ausgaben des Bundes von 362 auf
484.5 Mrd. Euro erhöht.

Verschuldung: Die deutschen Staatsschulden sind im Jahr 2019 um 16 Mrd. Euro auf 2.1 Billionen Euro
gesunken. Die Schuldenquote fiel von 61.9 % Ende 2018 auf 59.8 %. Diese nahm damit zum siebten Mal
in Folge ab und unterschritt erstmals seit 2002 wieder den Referenzwert des Maastricht-Vertrages von 60
%. Zur Finanzierung der Zusatzausgaben im Rahmen der Coronakrise muss ein Nettokredit von 156Mrd.
Euro aufgenommen werden. Damit wurde die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse nach Jahren
der Politik der „Schwarzen Null“ erstmals wieder ausgesetzt.

Finanzausgleich: 2017 wurden die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu geregelt, wodurch die Länder
ab 2020 um weitere 9.7 Mrd. Euro jährlich entlastet werden und der Bund mehr Kontroll-, Steuerungs- und
Prüfrechte erhält.27 Seither sind unter der Bedingung der Eigenbeteiligung der Länder Investitionen des
Bundes nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch für Sozialwohnungen und den Schienen-Nahverkehr
möglich. Die Neuregelung trat am 04.04.2019 in Kraft.28

Debatte über Wiedereinführung der Vermögenssteuer: Die Vermögensteuer wird zwar seit 1997 nicht
mehr erhoben, aber das Vermögenssteuergesetz wurde bisher noch nicht aufgehoben. Bereits mehrfach
haben der Deutsche Gewerkschaftsbund, die SPD, die Grünen oder die Linkspartei Initiativen zur Wieder-
einführung einer Vermögenssteuer lanciert, ohne dass konkrete Ergebnisse erzielt wurden. 2019 trat SPD-
Finanzminister Olaf Scholz die Debatte wieder los und schlug einen Steuersatz von 1 % vor. Der SPD-
Parteitag vom Dezember 2019 beschloss in der Folge, Vermögen oberhalb von zwei Mio. Euro mit einem
Prozent zu besteuern. Der Steuersatz soll bei grösserem Reichtum stufenweise ansteigen und für Vermö-
gen von über einer Milliarde Euro 2 % betragen. Als Vorbild wurde in diesem Zusammenhang auch die
Schweizer Vermögensteuer ins Spiel gebracht. Im Dezember 2019 waren in der Bevölkerung bei einer
repräsentativen Umfrage 72 % der Befragten für eine Vermögenssteuer. 29 Die Union erteilte dem Vorschlag
eine Absage. Im Zuge der Coronakrise warnen Wirtschaftswissenschaftler vor der Einführung einer Ver-
mögenssteuer zur Tilgung der Staatsschulden: Die geeignete Methode, um die Schulden abzuzahlen,
müsse eine intelligente Wachstumsstrategie sein.

Steuerliche Forschungsförderung: Um kleine und mittelgrosse Firmen vermehrt zu Forschungsanstren-
gungen zu motivieren, schuf die Bundesregierung das Forschungszulagengesetz (FZulG)30, welches am
1. Januar 2020 in Kraft trat. Nun können sich alle Unternehmen, die forschen und in Deutschland steuer-
pflichtig sind, 25 % ihrer förderfähigen Personalaufwendungen für Forschung und Entwicklung nach Ablauf
des jeweiligen Wirtschaftsjahres auf Antrag durch Anrechnung auf die festgesetzte Einkommen- oder Kör-
perschaftsteuer erstatten lassen. Die Förderung ist zeitlich unbefristet, allerdings soll deren Wirkung nach
vier Jahren überprüft werden.

1.1.1      Die wirtschaftliche Lage in Deutschland im Mai 2020
Das BIP nahm laut neusten Zahlen des statistischen Bundesamtes im ersten Quartal 2020 um 2.2 % ab.
Für das zweite Quartal wird ein Rückgang zwischen 10 % und 14 % erwartet. Laut jüngsten Schätzungen
fallen die Steuereinnahmen im Jahr 2020 um 98.6 Mrd. Euro niedriger aus als ursprünglich erwartet. Die
Staatsschulden werden stark zunehmen und die Schuldenquote wird wieder deutlich über der 60 %-
Grenze zu liegen kommen. Die Arbeitslosigkeit stieg bis Mai saisonbereinigt um 373‘000 Personen. Die
Anzeigen für konjunkturelle Kurzarbeit schnellten weiter in die Höhe, von 2.6 Mio. Personen im März auf
7.5 Mio. Ende April 2020. Insgesamt wurde damit für 10.1 Millionen Personen in knapp zwei Monaten
Kurzarbeit angemeldet. Das Gastgewerbe, die Metall- und Elektroindustrie sowie die sonstigen Dienstleis-
tungen waren besonders stark betroffen. Zu bedenken ist allerdings, dass nicht die gesamte angezeigte
Kurzarbeit auch tatsächlich realisiert wird. Die saisonbereinigte Erwerbstätigkeit ging im März um 41‘000

