Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren

 
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Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Editorial

Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär
behandeln, Patientenperspektive integrieren

   Der Themenschwerpunkt in der                   Des Weiteren wollen wir ein Update        mich, Sie auf die „interdisziplinäre Ar-
aktuellen Ausgabe von Trillium Krebs-         zum Stand empfehlenswerter Deeskala-          beitsgruppe Kopf-Hals-Tumoren der
medizin stellt Ihnen eine Auswahl an          tions-Ansätze in der Therapie des HPV-        Deutschen Krebsgesellschaft (IAG-KHT)
neuen und spannenden Entwicklungen            16-positiven Oropharynxkarzinoms ge-          aufmerksam machen zu dürfen.
in der Kopf-Hals-Onkologie vor, die aus       ben bzw. diskutieren, ob die aktuelle             Die Gruppe führt zweimal im Jahr
der Feder von Experten aus der HNO-           Datenlage überhaupt eine Deeskalations-       Symposien durch. Näheres ist über die
Heilkunde, Strahlentherapie und Onko-         empfehlung erlaubt. Die zunehmende            DKG-Homepage der IAG-KHT zu erfah-
logie des Universitätsklinikums Leipzig       Diversifizierung molekularpathologi-          ren. Aktuell empfiehlt die Arbeitsgruppe
stammen. Die Autoren sind über das            scher Diagnostik rückt auch die Kopf-         13 Studien, die teilweise noch für teilnah-
Universitäre Krebszentrum der Universi-       Hals-Tumoren zunehmend in den Fokus           mewillige Zentren offen sind.
tät Leipzig (UCCL) in engem klinischen        des molekularen Tumorboards und führ-             Nähere Informationen finden Sie un-
und wissenschaftlichen Austausch ver-         te zu ersten klinisch relevanten driving      ter: https://www.krebsgesellschaft.de/
bunden und arbeiten insbesondere eng          mutations. Nach den Ausführungen von          deutsche-krebsgesellschaft-wtrl/deut-
unter dem Siegel eines zertifizierten Kopf-   Florian Lordick und Ulrich Hacker wird        sche-krebsgesellschaft/ueber-uns/organi-
Hals-Tumorzentrum der Deutschen               ersichtlich, dass eine wachsende Zahl teils   sation/sektion-b-arbeitsgemeinschaften/
Krebsgesellschaft (DKG) zusammen. Die         sehr effektiver, molekular zielgerichteter    iag-kht.html
Zusammenstellung soll wichtige Aspekte        Therapien für Krebserkrankungen dieser            Ich wünsche Ihnen großes Lesever-
der Immunonkologie, der adjuvanten            Region existieren.                            gnügen und hoffe, dass Sie wertvollen
und primären Radiochemotherapie und                Schließlich nutzen wir in zunehmen-      Nutzen aus den Beiträgen für Ihre klini-
die immer relevanter werdende Patien-         dem Maße im Rahmen der Digitalisie-           sche Arbeit ziehen können. Freue mich
tenperspektive (PRO: patient reported         rung die Methoden der künstlichen In-         auch, Sie demnächst bei der IAG-KHT
outcome) in der täglichen Behandlung          telligenz und treiben Entwicklungen auch      begrüßen zu dürfen.
und in klinischen Studien adressieren.        bei der Thereapieentscheidung voran.
    Susanne Wiegand gibt einen Über-          Lassen Sie sich von Matthäus Stöhr über
und Ausblick zu dem Einsatz der Check-        die Entwicklung und gleichsam die
point-Inhibitoren bei den Plattenepithel-     Vision eines „digitalen Patientenmodells“
karzinomen des Kopf-Hals-Bereichs.            am Innovationszentrum für Computer
Thomas Kuhnt, Claudia Pohlenz und             assistierte Medizin in Leipzig (ICCAS)
                                                                                                                          Andreas Dietz
Peter Hambsch äußern sich zu dem aktu-        begeistern.
ellen Einsatz von Cisplatin in Kombina-            Sollte Sie diese kleine Auswahl ange-
tion zur Strahlentherapie auf Basis der       sprochen haben und wollen Sie sich mehr
aktuellen Studienlage. Veit Zebralla be-      im Themenfeld der interdisziplinären
richtet über den zunehmenden Einsatz          Kopf-Hals-Onkologie informieren oder
von PROs auch auf Basis eigener Studien.      gar an Studien aktiv teilnehmen, freue ich

Trillium Krebsmedizin 2021; 30(2)                                                                                                  187
Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Schwerpunkt

