Konstruktive interkulturelle Organisations entwicklung durch paradigmatische Perspektivenvielfalt
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Interkult. Forum dtsch.-chin. Kommun. 2021; 1(1): 81–103 Christoph Barmeyer* Konstruktive interkulturelle Organisations entwicklung durch paradigmatische Perspektivenvielfalt Constructive intercultural organizational development through multiple paradigmatic perspectives https://doi.org/10.1515/ifdck-2021-2008 Zusammenfassung: Organisationsentwicklung hat zum Ziel, das Problemlö- sungspotenzial und die Selbsterneuerungsfähigkeit von Organisationen zu erhöhen. Dabei versucht Organisationsentwicklung die Zielerreichung der Orga- nisation unter gleichzeitiger Einbeziehung der Bedürfnisse der Mitarbeiter und anderer involvierter Stakeholder zu unterstützen. Im interkulturellen Kontext ist Organisationsentwicklung zusätzlich mit Herausforderungen konfrontiert, die zum Beispiel das unterschiedliche Verständnis von Organisationen als soziale Systeme oder die Beteiligung und Mitwirkung von Mitarbeitern an Entscheidun- gen und Arbeitsprozessen betrifft. Zentral für gelingende Interkulturalität ist Perspektivenvielfalt, denn in einem interpretativen Verständnis wird Wirklichkeit konstruiert und hängt von den Hintergründen und Sichtweisen der beteiligten Akteure ab. Dieser multipara- digmatische Ethnorelativismus kann dabei helfen Interkulturalität in Organisatio- nen in ihrer Vielfalt und Differenziertheit zu erfassen. In diesem Artikel werden zentrale Themenfelder der interkulturellen Organi- sationsentwicklung multiperspektivisch anhand multipler Kulturen und unter- Article Note: Vorliegender Artikel ist eine modifizierte Version eines französischen Artikels: Vers un développement organisational interculturel constructif. Multiple Cultures et multiples pa- radigmes, der in einem Sammelband zu Ehren von Jean-François Chanlat erscheint. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung wie z. B. Mitarbeiter/in, MitarbeiterIn, Mitarbeiter*in, Mitarbeiter:in oder Mitarbeiter_in verzichtet. In dem vorliegenden Artikel wird durchgängig die männliche Form benutzt. Entsprechende Be- griffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung für beide Geschlechter und stellen keine Diskrimi- nierung dar. *Korrespondenzautor: Prof. Dr. Christoph Barmeyer, Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation, Universität Passau, 94030 Passau, Germany. E-Mail: Christoph.barmeyer@uni-passau.de. Telefon: +49 851 509 – 2921 Open Access. © 2021 Christoph Barmeyer, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
82 Christoph Barmeyer schiedlicher paradigmatischer Grundhaltungen illustriert. Multiperspektivische Sichtweisen zeigen in Richtung einer konstruktiven interkulturellen Organisati- onsentwicklung, die kulturelle Vielfalt in Lern- und Entwicklungsprozesse über- führt. Stichwörter: Interkulturelle Organisationsentwicklung, Kulturunterschiede, kon- struktives interkulturelles Management, Multiperspektivität, sozialwissenschaft- liche Paradigmen, multiple Kulturen, Interkulturelle Organisationsforschung Abstract: Organisational development aims to increase the problem-solving poten- tial and the self-renewal ability of organizations. In doing so, organizational devel- opment tries to support the achievement of the organization’s goals while at the same time including the needs of employees and other stakeholders. In an inter- cultural context, organisational development is further confronted with additional challenges, for example different conceptions of organisations as social systems or the participation and involvement of employees in decision and work processes. Diversity of perspectives is essential to successful interculturality, because in an interpretative understanding reality is constructed and depends on the backgrounds and perspectives of the actors involved. This multiparadigmatic eth- norelativism can help to grasp interculturality in organizations in its diversity and differentiation. In this article, central topics of intercultural organisational development are illustrated in a multi-perspective way using multiple cultures and different par- adigmatic approaches. Multi-perspectivity points in the direction of constructive intercultural organisational development that transfers cultural diversity into learning and development processes. Keywords: Intercultural organisational development, cultural differences, con- structive intercultural management, multiperspectivity, social science para- digms, multiple cultures, intercultural organisational research 1 Einleitung Der Entwicklung von Organisationen kommt eine zentrale Bedeutung zu, insbe- sondere im Rahmen der Internationalisierung und der einhergehenden interkul- turellen Begegnungs- und Austauschprozesse (Barmeyer/Bolten 2010). Zuneh- mend treten Individuen, die in sozialen Systemen interagieren und spezifische Werte, Interpretations- und Verhaltensmuster aufweisen, in Kontakt, um die Ziele
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 83 von Organisationen zu erreichen. Durch externen und internen Veränderungs- druck werden Organisationen zu lernenden Organisationen (Levitt/March 1988; Senge et al. 1994; Argyris/Schön 1996), die sich entwickeln und dadurch ihr Fort- bestehen in der Zukunft ermöglichen (Schein 2000; Schulz 2017). Dabei bestehen trotz globaler Harmonisierungs- und Standardisierungsprozesse in gesellschaftli- chen und wirtschaftlichen Bereichen noch immer kulturelle Unterschiedlichkeit von Organisationen sowie Interkulturalität in Arbeitskontexten (Chanlat et al. 2013; D’Iribarne 2009; Inglehart 2018). Einer der wenigen Artikel, der sich mit (inter-)kultureller Organisationsent- wicklung im engeren Sinne beschäftigt, erschien bereits im Jahre 1991 und wurde von Amado, Faucheux und Laurent verfasst (Amado et al. 1991). Dieser damals als visionär zu betrachtende Artikel Organizational Change and Cultural Realities: Franco-American Contrast ist bis heute aktuell geblieben. Es handelt sich um ein Streitgespräch über Organisationsentwicklung zwischen dem französischen Sozi- alpsychologen Philippe und dem US-amerikanischen Organisationsberater John, das deutlich macht, wie unterschiedlich die Sichtweisen auf Organisationen als soziale Systeme sind. Diese unterschiedlichen Positionen zur Organisationsent- wicklung sind in vieler Hinsicht