26
   Bundesministerium der Finanzen (2019), Bundeshaushalt 2019, Einzelpläne.
27
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Jahreswirtschaftsbericht 2019.
28
   Deutscher Bundesrat (2019): Ausgewählte Tagesordnungspunkte der 975. Sitzung am 15.03.2019.
29
   tagesschau.de (2019): DeutschlandTrend: Mehrheit ist für eine Vermögenssteuer.
30
   Bundesgesetzblatt (2019, Nr. 51): Gesetz zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung, S. 2763-2767.
Personen zurück. Diese Frühindikatoren lassen einen anhaltenden Beschäftigungseinbruch in der Indust-
rie, im Handel und weitere Dienstleistungssektoren sowie eine weiter steigende Arbeitslosigkeit erwarten.
Die weltweiten Konjunkturschocks durch die Coronakrise trafen die deutsche Industrie hart. Im März nahm
die Industrieproduktion um 11.6 % ab, wobei der Maschinenbau und der Kfz-Bereich besonders stark (-
3.9 % bzw. - 9.6 %) betroffen waren. Das Baugewerbe konnte noch ein Plus von 1.8% verzeichnen. Die
Umsätze im Einzelhandel (ohne Kfz) brachen im Zuge des Lockdowns um 5.6 % ein.

1.1.2        Massnahmen zur Eindämmung der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie
Bundesfinanzminister Scholz und Bundeswirtschaftsminister Altmaier legten am 13.03.2020 mit dem
«Schutzschild für Beschäftigte und Unternehmen» ein umfassendes Massnahmenpaket zu Abfederung
der Auswirkungen des Corona-Virus31 vor. Am 23.03. billigte das Bundeskabinett mit dem Rettungsschirm
ein umfassendes Gesetzespaket, welches u.a. Soforthilfen für kleinere Unternehmen und einen Wirt-
schaftsstabilisierungsfonds (WSF) umfasst (vgl. auch Tabelle Anhang). Für den Nachtragshaushalt in Höhe
von 156 Mrd. Euro ist eine Nettokreditaufnahme nötig, die fast der Hälfte des normalen Bundeshaushalts
für ein Jahr entspricht und womit die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse ausgesetzt wird.

Der von der Bundesregierung etablierte Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit einem Volumen von 600 Mrd.
Euro wurde vom Bundestag dahingehend erweitert, dass nicht nur DAX-Konzerne und Kleinstunterneh-
men, sondern auch grosse Start-ups Hilfe beantragen können. 400 Mrd. Euro sieht die Regierung als Ga-
rantien vor, mit denen Unternehmen sich am Kapitalmarkt refinanzieren können. Bis zu 100 Mrd. Euro hält
sie für direkte Beteiligungen an Unternehmen bereit, u.a. um Übernahmen aus dem Ausland zu verhindern.
Ausserdem gehen Kredite von bis zu 100 Mrd. Euro an die Kreditanstalt für den Wiederaufbau (KfW) für
Liquiditätshilfen an Firmen. Über das KfW-Sonderprogramm 2020 können KMU und Grossunternehmen
sowie grosse Start-ups unterstützt werden. Dieses umfasst Schnellkredite für KMUs (mit mehr als zehn
Arbeitnehmenden) ohne Kreditrisikoprüfung sowie 450 Mrd. Euro für Bürgschaften und Expressbürgschaf-
ten (bis max. 300’000 Euro). Bis Ende April betrug das Antragsvolumen bei der KfW rund 27.8 Mrd. Euro.
Von dann 15’150 Anträgen wurden 14’926 bewilligt.

Für Soforthilfen für kleine Unternehmen und Selbständige (bis zehn Beschäftigte) wurden mit Stand Ende
April rund 1.72 Mio. Anträge gestellt. Rund 1.2 Mio. Anträge im Volumen von etwa 9.5 Mrd. Euro wurden
bewilligt. Die Anzahl bislang beantragter Bürgschaften bei den Bürgschaftsbanken beträgt 1’635, davon
wurden 1’024 genehmigt (Kreditvolumen 247.5 Mio. Euro).

Trotz des historischen Umfangs des Hilfsprogramms gab es auch Kritik, denn die mittelgrossen Betriebe
(insbes. in der Gastronomie) mit mehr als zehn Mitarbeitenden drohten durch das Netz der Unterstützungs-
massnahmen des Bundes zu fallen. Altmaier reagierte rasch und führte am 06.04.2020 eine weitere, auf
mittlere KMUs zugeschnittene Massnahme ein: Unternehmen mit elf bis 50 Beschäftigten können vollstän-
dig vom Bund verbürgte Kredite in einer Höhe von bis zu 500’000 Euro beantragen.

