Konfliktbilder als Grundlage einer zukunftsfähigen Sicherheitsstrategie
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NR. 12 FEBRUAR 2022 Einleitung Konfliktbilder als Grundlage einer zukunftsfähigen Sicherheitsstrategie Vorausschau, Transparenz und Partizipation für die Nationale Sicherheitsstrategie Paula Köhler / Florian Schöne / Lars Brozus Die Instrumentalisierung von Flucht und Migration, digitale Attacken auf Wahlen und Infrastrukturen, Hyperschallwaffen, vollautomatisierte bewaffnete Drohnen und gläserne Gefechtsfelder weltweit: Die Vorstellungen über die Formen künftiger Kon- flikte bestimmen schon heute darüber, wie Staaten ihre Sicherheitsvorsorge gestalten und ihre Sicherheitskräfte ausrüsten. Mutmaßlich greifen rein militärische Konzep- tionen dabei angesichts des verstärkt hybriden Charakters von Auseinandersetzungen zu kurz. Daher sollten der angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie komplexe Konfliktbilder zugrunde gelegt werden, die unterschiedliche Aspekte nationaler wie auch internationaler Sicherheit umfassen. Weil solche Konfliktbilder langfristig bindende Beschaffungs- und Organisationsentscheidungen mitbestimmen, ist es notwendig, sich frühzeitig und strukturiert damit auseinanderzusetzen, wie sie ent- stehen. Kriterien für Konfliktbilder möglichst hoher Güte sind eine wissenschafts- basierte Vorausschau, parlamentarische und öffentliche Beteiligung sowie ressort- gemeinsame Strategieentwicklung. In die Erarbeitung der Nationalen Sicher- der Zivilbevölkerung im physischen wie heitsstrategie werden unweigerlich Vor- auch im virtuellen Raum stärken, als in die stellungen von den Erscheinungs- und Entwicklung klassischer militärischer Platt- Austragungsformen künftiger Konflikte formen. Konfliktbilder fassen die unter- einfließen. Diese Vorstellungen haben in- schiedlichen Vorstellungen davon zusam- sofern Einfluss darauf, welche zivilen wie men, wie Auseinandersetzungen und Her- militärischen Instrumente, Kapazitäten und ausforderungen in der Zukunft aussehen. Wirkmittel beschafft oder wie Entschei- dungsstrukturen und Vorsorgefähigkeiten organisiert werden. Glaubt man beispiels- Orientierung durch weise, dass zukünftige Konflikte vor allem Konfliktbilder online bzw. digital ausgetragen werden, wird man eher in Cyber-Fähigkeiten und Konfliktbilder basieren auf Annahmen über Maßnahmen investieren, die die Resilienz hypothetische Ereignisse und Entwicklun-
gen in der Zukunft. Eine Vielzahl von Fak- Massenflucht und -migration in der Zu- toren fließt in sie ein, beispielsweise ak- kunft eher größer werden wird. Ebenso tuelle Bedrohungsperzeptionen eines Lan- plausibel erscheint, dass interessierte Regie- des, das Wissen um Ressourcen, Feind- und rungen die Effekte schlechter werdender Selbstbilder, technische Entwicklungen. Lebens- und Umweltbedingungen weiterhin Auch fiktionale Werke nehmen Einfluss. strategisch ausnutzen werden. Dazu gehören etwa Romane wie Tom Clan- cys Im Sturm, Peter W. Singers und August Coles Ghost Fleet und jüngst Elliot Acker- Relevanz für Entscheidungen und mans und James G. Stavridis’ 2034 oder Strategiebildung Filme bzw. Serien wie etwa Star Wars, Star Trek oder Iron Man. Sie spiegeln die Vielfalt Überall dort, wo es um langfristige Projekte hypothetischer Herausforderungen zurück oder lange Nutzungszeiten geht, wird die in die gesellschaftliche und politische Aus- praktische Relevanz von Konfliktbildern einandersetzung mit den vielen denkbaren in besonderem Maße erkennbar. Deutlich Zukünften. Die Aneignung all dieser Ein- wird dies vor allem im militärischen flüsse vollzieht sich nicht immer in einem Bereich, in dem lange Beschaffungszeiten bewussten Prozess, sondern oftmals unter- (Jahre bis Jahrzehnte) und eine extrem aus- bewusst, weswegen zugrundeliegende