typisch für das interkulturelle Management in Forschung und Praxis, wie es ausschnittsweise durch die zentral erscheinenden Sätze des Streitgesprächs in Tabelle 1 verdeutlicht wird. Tab. 1: Expertengespräch über divergierende Interventionsauffassungen in Organisationen (Amado et al. 1991: 63–65, übersetzt von Ulrike Buchheit) Philippe „Sag mal John, ich habe das Neueste auf dem Gebiet der amerikanischen Organisationsentwicklung Naivität und Idealismus hinsichtlich gelesen. Hast du den Eindruck, dass es hier etwas der gleichzeitigen Entwicklung des Neues gibt? Ich bin immer wieder überrascht über Einzelnen und der Organisation in den Unterschied, den es zwischen unseren und euren Bezug auf einen eher dialektischen Ansätzen gibt, oder zumindest bei unseren Überle- und konfrontativen Ansatz. gungen […] das kommt mir immer wieder ein bisschen naiv vor. Also ich sage nicht, dass man in Frankreich zwingendermaßen weniger naiv ist, aber angesichts der Kultur, in der wir leben, erscheint uns die gleich- zeitige Entwicklung von Einzelpersonen und Organi- sationen sehr idealistisch. Wir, mit unserem etwas dialektischeren und konfliktreicheren Ansatz, sind immer ein bisschen überrascht, ein wenig erstaunt, sogar ein wenig betroffen von diesem quasi harmo- nischen Universum, das den Organisationsforschern und -beratern in den USA möglich erscheint bzw. auch den französischen, die eurem Ansatz folgen […]“
84 Christoph Barmeyer John „[…] Unser harmonisches Universum? Ich glaube nicht, dass wir so naiv sind, aber es stimmt, wir Organisationsentwicklung berücksich- glauben an das harmonische Zusammenspiel von tigt Unterschiede und Konflikte und hat Menschen und Unternehmen. Zum Beispiel haben Methoden, damit umgehen zu können. wir auf dem Gebiet der Interventionsmethoden die sogenannten ‚Konfrontationstreffen‘ eingeführt, in denen wir zwei Gruppen oder zwei Abteilungen zusammenführen, die dann ihre jeweiligen Ansichten und Kritikpunkte austauschen. Also ich glaube nicht, dass man uns vorwerfen kann, wir würden Konflikte einfach ignorieren und nicht darauf eingehen, weil unterschiedliche Auffassungen und Werte zwischen Marketing- und Produktionsabteilung existieren. Nein, unser Ansatz ist es, diese Realität zu erkennen und Methoden anzuwenden, die es den Kontrahenten erlauben […]“ Philippe „Besser zu kommunizieren! Die Verbesserung der Kommunikation: Das ist eure Lösung, nicht wahr? Man Konflikte können nicht einfach nur spricht Dinge an und glaubt, danach werde es schon durch die Verbesserung der Kom- besser […]. Als ob die Dinge nicht in den Strukturen munikation gelöst werden. Ohne den oder Produktionsformen selbst verwurzelt wären. Kontext zu hinterfragen, erscheint jede Man kann sich denken, dass der Dialog zwischen Diskussion über Symptome illusorisch, Marketing- und Produktionsmitarbeitern tatsächlich wenn nicht sogar irreführend. oft schwierig ist. Aber diese Schwierigkeiten sind nur durch die Position des Einzelnen in der Organisation zu begründen bzw. die Tatsache, dass sie nicht unbe- dingt dieselben Machtverhältnisse haben und andere mit anderen Problemen zu kämpfen haben. […]“ John „[…] Unser Wissen, unsere Fähigkeiten als Organi- sationsberater sind nicht auf der Ebene der Inhalte Organisationsentwickler arbeiteten angesiedelt, sondern im Wesentlichen auf der nicht mit theoretischen Inhalten, Prozess-Ebene. Wir sind der Ansicht, dass wir ein sondern am Prozess, vor allem mit wenig mehr als unsere Kunden über die Methoden Methoden, durch die dieses Wissen wissen, die es ihnen ermöglichen, besser mit ihren zum Vorschein kommt. Problemen umzugehen. Aber die Idee einer Rezept- sammlung über hilfreiche Problembewältigung, die haben wir aufgegeben. Also ich glaube, hier gibt es einen wirklichen Unterschied. Ihr nehmt ja an, dass jemand außerhalb der Organisation eine Lösung mit- bringt, mit dessen Hilfe Probleme zu bewältigen sind. Wir jedoch gehen davon aus, dass nur die beteiligten Personen selbst die Probleme lösen können. Und wenn wir ihnen helfen können, dann, indem wir ihnen entsprechende Kommunikationsprozesse an die Hand geben.“
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 85 Philippe „Ah ja, aber wie du siehst, stoßen wir hier wieder auf die gleichen Probleme. Es erscheint in der Tat herr- Warum sollte die Arbeit von Bera- lich zu sein, zu sagen: ‚Unsere Arbeit ist ein Prozess‘ tern auf die interne Organisation und ‚Wir wissen nichts‘, aber einerseits können beschränkt werden? wir dies als ein illusorisches ‚Nicht-Richtungsvor- geben‘ mit offenem Ergebnis verstehen, und wenn ihr andererseits einen Prozess gestaltet – das musst du zugeben – beschränkt sich dies immer auf das Organisationsinterne. […] Man kann sich jedoch sehr wohl die Frage stellen, ob der Prozess nicht darin besteht, die Organisationsmitglieder mit der Außenwelt zu konfrontieren. Allerdings setzt sich die Organisationsentwicklung mit genau diesem Aspekt kaum auseinander. Es ist, als müsse um jeden Preis die Organisation weiterentwickelt werden […].“ John „In der Realität geht man davon aus, dass die Menschen in ihren Organisationen letztendlich nur Menschliche Potentiale weiterzuent- einen sehr kleinen Teil ihres tatsächlichen Potentials wickeln, bedeutet gleichzeitig die nutzen. Mehr noch als nur von Wissen, gehen wir von Weiterentwicklung der Organisation einem Wertesystem aus. Je mehr wir Menschen dazu selbst. bewegen können, sich selbst mehr in die Organisation einzubringen, desto leistungsfähiger machen sie die Organisation. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Effizienz und Zufriedenheit der Mitarbeiter dadurch gesteigert werden. Für uns gibt es genau diese Parallelwirkung. Manchmal ist es für uns schwierig zu erkennen, ob, wenn man den Menschen hilft, man auch wirklich der Organisation hilft. Aber letztlich ist es für uns das gleiche […] Organisationen werden von Menschen gemacht.“ Was macht diesen Dialog und insbesondere dieses Streitgespräch zur Organisa- tionsentwicklung nun besonders? Wieso ist er interessant für die Interkulturelle Organisationsforschung? 2 D rei zentrale Themenfelder interkultureller Organisationsentwicklung Aufbauend auf dem Artikel von Amado und Kollegen werden im Folgenden drei zentrale Themenfelder vertieft: – Erstens wird das Konzept der Organisationsentwicklung vom wesentlich ver- breiteteren Change Management abgegrenzt und diskutiert.