Neben den genannten Wirtschaftsstabilisierungsmassnahmen beschloss der Bundestag ausserdem zwei
Sozialschutzpakete. Diese reglementieren eine Vielzahl von Themen wie Kurzarbeit, Sozialrentenbezüge,
Arbeitslosen- und Kindergeldern und Lohnfortzahlungen wegen Kitaschliessung oder Unterstützung sozi-
aler Dienstleister.

Am 3. Juni 2020 schnürte die Bundesregierung ein 130 Mrd. Euro schweres Konjunkturpaket.32 Es enthält
u.a. eine temporäre Senkung der Mehrwertsteuer von 19 % auf 16 % im Wert von 20 Mrd., weitere 20 Mrd.
an Überbrückungshilfen für KMUs sowie steuerliche Entlastungen für Firmen, Investitionen in Klimaschutz
und Digitalisierung, wie auch höhere Kaufprämien für E-Autos. Nicht umgesetzt wurde eine Forderung der
Automobilindustrie nach einer Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor. Fast die Hälfte der Mittel des
Konjunkturpakets fliessen in Zukunftsbereiche: Mehr als 60 Mrd. Euro wird die Bundesregierung für Bil-
dung, Forschung und Innovation bereitstellen. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier spricht von einem
«Marshallplan 2.0». Er erwartet, dass die deutsche Wirtschaft im zweiten Halbjahr 2020 wieder wachsen
wird. Für 2021 rechnet er mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts von rund 5 %.

Auf EU-Ebene schlug Deutschland zusammen mit Frankreich vor, zusätzlich zu den bereits beschlossenen
Hilfsmassnahmen einen Wiederaufbaufonds mit einem Volumen von 500 Mrd. Euro für die Mitgliedstaa-
ten einzurichten. Damit sollten insbesondere Investitionen in den Bereichen des ökologischen und digitalen
Wandels gefördert und Branchen und Regionen unterstützt werden, die am schwersten betroffen sind. Es
ist geplant, die auf EU-Ebene aufgenommenen Schulden über einen Zeitraum von 20 Jahren zu tilgen.
Insbesondere Deutschland pocht darauf, dass diese Nichtrückzahlbarkeit an klare Bedingungen geknüpft
werden muss.

31
     Vgl. für Details Tabelle in der Anlage
32
     Bundesministerium der Finanzen (2020): Ergebnis Koalitionsausschuss 3.Juni 2020.
1.2        Wirtschaftliche Probleme / Herausforderungen / Chancen
2019 sah sich die deutsche Wirtschaft gleichzeitig mit mehreren grossen Herausforderungen auf der inter-
nationalen und nationalen Ebene konfrontiert: Einerseits führten der Handelskrieg USA-China sowie der
Brexit zu Verunsicherung, andererseits veränderte die deutsche Energiewende die Rahmenbedingungen
für die Wirtschaft grundlegend. Gleichzeitig musste sie sich der Digitalisierung stellen und Antworten auf
den Fachkräftemangel finden. Besonders betroffen von diesen Veränderungen war die deutsche Industrie,
weshalb das Jahr 2019 für alle Branchen, aber insbesondere den Automobilsektor, ein äusserst schwieri-
ges Jahr war. Im Folgenden wird auf die unterschiedlichen Herausforderungen eingegangen:

1.2.1      Verunsicherung im Aussenhandel: Handelsstreit USA-China und Brexit
Die Verunsicherung im Aussenhandel gehörte auch 2019 zu den grössten Herausforderungen für die deut-
sche Wirtschaft, ist diese durch Export doch stark in den globalen Handel eingebunden und von dessen
gutem Funktionieren abhängig. Die Unsicherheiten, welche der Handelsstreit zwischen China und den
USA mit sich brachten, wirkten sich negativ auf die deutsche Wirtschaft aus, denn Deutschland ist der
viertgrösste ausländische Investor in den USA und zahlreiche deutsche Unternehmen haben eine starke
Verankerung in den USA. Diese haben vor Ort insgesamt 311’000 Arbeitsplätze im verarbeitenden Ge-
werbe geschaffen und sind damit der zweitgrösste Arbeitgeber mit der zweithöchsten Wertschöpfung im
Land. Seit dem 1. Juni 2018 erheben die USA einen Zoll in Höhe von 25 % auf bestimmte Stahlimporte
aus der EU. Für die deutsche Stahlindustrie sind die USA der wichtigste Exportmarkt ausserhalb der EU.
Mit einem Anteil von rund 4 % an den gesamten deutschen Stahlexporten ist die direkte Abhängigkeit vom
US-Markt allerdings begrenzt.

