Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
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Editorial Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren Der Themenschwerpunkt in der Des Weiteren wollen wir ein Update mich, Sie auf die „interdisziplinäre Ar- aktuellen Ausgabe von Trillium Krebs- zum Stand empfehlenswerter Deeskala- beitsgruppe Kopf-Hals-Tumoren der medizin stellt Ihnen eine Auswahl an tions-Ansätze in der Therapie des HPV- Deutschen Krebsgesellschaft (IAG-KHT) neuen und spannenden Entwicklungen 16-positiven Oropharynxkarzinoms ge- aufmerksam machen zu dürfen. in der Kopf-Hals-Onkologie vor, die aus ben bzw. diskutieren, ob die aktuelle Die Gruppe führt zweimal im Jahr der Feder von Experten aus der HNO- Datenlage überhaupt eine Deeskalations- Symposien durch. Näheres ist über die Heilkunde, Strahlentherapie und Onko- empfehlung erlaubt. Die zunehmende DKG-Homepage der IAG-KHT zu erfah- logie des Universitätsklinikums Leipzig Diversifizierung molekularpathologi- ren. Aktuell empfiehlt die Arbeitsgruppe stammen. Die Autoren sind über das scher Diagnostik rückt auch die Kopf- 13 Studien, die teilweise noch für teilnah- Universitäre Krebszentrum der Universi- Hals-Tumoren zunehmend in den Fokus mewillige Zentren offen sind. tät Leipzig (UCCL) in engem klinischen des molekularen Tumorboards und führ- Nähere Informationen finden Sie un- und wissenschaftlichen Austausch ver- te zu ersten klinisch relevanten driving ter: https://www.krebsgesellschaft.de/ bunden und arbeiten insbesondere eng mutations. Nach den Ausführungen von deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/deut- unter dem Siegel eines zertifizierten Kopf- Florian Lordick und Ulrich Hacker wird sche-krebsgesellschaft/ueber-uns/organi- Hals-Tumorzentrum der Deutschen ersichtlich, dass eine wachsende Zahl teils sation/sektion-b-arbeitsgemeinschaften/ Krebsgesellschaft (DKG) zusammen. Die sehr effektiver, molekular zielgerichteter iag-kht.html Zusammenstellung soll wichtige Aspekte Therapien für Krebserkrankungen dieser Ich wünsche Ihnen großes Lesever- der Immunonkologie, der adjuvanten Region existieren. gnügen und hoffe, dass Sie wertvollen und primären Radiochemotherapie und Schließlich nutzen wir in zunehmen- Nutzen aus den Beiträgen für Ihre klini- die immer relevanter werdende Patien- dem Maße im Rahmen der Digitalisie- sche Arbeit ziehen können. Freue mich tenperspektive (PRO: patient reported rung die Methoden der künstlichen In- auch, Sie demnächst bei der IAG-KHT outcome) in der täglichen Behandlung telligenz und treiben Entwicklungen auch begrüßen zu dürfen. und in klinischen Studien adressieren. bei der Thereapieentscheidung voran. Susanne Wiegand gibt einen Über- Lassen Sie sich von Matthäus Stöhr über und Ausblick zu dem Einsatz der Check- die Entwicklung und gleichsam die point-Inhibitoren bei den Plattenepithel- Vision eines „digitalen Patientenmodells“ karzinomen des Kopf-Hals-Bereichs. am Innovationszentrum für Computer Thomas Kuhnt, Claudia Pohlenz und assistierte Medizin in Leipzig (ICCAS) Andreas Dietz Peter Hambsch äußern sich zu dem aktu- begeistern. ellen Einsatz von Cisplatin in Kombina- Sollte Sie diese kleine Auswahl ange- tion zur Strahlentherapie auf Basis der sprochen haben und wollen Sie sich mehr aktuellen Studienlage. Veit Zebralla be- im Themenfeld der interdisziplinären richtet über den zunehmenden Einsatz Kopf-Hals-Onkologie informieren oder von PROs auch auf Basis eigener Studien. gar an Studien aktiv teilnehmen, freue ich Trillium Krebsmedizin 2021; 30(2) 187
Schwerpunkt Das digitale Patientenmodell: Unterstützung zur besseren Entscheidungs- findung im Kopf-Hals-Tumorboard Matthäus Stöhr, Alexander Oeser, Jan Gaebel, Andreas Dietz Die zunehmende Komplexität der Behandlung onkologischer Erkrankungen durch Fortschritte in der Diagnostik sowie durch individualisierte Therapien erfordert neue, umfassende Techniken zur Entscheidungsunterstützung. Neben molekularen Tumorboards, die bei verschiedenen Tumorentitäten molekularpathologische Signaturen bewerten, halten auch unter- stützende Verfahren mit Künstlicher Intelligenz Einzug in Forschung und Praxis. Dazu gehören digitale Patientenmodelle, welche die Sammlung, Strukturierung und Auswertung von Informationen optimieren und auf diese Weise Entscheidungs- prozesse in Tumorboards unterstützen. So wurde für das Larynxkarzinom ein klinisches Entscheidungsunterstützungs-System – basierend auf Bayes'schen Netzwerken – entwickelt und verschiedene Teile validiert. Zusätzlich wurden weitere Modelle erarbeitet, z. B. für das Oropharynxkazinom. Zukünftig soll Künstliche Intelligenz, u. a. in Form digitaler Patientenmodelle, die klinische Entscheidungsfindung unterstützen. Schlüsselwörter: Künstliche Intelligenz, digitale Patientenmodelle, Larynxkarzinom, Therapieentscheidungsunterstützung, Tumorboard Einführung klinische Entscheidungsfindung auf- die molekularpathologisch unterstützte grund der steigenden und immer kom- Krebsbehandlung verbessern [1]. Heutzutage ist Künstliche Intelligenz plexeren Informationsparameter schwie- Klinische Entscheidungsunterstüt- (KI) in vielfältiger Form in unser tägli- riger. Auch begrenzte personelle Ressour- zungssysteme (CDSS) auf der Basis von ches Leben integriert, sodass jeder täglich cen und mangelnde Zeit sowie der multi- KI können solch komplexe Entschei- damit konfrontiert wird. Als Beispiele disziplinäre Charakter der Entschei- dungsprozesse unterstützen [2, 3]. Ob- seien hier persönliche Assistenten wie dungsfindung tragen dazu bei, dass eine wohl CDSS viele Vorteile haben, errei- Google-Assistant, Siri oder Alexa, auto- Unterstützung des Prozesses der Infor- chen die meisten Systeme eine klinische matisierter Massentransport oder Com- mationssammlung und -analyse hilf- Integration nicht [4]. puterspiele genannt. reich ist. In diesem Artikel wird neben allge- Das medizinische Wissen nimmt be- Multidisziplinäre molekulare Tumor- meinen Betrachtungen zur Anwendung sonders in der Onkologie kontinuierlich boards (MTBs) werden zunehmend eta- von KI in der Medizin die Idee digitaler zu und ermöglicht Fortschritte in Dia- bliert, um das schnell wachsende Wissen Patientenmodelle (DPM) exemplarisch gnostik und Therapie und unterstützt und molekularpathologische Potential in anhand der Entwicklung eines Systems somit zunehmend eine individualisierte der Tumortherapie in die klinische Praxis zur Therapieentscheidungs-Unterstüt- Medizin. Als Folge davon wird für eine zu integrieren. Nachweislich kann der zung der multidisziplinären Entschei- höhere Anzahl von Patienten mit ma- Zugang zu einem MTB und deren klini- dungsfindung des Kopf-Hals-Tumor- lignen Kopf-Hals-Tumoren (KHT) die sche Anwendung die Ergebnisse durch boards (KH-TB) vorgestellt. 