Konsumkultur und Raumstruktur - Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien - BBSR
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Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 67 Konsumkultur und Raumstruktur Wolfgang Christ Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien 1 Handel und Stadt: Konstante. Topologie bezeichnet die Lage Eine topologische Konstante und Anordnung geometrischer Gebilde im Raum. Dieser Zusammenhang kommt auch Die Geschichte der Stadt ist eine Geschich- da zum Tragen, wo Stadt im traditionellen te des Handels. Es ist eine Gleichung mit Sinn schon nicht mehr existiert. Dort, auf bekannten Werten: Marktstraße, Markt- der „grünen Wiese“, in Suburbia, ist es die platz, Kaufhaus und Markthalle oder tem- Shoppingmall, die eine Ersatzmitte stiftet. porär stattfindende Messen sind noch heu- Die Mall ist in der Evolutionsgeschichte te ein lebendiges Abbild der historischen des Handelsstädtebaus die vorläufig letz- Kernkompetenz eines Stadttyps, der im 21. te Station einer topologischen Kette, auf Jahrhundert eine starke Renaissance erlebt. deren Fortsetzung Projektentwickler, Han- Ohne den Handel ist die europäische Stadt dels- und Immobilienwirtschaft, Banken, substanzlos. Gleichwohl deuten ernst zu Politiker, Architekten und Planer, Bürgerin- nehmende Anzeichen darauf hin, dass in nen und Konsumenten auch im digitalen dem Moment, in dem das Leben in der In- Zeitalter bauen. Sie sehen sich in Deutsch- nenstadt wieder mit dem Privileg verbun- land – im gravierenden Unterschied zu den wird, einen urbanen Lebensstil mit Großbritannien – immer noch auf sicherem nachhaltiger Lebensführung verbinden zu Grund agieren, denn Handelsformate und können und zahllose innerstädtische Quar- Stadtformate kommen erfahrungsgemäß tiere nach jahrzehntelangen Sanierungs- zusammen, wie zwei Seiten einer Medaille. maßnahmen die „Stadt der kurzen Wege“ Auch da, wo man es eher nicht vermutet: populär gemacht haben, ausgerechnet der Die Zwischenstadt besitzt mit den Discoun- Handel als Dienstleister für das Notwen- tern an Ortsrändern und in Gewerbegebie- dige und Schöne des Alltags, wegzubre- ten, den Fachmarktagglomerationen und chen droht (Hansen/Hielscher/Steinbuch den momentan zu Hybrid-Centern aufge- 2013: 64 ff.). rüsteten Fachmarktzentren an regional- Der Indikator dieser Entwicklung ist die strategisch zentralen Standorten genau die vom Verfasser sogenannte topologische Handelskultur, die zu ihr passt: autogerecht, Konstante in der Beziehung von Handels- extensiv energie- und flächenverbrauchend, kultur und Stadtkultur. Es wird dabei un- frei von öffentlichem Raum, funktional se- terstellt, dass die Verbindung beider Welten gregiert und dazu gestalterisch, sozial und in der Vergangenheit immer physisch (be-) baukulturell unqualifiziert. Nach allem, was greifbar ist. Alles, was sich um Angebot und wir heute wissen können, wird daraus ein Nachfrage, um Verkaufen und Kaufen, um Sanierungsfall für die „Wissensgesellschaft“ Kommerz und Kultur dreht, benötigte einen werden (Bölling/Christ 2006: 266 ff.). Den- adäquaten Ort und Raum. So ist der mittel- noch ist die topologische Konstante auch alterliche Marktplatz ein Maßanzug für die in der Zwischenstadt intakt. Waren und zeitgenössische Kaufmannschaft, ebenso Dienstleistungen kommen noch gemein- wie das Shoppingcenter für die Handelsin- sam mit Kundinnen und Kunden jeweils dustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- an einem Ort und in einem Kontinuum aus hunderts. Raum und Zeit zusammen. Es ist zwar in der Regel nicht schön und der Aufenthalt Handel ist bis zum Anbruch des Maschi- macht wenig Spaß, aber es gibt sie noch, nenzeitalters der materielle Träger im Pro- die kollektiven Knoten im Versorgungsnetz zess der Stadtentwicklung. Stadt ist die des Alltagslebens einer Mehrheit der Bevöl- exklusive Plattform und kulturelle Infra- kerung in Deutschland. Wird ein Aldi oder struktur für die absolut notwendige per- REWE eröffnet, ist das stets ein Grund zur Prof. Wolfgang Christ sönliche Kommunikation „Face-to-Face“ Freude. Urban INDEX Institut GmbH der Akteure am Markt. Die kommunika- Goebelstraße 21 tionsstiftende Rolle des Handels ist ein Die Architektur des Online-Handels wird 64293 Darmstadt wesentliches Merkmal der topologischen die analoge Einheit von Stadt und Handel E-Mail: christ@ui-institut.de
Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur 68 Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien beenden. Die Kombination aus Internet fahren bedrohten Netz der Handelswege mit PC, Laptop oder Smartphone, E-Com- bzw. Handelsrouten. merce-Firmen, Logistikzentren, „Same Day Die strategische Partnerschaft zwischen Delivery“ (SDD), Bewertungs- und Bera- Stadt und Handel findet ihre erste indus- tungsplattformen, virtuellen Bezahlsyste- trielle Prägung in den Passagen von Paris. men und sozialen Netzwerken, setzt den Die Französische Revolution macht auch vorläufigen Schlusspunkt im Prozess der mithilfe der Guillotine den Weg für die Kon- Handelsmoderne. Die Wirkkräfte der Digi- fiszierung des adligen und kirchlichen Im- talisierung schaffen eine neue Welt. Raum mobilienbesitzes frei. Mit dieser Ressource und Zeit sind darin voneinander getrennte an Grundstücken und Immobilien beginnt Dimensionen. Sie werden jeweils auch für der Aufbau einer bürgerlichen Parallelwelt sich allein nur noch als eine Aneinander- inmitten der labyrinthisch verbauten Alt- reihung von isolierten Fragmenten wahrge- stadt. Technologische Innovationen wie nommen. Die soziale und kommunikative Gusseisen, großformatiges Glas und Gas- Vermittlerfunktion von Mensch und Raum licht werden im industriellen Stil zur ratio- im Medium des Ladens, des Hauses, der nellen Erschließung moderner Handelsflä- Straße, des Quartiers – egal ob in, vor