Als weiterer Unsicherheitsfaktor drückt der Brexit auf die Stimmung von Exportunternehmen und Investo-
ren. Die britische Volkswirtschaft ist für die deutschen Exporteure der fünftwichtigste Absatzmarkt, mit 82
Mrd. Euro im Jahr 2018.33 Im UK waren 2017 rund 2'300 deutsche Unternehmen mit ca. 433'000 Mitarbei-
tenden aktiv. 34 Studien kommen zu unterschiedlichen Resultaten, was die direkten Auswirkungen des
Brexit auf die deutsche Wirtschaft betrifft. Gemäss einer Studie des Europäischen Ausschusses der Regi-
onen, trifft der Brexit die deutsche Wirtschaft besonders hart. 35 Von den 50 europäischen Regionen, die
besonders stark von den Folgen des Brexit betroffen sein werden, liegen 41 Regionen in Deutschland. Am
stärksten belastet werden der Studie zufolge die Regionen Hamburg, Berlin, Düsseldorf mit dem westlichen
Ruhrgebiet sowie Köln und Darmstadt. Dort seien zwischen 16 % und 17.5 % der Wirtschaftsleistung im
produzierenden Gewerbe mit negativen Auswirkungen des Brexit konfrontiert. Bundesweit am stärksten
betroffen sind die Fahrzeug-, Pharma- und Maschinenbaubranchen, die den grössten Anteil des Güterex-
ports ins UK ausmachen.36 Andere Studien, interessanterweise diejenigen des Bundesministeriums für
Wirtschaft und Energie, sprechen davon, dass der Brexit für die deutsche Wirtschaft langfristig insgesamt
«verkraftbar» sein wird.37 Auf Unternehmerseite führt der Brexit-Prozess zu Schwierigkeiten bei der lang-
fristigen Planung. Die deutschen Unternehmen bereiten sich durch Vertragsanpassungen, die Analyse von
alternativen Transportwegen und die Verlagerung von Produktionsstätten, die Erhöhung von Lagerkapazi-
täten oder den Austausch britischer Zulieferer und Dienstleister auf den Brexit vor. Viele deutsche Unter-
nehmen rechnen ausserdem mit dem Abbau von Arbeitsplätzen und schätzen den bevorstehenden Scha-
den als hoch oder sehr hoch ein.38 Die konkreten Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft werden mas-
sgeblich von den noch zu definierenden Modalitäten des Austritts abhängen. Mit dem Gesetz über steuer-
liche Begleitregelungen zum Austritt des Vereinigten Königreichs Grossbritannien und Nordirland aus der
Europäischen Union (Brexit-Steuerbegleitgesetz) hat die Bundesregierung begonnen, ein gewisses Mass
an Rechtssicherheit zu schaffen.39

1.2.2      Neue Rahmenbedingungen für die Wirtschaft durch die deutsche Energiewende
Auch die deutsche Energiewende, welche seit 2019 mittels der neuen Klimagesetzgebung umgesetzt wird,
und der daraus resultierende Ausstieg aus der Atom- und Kohleverstromung fordern die Wirtschaft. Mit der
Energiewende hat sich Deutschland das ambitionierte Ziel gesetzt, eine grundlegende Umstellung der
Energieversorgung – weg von nuklearen und fossilen Brennstoffen und hin zu regenerativen Energien –
zu vollziehen. Im Oktober 2019 legte die Bunderegierung das Klimaschutzprogramm 2030 vor, das im
Rahmen des Bundes-Klimaschutzgesetzes umgesetzt werden muss.