86 Christoph Barmeyer – Zweitens wird das Konzept der Organisationsentwicklung durch einen Kultur- vergleich zur Interkulturellen Managementforschung in Beziehung gesetzt. – Drittens lassen sich bezüglich Organisationsentwicklung unterschiedliche paradigmatische Grundhaltungen erkennen, auch weil sich verschiedene Berufskulturen – ein Soziologe und ein Organisationsberater – mit dem Konzept beschäftigen. 2.1 Gegenstand und Genese von Organisationsentwicklung Organisationen als soziale Systeme befinden sich in ständigem Wandel. Dieser Wandel findet entweder durch Impulse innerhalb oder außerhalb der Organisa- tion statt. Um in Zeiten hoher Dynamiken zu bestehen und externem und inter- nem Veränderungsdruck zu begegnen, brauchen Organisationen einen bewusst strategisch gestaltbaren Rahmen, in dem organisationales Lernen und perspek- tivische Weiterentwicklung möglich sind (Schein 2000). Auch Amado und Kol- legen (1991) stellen sich die Frage, wie Organisationen mit den Veränderungen umgehen und inwieweit Mitarbeiter diese aktiv mitgestalten können. Häufig findet Wandel und Veränderung in Organisationen durch so genannte „Change Management Maßnahmen“ statt, die meist von der Geschäftsführung initiiert, dann aber von externen Beratern durchgeführt werden. Üblicherweise ist Change Management zielorientiert und fokussiert vor allem Strukturen und Prozesse (Klimecki et al. 1994; Todnem By 2005). Es vernachlässigt jedoch häufig die Einbeziehung von Akteuren mit ihren jeweiligen Einstellungen und Bedürfnissen, sowie die Qualität ihrer Beziehungen untereinander. Organisa- tionsentwicklung dagegen ist prozessorientiert und versucht die Bedürfnisse der Akteure stärker zu berücksichtigen, wie es French und Bell (1990) betonen: „It is possible for the people […] to manage the culture of that organization in such a way that the goals and purposes of the organization are attained at the same time that human values of individuals within the organization are furthered“. Hauptanliegen der Organisationsentwicklung ist somit das Fort- bestehen einer Organisation in der Zukunft zu sichern und gleichzeitig die Gestaltung von Begegnungs- und Austauschprozessen zu ermöglichen (Glasl et al. 2008). Folgende Definition enthält zentrale Merkmale von Organisationsent- wicklung: Unter Organisationsentwicklung verstehen wir einen Veränderungsprozess der Organisa- tion und der in ihr und für sie tätigen Menschen (stakeholder), welcher von diesen selbst aktiv getragen und bewusst gelenkt wird und somit zur Erhöhung des Problemlösungs- potenzials und der Selbsterneuerungsfähigkeit der Organisation führt, wobei die Menschen
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 87 gemäß ihren eigenen Werten die Organisation und den Veränderungsprozess authentisch so gestalten, dass diese nach innen und außen den wirtschaftlichen, sozialen, humanen, kulturellen und technischen Anforderungen entsprechen können. (Glasl et al. 2008: 45) Veränderungen im Rahmen von Organisationsentwicklung beziehen sich nicht nur auf technische und organisatorische Strukturen und Abläufe, sondern auch auf zwischenmenschliche Kommunikation und Verhalten sowie die Organisati- onskultur (Schein 1986; Sackmann 2004; Rathje 2010). Organisationsentwicklung basiert auf einem humanistischen Menschenbild, das es Individuen ermöglicht Engagement und Initiative zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Die Partizipation von Mitarbeitern trägt folglich dazu bei, dass bestimmte Arbeitsme- thoden erfolgreicher praktiziert werden, als wenn diese „von oben“ vorgegeben werden. Insbesondere die angelsächsisch geprägte Organisationsentwicklungs- tradition, die in Deutschland seit Jahrzehnten einen großen Einfluss hat, geht davon aus, dass sich Organisationen und Menschen aktiv „entwickeln“ lassen, das heißt mittels kollektiven Lernens in bestimmte Richtungen gestaltbar sind (Sievers 1977: 12; Glasl et al. 2008). Auch deutschsprachige Publikationen the- matisieren „Entwicklungsfähigkeit als zentralen Erfolgsfaktor sozialer Systeme“ (Klimecki et al. 1994: 2). Entwicklung beschreibt dabei nicht Veränderung „an sich“, sondern eine bestimmte Qualität der Veränderung: „Entwicklung bedeutet Höherentwicklung im Sinne einer Ausdifferenzierung kognitiver Strukturen im Zuge von Lernprozessen. Das Erreichen eines positiven Fortschritts oder eines höheren Niveaus wird damit zumindest implizit zu einem normativen Bestandteil des Konzepts“ (Klimecki et al. 1994: 43). Dies wird auch in dem obigen Streit- gespräch durch die Aussagen des US-amerikanischen Organisationsberaters John deutlich. Historisch gesehen liegen die Ursprünge der Organisationsentwicklung in den USA der 1950er und 1960er Jahre und der dortigen Human Relations-Bewe- gung, bevor sie sich in angelsächsischen Ländern wie England am englischen Tavistock Institute, Kanada und Australien sowie Norwegen und den Nieder- landen (Lievegoed 1974) verbreitete. Dabei basiert Organisationsentwicklung auf sozialwissenschaftlichen Strömungen, die vor allem von dem Sozialpsycho- logen Lewin (1947), der sich auch mit den Prozessaspekten von Veränderungen beschäftigte, mitentwickelt wurden. Im deutschsprachigen Raum sind es erst Becker und Langosch (1954) und dann Gebert (1974), die die ersten Publikationen zur Organisationsentwick- lung veröffentlichen, gefolgt von Lievegoed (1974), Glasl und de la Houssaye (1975) sowie Sievers (1977). Der Einfluss der systemischen Theorie in den späten 1980er Jahren (Schmid/Messmer 2005), die Organisationen als lebendiges Ganzes mit Eigendynamiken und folglich nur beschränkter Vorhersehbarkeit