228 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt Notwendigkeit der dungsqualität signifikant zu beeinträch- Die Entscheidungen bzw. Therapie- Therapieentscheidungs- tigen. Bei über 40 Informationseinheiten empfehlungen basieren auf dem Wissen unterstützung nimmt die Entscheidungsqualität jedoch der Teilnehmer bezüglich Leitlinien und aufgrund von Fehlern ab, die durch feh- klinischer Studien sowie ihrer klinischen Der Begriff KI existiert seit 65 Jahren. lerhafte Priorisierung zu erklären sind. Erfahrung [8]. Die meisten klinischen Seitdem ist die Rechenleistung stetig ge- Dies führt naturgemäß zur Anwendung Leitlinien (z. B. der Arbeitsgemeinschaft wachsen, sodass heute neue Daten an- heuristischer Methoden bei den Entschei- der Wissenschaftlichen Medizinischen hand von zuvor bewerteten Daten in dungsprozessen [6]. Fachgesellschaften e. V. (AWMF) oder Echtzeit ausgewertet werden können. In Beispielhaft sei hier die retrospektive des US-amerikanischen National Com- jüngerer Zeit wurden viele Methoden der Analyse der Entscheidungen des KH-TB prehensive Cancer Network (NCCN) KI in die Medizin integriert, wodurch am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) ermöglichen in der Regel mehrere Thera- eine höhere Genauigkeit erreicht und angeführt. Bei Auswertung der Larynx- pieoptionen ohne eindeutige Favorisie- Prozesse beschleunigt werden, um so die karzinomfälle waren durchschnittlich 85 rung. Dennoch ist das Ziel, im Tumor- Patientenversorgung zu verbessern. Ra- Informationseinheiten verfügbar, wobei board eine für das Individuum optimale diologische Bilder, Pathologie-Objektträ- die Gesamtzahl der Informationseinhei- Behandlungsempfehlung – nach Mög- ger und elektronische Patientenakten ten zwischen 75 und 158 lag. Auch sind lichkeit im Konsens – auszusprechen [9]. werden durch maschinelles Lernen aus- nicht in jeder Fallanmeldung sämtliche Die offene Diskussion eines Falles soll gewertet, um den Prozess der Diagnose relevanten Daten in der Fallpräsentation nach Möglichkeit in einer einstimmigen und Behandlung von Patienten zu unter- erfasst oder abrufbar, sodass ein Teil der Entscheidung münden, die protokolliert stützen und die Fähigkeiten der Ärzte zu Entscheidungen vertagt werden muss [7]. wird. Dieser Prozess der Entscheidungs- erweitern [5]. Dennoch ist es wichtig Die Motivation für die Anwendung von findung unter Berücksichtigung der Pa- festzuhalten, dass – entgegen der landläu- KI zur Entscheidungsunterstützung be- tienten-spezifischen Gegebenheiten und figen Meinung – die Rolle des Arztes als steht weiterhin darin, dass selbst im vorhandenen Informationen wird als Mensch durch die Anwendung von KI in hochspezialisierten KH-TB einzelne Pa- klinische Urteilsbildung bezeichnet [10]. der Medizin nicht beseitigt wird. Ganz im tientenfälle so komplex sein können, dass Abb. 1 visualisiert die Verknüpfung von Gegenteil: Durch KI erweiterte medizini- es für manche Teilnehmer schwierig sein Diagnostik, Therapieentscheidung im sche Systeme helfen, die klinischen Ab- kann, einen Fall komplett zu verarbeiten. Tumorboard und daraus resultierender läufe zu verbessern, sorgen für mehr Si- Außerdem ist die Anwesenheit der sach- Therapie sowie die Interaktion mit der cherheit und Konsistenz und tragen dazu kundigsten und erfahrensten Experten unterstützenden Patientenmodellierung. bei, fundierte Entscheidungen zu treffen, durch terminliche Einschränkungen die auf quantitativem Wissen basieren. nicht immer garantiert. Methodische Ansätze für Der Mensch hat hinsichtlich der zeit- klinische Entscheidungs- gleichen Verarbeitung großer Informati- Der Therapie- unterstützung onsmengen natürliche kognitive Limita- entscheidungsprozess tionen. In der Folge werden die Informa- Der allgemeine medizinische Ausbil- tionen intuitiv ausgewählt und gewichtet. In der klinischen Praxis erfordern dungsstand kann mit dem Innovati- Experimente haben gezeigt, dass ein In- Therapieentscheidungen in der Onkolo- onstempo der Wissenschaft kaum mit- dividuum in der Lage ist, Entscheidungen gie allgemein – und damit eingeschlossen halten. Für eine umfangreiche individu- mit Berücksichtigung von bis zu 20 Infor- in der Kopf-Hals-Onkologie – multi- elle quantitative Analyse von Risiko- und mationseinheiten zu treffen. Darüber disziplinäre Expertentreffen (Tumor- Therapie-beeinflussenden Faktoren wer- hinaus erfordert das Vorhandensein von boards) [4]. Die Teilnehmer sind Spezia- den Multisequenzierungsdaten in soge- bis zu 40 Informationseinheiten eine in- listen aus verschiedenen Bereichen der nannten MTBs besprochen. Aufgrund tuitive Priorisierung der gegebenen Infor- Diagnostik und Therapie, die einen Bezug des schnellen technischen Fortschritts, mationen, ohne jedoch die Entschei- zu der jeweiligen Tumorentität haben. der stark sinkenden Sequenzierungskos- Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3) 229