Das digitale Patientenmodell:
Unterstützung zur besseren Entscheidungs-
findung im Kopf-Hals-Tumorboard
Matthäus Stöhr, Alexander Oeser, Jan Gaebel, Andreas Dietz

      Die zunehmende Komplexität der Behandlung onkologischer Erkrankungen durch Fortschritte in der Diagnostik sowie durch
      individualisierte Therapien erfordert neue, umfassende Techniken zur Entscheidungsunterstützung. Neben molekularen
      Tumorboards, die bei verschiedenen Tumorentitäten molekularpathologische Signaturen bewerten, halten auch unter-
      stützende Verfahren mit Künstlicher Intelligenz Einzug in Forschung und Praxis. Dazu gehören digitale Patientenmodelle,
      welche die Sammlung, Strukturierung und Auswertung von Informationen optimieren und auf diese Weise Entscheidungs-
      prozesse in Tumorboards unterstützen. So wurde für das Larynxkarzinom ein klinisches Entscheidungsunterstützungs-System
      – basierend auf Bayes'schen Netzwerken – entwickelt und verschiedene Teile validiert. Zusätzlich wurden weitere Modelle
      erarbeitet, z. B. für das Oropharynxkazinom. Zukünftig soll Künstliche Intelligenz, u. a. in Form digitaler Patientenmodelle,
      die klinische Entscheidungsfindung unterstützen.

      Schlüsselwörter: Künstliche Intelligenz, digitale Patientenmodelle, Larynxkarzinom, Therapieentscheidungsunterstützung,
      Tumorboard

Einführung                                    klinische Entscheidungsfindung auf-         die molekularpathologisch unterstützte
                                              grund der steigenden und immer kom-         Krebsbehandlung verbessern [1].
    Heutzutage ist Künstliche Intelligenz     plexeren Informationsparameter schwie-          Klinische Entscheidungsunterstüt-
(KI) in vielfältiger Form in unser tägli-     riger. Auch begrenzte personelle Ressour-   zungssysteme (CDSS) auf der Basis von
ches Leben integriert, sodass jeder täglich   cen und mangelnde Zeit sowie der multi-     KI können solch komplexe Entschei-
damit konfrontiert wird. Als Beispiele        disziplinäre Charakter der Entschei-        dungsprozesse unterstützen [2, 3]. Ob-
seien hier persönliche Assistenten wie        dungsfindung tragen dazu bei, dass eine     wohl CDSS viele Vorteile haben, errei-
Google-Assistant, Siri oder Alexa, auto-      Unterstützung des Prozesses der Infor-      chen die meisten Systeme eine klinische
matisierter Massentransport oder Com-         mationssammlung und -analyse hilf-          Integration nicht [4].
puterspiele genannt.                          reich ist.                                      In diesem Artikel wird neben allge-
    Das medizinische Wissen nimmt be-             Multidisziplinäre molekulare Tumor-     meinen Betrachtungen zur Anwendung
sonders in der Onkologie kontinuierlich       boards (MTBs) werden zunehmend eta-         von KI in der Medizin die Idee digitaler
zu und ermöglicht Fortschritte in Dia-        bliert, um das schnell wachsende Wissen     Patientenmodelle (DPM) exemplarisch
gnostik und Therapie und unterstützt          und molekularpathologische Potential in     anhand der Entwicklung eines Systems
somit zunehmend eine individualisierte        der Tumortherapie in die klinische Praxis   zur Therapieentscheidungs-Unterstüt-
Medizin. Als Folge davon wird für eine        zu integrieren. Nachweislich kann der       zung der multidisziplinären Entschei-
höhere Anzahl von Patienten mit ma-           Zugang zu einem MTB und deren klini-        dungsfindung des Kopf-Hals-Tumor-
lignen Kopf-Hals-Tumoren (KHT) die            sche Anwendung die Ergebnisse durch         boards (KH-TB) vorgestellt.