88 Christoph Barmeyer und Lenkungsmöglichkeit betrachten, führte insbesondere im deutschsprachi- gen Raum zur Weiterentwicklung der Thematik. So existiert bereits seit 1981 eine Zeitschrift für Organisationsentwicklung, die sich an Berater und Forscher wendet. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der deutschspra- chigen Schweiz existieren Aus- und Weiterbildungen zur Organisationsentwick- lung, auch an Hochschulen. In Frankreich und vielen anderen Ländern dagegen hat die Organisationsentwicklung kaum Bedeutung und ist meist unbekannt, wie es ein Blick in Lehrbücher zum Personalmanagement oder Organizational Behavior verrät. Heutzutage ist in Praxis und Forschung der wirkungsvolle Ansatz der Organi- sationsentwicklung stark in den Hintergrund getreten und vom Change Manage- ment verdrängt worden. Dabei handelt es sich um einen vor allem in Mitteleuropa (Deutschland, Österreich und die deutsche Schweiz) noch existierenden und praktizierten Ansatz. 2.2 Positionierung und Ausrichtung interkultureller Organisationsentwicklung Bis heute gibt es nur wenige Forschungen und Methoden, die interkulturelle Orga- nisationsentwicklung zum Thema haben (Barmeyer et al. 2015). Umso interessan- ter ist es, dass in dem obigen Dialog zwischen John und Phillipe das Konzept der Organisationsentwicklung durch einen internationalen, kulturvergleichenden Kontrast dargestellt wird. Der Kontrast zwischen einem französischen Soziologen und einem US-amerikanischen Berater verdeutlicht diese unterschiedlichen, ja teils konträren Auffassungen. Er betrifft nicht nur unterschiedliche Kontexte und Methoden, sondern auch unterschiedliche Vorstellungen von Organisationen (Lau et al. 1996). So finden sich unterschiedliche Metaphern von Organisationen, wie es Owen James Stevens – auf der Basis von Befragungen bei MBA-Studie- renden aus verschiedenen Ländern – herausfand (Hofstede 1983). Während die französischen Befragten als Metapher die „Pyramide von Menschen“ wählten, wurde von den englischen Befragten die Metapher des „Wochenmarkts“ genannt. Die französische Metapher der „Pyramide von Menschen“ bezieht sich auf die Vorstellung, dass die autoritäre Führungskraft in der Organisation an der Spitze der Pyramide steht und unter ihr die nachgeordneten Akteure. Die Organisation wird verstanden als eine hierarchische Form, in der sich zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln und Machtfragen durch personalisierte Autorität regu- liert werden müssen. Die Metapher der Pyramide steht für eine Zentrierung der Autorität und ebenso für eine klare Strukturierung von Aufgaben. Das wichtigste
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 89 Steuerungsprinzip ist die hierarchische Autorität. In der französischen Organisa- tionspraxis bedeutet dies eine relativ schwach ausgeprägte Delegation und lange Entscheidungszeiten, schließlich müssen Entscheidungen die verschiedenen Ebenen der Pyramide durchlaufen. Englische Befragte sahen eine Organisation als „Wochenmarkt“: Die Orga- nisation ist geprägt von flachen Hierarchien sowie flexiblen Regeln zur Struk- turierung der Aktivitäten und weist insofern unbürokratische Strukturen auf. Entscheidungen erfolgen situativ und problem- bzw. lösungsorientiert. Meist findet ein Aushandeln von jenen Interessen und Zielen statt, die auch finanziell gemessen werden können. Wichtigstes Steuerungsprinzip zwischen Akteuren ist der Wettbewerb. Selbst Fach- und Kernkompetenzen lassen sich „outsourcen“, wenn dies finanziell sinnvoll erscheint. Die beiden konträren Auffassungen zeigen, wie stark soziale Systeme, hier Organisationen, in historische und soziokulturelle Kontexte eingebettet sind (D’Iribarne 2001; D’Iribarne et al. 2020) und wie kulturell unterschiedlich das Ver- ständnis bezüglich ihres Funktionierens und ihrer Entwicklung ist. Beide Seiten gründen ihre Vorstellung in der sozialen Realität, die durch unterschiedliche kul- turelle Erwartungen, Werte und Praktiken geprägt ist (Berger/Luckmann 1966). Es handelt sich also um ein sehr zentrales Thema des interkulturellen Manage- ments, oder hier: der interkulturellen Organisationsforschung. Eine differenzierte Betrachtung des Forschungsfeldes des Interkulturellen Managements liefern Sackmann und Phillips (2004). Sie wird später auch in Beziehung zur Organisationsentwicklung gebracht. Die Autorinnen identifizie- ren drei Strömungen Interkultureller Managementforschung (Tab. 2): 1. Nationaler Vergleich: Versteht Kultur als Ausdruck der jeweiligen Nationali- tät, die Individuen durch Sozialisation erfahren. Vergleicht in – meist quanti- tativen – Studien vor allem Nationalkulturen mit kulturübergreifenden, uni- versalen Dimensionen. 2. Interkulturelle Interaktion: Begreift Kultur als geteiltes Bedeutungssystem und untersucht konkrete interpersonale Interaktionssituationen. Qualitative Studien zeigen, wie Interkultur zwischen Interaktionspartnern sozial kon- struiert und ausgehandelt wird. 3. Multiple Kulturen: Betrachtet Vielfalt, Fragmentierung und Dynamik von Lebenswirklichkeiten, die auf Individuen wirken und somit vielfältige soziale Milieus und damit multiple kulturelle Identitäten ausbilden. Qualitative For- schungen untersuchen Identitätsbildungsprozesse in Mikrokontexten, also beispielsweise Subkulturen.