Schwerpunkt weniger geeignet und abhängig von den jeweils verfügbaren Datenquellen [2, 13]. Methoden basierend auf neuronalen Netzwerken ermöglichen beispielsweise schnelles Lernen aus großen und struk- turierten Datenquellen. Allerdings ist die mangelnde Transparenz des Schlussfol- gerungsprozesses (Reasoning) zwischen Eingabevariablen und den ausgegebenen Ergebnissen einschränkend, da die Algo- rithmen normalerweise eine „Blackbox“ für den Benutzer sind. Außerdem sind insbesondere bei diversifizierter und ein- geschränkter Datenmenge Grenzen bei der Aussagefähigkeit der Berechnungen gesetzt [11]. Als bekanntes Beispiel sei an dieser Stelle das Projekt Watson von IBM er- wähnt, das trotz großen finanziellen, technischen und personellen Aufwands insgesamt eher ernüchternde Ergebnisse vorzuweisen hat [14]. Der methodische Ansatz probabilis- tischer graphischer Modelle erlaubt me- thodisch eine transparente und reprodu- Abb. 1 Darstellung der digitalen Verknüpfung von Diagnostik, Therapieentscheidungsprozess und zierbare Datenanalyse, die für den Men- Therapie, sowie Begleitung des Prozesses durch das digitale Patientenmodell. Quelle: ICCAS Annual Report 2020, S. 19, https://www.iccas.de/iccas-jahresbericht-2020-veroeffentlicht/. schen nachvollziehbar und korrigierbar ist. Mit zunehmender Komplexität erfor- ten und der ständig steigenden Anzahl nicht-akademischen Krankenhäuser Zu- dert dieser Ansatz aber mindestens eine gezielter Therapien ist zu erwarten, dass gang zu einem MTB [1]. Dennoch werden halbautomatische Modellierung mit ent- bald eine umfassende Tumorsequenzie- die Kapazitäten nicht nur dort, sondern sprechender informationstechnolo- rung wie die Sequenzierung des gesamten auch hierzulande stetig ausgebaut. Die gischer Unterstützung. Für Art und Um- Exoms und des gesamten Genoms auch MTBs spielen damit eine zunehmend fang der Entscheidungsunterstützung im in der Standardversorgung angewendet größere Rolle in der klinischen Versor- klinischen Kontext bietet sich die Anwen- wird. Kliniker werden daher mit immer gung innerhalb der hochkomplexen dung sogenannter Bayes'scher Netzwerke komplexeren genetischen Informationen onkologischen Therapie. Diese Prozesse (BN) an [15]. und mehreren Testplattformen konfron- werden als ein zentraler Bestandteil in die Mithilfe der BN ist es möglich, die tiert, aus denen sie auswählen können. CDSS eingebunden. multidisziplinären Entscheidungsprozes- Gemäß einer Umfrage unter nieder- Für CDSS können verschiedene KI- se abzubilden und bei der Informations- ländischen Krankenhäusern, die interna- Methoden angewendet werden; die meis- sammlung, -überprüfung und den daraus tional für die gut strukturierte Zentrums- ten basieren auf neuronalen Netzen oder abgeleiteten Empfehlungen patienten- medizin bekannt sind, hatten aktuellen auf probabilistischen Graphen-Modellen spezifischer Therapien potentielle Unter- Zahlen aus 2018 zufolge weniger als [11, 12]. Diese Methoden sind je nach stützung zu leisten [7, 16]. 50 % der Krankenhäuser und nur 5 % der konkretem Anwendungsfall mehr oder 230 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt Anwendung von Modellanwendungen haben das Potenti- wurde die open access Software GeNIe in Bayes'schen Netzen al von BN zur Unterstützung von Thera- der Version 2.0 verwendet. Im Allgemei- pieentscheidungen gezeigt, sowohl im nen ermöglicht GeNIe neben der graphi- Die Modellierung komplexer Ent- nicht-onkologischen [19] als auch im schen und probabilistischen Modellie- scheidungsprozesse erfordert ein genaues onkologischen Bereich. In der Arbeits- rung auch eine qualitative und quantita- Abwägen bezüglich des Grades der Gra- gruppe von van der Gaag wurde bei- tive Validierung sowie eine Modellana- nularität des Modells. Es muss ein prak- spielsweise ein Entscheidungshilfesystem lyse. Grundsätzlich ist das Programm tikabler Kompromiss zwischen einem zur Diagnose von Speiseröhrenkrebs auf nicht speziell für umfangreiche medizi- sehr einfachen, aber damit wenig aussa- der Grundlage eines BN konstruiert [20]. nische Modelle entwickelt. Die Verwen- gekräftigen, und einem sehr detaillierten, Aussem et al. konstruierten ein BN-Mo- dung im medizinischen Kontext erfordert aber damit nicht mehr modellier- und dell für die Diagnostik des Nasopharynx- daher einige Grundlagen im Verständnis berechenbaren Modell erfolgen [17]. karzinoms und konnten eine korrekte von graphischer Modellierung, Probabi- Daher werden entsprechende Model- Berechnung der Klassifizierung aus Pri- listik und der Anwendung von BN. Durch le zunächst mit einer höheren Granulari- märdaten von 66 % erreichen [21]. Eine dieses notwendige Verständnis ist die tät modelliert und in einem zweiten weitere Gruppe erstellte ein Modell, um Umsetzung des Modellierungsprozesses Schritt auf die relevantesten Variablen den Nutzen einer adjuvanten Strahlen- für Mediziner sehr kompliziert und eingeschränkt. Dieses Vorgehen ergibt therapie bei Patienten mit Mundhöhlen- macht eine längere Einarbeitung sowie sich auch durch die begrenzte Verfügbar- karzinom vorherzusagen [22]. technologische Unterstützung erforder- keit einschlägiger Daten, die für eine lich. Entsprechend wurden im Rahmen vollautomatische, rein datengetriebene Entscheidungsunterstützende des DPM-Projektes unter Verwendung Deduktion der Wahrscheinlichkeiten aus Systeme auf Basis von GeNIe als Basis verschiedene Web- den Primärdaten angemessen notwendig Bayes'scher Netzwerke: Tools entwickelt und in den Prozess inte- wären [18]. griert. Diese Werkzeuge unterstützen die Ein kausales BN verbindet Informati- der Modellierungsprozess Modellierung und die Modellvalidierung. onseinheiten durch kausale Abhängigkei- Zur Modellierung klinischer Ent- Für die Entwicklung eines entschei- ten. Jede Variable wird durch eine be- scheidungsmodelle auf der Basis von BN dungsunterstützenden Systems auf Basis dingte Wahrschein- lichkeitstabelle defi- niert, die auf Basis der zugrunde liegenden Graphenstruktur die Wahrscheinlichkeit verschiedener Kon- stellationen berechnet (Abb. 2). Durch Einga- be spezifischer Daten kann so die Wahr- scheinlichkeit für alle nicht beobachteten Variablen des Netz- werks (z. B. N-Stadi- um, optimale Therapie etc.) berechnet wer- Abb. 2 Screenshot eines Teils des Larynxkarzinom-Modells in der Software GeNIe 2.0 mit entsprechenden Einflussparametern auf den. Verschiedene das T-Stadium sowie dessen probabilistische Berechnung aus Primärinformationen. Quelle: Autoren. Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3) 231