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Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Schwerpunkt

Notwendigkeit der                              dungsqualität signifikant zu beeinträch-          Die Entscheidungen bzw. Therapie-
Therapieentscheidungs-                         tigen. Bei über 40 Informationseinheiten      empfehlungen basieren auf dem Wissen

unterstützung                                  nimmt die Entscheidungsqualität jedoch        der Teilnehmer bezüglich Leitlinien und
                                               aufgrund von Fehlern ab, die durch feh-       klinischer Studien sowie ihrer klinischen
    Der Begriff KI existiert seit 65 Jahren.   lerhafte Priorisierung zu erklären sind.      Erfahrung [8]. Die meisten klinischen
Seitdem ist die Rechenleistung stetig ge-      Dies führt naturgemäß zur Anwendung           Leitlinien (z. B. der Arbeitsgemeinschaft
wachsen, sodass heute neue Daten an-           heuristischer Methoden bei den Entschei-      der Wissenschaftlichen Medizinischen
hand von zuvor bewerteten Daten in             dungsprozessen [6].                           Fachgesellschaften e. V. (AWMF) oder
Echtzeit ausgewertet werden können. In             Beispielhaft sei hier die retrospektive   des US-amerikanischen National Com-
jüngerer Zeit wurden viele Methoden der        Analyse der Entscheidungen des KH-TB          prehensive Cancer Network (NCCN)
KI in die Medizin integriert, wodurch          am Universitätsklinikum Leipzig (UKL)         ermöglichen in der Regel mehrere Thera-
eine höhere Genauigkeit erreicht und           angeführt. Bei Auswertung der Larynx-         pieoptionen ohne eindeutige Favorisie-
Prozesse beschleunigt werden, um so die        karzinomfälle waren durchschnittlich 85       rung. Dennoch ist das Ziel, im Tumor-
Patientenversorgung zu verbessern. Ra-         Informationseinheiten verfügbar, wobei        board eine für das Individuum optimale
diologische Bilder, Pathologie-Objektträ-      die Gesamtzahl der Informationseinhei-        Behandlungsempfehlung – nach Mög-
ger und elektronische Patientenakten           ten zwischen 75 und 158 lag. Auch sind        lichkeit im Konsens – auszusprechen [9].
werden durch maschinelles Lernen aus-          nicht in jeder Fallanmeldung sämtliche        Die offene Diskussion eines Falles soll
gewertet, um den Prozess der Diagnose          relevanten Daten in der Fallpräsentation      nach Möglichkeit in einer einstimmigen
und Behandlung von Patienten zu unter-         erfasst oder abrufbar, sodass ein Teil der    Entscheidung münden, die protokolliert
stützen und die Fähigkeiten der Ärzte zu       Entscheidungen vertagt werden muss [7].       wird. Dieser Prozess der Entscheidungs-
erweitern [5]. Dennoch ist es wichtig          Die Motivation für die Anwendung von          findung unter Berücksichtigung der Pa-
festzuhalten, dass – entgegen der landläu-     KI zur Entscheidungsunterstützung be-         tienten-spezifischen Gegebenheiten und
figen Meinung – die Rolle des Arztes als       steht weiterhin darin, dass selbst im         vorhandenen Informationen wird als
Mensch durch die Anwendung von KI in           hochspezialisierten KH-TB einzelne Pa-        klinische Urteilsbildung bezeichnet [10].
der Medizin nicht beseitigt wird. Ganz im      tientenfälle so komplex sein können, dass     Abb. 1 visualisiert die Verknüpfung von
Gegenteil: Durch KI erweiterte medizini-       es für manche Teilnehmer schwierig sein       Diagnostik, Therapieentscheidung im
sche Systeme helfen, die klinischen Ab-        kann, einen Fall komplett zu verarbeiten.     Tumorboard und daraus resultierender
läufe zu verbessern, sorgen für mehr Si-       Außerdem ist die Anwesenheit der sach-        Therapie sowie die Interaktion mit der
cherheit und Konsistenz und tragen dazu        kundigsten und erfahrensten Experten          unterstützenden Patientenmodellierung.
bei, fundierte Entscheidungen zu treffen,      durch terminliche Einschränkungen
die auf quantitativem Wissen basieren.         nicht immer garantiert.                       Methodische Ansätze für
    Der Mensch hat hinsichtlich der zeit-                                                    klinische Entscheidungs-
gleichen Verarbeitung großer Informati-        Der Therapie-                                 unterstützung
onsmengen natürliche kognitive Limita-         entscheidungsprozess
tionen. In der Folge werden die Informa-                                                         Der allgemeine medizinische Ausbil-
tionen intuitiv ausgewählt und gewichtet.           In der klinischen Praxis erfordern       dungsstand kann mit dem Innovati-
Experimente haben gezeigt, dass ein In-        Therapieentscheidungen in der Onkolo-         onstempo der Wissenschaft kaum mit-
dividuum in der Lage ist, Entscheidungen       gie allgemein – und damit eingeschlossen      halten. Für eine umfangreiche individu-
mit Berücksichtigung von bis zu 20 Infor-      in der Kopf-Hals-Onkologie – multi-           elle quantitative Analyse von Risiko- und
mationseinheiten zu treffen. Darüber           disziplinäre Expertentreffen (Tumor-          Therapie-beeinflussenden Faktoren wer-
hinaus erfordert das Vorhandensein von         boards) [4]. Die Teilnehmer sind Spezia-      den Multisequenzierungsdaten in soge-
bis zu 40 Informationseinheiten eine in-       listen aus verschiedenen Bereichen der        nannten MTBs besprochen. Aufgrund
tuitive Priorisierung der gegebenen Infor-     Diagnostik und Therapie, die einen Bezug      des schnellen technischen Fortschritts,
mationen, ohne jedoch die Entschei-            zu der jeweiligen Tumorentität haben.         der stark sinkenden Sequenzierungskos-