90 Christoph Barmeyer Tab. 2: Hauptströmungen der Kulturforschung im Interkulturellen Management (Sackmann/ Phillips 2004, unsere Übersetzung) Nationaler Vergleich Interkulturelle Interaktion Multiple Kulturen – Nationalstaat = „Kultur“ – Kultur = sozial konstruiert – Kultur = kollektives, sozial – Kulturelle Identität als – Nationalkultur/-identität konstruiertes Phänomen eine gegebene, einheit- ist von entscheidender – Organisationen = Multi- liche, unveränderliche, Wichtigkeit plikation von Kulturen individuelle Eigenschaft – Emergente/ausgehandelte – Individuen können sich – Kulturelle Konvergenz- Kultur abgeleitet aus mit vielen Kulturen iden- these – organisationaler tifizieren – Suche nach universell Kulturforschung – Das Wechseln zwischen anwendbaren Kultur- – interpretativem kulturellen Gruppen dimensionen Paradigma und Identitäten ist eine – anthropologischen empirische Fragestellung Theorien – interkulturellem Kom- munikationsmodell Im Sinne einer Cross-National Comparison haben Hampden-Turner und Trompe- naars (1993) zentrale divergierende Auffassungen von Organisationen analysiert. Sie haben dabei generelle und im Besonderen beraterische Interventionen auf der Grundlage des obigen Experten-Dialogs zusammenfassend kontrastiv, auf die US- amerikanische und die französische Kultur bezogen, gegenübergestellt (Tab. 3). Tab. 3: Sichtweisen auf Organisationsentwicklung (Hampden-Turner/Trompenaars 1993: 363, in Anlehnung an Amado et al. 1991, unsere Übersetzung) Organisationsentwicklung kann in der US- Organisationsentwicklung kann in der fran amerikanischen Kultur „funktionieren“, denn: zösischen Kultur „nicht funktionieren“, denn: Eine Organisation besteht aus freiwilligen Eine Organisation ist eine lose Ansamm- Anstrengungen ihrer sich frei zusammen- lung ungleicher und miteinander ringender schließenden Mitglieder. Gruppeninteressen. Die Entwicklung von Individuen und die Die Entwicklung von Individuen ist unverein- Organisationsziele sind kompatibel. bar mit den Zielen der Organisation. Durch die Thematisierung von Kommunika- Durch die Thematisierung von Kom- tionsproblemen und Missverständnissen munikationsproblemen und Missverständ- zwischen Organisationsmitgliedern wird ein nissen werden grundsätzliche Widersprüche besseres Verständnis geschaffen. zwischen sozio-politischen Zielen aufgedeckt. Wenn der Einzelne authentisch, offen und Wenn der Einzelne aufrichtig und offen ist, vertrauenswürdig ist, werden gemeinsame treten soziale Gründe für Konflikte hervor. Bedürfnisse deutlich.
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 91 Durch die kontrastive Darstellung wird deutlich, dass Organisationsentwicklung kulturrelativ ist (Fagenson-Eland et al. 2004; Haupt 2010): In unterschiedlichen Ländern sind Entwicklungsverständnis, Lernbereitschaft, Reflexionsfähigkeit und Geschwindigkeit von Verhaltensänderungen allgemein unterschiedlich aus- geprägt. Organisationsentwicklung ist somit nicht universell: Sie geht implizit von der Lernwilligkeit und -fähigkeit einzelner Personen und der Entwicklungs- fähigkeit von Organisationen aus (Barmeyer 2010). Hierzu gehören auch die hohe Eigenverantwortlichkeit, Autonomie und Selbstregulation von Personen, deren Interessen und Ziele deckungsgleich mit denen der Organisation sind. Während bisher Forschung und Praxis der Organisationsentwicklung vor allem von der Strömung des Cross-National Comparisons beeinflusst waren, finden sich nur zögerlich Ansätze, die die Strömung der Interkulturellen Inter- aktion oder der Multiplen Kulturen mit Organisationsentwicklung verknüpfen. Dabei führen in jüngster Zeit die in „westlichen“ Gesellschaften beobachtbaren „postmodernen“ (Inglehart 1997) oder „singularistischen“ (Reckwitz 2017) Ent- wicklungen zu einer Aufwertung der Multiple-Kulturen-Ansätze (Zander/Romani 2004; Mahadevan 2012), was sich auch in der Entwicklung offener Diversity Management-Ansätze (Özbilgin/Tatli 2008; Bolten 2014; Genkova/Ringeisen 2016; Özbilgin/Chanlat 2017) widerspiegelt. Die Dynamik und Vielfalt von Lebenswirklichkeiten, die sich in der sogenann- ten VUCA-World (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity) niederschlägt, wirkt sich auf Organisationen aus: Sie werden somit zunehmend postmodern und verändern sich schneller. Nicht nur „klassische“ Geschäftsfelder sind dyna- misch und vielfältig, sondern auch Organisationsstrukturen. Arbeitsprozesse werden flexibler und „agiler“; Mitarbeiter weisen verschiedene Identitätsbezüge zu „ihren“ Organisationen auf. Umso mehr erfordert die Entwicklung von Orga- nisationen eine Einbeziehung und Partizipation der verschiedenkulturellen, diversen Akteure (Bolten 2014; Özbilgin/Chanlat 2017), die ihre Perspektiven und Stärken in Form von Wissen, Kompetenzen und Erfahrungen einbringen. Diese Idee leitet über zum wichtigen Thema der konstruktiven Gestaltung interkultureller Organisationsentwicklung. Es sollte daher nicht nur bei der Fest- stellung von Unterschieden bleiben, so wie es im Artikel von Amado und Kol- legen (1991) geschieht, sondern insbesondere der Blick für einen konstruktiven Umgang mit kulturellen Unterschieden geöffnet werden. Diese konstruktive Haltung findet sich schon früh vereinzelt in der interkulturellen Managementfor- schung, etwa mit dem Thema der interkulturellen Synergie (Adler 1980) oder der Komplementarität (Barmeyer 1996); sie hat sich jedoch in der Forschung bisher nur vereinzelt durchgesetzt (Barmeyer 2018). Die nach wie vor ausgeprägte Pro- blemorientierung der interkulturellen Managementforschung (Cameron 2017), die sich auf Unterschiede fokussiert, vernachlässigt leider die Bereicherung, die
92 Christoph Barmeyer in kulturellen Unterschieden liegt (Barmeyer/Franklin 2016). Probleme, Hinder- nisse und Konflikte, die durch kulturelle Unterschiede hervorgerufen werden, stehen im Fokus, wohingegen die positiven Dynamiken und Resultate kulturel- ler Unterschiede außen vor bleiben: „[…] we know much less about the positive dynamics and outcomes associated with cultural differences than we know about the problems, obstacles, and conflicts caused by them.“ (Stahl/Tung 2015: 393). Stahl et al. (2017) empfehlen deshalb, dass die Interkulturelle Managementfor- schung zunehmend den Blick auf positive Effekte kultureller Unterschiedlichkeit lenkt, um konstruktive Interkulturalität zu fördern. Konfliktuelle Interkulturalität könnte zunehmend durch konstruktive Interkulturalität abgelöst werden (Tab. 4). Tab. 4: Von konfliktueller Interkulturalität zu konstruktiver Interkulturalität (Barmeyer 2020:41) Konfliktuelle Interkulturalität Konstruktive Interkulturalität Annahme Kulturunterschiede als Hindernis Kulturunterschiede als Ergänzung Ziel Verstehende Analyse Konstruktive Gestaltung Haltung Thematisierung von Problemen Generierung von Lösungen Somit entwickelt sich eine neue Strömung der Interkulturellen Management- forschung, die sich Konstruktives Interkulturelles Management nennt (Barmeyer/ Davoine 2016; Barmeyer 2018). Konstruktives Interkulturelles Management postuliert den bewussten Umgang mit Kulturspezifika und kultureller Vielfalt in organisationalen Kontexten. Dabei soll es gelingen durch gegenseitige Anpas- sungs- und Entwicklungsprozesse, Spezifika nicht als störende, sondern als bereichernde und sich ergänzende Ressourcen konstruktiv zu nutzen, um einen Mehrwert für Organisationen und Akteure zu schaffen (Barmeyer/Davoine 2019; Barmeyer 2020). Wird interkulturelle Organisationsentwicklung als zielgerichtete kollektive Entwicklung verstanden, die auf Lernprozessen kulturell unterschiedlicher Akteure beruht, so sind es gerade die in gegenseitigen Lernprozessen eingebrach- ten Besonderheiten, die zu komplementären und synergetischen Effekten für die Mitarbeiter und die Organisation führen. Dementsprechend zielt interkulturelle Organisationsentwicklung auf die konstruktive Gestaltung von Interkulturalität durch Entwicklung von Menschen und Organisationen unter Berücksichtigung (inter)kultureller Einflüsse und kultureller Kontexte, in Bezug auf Haltung, Methoden und Inhalte, ab. Ganz im Sinne von Positive Organizational Change (Cameron/McNaughtan 2014) soll gleichermaßen zur wertschöpfenden Entwick- lung der Organisation und zur wertschätzenden Zusammenarbeit von Mitarbei- tern unterschiedlicher Kulturen beigetragen werden (Barmeyer 2018).