Schwerpunkt von BN sind insbesondere im Prozess der Modellierung und Modellvalidierung schiedenen Kombinationen durch Ver- Modellierung und Validierung techni- entwickelt und geprüft. Schließlich wurde schieben einer Leiste die Wahrscheinlich- sche Werkzeuge zur Unterstützung der durch eine graphische Benutzeroberflä- keiten in Form von Prozentwerten hin- Kliniker notwendig. Für den Modellie- che eine benutzerorientierte Visualisie- terlegt (Abb. 3). Durch Integration einer rungsprozess von klinischen BN existie- rung entwickelt und ein Teilmodell im Vorabfrage von dominanten Einflusspa- ren bisher nur wenige Regeln, die dem klinischen Anwendungsfall getestet. rametern konnte der zeitliche Modellie- Modellierer mehr Flexibilität bieten, das Zur Integration der bedingten Wahr- rungsaufwand drastisch reduziert wer- gewünschte CDSS zu implementieren scheinlichkeitstabellen (engl. conditional den [23]. In der Validierungsanalyse eines [18]. Andererseits können Modelle ohne probability tables, CPT) konnte auf Vor- Teilmodells zur Ermittlung des TNM- Unterstützung des Modellierungsprozes- arbeiten einer papierbasierten Methode Stadiums konnten die über 70.000 beur- ses schnell inkonsistent, übermäßig kom- zurückgegriffen werden, welche die Er- teilten Wahrscheinlichkeitsparameter plex oder für andere potentielle Benutzer stellung der CPTs anhand eines Fragebo- innerhalb von sechs Zeitstunden erfasst nicht interpretierbar werden. Daher sind gens in natürlicher Sprache speziell im werden. Über entsprechende Schnittstel- Modelle im Vergleich zur Komplexität klinischen Kontext beschreibt [20]. Dieser len ermöglicht das CPT-Tool das Herun- einer Entscheidung relativ klein und Fragebogen ermöglicht den klinischen ter- und Hochladen der neuen Informa- werden häufig nur von den Modellierern Experten eine unabhängige und intuitive tionen in die Software GeNIe. Dieser selbst oder beteiligten Experten verwen- Integration der Wahrscheinlichkeitswer- wichtige Schritt ist essentieller Bestand- det. Diese Einschränkungen reduzieren te. Weiterhin erlaubt dieser Ansatz den teil des Modellierungsvorgangs und er- sowohl die Flexibilität als auch die indi- medizinischen Experten, ein Modell oh- laubt ein funktionierendes CDSS [24]. viduelle Voreingenommenheit anderer ne unmittelbare Unterstützung von Wis- Für die Modellvalidierung haben wir Kliniker, die nicht in den Modellierungs- sensingenieuren zu erstellen. Auf Basis einen Validierungs- und Optimierungs- prozess eingebunden sind. Durch geeig- dieses Ansatzes wurde in unserer Ar- Workflow etabliert [16]. Dieser beschreibt nete Unterstützungswerkzeuge des Mo- beitsgruppe ein dynamisches Web-Tool einen Prozess zum Validieren und Än- dellierungsprozesses sollen perspekti- implementiert. Zur Identifizierung der dern eines Modells in standardisierter visch eine multidisziplinäre Modellie- Einflussparameter werden in den ver- Reihenfolge, um die Möglichkeit einer rung ermöglicht und das Modellver- ständnis maximiert werden, um so die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern. Initial wurde durch Entwicklung ei- ner Modell-Metastruktur für medizini- sche Entscheidungsmodelle eine gewisse Standardisierung erreicht, um konsisten- te und erweiterbare Modelle zu gewähr- leisten. Das Problem des Erstellens der umfangreichen Wahrscheinlichkeitsta- bellen mit teilweise über 100.000 Parame- tern konnte durch Weiterentwicklung der bestehenden papierbasierten Modellie- rungsmethode [20] und Implementierung in ein dynamisches Webbrowser-basier- tes Tool gelöst werden – vor allem im Abb. 3 Screenshot des webbasierten Tools zur Bestimmung der bedingten Wahrscheinlichkeiten der Hinblick auf eine erhebliche Zeiterspar- ausgewählten Informationseinheit (in diesem Fall N-Stadium). Die Wahrscheinlichkeitstabellen werden aus den eingestellten Werten (durch Verschieben der grauen Kästchen mit dem Prozentwert auf dem nis. Weiterhin wurden Workflows zur Balken) für die gleichzeitige Berechnung in GeNIe 2.0 im Hintergrund berechnet. Quelle: Autoren. 232 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt fehlerhaften daten- oder benutzerspezi- Zu den entscheidenden Informationen angelehnt. Details zu bestimmten Behand- fischen Modellanpassung zu verringern. gehören neben dem Tumorstadium nach lungsverfahren (z. B. genaue Bestrahlungs- Im Workflow werden insbesondere drei TNM auch der Allgemeinzustand eines planung, spezielle chirurgische Techniken iterative Schritte berücksichtigt: Patienten, Komorbiditäten, bestimmte etc.) wurden im aktuellen Stadium der • die quantitative Validierung, molekularpathologische Faktoren, poten- Modellierung nicht berücksichtigt. Dies- • die qualitative Validierung und tielle Risiken und Komplikationen von bezügliche spezifische Prozesse sowie dia- • die Modellmodifikation. Therapien sowie Aspekte der Funktiona- gnostische und therapeutische Aspekte Gegenwärtig sind diese Schritte der lität und Lebensqualität. Schlussendlich sollen in späteren Modellen abgebildet Modellvalidierung nur in Zusammenar- werden die Therapieempfehlungen aus werden – mit der Option einer Anbindung beit mit einem Wissensingenieur mög- dem KH-TB mit dem Patienten be- an bereits bestehende Modelle. lich, da die Optimierung des Modells in sprochen. der Software GeNIe realisiert werden Als Teil des DPM „Larynxkarzinom" muss [16]. In Zukunft soll ein halbauto- Die Modellierung des Larynxkarzi- wurde zuerst das TNM-Staging-Subnetz- matischer Ansatz auf Grundlage standar- nom-Modells in der Arbeitsgruppe nahm werk modelliert und in der Folge validiert. disierter Fragebögen ähnlich wie bei der ca. drei Jahre in Anspruch. Neben der Dieses Teilmodell besteht aus 303 Varia- Primärmodellierung Anwendung finden. klinischen Erfahrung wurden verschiede- blen mit 334 Abhängigkeiten und knapp ne Quellen in den