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Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Schwerpunkt

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                                                                                                          jeweils verfügbaren Datenquellen [2, 13].
                                                                                                              Methoden basierend auf neuronalen
                                                                                                          Netzwerken ermöglichen beispielsweise
                                                                                                          schnelles Lernen aus großen und struk-
                                                                                                          turierten Datenquellen. Allerdings ist die
                                                                                                          mangelnde Transparenz des Schlussfol-
                                                                                                          gerungsprozesses (Reasoning) zwischen
                                                                                                          Eingabevariablen und den ausgegebenen
                                                                                                          Ergebnissen einschränkend, da die Algo-
                                                                                                          rithmen normalerweise eine „Blackbox“
                                                                                                          für den Benutzer sind. Außerdem sind
                                                                                                          insbesondere bei diversifizierter und ein-
                                                                                                          geschränkter Datenmenge Grenzen bei
                                                                                                          der Aussagefähigkeit der Berechnungen
                                                                                                          gesetzt [11].
                                                                                                               Als bekanntes Beispiel sei an dieser
                                                                                                          Stelle das Projekt Watson von IBM er-
                                                                                                          wähnt, das trotz großen finanziellen,
                                                                                                          technischen und personellen Aufwands
                                                                                                          insgesamt eher ernüchternde Ergebnisse
                                                                                                          vorzuweisen hat [14].
                                                                                                               Der methodische Ansatz probabilis-
                                                                                                          tischer graphischer Modelle erlaubt me-
                                                                                                          thodisch eine transparente und reprodu-
Abb. 1 Darstellung der digitalen Verknüpfung von Diagnostik, Therapieentscheidungsprozess und             zierbare Datenanalyse, die für den Men-
Therapie, sowie Begleitung des Prozesses durch das digitale Patientenmodell.
Quelle: ICCAS Annual Report 2020, S. 19, https://www.iccas.de/iccas-jahresbericht-2020-veroeffentlicht/.   schen nachvollziehbar und korrigierbar
                                                                                                          ist. Mit zunehmender Komplexität erfor-
ten und der ständig steigenden Anzahl                 nicht-akademischen Krankenhäuser Zu-                dert dieser Ansatz aber mindestens eine
gezielter Therapien ist zu erwarten, dass             gang zu einem MTB [1]. Dennoch werden               halbautomatische Modellierung mit ent-
bald eine umfassende Tumorsequenzie-                  die Kapazitäten nicht nur dort, sondern             sprechender informationstechnolo-
rung wie die Sequenzierung des gesamten               auch hierzulande stetig ausgebaut. Die              gischer Unterstützung. Für Art und Um-
Exoms und des gesamten Genoms auch                    MTBs spielen damit eine zunehmend                   fang der Entscheidungsunterstützung im
in der Standardversorgung angewendet                  größere Rolle in der klinischen Versor-             klinischen Kontext bietet sich die Anwen-
wird. Kliniker werden daher mit immer                 gung innerhalb der hochkomplexen                    dung sogenannter Bayes'scher Netzwerke
komplexeren genetischen Informationen                 onkologischen Therapie. Diese Prozesse              (BN) an [15].
und mehreren Testplattformen konfron-                 werden als ein zentraler Bestandteil in die              Mithilfe der BN ist es möglich, die
tiert, aus denen sie auswählen können.                CDSS eingebunden.                                   multidisziplinären Entscheidungsprozes-
    Gemäß einer Umfrage unter nieder-                     Für CDSS können verschiedene KI-                se abzubilden und bei der Informations-
ländischen Krankenhäusern, die interna-               Methoden angewendet werden; die meis-               sammlung, -überprüfung und den daraus
tional für die gut strukturierte Zentrums-            ten basieren auf neuronalen Netzen oder             abgeleiteten Empfehlungen patienten-
medizin bekannt sind, hatten aktuellen                auf probabilistischen Graphen-Modellen              spezifischer Therapien potentielle Unter-
Zahlen aus 2018 zufolge weniger als                   [11, 12]. Diese Methoden sind je nach               stützung zu leisten [7, 16].
50 % der Krankenhäuser und nur 5 % der                konkretem Anwendungsfall mehr oder