oder chen eingesetzt. Eine bis dato unbekannte ohne Stadt – wandert ins Netz. Welt des Luxus und der Moden nistet sich Der Paradigmenwechsel in der Entwicklung entlang schnurgerader Privatstraßen un- des Einzelhandels wird für die Analyse und ter Glasgewölbe in den Hinterhöfen von Bewertung aktueller Phänomene wie z. B. Paris ein: Die alte Stadt und der moderne das „De-Malling“ von Centern in den USA, Handel werden sich fremd (Canac/Cabanis oder die „Retail-led Regeneration“-Strategie 2011: 4 ff.). britischer Städte, zugrunde gelegt. Der Ver- In den nachfolgenden Jahrzehnten wird das fasser vertritt die Hypothese, dass sich an- Warenhaus den Abstand vergrößern und stelle der topologisch geprägten Kultur des dies nach innen und nach außen selbstbe- Handels zukünftig eine medialisierte Tech- wusst demonstrieren. Es beendet die Vor- nologie des Konsums in den verstädterten herrschaft der noch in einer Zunfttradition und urbanen Räumen etablieren wird. gefangenen Kaufleute, die in ihren unzäh- Der Umbruch im Verhältnis von Stadt und ligen kleinen Läden eine einzige Waren- Handel wird als so tief greifend einge- gruppe anbieten und führt auf allen Ebe- schätzt, dass es sinnvoll ist, die analytische nen kapitalistische Standards ein (Sombart Betrachtung neuer urbaner Typologien der 1928: 77 ff.). Es setzt den „Superblock“ an Handelskultur in den USA, Großbritannien die Stelle kleinteilig parzellierter, historisch und in Deutschland mit einem Blick zu- gewachsener Gebäudeensemble. Zeitge- rück auf die strukturellen Veränderungen nössische Assoziationen wie „Kaserne“, der Vergangenheit zu eröffnen, die von den „Tempel“, „Stadt in der Stadt“ vermitteln Zeitgenossen immer als dramatisch emp- einen Eindruck von der Sonderstellung des funden werden. Auf diese Weise sollte klarer Warenhauses. Das Warenhaus isoliert und sein, wo die Trennungslinien zwischen Ges- konzentriert potenziell „alles unter einem tern und Morgen verlaufen, welche Merk- Dach“. Es kommuniziert mit der Stadt in male oder Eigenschaften den Paradigmen- der Architektursprache öffentlicher Groß- wechsel überdauern werden, bzw. welche bauten. Es nutzt den technischen Fort- Qualitäten auch in Zukunft eine Rolle spie- schritt vom Skelettbau über den Fahrstuhl len sollten. und eine geschosshohe Verglasung bis zur Leuchtreklame. Und Warenhausunter Die topologische Entwicklungslinie setzt nehmer liefern um 1900 Waren selbstver- selbstverständlich mit der Gründungswel- ständlich mit dem Elektro-LKW aus. Ide- le der Städte im ersten Drittel des vorletz- alerweise sitzt das Warenhaus wie eine ten Jahrtausends ein, die im Takt von vier Spinne im Netz der neuesten Stadttechnik. bis fünf Wochen den mitteleuropäischen Eisenbahn, U- und S-Bahn, Straßenbahn Raum mit einem eng geknüpften Markt- und mit ihnen das neue Maß der getakte- netz überzieht. Mauer, Markt und Platz ten Zeit, überlagern den Raum als Maß und bilden eine symbiotische Mitte (Humpert/ Medium der Integration in die Stadt. Schenk 2001). Städte wie Brügge, Lübeck oder Augsburg sind die starken Knoten im Das Warenhaus implantiert die industrielle ansonsten schwachen und von vielerlei Ge- Moderne in das feinnervige Herz von Stadt
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 69 und Gesellschaft. In Paris wächst es aus den Trümmern der alten Stadt, die Napoleon III. und sein Pariser Präfekt Haussmann von 1853 an abreißen lassen. Die Totalopera- tion am Bestand markiert den bis heute fortdauernden Konflikt um Mitte und Mo- derne. Für nahezu ein Jahrhundert ist das Warenhaus der Inbegriff von „Angriff auf die City“. In Deutschland wird der Schutz vor der Moderne von Anfang an von einer Mischung aus Antikapitalismus, Antiame- rikanismus und Antisemitismus begleitet (Diner 2002: 61 ff.). Die Topologiegeschichte der Mall beginnt dort, wo die Wirkungsgeschichte des Wa- renhauses endet: im boomenden Subur- bia, Mitte der 1950er-Jahre in den USA. Die Aufhebung der Warenpreisbindung, immer effizientere Einzelhandelsformate wie Discount und Supermarkt begünsti- gen einen Wildwuchs an schnell gebauten Läden entlang der Hauptverkehrsstraßen Horton Plaza: Shoppingcenter in der Downtown zwischen den neuen Vororten und der City. San Diego (USA) Für die Stadtplanung ist das Konzept des Foto: Wolfgang Christ Shoppingcenters die nachhaltige Antwort auf eine ungeordnete Siedlungsentwick- henwerden, sich zwanglos treffen, Neues lung und für die Warenhauseigentümer im erleben oder „in der Menge baden“, die Stadtzentrum ist es die letzte Chance, die primäre Funktion des Centers als Ort des Kunden zukünftig dort zu erreichen, wo schnellen Warendurchlaufs verdrängt. Die diese, mit wachsender Kaufkraft ausgestat- immer noch präsenten Großflächenmieter tet, ihren Lebensmittelpunkt hin verlegen genügen nicht mehr als Frequenzbringer. (Gruen/Smith 1960: 46 ff.). Der neue Anker ist Aufenthaltsqualität, die Jon Jerde mithilfe der Designstrategie des In der Typologie des aus Wien stammenden „Placemaking“ schafft (Bradbury 1999). Architekten Victor Gruen ist das Shopping- center eine autofreie Insel mit urbanem Zwischenfazit: Im 19. Jahrhundert etabliert Flair. Stattdessen setzt sich das Center als die Passage als eigenständig konzipierter, fordistische Verkaufsmaschine durch. 