An- gedehnte Nutzungsdauer (bis zu fünfzig nahmen zu Konfliktbildern gezielt hinter- Jahren und mehr) nicht ungewöhnlich sind. fragt werden sollten. Konfliktbilder beschrei- Speziell bei großen, langfristigen Rüstungs- ben und verdichten die heterogenen Vor- projekten wie dem Future Combat Air Sys- stellungen und bieten damit Orientierung tem (FCAS) können Veränderungen des für die gesellschaftliche Debatte, aber auch Einsatzumfeldes – die nicht im Konflikt- für politisches Handeln. bild berücksichtigt waren, das der System- Kriegsbilder sind als Teilmenge von Kon- konzeption zugrunde lag – schwerwiegende fliktbildern zu verstehen und sind ihre Folgen für die Einsetzbarkeit haben. Sollte extreme, vorwiegend militärische Form. sich im konkreten Fall erweisen, dass etwa Florian Reichenberger prägte dafür den bemannte Systeme wie das FCAS im Luft- Ausdruck »gedachte Kriege«, was ihren kampf gegen unbemannte Systeme (Droh- imaginären Charakter unterstreicht. Das nen) chancenlos sind, wäre das eine finan- Spektrum an Konfliktbildern reicht von ört- zielle und strategische Katastrophe. lich begrenzten Krisen bis zu weltumspan- Diese Lenkungswirkung macht Konflikt- nenden Kriegen. Sie umfassen letztlich alle bilder zu einer wichtigen Grundlage für Facetten sicherheitspolitischer Herausforde- die Strategieentwicklung. Sie trägt aber rungen, beispielsweise inner- und zwischen- auch dazu bei, dass diese Bilder politisch staatliche Konflikte wie auch solche mit umstritten sind. Wer im Gefüge der (auch und ohne physische Gewaltanwendung. um Ressourcen konkurrierenden) Institu- Ein wichtiger Bestandteil zeitgenössi- tionen der gesamtstaatlichen Sicherheits- scher Konfliktbilder sind hybride Bedro- architektur die Deutungshoheit über Kon- hungen. Die aktuelle Krise an der polnisch- fliktbilder erlangen kann, vermag wesent- belarussischen Grenze ist nur das jüngste liche Richtungsentscheidungen über Beispiel von vielen, bei denen die Hoffnun- zukünftige Investitionen zu beeinflussen. gen verzweifelter Menschen für politische Weil auf Vordenkerinnen und Vordenker Zwecke missbraucht werden. In unkonven- ebenso wie auf Entscheiderinnen und Ent- tionellen Konflikten werden Söldner oder scheider vielerlei Faktoren einwirken – »grüne Männchen« eingesetzt, digitale und wie Medien, aber auch Lobbyinteressen analoge Mittel genutzt und physische wie oder Karrierechancen –, ist eine möglichst psychische Schwachstellen angegriffen. breite Diskussion von Konfliktbildern not- Klimawandelinduzierte Krisen und Kon- wendig. Damit nachvollziehbare Beschaf- flikte legen nahe, dass das Potential für fungsentscheidungen getroffen werden SWP-Aktuell 12 Februar 2022 2
Grafik Quelle: Philipp Klüfers / Carlo Masala / Tim Tepel / Konstantinos Tsetsos: »Strategic Foresight – Die Zukunft antizipieren«, in: Sirius. Zeitschrift für Strategische Analysen, 1 (2017) 1, S. 53–67 (54). können, müssen Konfliktbilder, aber auch Gütekriterien definieren. Deren Beachtung Interessen offengelegt werden. sichert ein Höchstmaß an Wissenschaft- Komplexe Konfliktbilder eignen sich lichkeit, für die Kriterien wie Nachvollzieh- als Bezugspunkt für die Entwicklung einer barkeit, methodische Angemessenheit nachhaltigen Strategie, die aktuelle Heraus- und Integrität des Analyseprozesses gelten. forderungen aufnimmt, ohne der Gegen- Zukunfts- bzw. Konfliktbilder, die wissen- wart verhaftet zu bleiben. Es muss zum schaftlichen Ansprüchen genügen, ermög- einen darum gehen, möglichst gut auf mög- lichen insofern fundierte (sicherheits-)poli- lichst viele denkbare Zukünfte vorbereitet tische Entscheidungen über vorsorgende zu sein, das heißt, für ein breites Spektrum Investitionen oder Beschaffungen. vorstellbarer sicherheitspolitischer Anfor- Grundsätzlich zu unterscheiden ist derungen