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 93 2.3 P aradigmatische Grundhaltungen interkultureller Organisationsentwicklung Interkulturalität ist in einem ethnorelativistischen Verständnis geprägt von Per- spektiven und Perspektivenvielfalt. Die Interpretation in Alltagssituationen erfahrener Interkulturalität basiert auf den subjektiven (kulturellen) Wahrneh- mungen und Erfahrungen der beteiligten Akteure. Je mehr Perspektiven auf die Wirklichkeit existieren, desto mehr kann Ausgleich geschaffen und möglicher- weise sogar mehr Objektivität erreicht werden. Perspektivenvielfalt erleichtert die Einnahmen von Meta-Ebenen. Eine Meta-Ebene wird verstanden als eine „über- geordnete, geistig-abstrakte Ebene und Sichtweise, die bewusst von Personen eingenommen wird, um Strukturen, Objekte und Interaktionen mit Distanz zu betrachten, und dadurch besser zu verstehen und zu hinterfragen.“ (Barmeyer 2012: 122). Das Konstruktive Interkulturelle Management versucht nun von einer Meta- Ebene aus unterschiedlichen Perspektiven einen Mehrwert zu schaffen. Die Autoren Amado, Faucheux und Laurent lassen nicht nur einen Amerikaner und einen Franzosen „sprechen“ (kulturelle Prägung), sondern – im Sinne des multi- plen Kulturen-Ansatzes – gleichzeitig einen französischen Sozialwissenschaftler und einen US-amerikanischen Unternehmensberater. Sie sind also Vertreter unterschiedlicher Professionen, die sich beide mit dem Phänomen Organisation beschäftigen. Diese Personen haben aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation eine unterschiedliche Weltsicht; sie sind daher auch Vertreter unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Paradigmen. Sozialwissenschaftliche Paradigmen können verstanden werden als syste- matische Grundhaltungen, wie die Welt und damit vor allem gesellschaftliche Phänomene, wahrgenommen, verstanden und erklärt werden (Kuhn 1976). Wissenschaftsparadigmen geben einem Forschungsfeld somit einen Rahmen und Orientierungspunkte, die bewusst oder unbewusst herangezogen werden, um Erkenntnisse und Erklärungen in der komplexen und widersprüchlichen (Wissens-)Welt zu generieren (Grosskopf/Barmeyer 2021). Interkulturelle Managementforschung basiert auf verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen und mündet somit in unterschiedliche Forschungsparadigmen, anhand derer die Wirklichkeit zu verstehen, Forschung zu betreiben und die Praxis zu gestalten versucht wird (Romani 2008; Romani et al. 2018). Eine verbreitete Einteilung von Wissenschaftsparadigmen, die auch in der Inter- kulturellen Managementforschung Beachtung findet (Romani 2008; Primecz
94 Christoph Barmeyer et al. 2009), stammt von den Organisationssoziologen Burrell und Morgan. Sie entwickelten in ihrem Werk Sociological Paradigms and Organizational Ana- lysis (1979) ein Paradigmenmodell zur Klassifizierung sozialwissenschaftlicher Grundannahmen und Theorien. Romani (2008) modifiziert die vier paradigma- tischen Ausrichtungen von Burrell/Morgan (1979) in Anlehnung an Deetz (1996). Es ergeben sich vier Paradigmen-Orientierungen, die nun auf interkulturelle Organisationsentwicklung bezogen werden: Das funktionalistische, auch positivistisch genannte, Paradigma sucht inner- halb kultureller Unterschiede nach Ähnlichkeiten (Hofstede 1980; House et al. 2004). Möglichst „objektive“ Argumente geben folglich Erklärungen für die Rea- lität ab (Donaldson 2003). Hauptanliegen ist, die Effektivität und Effizienz von Organisationen zu verbessern und Manager dabei zu unterstützen, bessere Ent- scheidungen zu treffen. Bezogen auf die Organisationsentwicklung wird ange- nommen, dass die Interessen der Organisation und die der Individuen relativ ähnlich und somit vereinbar sind. Dies ist für Veränderungen und Entwicklun- gen der Organisation wichtig, weil eine gemeinsame Richtung dazu führt, dass weniger oder kaum Widerstände seitens der Mitarbeiter auftreten. Auch wird angenommen, dass eine spezifische (Organisations-)Kultur beeinflussbar und gestaltbar ist. Sie lässt sich folglich entwickeln und erschaffen. Organisations- kultur kann also ein verbindendes Ganzes kreieren. Das interpretative Paradigma interessiert sich für ein lokales Verständnis von Kultur, um soziale Ordnungen zu erklären. Forschungen suchen nach möglichen Sinngebungen und sozialer Konstruktion von Realitäten (D’Iribarne 2009; Che- vrier 2009), um die Interaktionen von Individuen zu verstehen. Forschungsfra- gen versuchen Unterschiede und Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Ansichten der Interessengruppen zu verdeutlichen und so die jeweiligen zugeschriebenen Bedeutungen aus Sicht der Akteure nachzuempfinden. Bezogen auf die Organi- sationsentwicklung wird akzeptiert, dass die Vorstellungen von Organisationen und Arbeitsverhalten vielfältig und in gewissem Maße interpretierbar und disku- tierbar sind. Kultur, die sich im zwischenmenschlichen Miteinander konstituiert, ist jeweils ausgehandelt und dadurch vielfältig, dynamisch und im ständigen Wandel begriffen (Klimecki et al. 1994: 55). Das kritische, postkoloniale Paradigma versucht soziale Phänomene anhand von sozialen Ungleichheiten, Ungerechtigkeit und Ausbeutung zu erschließen (Jack/Westwood 2009; Mahadevan 2017). Das Ziel des Paradigmas ist es, Unstim- migkeiten und Machtstrukturen aufzudecken (Primecz et al. 2016). Bezogen auf die Organisationsentwicklung wird nicht daran geglaubt, dass die Interessen der Organisation deckungsgleich sind mit denen der Mitarbeiter (Klimecki et al. 1994: 40). Es herrscht die Auffassung seitens der Mitarbeiter, dass Manager manipu- lativ „schöne Geschichten“ zur Organisation (und deren Entwicklung) erzählen.