Modellierungsprozess 80.000 zu bewertenden Wahrscheinlich- Das digitale Patientenmodell einbezogen, darunter medizinische Fach- keits-Kombinationen [16]. Das TNM-Sub- „Larynxkarzinom“ literatur und einschlägige klinische Leitli- modell erwies sich als ideal für die kon- nien sowie eine Analyse der Entscheidun- trollierte probabilistische Modellierung Als Anwendungsbeispiel für die Kon- gen des lokalen KH-TB. In der Arbeits- und Validierung, da die meisten Parame- struktion eines DPM auf der Basis von BN gruppe wurde kontinuierlich am Modell ter in der TNM-Klassifikation [27] klar wurde das Larynxkarzinom als gut cha- gearbeitet, dieses erweitert und neue Teil- definiert sind, ausreichend Umfang und rakterisierter und häufiger KHT ausge- netzwerke erstellt und überprüft. Binnen Komplexität bieten und zusätzlich einen wählt. Ein Larynxkarzinom wird jährlich drei Jahren wuchs die Graphik im ersten großen Einfluss auf die Therapieentschei- weltweit bei über 180.000 und hierzulande Jahr auf knapp 600, im zweiten auf ca. 800 dungen haben. bei ca. 3.600 Patienten diagnostiziert. Das und schließlich auf über 1.000 Variablen. Für die Modellvalidierung wurde ein Fünf-Jahres-Überleben liegt in Deutsch- Das DPM „Larynxkarzinom“ besteht Validierungs- und Änderungsworkflow land über alle Tumorstadien hinweg bei nun aus 1.020 Variablen mit 1.362 Abhän- etabliert [16]. Die initiale Modellgenauig- knapp über 60 % [25, 26]. Das Staging wird gigkeiten und über 1,38 Millionen Wahr- keit der korrekten Berechnung des TNM- primär durch die TNM-Klassifikation scheinlichkeits-Kombinationen; es ist da- Stadiums aus Primärdaten von 66 Larynx- beschrieben, bei der die Größe des Primär- mit das umfangreichste lesbare klinische karzinompatienten betrug 76 % im Ver- tumors (T), der Befall lokoregionärer Entscheidungsmodell auf der Basis von gleich zur klinischen Dokumentation des Lymphknoten (N) und Fernmetastasen BN. Trotz des Umfangs bleibt das Modell TNM-Stadiums im KH-TB. Durch detail- (M) beschrieben werden; Parameter, die berechenbar. lierte Analyse der Abweichungen konnten mit der Prognose korrelieren [27]. Für die Abb. 4 zeigt das graphische Modell mit vier Probleme für falsche Vorhersagen betroffenen Patienten hat das (Langzeit-) hervorgehobenen Gruppen von Variablen, identifiziert werden: Überleben Priorität, aber Aspekte der Le- die die primäre Tumorspezifikation, • falsche Befunde, bensqualität einschließlich funktioneller, TNM-Staging, Komorbiditäten, moleku- • unvollständige Befunde (d. h. fehlen- sozialer und psychologischer Aspekte ge- larpathologische Faktoren, Therapieopti- de Informationen über unauffällige winnen zunehmend an Bedeutung. onen sowie mögliche Komplikationen und Befunde wie nicht infiltrierte Struk- Wie eingangs erwähnt, werden die Aspekte der Lebensqualität charakterisie- turen), Therapieoptionen im KH-TB von Exper- ren. Der Umfang des Modells ist an den • ungenaue Befunde (d. h. fehlende ten aller relevanten Disziplinen diskutiert. Prozess der Entscheidungen im KH-TB Trennschärfe in den Daten) und Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3) 233
Schwerpunkt • ein fehlerhaftes Modell (d. h. Fehler Datenqualität und damit Transparenz knüpfungen zwischen den Ebenen reali- in der Modellstruktur oder den sorgen zu können. Durch die erfolgreiche siert wird. Weiterhin können Ur- CPTs wie fehlende Variablen oder Validierung des Submodells kann nun die sache-Wirkungs-Beziehungen auch als falsche Parameter). Umsetzung in weiteren Teilen des Mo- Zeitachse betrachtet werden. Die Umset- Die detektierten Probleme im Model- dells erfolgen. Allerdings ist in diesem zung dieses Konzepts ist gegenwärtig in lierungsprozess wurden schrittweise mit Prozess aufgrund der höheren Unsicher- Arbeit und bedarf noch weiterer Schritte jeweiliger Kontrolle behoben und auf heit eine geringere Genauigkeit zu er- der Optimierung sowie späterer Vali- Plausibilität geprüft, um eine Verzerrung warten. dierung. durch die Modifizierungen zu reduzieren. Durch die vielschichtigen Einfluss- Die Genauigkeit konnte so schrittweise möglichkeiten diverser Parameter nicht Fazit und Ausblick von 76 % nach Korrektur aller o. g. Prob- nur auf ein Krankheitsbild – wie in unse- lemfelder bis auf 100 % erhöht werden. rem Fall das Larynxkarzinom – ist für die Verschiedene Anwendungen von KI Damit zeigte sich auch, dass der größte Weiterentwicklung der digitalen Patien- sind bereits in der Medizin in Gebrauch. Anteil für die Optimierung der Genauig- tenmodelle neben einer standardisierten Dies betrifft vor allem die Diagnostikbe- keit durch Anpassung bzw. Korrektur der Grundstruktur auch die ineinandergrei- reiche mit Auswertung komplexer Daten Datenqualität erreicht werden konnte fende Verknüpfung verschiedener Model- durch entsprechende Algorithmen. Das und nur ein Anteil von 3 % auf Unzuläng- le von Bedeutung. Diesem soll durch ein wachsende Wissen führt auch im Thera- lichkeiten des Modells zurückzuführen modulares System der verschiedenen pieentscheidungs-Prozess zu steigenden war [16]. krankheitsspezifischen Modelle in einem Herausforderungen, sodass mit dem Diese Ergebnisse unterstützen die sogenannten Multi-Entitäten-BN erfol- Konzept der DPM auch diese wichtige Ansicht, durch die Integration entspre- gen [15], in dem eine geordnete Bezie- klinische Arbeit zur Verbesserung von chender CDSS für eine Kontrolle der hung der einzelnen Ebenen durch Ver- Transparenz und Nachvollziehbarkeit einer Unterstützung be- darf. Beispielhaft konn- ten wir zeigen, dass das DPM „Larynxkarzi- nom" die relevanten In- formationen eines mul- tidisziplinären Exper- tenteams für die Evalua- tion der Therapieoptio- nen integriert und damit die erfolgreiche Model- lierung eines komplexen klinischen Anwen- dungsbeispiels bestätigt. Zentraler Punkt des Mo- dells ist die Unterstüt- zung der Therapieent- scheidung, wenngleich auch weitere Aspekte, z. B. die Lebensqualität, integriert wurden. Teile Abb. 4 Übersicht über das gesamte Modell Larynxkarzinom mit Markierung der Submodelle. Quelle: Autoren. des Modells wurden er- 234 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt folgreich validiert. Nach vollständiger Literatur land für 2015/2016. Gemeinsame Publikation des Zentrums für Krebsregisterdaten und der Gesellschaft 1. Van der Velden DL et al. Molecular Tumor Boards: der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland Entwicklung und Validierung soll der current practice and future needs. Ann Oncol 2017; 28: e.V., 12. Ausgabe vom 17.08.2020: 57-60. 