Robustheit und Vielseitigkeit zu dabei zwischen: 1. der taktischen / situativen erreichen. Zum anderen muss die Strategie Früherkennung (Vorhersage [Forecast]) und auf methodisch erarbeiteten und wissen- 2. der strategischen / strukturellen (Voraus- schaftlich fundierten Vorstellungen über schau [Foresight]). Während Erstere ver- die Zukunft (beispielsweise Szenarios) sucht, konkrete Ereignisse in der nahen fußen. Hierzu bedarf es der Erkenntnisse Zukunft – also in wenigen Wochen und der Zukunftsforschung. Monaten – vorherzusagen, konzentriert sich Letztere auf mittel- bis langfristige Entwicklungen von zehn bis dreißig und Beiträge der Zukunftsforschung mehr Jahren. Für die hier diskutierte vorsorgende Während Kriegsbilder eine Teilmenge von Sicherheitspolitik ist vor allem die (stra- Konfliktbildern sind, sind Konfliktbilder tegische) Vorausschau einschlägig. Es geht wiederum eine Teilmenge von Zukunfts- im Kern darum, Erkenntnisse über lang- bildern. Jede Form der Zukunftsanalyse fristige Entwicklungen zu gewinnen, die haftet aufgrund ihrer Befassung mit (noch) eine frühzeitige Anpassung der eigenen nicht beobachtbaren Sachverhalten ein Planungen und Vorkehrungen an mögliche, hohes Maß an Ungewissheit an. Ungeachtet plausible und wahrscheinliche Konflikte dessen lassen sich auch für die Zukunfts- erlauben. Dabei gilt, dass die Befunde der forschung wissenschaftliche Standards und Zukunftsforschung umso unsicherer wer- SWP-Aktuell 12 Februar 2022 3
den, je weiter sie vorausblickt. Daher wer- ponente wie auch direkte Bürgerbeteili- den in diesem Kontext häufig Szenarien gung, beispielsweise analog zum 2021 entwickelt, die unterschiedliche Verläufe aktiven Bürgerrat »Deutschlands Rolle in künftiger Entwicklungen abbilden und der Welt«, sichern dabei ein möglichst somit einen größeren Zukunftsraum ab- hohes Maß an gesellschaftlicher Repräsen- decken können. tativität. Auf der Basis dieser mehrdimen- sionalen und multiperspektivischen Ana- lyse und Bewertung können abschließend Strukturierte Konfliktbildgenese Prioritäten für strategisches Planen und sicherheitspolitisches Handeln festgelegt Konfliktbilder sollten einerseits die nötige und auf ihre Umsetzungsmöglichkeiten hin Tiefenschärfe aufweisen, um zur Grundlage geprüft werden. langfristig wirksamer strategischer Fest- Ebenso wichtig wie die strukturierte legungen werden zu können, und anderer- Erarbeitung von Konfliktbildern ist die kon- seits breite Akzeptanz in Staat, Wirtschaft tinuierliche Evaluierung dieser Bilder. Sie und Gesellschaft finden. Um beides zu kann durch ein fortgesetztes Monitoring gewährleisten, sollten sie in einem refle- der Entwicklung von Einflussfaktoren und xiven Prozess erarbeitet werden, der wis- Kontextbedingungen in der sich real ent- senschaftliche Qualitätskriterien mit faltenden Zukunft erfolgen. Entsprechend repräsentativer Beteiligung verbindet. den Prüfungsergebnissen können die Sze- Die Konzipierung einer auf Konfliktbil- narien kontinuierlich angepasst und wei- der ausgerichteten strategischen Voraus- terentwickelt werden. So lässt sich gewähr- schau umfasst mehrere Prozessschritte, leisten, dass Konfliktbilder nicht den Bezug beginnend mit der Erhebung von Daten, zur empirischen Realität verlieren und zu Einflussfaktoren und Kontextbedingungen, Trugbildern werden. die für künftige Konfliktkonstellationen relevant sein könnten. Auf Basis der gesam- melten Informationen werden in einer Debatte statt Geheimhaltung Primäranalyse die wichtigsten Faktoren und Bedingungen identifiziert und zu Szenarien Kohärenz in der Vorbereitung auf künftige ausgearbeitet, die sie in unterschiedlichen sicherheitspolitische Herausforderungen Varianten (z. B. starke / schwache Polarisie- basiert auf klaren Konfliktbildern, aus rung oder hohes / geringes