33
   Statistisches Bundesamt Destatis (2020): Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland.
34
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020): Brexit, wichtige Informationen im Überblick, konsultiert am 26.6.2020.
35
   European Committee of the Regions (2018): Territorial Impact Assessment, The UK's withdrawal from the European Union.
36
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2017): Ökonomische Effekte eines Brexit auf die deutsche und europäische Wirtschaft.
37
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020): Brexit, wichtige Informationen im Überblick, konsultiert am 26.6.2020.
38
   Bundesverband der Deutschen Industrie (2019), Brexit und die deutsche Wirtschaft.
39
   Bundesministerium der Finanzen, Gesetz über steuerliche Begleitregelungen zum Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordir-
land aus der Europäischen Union (Brexit-Steuerbegleitgesetz - Brexit-StBG).
Der Bundestag hat Anfang März 2020 die Beratungen über den Gesetzesentwurf der Bundesregierung
betreffend das Ende der Kohleverstromung und Kohleförderung in Deutschland aufgenommen40 und im
April 2020 hat sich der Bundesrat der Sache angenommen. Grundlage des Gesetzesentwurfs sind die
Empfehlungen der von der Bundesregierung eingesetzten unabhängigen Kohlekommission. 41 Der Geset-
zesentwurf sieht vor, dass bis spätestens 2038 schrittweise alle Braunkohle- und Steinkohlekraftwerke ab-
geschaltet werden. Bereits bis 2022 sollen Braun- und Steinkohlekraftwerke mit einer Leistung von 12.5
Gigawatt (GW) stillgelegt werden, sodass die Gesamtleistung von heute mehr als 42 Gigawatt auf dann 15
Gigawatt Braun- und 15 Gigawatt Steinkohle reduziert wäre. Da im Jahr 2022 zudem auch der letzte Atom-
meiler abgeschaltet wird, müssen die Anstrengungen, den Ökoenergie-Anteil zu erhöhen, erheblich gestei-
gert werden. Die Kohle-Kraftwerksbetreiber sollen dafür Entschädigungen bekommen. Ausgleichsmass-
nahmen für Verbraucher sollen den Umstieg von der Kohle auf andere Energiequellen flankieren. Parallel
hat das Kabinett bereits im August 2019 den «Entwurf eines Strukturstärkungsgesetzes Kohleregio-
nen» veröffentlicht. Wie von der Kohlekommission vorgesehen, sollen die vom Kohleausstieg betroffenen
Bundesländer (Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt) bis 2038 rund 40 Mrd.
Euro Finanzhilfen zur Unterstützung im Strukturwandel erhalten. Diese Gelder sollen zusätzlich zu bishe-
rigen Bundesmitteln verteilt werden. Von den 40 Mrd. Euro sollen 26 in Infrastrukturmass- nahmen (Ausbau
von Autobahnen, Bundesbahnen und Bahnstrecken, Ansiedelung von Behörden und Forschungseinrich-
tungen) in den betroffenen Gegenden fliessen. Für diese Regionen stellt der Kohleausstieg damit auch
eine Chance für eine Neuausrichtung dar. Generell belastet eine veraltete, respektive unzureichende Inf-
rastruktur in verschiedenen Verkehrsbereichen (Bahn, Strassen, marode Autobahnbrücken, Staus) die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.

Zur Umsetzung der Energiewende sind bis 2050 Investitionen von bis zu 550 Mrd. Euro erforderlich. Eine
halbe Billion entspricht jährlichen Zusatzinvestitionen in Höhe von bis zu 15 Mrd. Euro oder 0.5 % des
Bruttoinlandsprodukts. Die energieintensiven Industrien befürchten, den Grossteil der Kosten der Umstel-
lung auf bzw. die Förderung der erneuerbaren Energien schultern zu müssen.

1.2.3      Digitalisierung / Künstliche Intelligenz
Die Unternehmen sehen sich nicht nur in Bezug auf Klimafragen mit neuen Anforderungen konfrontiert,
sondern auch in Bezug auf die Digitalisierung. Dabei geht es um den Strukturwandel insgesamt, die An-
passung von Unternehmensprozessen ebenso wie um das Arbeitsumfeld, um die digitale Bildung in Schu-
len bis zu berufsbegleitenden Qualifizierungsangeboten.

Die Bundesregierung war 2019 auch hier tätig und hat die Eckpunkte der Datenstrategie im November
2019 verabschiedet.42 Die für Sommer 2020 vorgesehene Fertigstellung der Strategie hat sich aufgrund
der Coronakrise jedoch verzögert. Die Datenstrategie soll als Dach für die zahlreichen Vorhaben rund um
die Digitalisierung fungieren.

Eines davon ist die 2019 verabschiedete «Umsetzungsstrategie zur Gestaltung des Digitalen Wan-
dels».43 Die darin enthaltenen sektoriellen Programme erfordern als Grundlage zuerst einen Ausbau der
IT-Infrastruktur, denn Grundvoraussetzung für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist ein
flächendeckendes und hochleistungsfähiges digitales Netz. Die Federführung dazu liegt beim Bundesmi-
nisterium für Verkehr und Infrastruktur (BMVI), namentlich in der Erarbeitung der Gesamtstrategie für flä-
chendeckenden Mobilfunkausbau und Mobilfunkstandard 5G.44 Mit staatlichen Investitionen wird der Aus-
bau von Gigabitnetzen auf Glasfaserbasis insbesondere in ländlichen Regionen unterstützt, mittels Finanz-
hilfen an die Bundesländer der Aufbau und die Verbesserung der digitalen Infrastruktur an Schulen.
Deutschland soll zu einem weltweit führenden Standort bei der Erforschung von künstlicher Intelligenz wer-
den. Dazu hat die Bundesregierung im Dezember 2018 die Strategie Künstliche Intelligenz (KI) 45 be-
schlossen. Diese wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, dem Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales sowie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung gemeinsam umgesetzt. 2019
stellte der Bund zunächst 500 Mio. Euro zur Umsetzung der KI-Strategie zur Verfügung.46 Inzwischen wur-
den diese Mittel für 2019 um weitere 500 Mio. Euro aufgestockt und der Bundeshaushaltsplan 2020 sieht
zusätzliche 500 Mio. Euro für die Jahre 2020 bis 2023 vor. 47 Im März 2020 wurde als Teil der KI-Strategie
das Deutsche Observatorium für Künstliche Intelligenz in Arbeit und Gesellschaft (KI-Observatorium) lan-