3070-75. 27. Wittekind C (Hrsg.).: TNM: Klassifikation maligner Ansatz auf andere Krankheiten ausge- 2. Kohn LT et al. To err is human: building a safer health Tumoren. 8. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2017. system, volume 6, National Academies Press, 2000. dehnt werden. Die entwickelten Metho- 3. Berner ES. Clinical Decision Support Systems: State den und Werkzeuge ermöglichen einen of the Art. Agency for Healthcare Research and Quality, 2016. optimierten Modellierungsprozess. Ide- 4. Patkar V et al. Cancer multidisciplinary team meetings: Evidence, challenges, and the role of clinical alerweise wird künftig durch eine All-in- decision support technology. Int J Breast Cancer 2011; 2011: 831605. One-Präsentation der Webplattform für 5. Mintz Y, Brodie R. Introduction to artificial intelli- gence in medicine. Minim Invasive Ther Allied Technol. den Kliniker eine geführte Modellierung 2019; 28: 73-81. Dr. med. Matthäus Stöhr und Validierung in Zusammenarbeit mit 6. Heuer RJ Jr. Psychology of Intelligence Analysis. HNO-Universitätsklinik Leipzig Center for the study of intelligence, Central Intelligence anderen Experten möglich sein – auch Agency 1999: 51-63. Liebigstraße 10-14 über Landesgrenzen hinweg. 7. Stoehr M et al. A model of the decision-making process: therapy of laryngeal cancer. Int J CARS 2014; 04103 Leipzig 9: 217-8. Tel.: 03 41-97-2 17 00 8. Sackett DL et al. Evidence based medicine: what it is Matthaeus.Stoehr@medizin.uni-leipzig.de and what it isn’t. 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Schwerpunkt Molekulares Tumorboard – auch für Kopf-Hals-Tumoren relevant? Florian Lordick, Ulrich Hacker Molekulare Diagnostik verspricht effektivere Therapien für Patienten mit Krebs, basierend auf genetischer, epigenetischer und proteomischer Charakterisierung individueller Tumoren. Um molekular-basierte Therapiekonzepte zu entwickeln, wur- den an Krebszentren molekulare Tumorboards (MTBs) eingeführt, um auf Basis wissenschaftlich valider Analysen individu- elle Therapieempfehlungen zu erarbeiten. MTBs stellen ein sich rasant entwickelndes Konzept in der Krebsmedizin dar, doch vielfache konzeptionelle und strukturelle Herausforderungen sind zu lösen, um molekulare Diagnostik sinnvoll in die klinische Praxis zu implementieren. Eine besonders große Herausforderung ist die inter- und intratumorale Heterogenität von Krebs. Inzwischen ist bekannt, dass sich Tumoren der gleichen Lokalisation und mit vergleichbarem histologischen Erscheinungsbild signifikant in ihren molekularen Charakteristika unterscheiden können. Kopf-Hals-Tumoren sind ein gutes Beispiel für dieses Paradigma, betrachtet man die bedeutenden molekularen Unterschiede zwischen unterschiedlichen Plattenepithelkarzino- men (z. B. HPV-positiv versus -negativ), die enorme Heterogenität der Speicheldrüsenkarzinome und der Krebserkrankungen unklaren Primärursprungs, um die drei häufigsten Entitäten in der Kopf-Hals-Region zu benennen. Dieser Artikel gibt eine Übersicht über den Stand der molekularen Charakterisierung und des molekularen Tumorboards bei Tumoren der Kopf- Hals-Region. Es wird ersichtlich, dass eine wachsende Zahl teils sehr effektiver, molekular zielgerichteter Therapien für Krebserkrankungen dieser Region existieren; in selektionierten Fällen ist die Vorstellung in einem akademischen Krebszentrum für die molekulare Diagnostik und die nachfolgende Besprechung in einem qualifizierten molekularen Tumorboard indiziert. Schlüsselwörter: molekular, genetisch, Kopf-Hals-Tumoren, Plattenepithelkarzinom, Speicheldrüsenkarzinom, Krebs mit unbekanntem Primärtumor Kasuistik zellkarzinoms. 2016 erfolgte eine Tumor- multilokuläres Lymphknotenrezidiv resektion mit Level I–V Neck Dissection links submandibulär und supraklaviku- Der Fall eines 34-jährigen Patienten links (pT3 pN1 (1/46), G1, L0, V0, Pn0, lär beidseits, teils in-field gelegen, und mit einem metastasierten sekretorischen R0). Es schloss sich keine Nachbestrah- anatomisch nicht R0-resektabel. Karzinom der Glandula submandibularis lung an. Nach Diagnose lokaler Rezidive Die pathologische und referenzpatho- wurde am 21.1.2021 im molekularen Tu- 2017 und 2019 erfolgten erneute Tumor- logische Untersuchung der Gewebeproben morboard des Universitären Krebszen- resektionen, bei R1-Status in 2019 mit führte zur Diagnose eines high-grade trums Leipzig/Mitteldeutsches Krebszen- nachfolgender Radiotherapie zervikal transformierten sekretorischen (sog. trum besprochen. Die Erstdiagnose war links (60 Gy, konventionell fraktioniert Mamma-analogen) Speicheldrüsenkarzi- vor 5 Jahren extern gestellt worden, da- mit Boost bis 66 Gy). Anfang 2021 zeigte noms. Die daraufhin eingeleitete moleku- mals unter der Annahme eines Azinus- die Bildgebungs-gestützte Nachsorge ein lare Diagnostik einschließlich FISH-Ana- 222 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt NTRK-Inhibitoren Eine zentrale Sichtung der Befunde kann Larotrectinib und zur diagnostischen Neueinschätzung und Entrectinib [3, 4]. damit – in Zeiten der molekular strati- Somit kann dem fizierten Therapie – zu neuen und effekti- Patienten mit einem veren Therapieoptionen beitragen. Das konventionell nicht Beispiel illustriert auch, welchen Beitrag mehr sinnvoll be- molekulare Diagnostik und MTB-Vor- handelbaren rezidi- stellungen heute leisten können. Dies soll vierten Tumor ein im Folgenden, nach Erörterung der molekular und Systematik, für die wesentlichen Tumor- durch klinische