Wachstum) zu- denen sich Prioritäten für eine bedarfs- einander in Beziehung setzen. Narrative gerechte Strategiebildung auf nationaler Beschreibungen dieser Kombinationen Ebene ableiten lassen. Im Weißbuch 2016 können die erarbeiteten Szenarien zu aus- ist die Förderung der deutschen Strategie- sagekräftigen Konfliktbildern verdichten. fähigkeit unterstrichen worden. Der Fokus Die Beteiligung von Fachleuten wie auch im Weißbuch liegt jedoch auf der Früh- von Laien an der Wissensakkumulation erkennung relativ kurzfristiger Krisen und und Analyse stellt sicher, dass vielfältige damit auf konkreten Prognosen. Perspektiven und unterschiedliche An- Freilich gibt es auch Dokumente, die nahmen über denkbare Zukunftsentwick- im Sinne der strategischen Vorausschau lungen berücksichtigt werden (Citizen längere Zeiträume umspannen, jene etwa, Science). die im Planungsamt der Bundeswehr für Ergänzend zum deskriptiv-analytischen das Bundesministerium der Verteidigung Vorgehen schließt sich eine Diskussion an, erstellt werden. Die zuständige Behörde im in der es darum geht, sich unterschiedliche Ministerium hält sich allerdings bedeckt, Präferenzen für mehr oder weniger wün- die Papiere sind eingestuft und für die All- schenswerte Konfliktbilder zu vergegenwär- gemeinheit schwer oder gar nicht einzuse- tigen, sie zu bewerten und gegeneinander hen. Die Geheimhaltung von Dokumenten, abzuwägen. Eine parlamentarische Kom- die sich mit politisch heiklen, aber denk- SWP-Aktuell 12 Februar 2022 4
baren Zukunftsentwicklungen befassen, dern auch der Anreiz für die kollektive Ent- ist zwar nachvollziehbar, kann die Akteure wicklung und Beschaffung von sicherheits- jedoch in die Defensive zwingen. Sickern politischer Ausrüstung erhöht werden. dabei entwickelte Vorstellungen unfreiwil- lig durch, wie 2017 bei Überlegungen zum Zerfall des Westens, wird der Öffentlichkeit Ressortübergreifende die Tragweite der Beschäftigung mit hypo- Kooperation thetischen Zukünften ebenso schlagartig wie unvorbereitet bewusst. Die Auseinan- Die Bundesregierung hat in den 2017 dersetzung mit der Öffentlichkeit sollte erschienenen Leitlinien »Krisen verhindern, daher nicht gescheut, sondern aktiv gesucht Konflikte bewältigen, Frieden fördern« die werden. Denn möglichst breite Akzeptanz Absicht betont, ihre Werkzeuge für gemein- von Konfliktbildern entsteht im Zuge eines same Analyse, Planung und Willensbildung offenen Austauschs von Argumenten und weiterzuentwickeln. Die strategische Bedeu- Positionen. Werden insbesondere weitrei- tung ressortübergreifender Zusammen- chende Entscheidungen, etwa zur Beschaf- arbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik fung militärischer Güter, stattdessen in- erkennt die Regierung dabei an. Im Fokus transparent getroffen, lädt dies zu an sich stand allerdings die Außenpolitik. Es muss vermeidbarem Misstrauen und Kritik gera- jedoch auch darum gehen, einen ressort- dezu ein. gemeinsamen Bezug zur Bedrohungslage Hilfreich ist der Blick über die Grenzen: in, um und für Deutschland herzustellen Sowohl in den USA als auch in Großbritan- und die Konzeption sicherheitspolitischer nien und Frankreich herrscht große Trans- Strategien wie auch die Entwicklung mili- parenz beim Umgang mit Konfliktbildern. tärischer Fähigkeiten daran auszurichten. Die grundlegenden, auf die Zukunft gerich- Strategische Vorausschau betreiben in teten sicherheitspolitischen Überlegungen der Bundesregierung bereits viele Akteure. werden viel selbstverständlicher öffent- Auf Ressortebene sind neben Auswärtigem lichen Debatten ausgesetzt. Das kann zwar Amt (AA), dem Bundesministerium für durchaus kontroverse Auseinandersetzun- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- gen darüber mit sich bringen, welche Fol- wicklung (BMZ) und dem Bundesministe- gerungen