1985 aus einer Hand entwickelter und von einem wird von Jon Jerde in San Diego ein neuer Management der Eigentümer kontrollierter urbanistischer Anfang gemacht, indem er Schau- und Verkaufsraum die erste urbane für das Warenhaus typische Elemente wie Typologie des modernen Handels. Die Zur- repräsentative Treppenanlagen und die schaustellung der Waren erreicht im Waren- Stapelung von drei und mehr Geschossen haus eine neue Quantität und Qualität. Wa- mit den für das Center charakteristischen renangebot, Warenvielfalt und Warenmenge Wege-, Platz- und Flanieratmosphären begründen die Konsumkultur der Massen- kombiniert. Das „Horton Plaza“ verzichtet gesellschaft (Baumann 2009: 7 ff.) Das Wa- renhaus befördert Versorgung zu Shopping auf die klimatisierte Mall. Es öffnet sich zur und qualifiziert Handelsarchitektur zum Stadt, reproduziert bauliche Vielfalt durch öffentlichen Interesse. Die Mall verwandelt bunt collagierte Baukörper und wirkt bald die typisch (groß-)städtische Einkaufskul- als Impulsgeber für die Revitalisierung der tur des Shoppings Schritt für Schritt in ein von gut verdienenden Bewohnern und In- künstlich reproduzierbares Lifestyle-Pro- vestoren gemiedenen Downtown (Christ dukt. In den Hintergrund treten Ort und 2003: 121). Vor allem aber deutet sich schon Kontext. In den Vordergrund drängen Bilder atmosphärisch ein grundlegender Wandel und Emotionen (Klein 1999: 112 ff.). des Geschäftsmodells der Projektentwickler und Centerbetreiber an, indem der Neben- Das feste Band zwischen Stadt und Han- effekt des Shoppings, das Sehen und Gese- del, das mit dem Shoppingcenter in vieler-
Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur 70 Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien lei Hinsicht schon weit gedehnt wird, muss nagte Handelsensembles mit tendenziell unter den Bedingungen der Digitalisierung unbegrenztem Zugang zu internationalem reißen. Wenn Verkaufen und Kaufen zu je- Know-how und globalen Kapitalressourcen der Zeit und an jedem Ort und von allen, aus. Vor allem aber sind sie als privates Ei- die über einen Netzzugang verfügen mög- gentum hervorragend steuerbare Einheiten, lich ist, dann löst sich die topologische die schnell und flexibel sowohl auf neue Bindung auf. Damit wird all das, was für Trends als auch auf eventuell tief greifende Standort, Fläche, Raum und Sortiment an Umbrüche in der Zukunft reagieren können. staatlichen Regulierungs- und Steuerungs- Für die Stadtplanung und den Städtebau instrumenten zur Verfügung steht, struktu- der öffentlichen Lauflage heißt das entwe- rell wertlos. Die entscheidenden „zentralen der: „Accept that […] bricks and mortar re- Orte“ befinden sich im Nirgendwo der In- tailing can no longer be the anchor to cre ternetcloud. ate thriving high streets and town centers.” (Grimsey 2012a: 6) Oder aber: „[...] help to Die neue Ausgangslage ist einfach zu be- create an authentic experience that rein- schreiben: Der Handel hat sich von analo- forces the unique aspects of the place. This gen Zwängen emanzipiert und kann sich is particularly important today when retail nun mehr denn je frei entscheiden wo, wie, has become so homogenized and banal.“ mit wem und mit welchem strategischen (Rusin/Slater/Call 2013: 74) Ziel Waren- und Dienstleistungsangebote platziert werden sollen. Eine erste Konse- Aktuelle Beispiele in den USA und in Groß- quenz ist das „Multi Channel“-Konzept, das britannien lassen erkennen, dass die Eman- Unternehmen befähigt, sämtliche Verkaufs- zipation des Handels die Chance eröffnet, plattformen zu nutzen, diese miteinander eine grundlegend neue topologische Bezie- zu vernetzen und das sie in die Lage ver- hung mit der Stadt einzugehen. Dabei ste- setzt, deren jeweils spezifische Begabungen hen nicht mehr die materiellen technischen optimal zu entwickeln und effizient auszu- oder infrastrukturellen Kennziffern und der schöpfen. Im Grunde spielt es keine Rolle Schutz bestimmter Einzelinteressen im Fo- mehr, an welchem „Point of Sale“ (POS) kus der Debatte, sondern das gemeinsame Umsatz und Rendite erwirtschaftet wird – Interesse an nachhaltiger Innenentwick- Hauptsache, es bleibt im eigenen Haus (De lung: an einer langfristig sicheren guten Kare-Silver 2011). Rendite für das investierte Kapital ebenso, wie an stabilen sozialen und kulturellen Damit wird ein weiterer tief greifender Verhältnissen in einer ökologisch intakten Wandel ausgelöst: das Ende der Konkur- und ästhetisch hochwertigen Umwelt. Alles renz zwischen unterschiedlichen Formaten läuft darauf hinaus, dass der Stadtwert den an ein und demselben Standort, z. B. der Handelswert bestimmen wird. Von der ur- eigentümerbetriebenen Läden gegen ein banen Wertentwicklung wird es abhängen, geplantes oder benachbartes Shopping- ob und wie Handel noch im analogen Me- center. Der Markt verlangt die Kooperation dium des Raumes funktioniert (Christ 2014). aller zugunsten des gemeinsamen Standor- tes oder das Scheitern ist vorprogrammiert (Christ/Pesch 2013: 126 ff.). Schon heute 2 Stadt und Handel USA: Labor der und generell in wenigen Jahren, treten drei Moderne Basislagen des Einzelhandels untereinan- der in den Wettbewerb um Kundinnen und Die USA gelten bis heute als Avantgarde Kunden: Die „Fahrlage“ der autoeffizienten der Handelswirtschaft. Innovationen ge- Fachmarktzentren tritt gegen die „Lauflage“ langen auf kurzem Weg von der Idee zur für Fußgänger in den Innenstädten, den Marktreife. Eine staatliche Regulierung von Stadtteilzentren oder in den Ortsmitten an. Standort-, Flächen- und Sortimentsforma Und beide konkurrieren vor Ort und nach ten findet nicht statt. Die Marktkräfte tre- außen mit der „Surflage“, bei der die Kun- ten daher besonders sichtbar in Erschei- den nicht mehr selbst zur Ware kommen nung. Sie formen Handelstypologien, die und das Internet alle Marktteilnehmer vir- weltweit kopiert werden. Jüngstes Beispiel tuell vereint (Christ 2011: 8 ff.). sind die „Flagship-Stores“ in den Hauptein- Die dritte absehbare Konsequenz ist nicht kaufsstraßen auch deutscher Städte, die als weniger gravierend: Fahrlage und Surf gebaute Botschaften exklusiver Marken- lage zeichnen sich als professionell gema- welten auftreten. Studienreisen in die USA