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 95 Diese konträre Interessenlage und natürlich die Befürchtung, dass die „Mäch- tigen“ einseitig ihre Interessen durchsetzen, führen zur kritischen Haltung und Widerständen bei Mitarbeitern. Das postmoderne, dialogische Paradigma lässt klassische „Grenzen“ immer mehr verschwimmen; soziale Systeme, als auch die Vorstellungen über sie, werden dekonstruiert (Beck 1986; Lyotard 2008; Reckwitz 2017). Untersucht wird die Vielzahl von Diskursen, wie beispielsweise multiple Kulturen und Identitäten hinsichtlich Funktionen, Hierarchien oder Geschlechtern. Kultur wird zuneh- mend mehrdeutig, unscharf und offen (Bolten 2014). Kultur wird durch die Viel- zahl individueller Zugehörigkeiten innerhalb einer Organisation konstituiert und trägt zu einer Zunahme von Artikeln bezüglich multipler Identitäten bei (Romani 2008; Bolten 2020). Organisationen können „Dritte Räume“ darstellen sowie hybride und fluide Formen annehmen (Bhabha 1994). Sowohl Kulturen (Welsch 2020), als auch Management (Mayer 2011) werden transkulturell. Im postmoder- nen Paradigma findet Organisationsentwicklung fließend, dynamisch, dezentral und emergent statt und ist nur bedingt beeinflussbar. Durch die Vielfalt von Kul- turen und Identitäten entwickelt sich die Organisation ebenso vielfältig. Viele Akteure, auch die, die in der Minderheit sind, agieren; dies kann zu Unübersicht- lichkeit und Inkohärenz führen. Auf den obigen Dialog zur Organisationsentwicklung bezogen, repräsentiert John tendenziell das funktionalistische Paradigma und Philippe tendenziell das kriti- sche Paradigma. Damit steht Philippe in der französischen, durch die Soziologie „kritisch“ geprägten, Tradition der Organisationsforschung (Gmür 2006). In der Interkulturellen Managementforschung lässt sich grundsätzlich eine Dominanz des funktionalistischen Paradigmas feststellen (Primecz et al. 2009: 267), wie es auch Barmeyer/Bausch/Moncayo (2019) in einer longitudinalen Meta-Studie zweier Journals des Interkulturellen Managements zeigen. Untersucht wurden 614 Artikel, die zwischen den Jahren 2001 und 2016 in den beiden Zeitschriften International Journal of Cross Cultural Management und Cross Cultural & Strate- gic Management veröffentlicht wurden. Während die positivistischen Ansätze in beiden Zeitschriften 465 Mal vertreten sind, was 76 % des Korpus ausmacht, wurde der interpretative Ansatz in 149 Artikeln verwendet, was 24 % der gesam- ten Publikationen ausmacht. Nach und nach treten nun zunehmend interpreta- tive (D’Iribarne 2009) und kritische (Jack/Westwood 2009; Mahadevan 2017) und auch postmoderne Paradigmen europäischer und nicht-westlicher Forschung in das Forschungsinteresse (Mahadevan/Mayer 2017; Mayer et al. 2017). Diese Ansätze nehmen Interkulturalität, die sich lange Zeit nur auf Nationalkultur bezog, wesentlich differenzierter und mehrschichtiger wahr.