für konkrete sicherheitspolitische rium der Verteidigung (BMVg) auch das Maßnahmen daraus abzuleiten sind. Diese Bundesministerium für Umwelt (BMU), sind aber nicht nur notwendig, um Wirt- das Bundesministerium für Wirtschaft und schaft und Gesellschaft mitzunehmen, Klimaschutz (BMWi), das Bundesministe- sondern gelten geradezu als Verpflichtung rium für Ernährung und Landwirtschaft für eine verantwortungsbewusste Politik. (BMEL) und das Bundesministerium für In Deutschland sollten Dokumente zu Bildung und Forschung (BMBF) zu nennen. Konfliktbildern weniger restriktiv ein- Sehr wahrscheinlich wird auch im Bun- gestuft werden, um einen breiteren stra- desministerium des Innern (BMI) in die tegischen Dialog zu ermöglichen. Entschei- Zukunft geblickt, doch lässt sich das Minis- dend ist die Transparenz bei der Erarbei- terium nicht in die Karten schauen. Je nach tung; Folgerungen und Entscheidungen der Zuständigkeitsbereich des Ressorts unter- Exekutive können weiterhin schutzbedürf- scheiden sich die inhaltlichen Schwerpunkte tig sein. Gleichzeitig ist es erforderlich, die und damit auch die Sichtweisen, die den auf nationaler Ebene erarbeiteten Konflikt- jeweiligen Vorausschau-Fragestellungen bilder und Strategien regelmäßig mit Part- zugrunde liegen. nern und Verbündeten abzugleichen. Per- In der Sicherheitspolitik mangelt es an spektivisch könnte eine gemeinsam durch- einer synthetisierenden Betrachtung der geführte Vorausschau in die Entwicklung Einzelbefunde, die übergreifende Schlüsse geteilter Konfliktbilder münden. Dadurch für den Umgang mit multidimensionalen würde nicht nur Vertrauen gestärkt, son- Herausforderungen erlauben würde. Zwar SWP-Aktuell 12 Februar 2022 5
gibt es Beratungs- und Austauschprozesse, Unerwartete Krisen und Konflikte treten in denen Experten und Expertinnen aus auch im sicherheitspolitischen Kontext auf. einem Bereich jene eines anderen unter- Das zeigt sich am gegenwärtigen russischen stützen oder an ihren Ergebnissen teil- Säbelrasseln gegenüber der Ukraine ebenso haben lassen. So tagt regelmäßig ein Res- wie an neuartigen hybriden Bedrohungen sortkreis Strategische Vorausschau, der wie der gezielten Verbreitung von Falsch- vom Kanzleramt geleitet wird. Dieser dient informationen durch Social Media. Um der jedoch in erster Linie dazu, die teilnehmen- sicherheitspolitischen Dimension künftiger den Ressorts über die Vorausschauprozesse Konflikte Rechnung zu tragen, sollten die der jeweils anderen zu informieren. Die Abgeordneten des Bundestages, aber auch gemeinsame Ausarbeitung von Zukunfts- die Mitglieder der Bundesregierung immer szenarien oder gar Konfliktbildern gehört wieder die öffentliche Auseinandersetzung bislang nicht zu seinen Aufgaben. Dass mit Konfliktbildern fördern und einfordern. die ressortgemeinsame Analyse unter- Schließlich sind komplexe Konfliktbilder, entwickelt ist, monierte bereits der Bundes- die sich auf methodisch erarbeitete und rechnungshof für den Politikbereich »Huma- kontinuierlich überprüfte Szenarien stüt- nitäre Hilfe und Übergangshilfe«. Die Emp- zen, ein wichtiger Beitrag zur Findung fehlung an die in diesem Fall betroffenen von Entscheidungen über die Streitkräfte- Ministerien BMZ und AA lautet, eine res- entwicklung und den Zivil- bzw. Katastro- sortgemeinsame Analyse zur Grundlage phenschutz. abgestimmter Planung zu machen. Das geeignete Forum für die politische Debatte über Konfliktbilder und darüber, wie mit denkbaren Bedrohungen umgegan- Ausblick: gen werden soll, ist zunächst der Bundestag Vorausschau und Vorsorge und sind seine Ausschüsse. Hier fehlt bis- lang aber ein Anlass, der die Beschäftigung Die vielen unerwarteten Krisen und Kon- mit künftigen Herausforderungen aus flikte im 21. Jahrhundert haben die Bedeu- sicherheitspolitischer Sicht