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 71 gehörten schon vor mehr als 100 Jahren zur Ausbildung der Führungskräfte eines Warenhauses und sind heute eine Pflicht für Projektentwickler (Ditchett 1925: 11 ff.) Wissensnetzwerke wie das „Internatio- nal Council of Shopping Centers“ (ICSC) und das „Urban Land Institute“ (ULI), die ihre Heimat in den USA haben, versorgen auch die deutschen Einzelhandelsexper- ten mit Entscheidungsgrundlagen in Form von Daten, Informationen, Trendberichten, Kongressen und Workshops, liefern Hand- reichungen für die Praxis, loben Preise für vorbildliche Projekte aus und verbreiten nicht zuletzt die neuesten Ergebnisse wis- senschaftlicher Forschung. Da die deutsche Handelswirtschaft bei einem Gesamtum- satz im Jahr 2011 von 421 Mrd. € praktisch Town Center: Americana at Brand, Glendale (USA) Foto: Wolfgang Christ nicht in Forschung und Entwicklung inves- tierte, ist sie komplett auf Wissenstransfer und da vor allem aus den USA, angewie- zum Neuland für „ersatz-city space“ (Kiger sen. Deutsche Handelskonzerne wie die 2013: 57) wird. Nach dem Vorbild traditi- Otto Group oder die Hornbach Holding oneller amerikanischer Innenstädte ent- weisen in ihren Geschäftsberichten keine stehen Blockstrukturen, die Läden, Büros, FuE-Aufwendungen aus, z. B.: „Anders als öffentliche und kulturelle Institutionen produzierende Unternehmen betreibt die und natürlich Wohnen mischen. Die Qua- METRO GROUP als Handelskonzern keine lifizierung der suburban codierten Moder- Forschung und Entwicklung im engeren ne ist in vollem Gang. Sie reicht von rein Sinn. Deshalb sind hierzu keine nennens- privatwirtschaftlich orientierten Projekt- werten Aufwendungen zu berichten.“ (ME- entwicklungen wie z. B. in der Stadt Ran- TRO AG 2012: 119) Dabei wächst die Know- cho Cucamonga, 60 Meilen östlich von Los how-Lücke rapide mit der Akademisierung Angeles, die das Unternehmen Forest City des Einzelhandels durch das Auftreten Inc. beauftragt hatte‚ ihre „Victoria Gardens“ der Online-Firmen. Auf Industrialisierung genannte Downtown als offenes Center in folgt Verwissenschaftlichung. Amazon und privater Hand zu bauen, bis zum aktuellen eBay sind für die Wissensgesellschaft ge- Projekt einer Downtown für die Stadt West- rüstet. Allein diese beiden Unternehmen minster in Colorado, die die Konversion investierten 2012 zusammen 4,7 Mrd. $ einer ca. 50 ha großen Fläche der stillgeleg- und damit 7,5 % bzw. 11,3 % ihres Umsatzes ten „Westminster Mall“ selbst in die Hand in Forschung und Entwicklung (Microsoft nimmt, welche dabei im öffentlichen Besitz 25.11.2013). Zum Vergleich: Der „Stifter- bleibt (Westminster 15.11.2013). verband für die deutsche Wissenschaft“ Kennzeichen des Paradigmenwechsels weist für alle Einzelhandelsunternehmen sind die Wanderungsbewegungen in die im Jahr 2011 einen FuE-Etat in Höhe von Städte und Stadtzentren der Metropolre 14,1 Mio. € aus, eine Summe, die statistisch gionen. Erstmals seit dem Ersten Weltkrieg mit 0,0034 % kaum noch nachweisbar ist wachsen die Städte dort stärker als in den (Wissenschaftsstatistik 2013). umgebenen Suburbs (Frey 15.11.2013). In Die zukünftigen Konturen und Merkmale 34 der 51 größten amerikanischen Metro- des Einzelhandels zeichnen sich in den USA polregionen leben mehr Universitätsabsol- immer klarer dort ab, wo Stadt radikal im venten in den städtischen Zentren als im Umbruch ist: in der Mitte und in der Peri- suburbanen Gürtel. Mittlerweile lebt die pherie, also an den Antipoden der Stadtkul- Mehrheit der Universitätsabsolventen in tur. Downtown erlebt eine eindrucksvolle den Stadtzentren und zwei Drittel des High- Renaissance und zugleich werden neue Tech-Risikokapitals fließt an Unternehmen Mitten am Rand aufgebaut. „Greyfields“ in Städten. Spektakulär ist der Umzug von werden zu „Goldfields“, wenn ein brach Twitter aus dem Silicon Valley nach Down- gefallenes Centerareal mitten im „Sprawl“ town San Francisco (Florida 2013: 107 f.). Es
Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur 72 Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien bilden sich „Creative-Class Cluster“ in der Mississippi mit dem Namen „Villa Italia“ urbanen Mitte, umgeben von den Wohn- das Herz der Kommune. 2004 eröffnete quartieren der „Service-Class“ und einer an die neue Downtown als “Mixed use Rede den Rand der Stadt gedrängten „Working- velopment”, aufgebaut aus 22 drei- bis Class“. Die unmittelbare Folge einer Re- viergeschossigen Blöcken, 100 000 m² Ein naissance der Mitte sind hohe Immobilien- zelhandel, 85 000 m² Bürofläche, 1 300 und Mietpreise. Im Durchschnitt liegen sie Wohneinheiten und diversen Parkanlagen: beim Dreifachen dessen, was im autoab- „The street levels on both main streets are hängigen Suburbia gezahlt wird (Anderson lined with retail stores and restaurants, while 2010: 69 ff.). Core-Immobilien werden auch the upper floors of the buildings include re- von der sogenannten Subprime-Krise der sidential units, office spaces, and parking in Jahre nach 2008 nicht betroffen. concealed structures.“ (Charles 2007: 6) Die neue Attraktivität der städtischen Zen- Ein paradigmatisches innerstädtisches tren rückt das Quartier in den Mittelpunkt „Re:Street-Projekt” existiert in Pasadena, Ka- der Stadtentwicklung: „[...] the focus is lifornien: „Paseo Colorado, a three-square- more on location – a place, providing con- block ‚urban village’, replaces an inward- venient access to the workplace, as well as oriented enclosed mall with an open-air to a complete urban neighborhood with mix of retail space, restaurants, entertain- places to eat, meet, and enjoy life.“ (Enlow ment uses, and housing in an effort to re- 2013: 89). Für die Teilhabe am urbanen Le- turn Pasadena to its walkable roots.