96 Christoph Barmeyer 3 Fazit und Ausblick Tabelle 5 fasst die drei angesprochenen zentralen Themenfelder zusammen. Zunehmend wird auch das Interkulturelle Management aus kritischen und post- modernen Paradigmenperspektiven erforscht und Multiple Kulturen werden aus der interpretativen und funktionalistischen Paradigmenperspektive untersucht. Tab. 5: Interkulturelle Organisationsentwicklungs-Matrix Strömung Paradigma Kultur als … Interkulturelle Organi sationsentwicklung … Kulturver- Funktionalistisch […] Ressource, die […] respektiert kulturelle gleichendes erfasst, koordiniert und Besonderheiten und Management kontrolliert werden kann Differenzen Interkulturelles Interpretativ […] sinngebender […] initiiert und begleitet Management Kontext, dem individuelle Interaktionsprozesse, Managementprozesse bei denen Bedeutungen unterliegen erschaffen und aus- getauscht werden Multiple Kulturen Kritisch […] Ungleichheiten, […] verringert Ungleich- Machtstrukturen und heit durch Partizipation Ideologien und Engagement aller Beteiligten und koor- diniert im gegenseitigen Austausch die multiplen Kulturen Postmodern […] ungreifbare Komple- […] fördert gegen- xität in Co-Existenz und seitige Interaktions- und als „Ineinanderfließen“ Lernprozesse, die alle zahlreicher situativ kon- als „interkulturell“ struierter Identitäten angesehen werden Grundsätzlich schafft die paradigmatische Einordnung ein Bewusstsein für unterschiedliche Perspektiven und öffnet gleichzeitig den Blick für einen kon- struktiven, kritischen Umgang mit vorherrschenden Paradigmen. Von beson- derem Wert für eine konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung ist eine multiparadigmatische Haltung, die die unterschiedlichen Paradigmen res- pektiert (Barmeyer/Davoine/Stokes 2019). Dieser „multiparadigmatische Ethno- relativismus“ (Grosskopf/Barmeyer 2021) kann dabei helfen, Interkulturalität in ihrer ganzen Bandbreite, Vielfalt und Differenziertheit zu erfassen. Verschiedene Paradigmen bergen ein besonderes Potenzial: Die Sensibilisierung für unter-
Konstruktive interkulturelle Organisationsentwicklung 97 schiedliche Perspektiven von sozialen Phänomenen und deren Umgang. Dieses Zusammenführen von Perspektiven ist nicht nur für Forschende selbst relevant, sondern auch für Organisationen und Gesellschaften. Konstruktiv ist daran, die relativen Unterschiede gleichberechtigt als Perspektiven-Vielfalt zu begreifen und zum Anlass zu nehmen in Dialog zu treten und womöglich gegenseitige inter- kulturelle Lernprozesse anzustoßen (Grosskopf/Barmeyer 2021). Durch Offenheit für anderskulturelle Perspektiven können Komplementaritäten und Synergien erreicht werden. Interkulturelle Organisationsentwicklung braucht, um die mul- tiplen Kulturen (und Identitäten) der Akteure und die interkulturellen Dynami- ken zu berücksichtigen, diese Paradigmenvielfalt in Forschung und Praxis. Nur so kann der Aspekt der Konstruktivität im (interkulturellen) Management und in der Organisationsentwicklung zur Geltung kommen. Insbesondere interkulturellen (wie bikulturellen) Personen an Schnittstellen- positionen, die auch als „Boundary Spanner“ (Barner-Rasmussen et al. 2014) oder „Boundary Shaker“ (Balogun et al. 2005) bezeichnet werden, kommt eine wichtige Rolle bei der konstruktiven Gestaltung zu (Barmeyer/Grosskopf 2020): Diese Personen arbeiten an Schnittstellen „grenzüberschreitend“ (Nationalkul- turen, Organisationskulturen, Bereichskulturen etc.) und können vor dem Hin- tergrund ihrer Kulturerfahrungen in mehr als einer dieser „Kulturen“ vermittelnd agieren (Barmeyer et al. 2020; Barmeyer/Eberhardt 2019). Sie verstehen mehrere Kontexte und können sich so in die verschiedenen Perspektiven der beteiligten Akteure hineinversetzen: […] Individuals who are tasked with implementing change across existing internal organi- zational boundaries, in ways that simultaneously alter those boundaries. We refer to such change activity as boundary-shaking as it can involve reconfiguring, if not removing, the boundaries, but also reconfiguring the ways in which work and interactions flow across these boundaries. (Balogun et al. 2005: 261–262) Durch zahlreiche gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und technologi- sche Umbrüche und Entwicklungen hat sich der Kontext, in dem Organisationen agieren, drastisch geändert. Somit sollte das interkulturelle Management auf die komplexen neuen Herausforderungen auch entsprechende differenzierte Ant- worten finden, wie es Phillips/Sackmann (2015: 16) betonen: „If the discipline is to be helpful and flourish, scholars will need to investigate adequately the multi- faced nature of culture in organizational settings, to share this well-grounded knowledge with practitioners, and to provide them with a more differentiated fra- mework and language.“ Hierzu gehören etwa die stärkere Berücksichtigung der Kontextgebundenheit von Situationen, die Einbeziehung multipler Forschungs- paradigmen und die Anwendung pluralistischer Forschungsmethoden. Auf Basis
98 Christoph Barmeyer der drei Ausführungen zu den drei Themenfeldern der Organisationsentwicklung lassen sich abschließend drei Thesen als Ausblick formulieren. Erstens ist zu hoffen, dass Organisationsentwicklung aufgrund der beschrie- benen gesellschaftlichen Entwicklungen zukünftig durch ihre humanistische und partizipative Ausrichtung zunehmend einen größeren Stellenwert erhalten wird oder, dass das Change Management diese humanistischen Elemente der Organisationsentwicklung integriert. Zweitens wird sich die Organisationsentwicklung aufgrund der Interna- tionalisierung immer mehr zu einer interkulturellen Organisationsentwicklung wandeln. Dabei ist zu hoffen, dass Interkulturelle Organisationsentwicklung zu einer konstruktiven Gestaltung von Interkulturalität in Organisationen beiträgt und die kulturelle Vielfalt zu nutzen weiß. Der Multiple-Kulturen-Ansatz, der genau diese Vielfalt von Identitäten und Kulturen in Organisationen berücksich- tigt, gibt hier wichtige Orientierungspunkte. Drittens wird eine multiparadigmatische Sicht der interkulturellen Organisa- tionsentwicklung helfen, postmodernen Herausforderungen von Gesellschaften und Organisationen mit multiplen Kulturen und Identitäten adäquat und vor allem konstruktiv zu begegnen: Die multiparadigmatische Perspektivenvielfalt ermöglicht verschiedene, gleichberechtigte und damit wertfreie Weltsichten auf Organisationen und Kulturen. Die Zeit scheint gekommen, interkultureller Organisationsentwicklung innerhalb des interkulturellen Managements mehr Raum zu geben. Ebenso sollte interkulturelle Organisationsentwicklung neu gedacht werden: Interkulturelle Herausforderungen von Organisationen, allen voran ihre Veränderung und Ent- wicklung, lassen sich in – postmodernen – Zeiten von Flexibilität, Agilität und Virtualität weder mit simplifizierenden oder dekontextualisierten Handlungs- anleitungen in Form von dos und don’ts, noch mit deterministischen starren Kul- turverständnissen meistern. Was es braucht sind Bewusstsein und Wissen über die Bedeutung von Interkulturalität, multiplen Kulturen und dynamischer Inter- kultur. Somit versteht sich eine zukunftsgerichtete interkulturelle Organisations- entwicklung auf der Basis eines multiparadigmatischen Ethnorelativismus als strategischer Ansatz zur Gestaltung konstruktiver Interkulturalität. Literaturverzeichnis Adler, Nancy J. 1980. Cultural Synergy: The Management of Cross-Cultural Organizations. In: Burke, W. Warner/Goodstein, Leonard D. (Hrsg.): Trends and Issues in Organizational Development: Current Theory and Practice. San Diego: Pfeiffer & Company. S. 163–184.
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