regelmäßig auf tung von (strategischer) Vorausschau und der Tagesordnung verankert. Die vom Ver- einer angemessen vorsorgenden Politik teidigungsministerium vorgeschlagene verdeutlicht. Zuletzt hat die Pandemie Sicherheitswoche könnte hierfür ein wie- offenbart, wie unzureichend nationale wie derkehrendes Format bilden. Anknüpfungs- internationale Akteure auf durchaus abseh- punkt für die Debatte könnte ein überpar- bare Herausforderungen vorbereitet waren. teilich erarbeiteter und öffentlich zugäng- Auch die Anpassungsleistungen, die der licher nationaler Risikobericht sein, wie ihn Klimawandel erforderlich macht, sind hin- Nikolaus von Bomhard vorgeschlagen hat. länglich bekannt. In Wirtschaft und Gesell- Wichtig wäre, dass in so einer Sicher- schaft ist der Unmut über die unzuläng- heits- oder auch Strategiewoche Raum ist lichen Vorkehrungen für diese wie auch für Debatten über unterschiedliche Vor- weitere »angekündigte Überraschungen« stellungen dazu, welche Zukunftsentwick- verbreitet. In der Folge wurden öffentliche lung von Staat und Gesellschaft in ihrer Forderungen nach mehr und besserer staat- europäischen und internationalen Umwelt licher Vorsorge laut. Diese Forderungen wünschenswert sind. Dazu ließen sich bür- finden politischen Widerhall, wie sich in gergesellschaftliche Beiträge und Stellung- der verstärkten Resilienz-Orientierung der nahmen einbeziehen. Denn über Regie- EU zeigt. Unter den G7-Mitgliedstaaten wird rung, Administration und Parlament hin- ebenfalls über Wege zum Ausbau des Wohl- aus geht es um Gesellschaftsbeteiligung. fahrts- und Versorgungsstaates zum Vor- Bleibt die Frage, wer für die Zusammen- sorgestaat diskutiert, wie das Abschluss- führung von Konfliktbildern und natio- kommuniqué des letzten G7-Gipfels andeu- naler Strategie zuständig sein soll. Wird tet, der 2021 in Cornwall stattfand. einem Ressort die Leitung für das Erarbei- SWP-Aktuell 12 Februar 2022 6
ten einer gesamtstaatlichen Strategie über- tragen, hat dies mit Blick auf Prozess und Ergebnis quasi reflexhaft Akzeptanzeinbu- ßen bei den anderen Ministerien zur Folge. Eine dadurch angestoßene »kompetitive Strategiebildung« durch letztere wäre indes sowohl nach innen wie nach außen irri- tierend. Natürlich muss jedes Ressort die Möglichkeit haben, sich mittels konzeptio- neller Dokumente der eigenen politischen Aufgabenstellung zu vergewissern und dies © Stiftung Wissenschaft nach außen darzustellen. Ressortgemein- und Politik, 2022 same Strategiebildung umfasst jedoch mehr Alle Rechte vorbehalten als die Addition solcher Dokumente. Inso- Das Aktuell gibt die Auf- fern bedarf sie eines klar definierten Zen- fassung der Autorin und der trums, dem die strategiepolitische Kohä- Autoren wieder. renz-Kompetenz zukommt. Größere Pro- zesszufriedenheit und Ergebnisakzeptanz In der Online-Version dieser lassen sich durch die Einbindung aller Publikation sind Verweise auf SWP-Schriften und relevanten Akteure unter dem Dach dieses wichtige Quellen anklickbar. strategischen Zentrums erreichen. Nicht zuletzt entstünden dadurch gute Ausgangs- SWP-Aktuells werden intern bedingungen für die Arbeit an einer zu- einem Begutachtungsverfah- kunftsweisenden Nationalen Sicherheits- ren, einem Faktencheck und strategie. einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/ SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-100 www.swp-berlin.org swp@swp-berlin.org ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 doi: 10.18449/2022A12 Paula Köhler ist Forschungsassistenz in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Florian Schöne ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Lars Brozus ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen. SWP-Aktuell 12 Februar 2022 7
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