40
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2017): Ökonomische Effekte eines Brexit auf die deutsche und europäische Wirtschaft, S.84.
41
   Bundesministerium für Wirtschaft und Finanzen (2020): Kabinett beschliesst Kohleausstiegsgesetz.
42
   Bundesregierung (2019): Eckpunkte einer Datenstrategie der Bundesregierung.
43
   Bundesregierung (2019): Digitalisierung gestalten – Umsetzungsstrategie der Bundesregierung.
44
   Bundesregierung (2020): Frequenzvergabe, Gesamtstrategie für flächendeckenden Mobilfunkausbau und Mobilfunkstandard 5G.
45
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2018): Strategie Künstliche Intelligenz des Bundesregierung.
46
   Ibid.
47
   Bundesministerium der Finanzen (2019): Entwurf Bundeshaushalt 2020 und Finanzplan bis 2023.
ciert, das die Anwendung Künstlicher Intelligenz im Gesellschafts-, Arbeits- und Wirtschaftsleben beobach-
ten und weiterentwickeln sowie Handlungsempfehlungen für deren verantwortungsvolle Nutzung formulie-
ren soll.

Auch das 2019 lancierte Projekt GAIA-X ist Teil der KI-Strategie. Deutschland will zusammen mit Frank-
reich und Partnern aus der Privatwirtschaft eine souveräne europäische Dateninfrastruktur etablieren. Ziel
ist, dank dieser Infrastruktur die Datenhoheit in Europa zurückzugewinnen und ein digitales Ökosystem zu
schaffen, welches Daten sammelt, zugänglich macht und deren Austausch ermöglicht. Als Gründungsmit-
glieder aus der deutschen Privatwirtschaft sind u.a. Schwergewichte wie BMW, Siemens, Bosch und die
Deutsche Telekom dabei. Die Beteiligung weiterer europäischer Länder wird angestrebt. 48

Anfang 2020 wurden die Arbeiten in den drei beteiligten Ministerien zur Fortschreibung der KI-Strategie
aufgenommen. Der Entwurf sollte dem Kabinett noch vor der Sommerpause vorgelegt werden.

1.2.4      Bekämpfung des Fachkräftemangels
Eine nach wie vor grosse Herausforderung für die deutsche Wirtschaft ist der Fachkräftemangel. Selbst bei
merklicher Zuwanderung wird die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (15 – 64 Jahre) in Deutsch-
land bis zum Jahr 2050 voraussichtlich um mehr als acht Mio. Menschen zurückgehen. Laut dem neuen
Fachkräftemonitoring49 wird es bei Gesundheit und Pflege, in einigen technischen Berufsfeldern und ein-
zelnen Handwerksberufen auch in den kommenden zehn bis zwanzig Jahren noch Engpässe geben.

Schon heute leisten Fachkräfte aus dem europäischen Ausland im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit
einen wichtigen Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und tragen wesentlich zu einer
Entspannung der Fachkräftesituation bei. Zusätzlich dazu rücken Brasilien, Mexiko, die Philippinen oder
der Kosovo als Herkunftsländer in den Fokus. Die Fachkräftestrategie umfasst entsprechend drei Säulen:
Die inländischen, die europäischen und die internationalen Fachkräfte- und Beschäftigungspotenziale. Der
Fokus in der Umsetzung der Fachkräftestrategie liegt dabei auf dem Inland. Neben Massnahmen im Be-
reich der Ausbildung, Qualität der Arbeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf bildet die Qualifizierung
und Weiterbildung der jetzt im Berufsleben stehenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen Schwer-
punkt. Anknüpfend an das vielfältige Weiterbildungsengagement der Betriebe und die Motivation der Be-
schäftigten soll eine neue Weiterbildungskultur in Deutschland etabliert werden.