“ (ULI bensstil werden suburbane Komfortprin- 2008) 1980 eröffnete „Plaza Pasadena“ als zipien – großes Haus, großes Grundstück, „monolitic, climate-controlled retail mall“ große Autos und ein homogenes soziales (Reynolds 2000), überbaute 7 ha öffentliche Umfeld – nicht nur von der jungen Gene- Freifläche und kappte die Achse zwischen ration erstaunlich schnell gegen städtische Rathaus und Stadthalle. Keine 20 Jahre Qualitäten getauscht: „Americans [...] are später ist das Center gegenüber der histo- willing to settle for less square footage in rischen Downtown nicht mehr konkurrenz- return for a carless commute, convenient fähig. Es wird aufgegeben. „Developers of access to shopping and entertainment des Paseo turned the mall inside out to make tinations, and that hard-to-define quality storefronts face the street [...]“(CNU 2005). called ‚place’“ (Enlow 2013: 88). Aus einem riesigen zweigeschossigen Flach- Die Stadtwende des 21. Jahrhunderts ver- bau entsteht ein sechsgeschossiges Block- ändert zusehends die Strategien der Ex- muster mit zweigeschossigen Läden, Büros, pansionsmanager großer nationaler und etc. und 387 aufgesattelten Wohneinheiten. internationaler Handelskonzerne und Im- Die ursprüngliche Integration in das Wege- mobilienentwickler. So ist es nicht verwun- netz der Stadt ist wieder hergestellt. (Christ derlich, dass nach einer Untersuchung des 2003: 121) ICSC seit 2006 nur eine geschlossene Mall Die Rückkehr der traditionellen Straße ist neu gebaut wurde. Existierende Malls gel- sicher das auffälligste Phänomen in der ten als Sanierungsfall: „ It’s not that malls wechselvollen Beziehung von Stadt und are overbuilt, [... ] The problem is that they Han del. In der Metropolregion Los Ange- are under-demolished.“ (Myers 2013: 62) les lässt sich die ganze Bandbreite des ak- Town Center, Urban Entertainment Center tuellen „Re-Street-Prozesses“ beobachten oder Lifestyle Center haben mit revitalisier- (BUW/CPP 20.09.2013). Und der Wandel ist ten Mainstreets und Downtowns sowie den umso schärfer konturiert, je grundlegender in der Planung oder im Bau befindlichen die Orte von den Wirkkräften der Moderne “Walkable Communities” eines gemeinsam: geformt wurden. In Downtown LA ist das „[...] the street as a focus of new develop- ganz sicher der Fall. Denn die „Stadt der En- ment.“ (Rusin/Slater/Call 2013: 67) gel“ wird bereits in den 1920er-Jahren zur „Re: Street“ (MIG 2013) kennzeichnet ganz weltweit anerkannten „Stadt der Zukunft“. unterschiedliche Projekte: Etwa den Bau Nach dem Zweiten Weltkrieg werden die von Belmar, der neuen Stadtmitte von Regeln der Charta von Athen radikal an Lakewood, einer suburbanen Stadt mit gewandt. Los Angeles ist das Exerzier feld ca. 145 000 Einwohnern in der Nähe von technokratischer „Top-down“-Planung. Bun Denver, Colorado. Von 1966 bis 2001 ist desstaatliche Gesetze und Programme für die größte geschlossene Mall westlich des den Bau der Freeways und die Durchfüh
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 73 rung der Flächensanierung, der u. a. ca. 125 Down towns zum Opfer fallen, sowie zur massiven Förderung der Suburbanisierung‚ zerstören systematisch das gründerzeitliche Gefüge der Innenstadt. Ein Autobahnring löst die Mitte aus dem feinmaschigen, von Straßenbahnen und Boulevards geprägten Meilenraster und übrig bleibt ein isolierter, autogerechter „Central Business District“ (CBD) ohne Wohnen, Handwerk, Gewerbe, Handelsvielfalt, ohne Straßenleben und da- mit ohne Urbanität. (Christ 2013: 170 ff.) Ein typisches Produkt dieser Epoche ist der Broadway zwischen der 2nd Street und dem Olympic Boulevard. Heute eine sechs- spurige Verkehrsader ohne Aufenthalts- qualität, aber mit noch sichtbaren Spuren Streetscape Masterplan: Bringing back Broadway, Los Angeles einstiger Pracht und unübersehbaren Zei- Illustration: Westlake Reed Leskosky chen des Desasters der Moderne. Doch der Wiederaufbau ist besiegelt: „Bringing Angebote für die Straße als öffentlicher Back Broadway“ (BBB), unter diesen un- Raum geht (DLANC 8.11.2013). missverständlichen Motto verabschiedet Projektentwicklungen sind ohne Gruppen die Stadt im Februar 2013 einen detailliert wie „Streets for People”, „Project for Pub- ausgearbeiteten, fachlich fundierten und lic Places”, „Los Angeles Neighbourhood grafisch anschaulich illustrierten Master- Council” oder „LA Walks” kaum vorstell- plan. Ziel ist die Straße als „[...] multi-modal, bar. Die Beteiligung von Bürgerinnen und pedestrian-focused street that will support Bürgern geschieht im Rahmen von „Open a thriving, revitalized historic theatre dis- House“, „Let’s Talk“ und „Charrette“-Ver- trict.“ (LA DCP 2013a: 1–1). Es gilt, mehr anstaltungen, zu denen in der Regel die als 100 000 m² Büroleerstand zu aktivieren, Stadt einlädt (NCI 14.07.2013). So hat die den hochwertigen Einzelhandel für den auf zahlreichen Schultern ruhende „Brin- Standort zurückzugewinnen, Lager- und ging Back Broadway“-Initiative Ende 2012 Büroflächen in Lofts und Stadtwohnungen erreicht, dass die Einwohner der Down- umzuwandeln und Baulücken wieder mit town sich in einer Online-Abstimmung mit urbanen Nutzungen, vor allem Wohnen, zu überwältigender Mehrheit für den Neubau füllen. einer ca. 6 km langen Straßenbahnstrecke Los Angeles steuert die Stadtentwicklung auf den Broadway entschieden haben, ob- mit dem „Central City Community Plan“. wohl sie dafür eine Sondersteuer in Höhe von 125 Mio. $ übernehmen müssen. Eine Aufbauend auf diesem Generalplan wächst Machbarkeitsstudie prognostiziert für BBB seit 2009 ein Set an Planungs- und Gestal- einen Effekt von 1 Mrd. $ privater Investi- tungsrichtlinien, die sich stets um eine tionen, 50 Mio. $ jährlicher Steuereinnah- holistische Perspektive bemühen und pri- men und 9 000 neuen Jobs (Huizar 2013: 1). vate Investoren auf die historische Identi- tät verpflichten. Nachhaltigkeit, Urbanität Los Angeles zieht die Lehren aus dem Schei- und ästhetische Qualität sind durchgängige tern der separierenden und homogenisie- Motive. Die Integration wissenschaftlicher renden Stadtplanung. Die Stadt bündelt Beratung und zivilgesellschaftlicher Akteu- eine ganze Palette von Maßnahmen, die da- re mit dem Fokus auf Praxis ist bemerkens- rauf hinauslaufen, „complete streets“ zum wert. Beispiele sind der „Downtown Design Rückgrat der Innenentwicklung zu machen. Guide”, die „Downtown Street Standards”, Die „Streetcar“ gehört wieder dazu. Das im der „Broadway Community Design Overlay” Entstehen begriffene Straßenbahnnetz wird und der „Broadway Design District” (LA 500 km und 128 neue Bahnhofsstationen DCP 8.11.2013) oder für die benachbarte umfassen. Dafür stehen 30 Mrd. $ zur Ver- Spring Street der „2012–2013 Spring Street fügung. Parkanlagen sind ein weiterer Kon- Public Life Survey“ und die „Spring Street zeptbaustein: Mit der „50 Parks-Initiative“ Parklet Evaluation“, bei denen es um neue werden überall in der Stadt, die zwar grün
Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur 74 Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien ist, aber kaum über öffentliche Parks ver- qualität anhand dreidimensional darge- fügt, neue öffentliche Grünflächen gestal- stellter Formkörper und Formprinzipien tet. Seit 2006 sind mehr als 300 ha davon fest. Sie entwickeln ein Hierarchiesystem entstanden. Das spezielle „Downtown-gets- von „urban“ bis „rural“. Das „Transect“ ge- another-Park-Program“ konnte 2013 die nannte Instrument codiert den gebauten 16. Anlage realisieren (DLANC 12.11.2013). Raum in einem Regelwerk als Abfolge von sechs Schritten baulich-räumlicher Ver- Die Renaissance des Städtebaus wird von dichtung. FBC gliedern ein Raumgefüge, einer grundlegenden Revision des Pla- ohne von vornherein eine bestimmte Nut- nungsrechts begleitet. Die Stadt hat das zung vorzuschreiben oder auszuschließen. Recht auf ein eigenes „Baugesetzbuch”: „We Sie verknüpfen Gebäudetypologien mit der need to update the zoning code to reflect für einen Standort festgesetzten städtebau- the changes in the city, the diversity and to lichen Typologie und entwickeln ein detail- reorganize the need to have development liertes Anforderungsprofil für explizit urba- along transit corridors.” (Orlov 11.08.2013) ne Strukturen. So wird z. B. vermieden, dass Mit diesen Worten eröffnet Mayor Anto- – wie in Deutschland landauf landab üblich nio Villaraigosa am 5. Juni 2013, auf den – Discounter oder Fachmärkte im kompakt Tag genau 60 Jahre nach Inkraftsetzen des bebauten Stadtbereich ihre Gebäude als „Zoning-Codes“, einen auf fünf Jahre anbe- Solitäre in rückwärtiger Lage errichten und raumten Diskussions-, Planungs- und Ent- den dazugehörigen Großparkplatz an der scheidungsprozess, der im Internet unter Straßenfront platzieren. Denn „[...] the code www.recode.la geführt wird. Mehr als 100 (does) require private buildings to shape öffentliche Workshops und eine Reihe re- public space through the use of building nommierter Architekten, Stadtplaner und form standards with specific requirements Urbanisten begleiten das Verfahren. Die Fi- for building placement.“ (PlaceMakers xierung des Codes auf radikale Funktions- 11.08.2013) Im Mai 2013 hatten 279 ame- streuung, monofunktionale Optimierung rikanische Städte ihren „Zoning-Code“ er- und die Festschreibung von Nutzungen an- setzt. Weitere 200 Städte arbeiten daran. Zu hand numerischer Daten, wird als Teil des den Städten, die „form-based codes“ an- Problems aktueller Stadtentwicklung diag- wenden, zählen Miami, Denver, Baltimore, nostiziert. Portland und Cincinnati. „Zoning-Codes“ werden in den USA mehr Ein zweites Zwischenfazit: Formbasierte und mehr von „form-based codes“ (FBC) Stadtentwicklungs- und Bebauungspläne abgelöst: „Why form-based codes? Because sind die Antwort auf die zunehmende Aus- our current laws tend to separate whe- tauschbarkeit der Funktionen Wohnen, Ar- re we live from where we work, learn, and beiten, Freizeit, Bildung und Versorgung. shop, and insist on big, fast roads to con- Eine verträgliche Mischung ist wieder mög- nect them all. Roads that are unfriendly to lich. Die Kompatibilität mit urbanen Stand- pedestrians, cyclists, and transit.” (Duany/ orten ist in der Regel heute gegeben. Die Sorlien/Wright 2012) FBC schreiben Raum- Straße ist dann das vermittelnde analoge Smart Code: Ein typischer Schnitt von der offenen Landschaft zur Stadtmitte (Transect) Illustration: Duany Plater-Zyberk & Company
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 75 Medium. Als „Shared Space“ ist sie zudem sehbar merkantile Mitte Anlass für mehr als für alle Mobilitätsarten zugänglich. Der 500 Menschen, gerade dort zu leben. Markt verlangt in neuer Eintracht mit den Prototypisch ist auch der Entwicklungspro Zielen des „Sustainable Development“ nach zess, denn „Americana at Brand“ ist das „Mixed use Development“, „Transit oriented Ergebnis eines „Community based strate- Development“ und „Street oriented Retail“. gic planning process“, der 1992 einsetzt „Form-based codes“ sind in der Lage, die und “[a]fter years of community discussion Potenziale von Ökonomie und Technologie about the best use for the 15-acre site [...]“ in der Wissensgesellschaft in die dafür ad- in den “Town Center Specific Plan” mün- äquaten planungsrechtlichen Formen zu det. Die Stadt sucht sich einen Investor, der übersetzen: Komplexität kann wieder ge- ihre Ziele und Werte teilt und Erfahrung mit staltet werden und Planungsgrundlage ist „Mixed-Use-Projekten“ hat. „As the Califor- das Bild der Stadt. Los Angeles und andere nia Redevelopment Agency Award of Exzel- Städte in den USA sind dabei, die Grund- lence winner in the Mixed Use category, the regel moderner Architektur und Stadtpla- ,Americana at Brand’ has come to serve as nung, die dem Architekten Louis Sullivan a gathering place for residents and visitors zugeschrieben wird – Form follows Func- alike by integrating retail, restaurants, cine- tion – umzukehren in „Function follows ma, and high-end residential uses in a se- ries of mid-rise buildings.