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Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Schwerpunkt

Anwendung von                                      Modellanwendungen haben das Potenti-               wurde die open access Software GeNIe in
Bayes'schen Netzen                                 al von BN zur Unterstützung von Thera-             der Version 2.0 verwendet. Im Allgemei-
                                                   pieentscheidungen gezeigt, sowohl im               nen ermöglicht GeNIe neben der graphi-
    Die Modellierung komplexer Ent-                nicht-onkologischen [19] als auch im               schen und probabilistischen Modellie-
scheidungsprozesse erfordert ein genaues           onkologischen Bereich. In der Arbeits-             rung auch eine qualitative und quantita-
Abwägen bezüglich des Grades der Gra-              gruppe von van der Gaag wurde bei-                 tive Validierung sowie eine Modellana-
nularität des Modells. Es muss ein prak-           spielsweise ein Entscheidungshilfesystem           lyse. Grundsätzlich ist das Programm
tikabler Kompromiss zwischen einem                 zur Diagnose von Speiseröhrenkrebs auf             nicht speziell für umfangreiche medizi-
sehr einfachen, aber damit wenig aussa-            der Grundlage eines BN konstruiert [20].           nische Modelle entwickelt. Die Verwen-
gekräftigen, und einem sehr detaillierten,         Aussem et al. konstruierten ein BN-Mo-             dung im medizinischen Kontext erfordert
aber damit nicht mehr modellier- und               dell für die Diagnostik des Nasopharynx-           daher einige Grundlagen im Verständnis
berechenbaren Modell erfolgen [17].                karzinoms und konnten eine korrekte                von graphischer Modellierung, Probabi-
    Daher werden entsprechende Model-              Berechnung der Klassifizierung aus Pri-            listik und der Anwendung von BN. Durch
le zunächst mit einer höheren Granulari- märdaten von 66 % erreichen [21]. Eine dieses notwendige Verständnis ist die
tät modelliert und in einem zweiten weitere Gruppe erstellte ein Modell, um Umsetzung des Modellierungsprozesses
Schritt auf die relevantesten Variablen den Nutzen einer adjuvanten Strahlen- für Mediziner sehr kompliziert und
eingeschränkt. Dieses Vorgehen ergibt therapie bei Patienten mit Mundhöhlen- macht eine längere Einarbeitung sowie
sich auch durch die begrenzte Verfügbar- karzinom vorherzusagen [22].                                 technologische Unterstützung erforder-
keit einschlägiger Daten, die für eine                                                                lich. Entsprechend wurden im Rahmen
vollautomatische, rein datengetriebene Entscheidungsunterstützende des DPM-Projektes unter Verwendung
Deduktion der Wahrscheinlichkeiten aus Systeme auf Basis                                              von GeNIe als Basis verschiedene Web-
den Primärdaten angemessen notwendig
                                                 Bayes'scher Netzwerke:                               Tools entwickelt und in den Prozess inte-
wären [18].                                                                                           griert. Diese Werkzeuge unterstützen die
    Ein kausales BN verbindet Informati-
                                                 der     Modellierungsprozess                         Modellierung und die Modellvalidierung.
onseinheiten durch kausale Abhängigkei-                Zur Modellierung klinischer Ent-                    Für die Entwicklung eines entschei-
ten. Jede Variable wird durch eine be- scheidungsmodelle auf der Basis von BN dungsunterstützenden Systems auf Basis
dingte Wahrschein-
lichkeitstabelle defi-
niert, die auf Basis der
zugrunde liegenden
Graphenstruktur die
Wahrscheinlichkeit
verschiedener Kon-
stellationen berechnet
(Abb. 2). Durch Einga-
be spezifischer Daten
kann so die Wahr-
scheinlichkeit für alle
nicht beobachteten
Variablen des Netz-
werks (z. B. N-Stadi-
um, optimale Therapie
etc.) berechnet wer-
                         Abb. 2 Screenshot eines Teils des Larynxkarzinom-Modells in der Software GeNIe 2.0 mit entsprechenden Einflussparametern auf
den. Verschiedene das T-Stadium sowie dessen probabilistische Berechnung aus Primärinformationen. Quelle: Autoren.