Das Fachkräftezuwanderungsgesetz ist ein zusätzlicher wichtiger Baustein, um dem Fachkräftemangel
entgegenzuwirken. Es ist das erste Einwanderungsgesetz in der Geschichte der Bundesrepublik und trat
am 1. März 2020 in Kraft. Sein Fokus liegt auf der Gewinnung von Fachkräften mit qualifizierter Berufsaus-
bildung. Zur Ausbildungsplatzsuche darf nur einreisen, wer nicht älter als 25 Jahre ist, gut Deutsch spricht
und einen Schulabschluss vorweisen kann, der zum Hochschulzugang berechtigt. Ausserdem soll die be-
rufsbezogene Sprachförderung im In- und Ausland ausgebaut und die Anerkennung von Bildungs- und
Berufsabschlüssen beschleunigt und erleichtert werden. Zudem wird der Aufenthalt zu ergänzenden Qua-
lifizierungsmassnahmen für Drittstaatsangehörige mit im Ausland abgeschlossener Berufsbildung im Rah-
men der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen erweitert. Um die Verwaltungsverfahren effizi-
enter und serviceorientierter zu gestalten, soll die Zuständigkeit für die Einreise von Fachkräften bei zent-
ralen Stellen konzentriert werden. Für schnellere Verfahren wird ein beschleunigtes Fachkräfteverfahren
geschaffen. Das ebenfalls in diesem Zusammenhang relevante Beschäftigungsduldungsgesetz 50 zielt
darauf ab, dass abgelehnte, aber seit mindestens 12 Monaten geduldete Asylsuchende, die ihren Lebens-
unterhalt selber sichern und gut integriert sind, einen 30-monatigen Aufenthaltsstatus erhalten. Vorausset-
zung ist u.a., dass sie mindestens 18 Monate in Vollzeit (mind. 35 Std./Woche) gearbeitet haben, nicht
wegen einer Straftat verurteilt sind, ihre Identität wahrheitsgemäss nachweisen können und ausreichend
Deutsch sprechen.

1.2.5      Neuausrichtung der Industrie: Förderung von Schlüsselbereichen und «Hidden Champi-
           ons»
Wie eingangs dargelegt, ist die deutsche Industrie aufgrund der Energiewende und der Digitalisierung einer
tiefgreifenden strukturellen Veränderung ausgesetzt. Da das verarbeitende Gewerbe mit einem Anteil am
BIP von 24.2 % im Jahr 2019 weiterhin eine bedeutende Grösse in der deutschen Wirtschaft darstellt, will
Wirtschaftsminister Altmaier diese fit für die Zukunft machen. Zu diesem Zweck legte er im Februar 2019
die Nationale Industriestrategie 203051 vor. Darin skizziert er die Bedeutung und den Zustand des In-
dustriesektors: Dieser investierte 2015 rund 53 Mrd. Euro in Forschung und Entwicklung. Dies entspricht

48
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019), Press Release on Franco-German common work on a secure and trustworthy data infrastruc-
ture.
49
   Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2019): BMAS Fachkräftemonitoring.
50
   Deutscher Bundestag (2019): Entwurf eines Gesetzes über Duldung bei Ausbildung und Beschäftigung.
51
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Industriestrategie 2030.
85 % der internen Aufwendungen der Privatwirtschaft insgesamt und ist fast viermal so viel, wie es ihrem
Anteil an der Bruttowertschöpfung entsprechen würde. Zu den industriellen Schlüsselbereichen, in denen
Deutschland bereits heute führend ist, gehören gemäss der Strategie die Stahl-, Kupfer- und Aluminiumin-
dustrie, die Chemieindustrie, der Maschinen- und Anlagenbau, die Automobilindustrie, die optische Indust-
rie, die Medizingeräteindustrie, der GreenTech-Sektor, die Rüstungsindustrie, die Luft- und Raumfahrtin-
dustrie sowie die additive Fertigung (3D-Druck). Um die prominente Stellung der Industrie in der Wirtschaft
auch in Zukunft zu erhalten, schlägt Altmaier die Schaffung von geschlossenen Wertschöpfungsketten im
Land, den Aufbau von «Nationalen und Internationalen Champions» sowie einer staatlichen Beteiligung
vor, um ausländischen Investitionen in Schlüsselunternehmen zu vermeiden. Auf diese Weise soll eine
schrittweise Erhöhung des Industrieanteils am BIP auf 25 % erreicht werden. Mit Massnahmen wie der
Förderung von Wertschöpfungsketten in Deutschland sowie der Interventionsmöglichkeit bei ausländi-
schen Investitionsabsichten gibt Altmaier dem Staat Instrumente in die Hand, um vermehrt in die Wirtschaft
einzugreifen und übergeordnete nationale Interessen zu verfolgen.