Stu- entitäten in der Kopf-Hals-Region weiter Abb. 1 Das Ereignis einer Genfusion zwischen dem ETV6-Gen auf Chromo- dien der Phase I ausgeführt werden. som 12 und dem NTRK3-Gen auf dem Chromosom 15 führt zur Translokation und II begründetes t(12;15)(p13;q25). Mod. nach [1]. Behandlungsange- Gewichtung molekularer lyse und RNA-basierter Fusionsanalyse bot gemacht werden, das entsprechend der Alterationen nach ESCAT erbrachte den Befund einer ETV6-NTRK3- ESCAT-Empfehlungsstufe 1 (siehe unten) Genfusion, welche funktionell zur onko- gute Chancen auf ein Tumoransprechen Um die Implementierung von Präzi- genen Aktivierung der Tropomyosin- bietet (komplette und partielle Response- sionsmedizin im klinischen Management Rezeptor-Kinase (TRK) 3 führt (Abb. 1, 2) rate nahe 60 %). Dies eröffnet Chancen auf von Krebspatienten zu erleichtern, bedarf [1, 2]. Wie neueste Studien zeigen, be- eine längerfristige Tumor- und Symptom- es der Standardisierung und Harmonisie- dingt dieses molekulare Ereignis eine kontrolle oder ggf. sogar sekundäre Lo- rung der Berichte und Interpretationen hohe Suszeptibilität der NTRK-Fusions- kalbehandlungsmaßnahmen. genomischer Daten. Dafür initiierte die tragenden Tumoren auf eine TRK-Blocka- Das Fallbeispiel unterstreicht, wie European Society for Medical Oncology de durch einen der mittlerweile in der wichtig und sinnvoll eine Zentrumsbera- (ESMO) Translational Research and Pre- Europäischen Union Tumorentitäts-über- tung bei seltenen Erkrankungen und cision Medicine Working Group (TR and greifend zugelassenen und verfügbaren diffizilen Entscheidungssituationen ist. PM WG) ein kollaboratives Projekt, um einen evidenzbasierten Vorschlag für die Klassifikation molekularer Alterationen und ihres Stellenwertes als therapeutische Zielstrukturen zu erarbeiten. Eine Gruppe von Experten unterschiedlicher Instituti- onen begutachtete die wissenschaftliche Literatur, erarbeitete einen Konsensus basierend auf vorformulierten Evidenz- Kriterien und präsentierte ein Klassifika- tionssystem. Dieses wurde unabhängig begutachtet, angepasst und schließlich durch die ESMO TR and PM WG publi- ziert [5]. Die erste Version der ESMO Scale for Clinical Actionability of molecular Targets (ESCAT) definiert sechs klinische Evi- denzlevel (I–V und X) und für molekula- Abb. 2 NTRK-Fusionen führen zur onkogenen Aktivierung der Tropomyosin-Rezeptor-Kinasen (TRK). Mod. nach [2]. re Targets, entsprechend ihrer potentiel- Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3) 223
Schwerpunkt len Bedeutung für Therapieempfeh- Eine Einteilung der gefundenen Stu- als das häufigste alterierte Gen unter den lungen: dien- und Forschungsergebnisse in unter- drei RAS-Familienmitgliedern identifi- • Level I: Zielstrukturen sind reif für die schiedliche Stufen (I–V und X) nach ziert. HRAS-aktivierende Mutationen Implementierung in die Routinedia- ESCAT wurde je nach der wissenschaft- wurden infolge der Wirksamkeit von gnostik und therapeutische Entschei- lichen Stärke der entsprechenden Daten Tipifarnib bei Patienten mit HNSCC in dungsfindung, vorgenommen. Die Autoren identifizier- Stufe IB gereiht. Die Mikrosatelliteninsta- • Level II: investigatorische Targets, sehr ten therapeutisch adressierbare Alterati- bilität (MSI) als Zeichen einer defizienten wahrscheinlicher Benefit durch zielge- onen in 33 Genen. Sie klassifizierten die Mismatch Repair (dMMR) hat eine Inzi- richtete Therapie, aber Bedarf an zu- gefundenen Alterationen in aktivierende denz von 1,2 % bei HNSCC. Eine hohe sätzlichen Daten, Mutationen, onkogene Fusionen und/ TMB ≥ 10 Mutationen per Megabase • Level III: klinischer Benefit, gezeigt bei oder Amplifikationen von Onkogenen kommt bei bereits 20 % der Patienten mit anderen Tumorarten oder vergleich- oder inaktivierende Mutationen von HNSCC vor. MSI-high-Tumoren weisen baren molekularen Alterationen, Tumorsuppressor-Genen in unterschied- eine sehr große Zahl von Mutations- • Level IV: präklinische Evidenz, lichen Signalwegen. assoziierten Neoantigenen mit entspre- • Level V: Evidenz für kombinierte An- Die vielversprechendsten therapeu- chender Suszeptibilität für eine sätze und tisch adressierbaren Alterationen bei PD(programmed cell death protein)-1- • Level X: keine Evidenz für therapeuti- HNSCC sind demnach HRAS-aktivieren- Blockade auf. Onkogene NTRK-Fusionen sche Adressierbarkeit. de Mutationen, Mikrosatelliteninstabili- zeigen insgesamt bei Patienten mit tät (MSI), hohe Tumormutationslast HNSCC eine sehr niedrige Inzidenz von Plattenepithelkarzinome (TMB), NTRK-Fusionen, CDKN2A-inak- 0,2 %, sind aber, wie im beschriebenen der Kopf-Hals-Region tivierende Alterationen und EGFR-Am- Fall, in der Subgruppe der Mamma- plifikationen. Insgesamt wurden nur analogen sekretorischen Speicheldrüsen- Die ESCAT Autoren konnten mittler- wenige molekulare Alterationen in Level karzinome angereichert und damit in weile eine Gewichtung der Evidenz von I (HRAS – IB; MSI – IC; NTRK – IC) und hoher Frequenz (bis > 90 %) zu finden. therapeutisch adressierbaren molekula- Level II (CDKN2A – IIA; EGFR – IIA) Sowohl TMB als auch NTRK-Fusionen ren Alterationen bei Plattenepithelkarzi- nach ESCAT eingeordnet. wurden aufgrund der Zulassung von nomen der Kopf-Hals-Region (HNSCC) HRAS wurde im MPAK-Signalweg PD-1-Inhibitoren und der NTRK-gerich- skizzieren, die die molekular stratifizier- mit einer Mutationsfrequenz von 6,3 % teten Inhibitoren in Level IC eingeordnet. te Therapiekonzeptionierung unterstützt. Tab. 1 Molekulare Alterationen bei unterschiedlichen Speicheldrüsentumoren und ihre Gregoire Marret vom Hôpital Européen potentiellen therapeutischen Implikationen. Quelle: Autoren. Georges Pompidou in Paris und Co-Auto- ren publizierten dies kürzlich im Journal Entität Molekulare Alteration Therapieoptionen of Clinical Oncology Precision Medicine [6]. Sekretorische Tumoren NTRK-Fusion NTRK-Inhibitoren Larotrecti- Mamma-analoges sekretori- nib oder Entrectinib [3, 4] Um die Effizienz von Medikamenten sches Karzinom