“ (SCSS 2013) Form“. „Americana at Brand“ ist ein Shoppingcen- ter, das als solches aber nicht zu erkennen 3 Stadt und Handel Großbritannien: ist. Es folgt der „Function-follows-Form- High Tech versus High Street Regel“ und ist der Prototyp einer neuen To- pologie von Stadt und Handel. „Americana“ In Großbritannien ist die Stadtwende des befindet sich auf einem etwa 7 ha großen Handels eine Erfolgsgeschichte. Ausge- Areal am Rand der Downtown von Glendale, löst wird sie 1999 vom „Final Report of einer mit Los Angeles zusammengewach- the Urban Task Force”. Unter Leitung des senen Großstadt. Der Anker ist eine 1 ha Architekten Richard Rogers – von Queen umfassende offene Mitte mit Grünfläche, Elizabeth zum Lord Rogers of Riverside Wasserspielen, Plätzen und Fußgängerzo- geadelt – entwickelt ein Expertenteam im nen. Eine Straßenbahn fährt auf und ab Auftrag der Regierung Blair ein komplettes und wird demnächst auf Kosten des Eigen- Programm „Towards an Urban Renaissance“ tümers in das Stadtzentrum von Glendale zur Rettung der britischen Innenstädte vor verlängert. 50 Läden auf 56 000 m² Fläche der Verslumung und dem drohenden Ver- gruppieren sich um „The Green“ und ent- fall. Vorbilder sind die „behutsame Stadter- lang der EG-Zonen von vier Stadtblöcken mit 342 Wohnungen. Das Ensemble aus Shops, Pavillons, Restaurants, Cafés, einem Kinopalast, Wohnungen und städtischen Büros fügt sich in eine gründerzeitlich an- mutende städtebauliche Großform ein: „New and existing public streets have been brought through the site to provide connec- tivity and seamless continuity of the urban fabric.“ (EMA 2013: 1 f.) Die schamlose Reproduktion historischer Architekturstile darf nicht darüber hinweg- täuschen, dass hinter dem Fassadenzauber ein Paradigmenwechsel steckt: Handels- architektur und Stadtarchitektur können prinzipiell gleich codiert werden! Die städ- tebauliche Komposition entspricht einem konsum-strategischen Kalkül: Handel dockt Retail-led Regeneration: Straßendurchbruch an- wieder an die (Kauf-)Kraft der reurbanisier- stelle des Arndale Centers, Manchester (UK) ten Stadt an und zugleich ist diese unüber- Foto: Wolfgang Christ
Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur 76 Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien neuerung“ der IBA Berlin, die Stadtgestal- lich sowie immobilien- und handelsöko- tung Barcelonas und der „New Urbanism“ nomisch erfolgreich Stadt gebaut. Alle drei in den USA. (DETR 1999) Standorte sind vorbildlich für die von den Autoren des Buches vorgeschlagene Typolo- Als Symbol von Niedergang und „Rebirth“ gie des Stadt-Centers. gilt Manchester. Dort hat die IRA 1996 während der Fußballeuropameisterschaft, „SouthGate“, „Cabot Circus“ und „Liver- ohne Menschen ernsthaft zu verletzen, das pool One“ würden gleichwohl heute nicht größte und wahrscheinlich hässlichste in- mehr gebaut werden können. Der Grund nerstädtische Shoppingcenter Europas, das dafür bewegt eine ganze Nation, inspiriert „Arndale Center“, in die Luft gejagt und mit eine TV-Serie der BBC zur besten abend- diesem Gewaltakt den Schlusspunkt des lichen Sendezeit, bringt Banken, Immo- „Urban-decline-Prozesses“ markiert. 20 bilienverbände, Stadtverwaltungen und Jahre später ist die City of Manchester die Einzelhändler in einer Notgemeinschaft zu- lebendige Mitte der Metropolregion. Mehr sammen und lässt die politischen Parteien als 20 000 Menschen leben dort, wo noch in nach radikalen Lösungen suchen. (Harrison den 1990er-Jahren nur wenige Hundert Ein- 15.11.2012) Zwei aktuelle Publikationen, die wohner gezählt wurden. (Christ 2005: 128) sich bewusst an eine breite Öffentlichkeit wenden, bringen die neue Herausforde- In dem Ende 2013 erschienen Buch „Stadt- rung, denen sich Stadt und Handel nicht Center: Ein neues Handelsformat für die nur in Großbritannien, sondern in ganz urbane Mitte“ (Christ/Pesch 2013), wird Europa und den USA gegenüber sehen, auf anhand der drei Städte Liverpool, Bristol den Punkt. Michael De Kare-Silver veröf- und Bath die Erfolgsgeschichte einer „[...] fentlichte 2011: „e-shock 2020. How the new vision for urban regeneration foun Digital Technology Revolution Is Changing ded on the principles of design excellence, Business and All Our Lives“. Ein Jahr spä- social well-beeing and environmental re- ter legt Bill Grimsey seine Analyse der Lage sponsibility within a viable economic and unter dem reißerischen Titel: „Sold Out. Re- legislative framework“ (DETR 1999: 1) unter tail veteran lifts the lid on who killed the dem Blickwinkel der damit einhergehen- High Street. And it’s not who you think“ vor. den integralen Entwicklung von Stadtmitte (Grimsey 2012) und Handelsmitte, untersucht. Insbeson- dere Bath mit dem Projekt „SouthGate“ und In Großbritannien ist das verfügbare Ein- Liverpool mit „Liverpool ONE“ können kommen der Bevölkerung seit 2008 um 6 % als Repräsentanten der „Function follows gesunken. 2012 schließen auch aus diesem Form-Regel“ interpretiert werden. In bei- Grund 1 800 Läden, zehnmal so viel, wie ein den Fällen wird mit einer vergleichsweise Jahr zuvor. Nationale Einzelhandelsketten großen Masse an Verkaufsfläche städtebau- verschwinden vom Markt. 15 % der Läden stehen in Großbritannien leer. Im Groß- raum London sind es weniger als 10 %, im Rest des Landes z. T. weit über 20 %. „There are now more than twice as many betting shops on British high streets as all the cine- mas, bingo halls, museums, bowling alleys, arcades, galleries and snooker halls com- bined.“ (Labour 2013: 3) Sogenannte „pay- day loan companies“ sprießen wie Pilze aus dem Boden. Sie verleihen für einen Zinssatz von mehreren 100 % kleinere Geldsummen für wenige Tage. In der Stadt Chatham sind mittlerweile 23 solcher Loan Shops in der High Street vertreten. Während die High Street ums Überleben kämpft, prosperiert der Internet-Handel. 2012 wurden 17 % des Einzelhandelsumsat- zes online erwirtschaftet. Selbst die Rettung SouthGate Place, Bath (UK) eines Warenhauskonzerns ist dem Internet Foto: Wolfgang Christ zu verdanken: Bei „John Lewis“ beträgt der