Im Oktober 2019 präsentierte das Wirtschaftsministerium in Ergänzung zur Industriestrategie 2030 die so-
genannte Mittelstandsstrategie, ein Plan zur Förderung mittelständischer Unternehmen. Denn der Mittel-
stand war trotz seiner herausragenden Rolle für die deutsche Wirtschaft – 99 % aller Unternehmen sind
KMUs – nicht in der Industriestrategie 2030 berücksichtigt worden, was öffentlich moniert worden war. Der
Fokus der Strategie liegt auf den sogenannten «Hidden Champions»: Eher unbekannte, kleine bis mittel-
grosse Weltmarktführer in Nischenmärkten mit starker Exportorientierung, welche als Inspiration für die
KMUs dienen sollen. Die Anzahl der Hidden Champions belief sich in Deutschland im Jahr 2016 auf rund
1'800 Unternehmen mit etwa 490'000 Beschäftigten mit einem Gesamtumsatz von ca. 285 Mrd. Euro. Die
meisten Hidden Champions finden sich in Deutschland in der Maschinenbaubranche, gefolgt von der Elekt-
roindustrie.52

Altmaiers Strategie will die Probleme des Mittelstands wie hohe Strom-und Energiepreise, zu hohe Unter-
nehmenssteuern, eine schwerfällige Bürokratie und mangelnde steuerliche Anreize im F&E- und Ausbil-
dungsbereich, angehen. Die Unternehmenssteuern sollen von 31 % auf 25 % gesenkt werden, die Sozial-
abgaben eine Deckelung bei 40 % erfahren. Letzteres ist inzwischen bereits umgesetzt worden: Das Kon-
junkturpaket53 vom Juni 2020 zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach der Coronakrise hält dies so fest.54
Ebenso will die Mittelstandsstrategie KMUs bei der Digitalisierung mit sogenannten Mittelstand 4.0-Kom-
petenzzentren helfen. Diese vernetzen die Unternehmen untereinander, unterstützen den Wissens- und
Technologietransfer in den Unternehmen und stellen die Best Practices anderer Unternehmen zur Verfü-
gung. Zudem sollen spezielle «KI-Trainer» den Mittelstand und das Handwerk für die technologischen und
wirtschaftlichen Möglichkeiten der KI sensibilisieren und diese bei der Umsetzung konkreter KI-Projekte
unterstützen.

Die Automobilherstellung ist mit 833'000 Angestellten und einem Umsatz von 436 Mrd. Euro sowie einer
Produktion von 16 Mio. Pkws im Jahr 2019 ein Schlüsselsektor der deutschen Industrie. Eine entschei-
dende Rolle spielen Schwergewichte wie Daimler-Benz, Volkswagen und BMW, aber auch kleine und
grosse Zulieferer, welche für 70 % dieses Umsatzes verantwortlich sind. Die Industrie- und die Mittelstands-
strategie kommen gerade rechtzeitig, denn seit 2018 kämpft die Automobilindustrie an verschiedenen Fron-
ten, um ihre Prosperität auch in Zukunft sichern zu können, und entwickelt sich laut des Kieler Instituts für
Weltwirtschaft (IfW) immer mehr zu einem «Klumpenrisiko»55 für die deutsche Industrie:

Verunsicherung im Aussenhandel: Knapp zwei Drittel ihres Umsatzes erzielt die Automobilindustrie im Aus-
land und ist deshalb stark von internationalen Entwicklungen abhängig. 56 China und die USA sind als Ab-
satzmärkte und Produktionsstandorte unerlässlich. Obwohl die angedrohten US-Automobilzölle bisher
nicht zur Anwendung gelangten, belastete der Handelskonflikt zwischen den USA und China das Geschäft
der deutschen Autoproduzenten in den letzten beiden Jahren. Im Dezember 2019 lagen die Exportzahlen
fast 8 % tiefer als in der Vorjahresperiode.

Finanzielle Verpflichtungen als Folge des Dieselskandals: Nach den entdeckten Abgasmanipulationen wur-
den die Automobilhersteller durch den Staat zu Strafzahlungen in Milliardenhöhe verpflichtet. Auf Verbrau-
cherseite schlossen sich Kunden zudem in einer Musterfeststellungsklage zusammen.57 Ein Vergleichsan-
gebot von Volkswagen wurde bisher von rund 200'000 Klägern angenommen, für welches das Unterneh-
men 870 Mio. Euro zur Verfügung stellt. Die Klagefrist endete am 30. April 2020.58 Laut VW seien noch

52
   Leibniz Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (2019): Discussion Paper: The Distinct Features of Hidden Champions in Germany.
53
   Bundesministerium der Finanzen (2020): Kabinett bringt Konjunkturpaket auf den Weg.
54
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Altmaier legt Mittelstandstrategie vor.
55
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Industrierelevante wirtschaftliche Rahmenbedingungen in Deutschland im internationalen
Vergleich.
56
   Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2020): Wirtschaftsbranchen: Automobilindustrie, konsultiert am 26.6.2020.
57
   Verbraucherzentrale (2020): Vergleich zwischen vzbv und Volkswagen steht: Klage zurückgenommen.
58
   ADAC (2020): Musterfeststellungsklage: Fragen und Antworten.
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