auszuwerten, die spezifische molekulare Nicht-sekretorische Tumo- HER2-Amplifikation (bis zu HER2-Rezeptorblocker Alterationen adressieren, durchsuchten ren 40 % bei mucoepidermo- analog Mammakarzinom Mucoepidermoide Tumoren iden Tumoren, selten bei Trastuzumab + Taxan oder sie die Datenbanken von ClinicalTrials. Duktale Speicheldrüsen- adenoid-zystischen Karzino- Trastuzumab-Emtansin [9, gov und PubMed sowie Abstracts der karzinome (DSK), Adeno- men [7, 8]) 10, 11] karzinome „not otherwise großen wissenschaftlichen Kongresse wie specified" (NOS) ASCO, ESMO und AACR nach Ergebnis- Androgen-Rezeptoren, bis Androgenblockade analog sen klinischer Studien bei HNSCC; wenn zu 90 % der DSK und selte- Prostatakarzinom [13, 14] ner bei NOS [12] dafür keine klinischen Studien auffindbar Andere HRAS-Mutation Farnesyltransferase-Inhibi- waren, suchten sie auch nach prä- tor Tipifarnib [15] klinischen und In-silico-Daten. 224 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt Bezüglich der Zellzyklus-Regulation wurden CDKN2A- inaktivierende Alterationen bei 53,8 % der Patienten mit HNSCC gefunden. CDKN2A-inaktivierende Alterationen und EGFR-Amplifikation wurden in Level IIA eingeord- net – wegen der Aktivität von Palbociclib (CDK4/6-Inhibitor) und Afatinib (TKI) in molekularen Subgruppen in retrospekti- ven Analysen der entsprechenden klinischen Studien. In den Rezeptor-Tyrosinkinase-Signalwegen findet sich mit 10,7 % am häufigsten EGFR beim HNSCC amplifiziert. Afatinib Anzeige zeigte Aktivität bei der Behandlung dieser Patienten. Die Un- tersuchung des PI3K/AKT/mTOR-Signalwegs zeigte molekula- re Alterationen in unterschiedlichen Genen, einschließlich des PIK3CA-Gens (34,5% Inzidenz), welches wegen der klinischen Aktivität von PIK3CA-Inhibitoren in anderen Tumorentitäten als Level IIIA eingeordnet wurde. Hingegen wurden molekula- re Alterationen in IGF1R- (1,0 %) und TP53-Genen (72 %; DNA- Reparatur) lediglich in Level IVA und Stufe V gelistet. In der Zusammenschau konnten die Untersucher sechs klinisch relevante therapeutisch adressierbare molekulare Si- gnalwege bei Patienten mit HNSCC benennen, die mit entspre- chend zielgerichteten Therapien wirksam behandelt werden können. Es wird empfohlen, diese Klassifikation in genetischen Sequenzierungsberichten und molekularen Tumorboard-Emp- fehlungen zu nutzen. Einerseits soll damit Klarheit geschaffen werden; andererseits soll vor Überinterpretation anderer, nicht klassifizierbarer Alterationen geschützt werden, die zu ineffizi- enten therapeutischen Folgerungen führen könnten. Speicheldrüsentumoren Speicheldrüsentumoren sind eine seltene Gruppe von Krebs- erkrankungen mit insgesamt mehr als 20 histologischen Unter- gruppen. Während sie ursprünglich als eine Tumorgruppe be- handelt wurden, rechtfertigen mittlerweile die zahlreichen prognostischen, histopathologischen und molekularen Unter- schiede eine sehr differenzierte Betrachtung. Die Veröffentli- chung von S3-Leitlinien für die Diagnostik und Behandlung von Speicheldrüsentumoren steht für 2021 in Aussicht (https://www. awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/007-102OL.html). Eine ESCAT-Klassifikation molekularer Alterationen der Speicheldrüsentumoren existiert bisher nicht; dennoch soll Tab. 1 wesentliche Alterationen und ihre potentiellen thera- peutischen Konsequenzen aufzeigen. Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3) 225
Schwerpunkt Tumoren der Kopf-Hals- Region mit unbekanntem Primärtumor Krebs der Kopf-Hals-Region mit un- Anzeige bekanntem Primärtumor (auch CUP- Syndrom genannt) stellt eine besondere Herausforderung dar. Die plattenepithe- lialen CUP haben eine schlechtere Ge- samtprognose als klassische HNSCC [16]. Nicht-plattenepitheliale CUP können auf eine Vielzahl okkulter Primärtumoren zurückzuführen sein, u. a. auf Lungen-, Mammakarzinome, neuroendokrine Tu- moren etc. Hier empfiehlt sich abhängig vom klinischen Gesamtbild und Thera- piebedarf sehr häufig eine umfassende molekulare Charakterisierung. Zahlrei- che Fallbeschreibungen erfolgreicher mo- lekular zielgerichteter Behandlungen existieren, z. B. bei Vorliegen einer EML4- ALK-Translokation [17]. Eine molekulare Diagnostik und daraus abgeleitete zielge- richtete Therapieoptionen einschließlich Immuntherapie im Vergleich zu Platin- basierter Standardchemotherapie werden derzeit in Deutschland, u. a. am Mittel- deutschen Krebszentrum Leipzig-Jena (MIK, Ansprechpartner Prof. Thomas Ernst, Jena), im Rahmen der CUPISCO- Studie angeboten [18] (NCT03498521). Fazit für die Praxis Therapeutisch adressierbare moleku- lare Alterationen bei Tumoren der Kopf- Hals-Region sind häufig; die molekulare Diagnostik ist zunehmend standardisiert. Effektive personalisierte Therapie- optionen für Patienten mit Kopf-Hals- Tumoren existieren. Molekulare Dia- gnostik und die Fallbesprechung in einem akademischen Zentrum sind in ausgesuchten Fällen indiziert. 226 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt Summary Keywords: molecular, genetic, head- and-neck cancer, squamous cell cancer, Molecular diagnostic holds promises salivary gland cancer, cancer of unknown to offer more effective therapies to pa- primary tients based on genetic, epigenetic and Literatur proteomic profiling of individual tumors. 1. Euhus DM et al. ETV6-NTRK3--Trk-ing the primary Prof. Dr. med. Florian Lordick In order to develop personalized treat- event in human secretory breast cancer. Cancer Cell 2002; 2: 347-8. Medizinische Klinik II (Onkologie, Gastro- ment concepts, multidisciplinary molec- 2. Amatu A et al. NTRK gene fusions as novel targets of enterologie, Hepatologie, Pneumologie, ular tumor boards (MTBs) are needed to cancer therapy across multiple tumour types. ESMO Infektiologie), Universitäres Krebszentrum Open 2016; 1(2): e000023. 3. Drilon A et al. Efficacy of Larotrectinib in TRK Leipzig (UCCL) develop scientifically sound treatment Fusion-Positive Cancers in Adults and Children. 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