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 77 Anteil mittlerweile 25 %, mit einer Wachs- tumsrate von 40 %. Britische Einzelhandels- unternehmen haben ihre Flächenexpan- sion eingestellt, denn kein Land der Welt vereint mehr Handel im Netz als Großbri- tannien. In Deutschland waren es 2013 ca. 9 %. Für 2020 werden für Großbritannien 20 bis 25 % prognostiziert. Bill Grimsey geht davon aus, dass allein der technologische Fortschritt letztendlich dazu führen wird, dass der Online-Handel bei 50 % landen wird (Grimsey 2012: 213). Dessen Verdrän- gungsmacht wird auch Fachmarktzentren sowie kleinere und mittlere Shoppingcen- ter (secondary shopping malls) erreichen und das heißt auch: „No one gives a second thought to the fact that many of these sites are owned by pension giants such as AVIVA, Manchester Cityrand: Leerstand und Verfall 2011 Foto: Wolfgang Christ Hendersons and Standard Life, and if they keep closing at such a rate, it could have wicklung des Einzelhandels weg vom alltäg- a catastrophic affect on all our futures.“ lichen Standort Stadt. Die Zukunft gehört (Grimsey 2012: 212) den großen Lifestyle-Centern und wenigen 2011 beauftragt der Premierminister die großstädtischen Zentren mit einem kon- Einzelhandelsexpertin Mary Portas mit ei- kurrenzlosen Mehrwert an Erlebnis und nem Gutachten zur Lage der High Street. Authentizität. Nach dem Auszug des Einzel- Ende des Jahres liegt „The Portas Review“ handels sollen die Stadt- und Ortszentren vor. Es ist ihr persönliches Statement und der Zukunft die Mittelpunkte des gesell- basiert auf ihren Erfahrungen als TV-Ret- schaftlichen und sozialen Lebens sein und terin kleiner Einzelhandelsgeschäfte. Zur dies komplementär zu den sozialen Netz- besten Sendezeit in BBC 2 hilft sie in Not werken des digitalen Zeitalters: „The UK’s geratenen Händlerinnen und Händlern, High Streets have a real opportunity here ihre Situation zu analysieren, ein Business- to become the focal point for communities konzept zu entwickeln und vor laufender once again, but just in a different way. Com- Kamera den „Turn-around“ zu schaffen. munity is important and the need for it will (Portas 2011) Insgesamt 28 Empfehlungen be greater than ever in the years to come.“ sollen die High Street voranbringen. Vor- (Grimsey 2012: 219) Leerstehende Immo- geschlagen wird z. B. ein „National Market bilen und Shops sollen in Schulen, Wei- Day“, die Berufung von „Town Teams“ als terbildungseinrichtungen, Kinderkrippen, visionäres, strategisch denkendes Manage- Kunst-, Kultur- und Medienzentren und mentteam, Gesetzesänderungen zuguns- Treffpunkte für alle umgewandelt werden. ten kommunaler Entscheidungsbefugnis, Der demografische Wandel bietet die Chan- Banken sollen gezwungen werden, leer ce, das Leben alter Menschen wieder mit stehende Immobilien zu nutzen oder zu dem Alltagsleben in der Mitte der Gesell- verkaufen, Handelskonzerne sollen kleine schaft zusammenzubringen. Läden werden Läden unterstützen und „High Street Pilots“ dazugehören, aber sie werden nicht mehr sollen Best-Practice-Erfahrungen weiter- die Innenstadt prägen. Die Labour Party geben. Diese Forderung wird unmittelbar fordert: „Due to the rise of well managed umgesetzt und an einem nationalen Aus- shopping centers and the competition from scheidungswettbewerb nehmen 371 Städte the internet, high streets and town centers teil, von denen erst zwölf und dann noch must be places people want to spend time if einmal 15, als „The Portas Pilots“ staatliche they are to survive.“ (Labour 2013: 4) Förderung für innovative Projekte erhalten. 2012 wird das „Future High Streets Forum“ (Portas 10.08.2012) gegründet. Ihm gehören alle relevanten Bill Grimseys Buch ist eine Antwort auf staatlichen, kommunalen, zivilgesellschaft- Mary Portas Rettungsversuche. Er diagnos lichen sowie handels- und immobilienöko- ti ziert eine nicht mehr umkehrbare Ent- nomischen Akteure an (Crown 23.10.2013).
Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur 78 Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien Das Forum soll die Regierung Großbritan- Herzen der europäischen Stadt operiert. niens wie einst die „Urban Task Force“ in Der Ausgang ist ungewiss. Fest steht allein, einer offensichtlich dramatisch empfun- dass die Stadtzentren der Zukunft nicht denen Lage beraten und Lösungswege auf- mehr viel gemein haben werden mit denen, zeigen. In Großbritannien wird am offenen die wir noch besitzen.
Informationen zur Raumentwicklung Heft 1.2014 79 Literatur Anderson, Rob, 2013: Drivers for Town Centers. Urban DLANC – Los Angeles Neighborhood Council (Hrsg.), Land, 2010 (3), S. 69–71. 2013: Complete Streets for Downtown Los Angeles. Zugriff: http://completestreets.dlanc.com [abgeru- Baumann, Zygmunt, 2009: Leben als Konsum. Ham- fen am 08.11.2013]. burg. Duany, Andres; Sorlien, Sandy; Wright, William (Hrsg.), Bölling, Lars; Christ, Wolfgang, 2006: Bilder einer Zwi- 2012: SmartCode and Manual. Miami. schenstadt. Ikonografie und Szenografie eines Ur- banisierungsprozesses. Wuppertal. EMA – Elkus Manfredi Architects, 2013: The Americana at Brand. Zugriff: http://www.elkus-manfredi.com Bradbury, Ray (Hrsg.), 1999: You Are Here. The Jerde [abgerufen am 13.05.2013]. Partnership International. London. Enlow, Clair, 2013: Thinking Beyond the 3BR, 2BA. Ur- BUW – Bauhaus-Universität Weimar, CPP – California ban Land, 2013 (3), S. 88–92. 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