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Schwerpunkt

von BN sind insbesondere im Prozess der      Modellierung und Modellvalidierung                   schiedenen Kombinationen durch Ver-
Modellierung und Validierung techni-         entwickelt und geprüft. Schließlich wurde            schieben einer Leiste die Wahrscheinlich-
sche Werkzeuge zur Unterstützung der         durch eine graphische Benutzeroberflä-               keiten in Form von Prozentwerten hin-
Kliniker notwendig. Für den Modellie-        che eine benutzerorientierte Visualisie-             terlegt (Abb. 3). Durch Integration einer
rungsprozess von klinischen BN existie-      rung entwickelt und ein Teilmodell im                Vorabfrage von dominanten Einflusspa-
ren bisher nur wenige Regeln, die dem        klinischen Anwendungsfall getestet.                  rametern konnte der zeitliche Modellie-
Modellierer mehr Flexibilität bieten, das        Zur Integration der bedingten Wahr-              rungsaufwand drastisch reduziert wer-
gewünschte CDSS zu implementieren            scheinlichkeitstabellen (engl. conditional           den [23]. In der Validierungsanalyse eines
[18]. Andererseits können Modelle ohne       probability tables, CPT) konnte auf Vor-             Teilmodells zur Ermittlung des TNM-
Unterstützung des Modellierungsprozes-       arbeiten einer papierbasierten Methode               Stadiums konnten die über 70.000 beur-
ses schnell inkonsistent, übermäßig kom-     zurückgegriffen werden, welche die Er-               teilten Wahrscheinlichkeitsparameter
plex oder für andere potentielle Benutzer    stellung der CPTs anhand eines Fragebo-              innerhalb von sechs Zeitstunden erfasst
nicht interpretierbar werden. Daher sind     gens in natürlicher Sprache speziell im              werden. Über entsprechende Schnittstel-
Modelle im Vergleich zur Komplexität         klinischen Kontext beschreibt [20]. Dieser           len ermöglicht das CPT-Tool das Herun-
einer Entscheidung relativ klein und         Fragebogen ermöglicht den klinischen                 ter- und Hochladen der neuen Informa-
werden häufig nur von den Modellierern       Experten eine unabhängige und intuitive              tionen in die Software GeNIe. Dieser
selbst oder beteiligten Experten verwen-     Integration der Wahrscheinlichkeitswer-              wichtige Schritt ist essentieller Bestand-
det. Diese Einschränkungen reduzieren        te. Weiterhin erlaubt dieser Ansatz den              teil des Modellierungsvorgangs und er-
sowohl die Flexibilität als auch die indi-   medizinischen Experten, ein Modell oh-               laubt ein funktionierendes CDSS [24].
viduelle Voreingenommenheit anderer          ne unmittelbare Unterstützung von Wis-                   Für die Modellvalidierung haben wir
Kliniker, die nicht in den Modellierungs-    sensingenieuren zu erstellen. Auf Basis              einen Validierungs- und Optimierungs-
prozess eingebunden sind. Durch geeig-       dieses Ansatzes wurde in unserer Ar-                 Workflow etabliert [16]. Dieser beschreibt
nete Unterstützungswerkzeuge des Mo-         beitsgruppe ein dynamisches Web-Tool                 einen Prozess zum Validieren und Än-
dellierungsprozesses sollen perspekti-       implementiert. Zur Identifizierung der               dern eines Modells in standardisierter
visch eine multidisziplinäre Modellie-       Einflussparameter werden in den ver-                 Reihenfolge, um die Möglichkeit einer
rung ermöglicht und das Modellver-
ständnis maximiert werden, um so die
interdisziplinäre Zusammenarbeit zu
fördern.
    Initial wurde durch Entwicklung ei-
ner Modell-Metastruktur für medizini-
sche Entscheidungsmodelle eine gewisse
Standardisierung erreicht, um konsisten-
te und erweiterbare Modelle zu gewähr-
leisten. Das Problem des Erstellens der
umfangreichen Wahrscheinlichkeitsta-
bellen mit teilweise über 100.000 Parame-
tern konnte durch Weiterentwicklung der
bestehenden papierbasierten Modellie-
rungsmethode [20] und Implementierung
in ein dynamisches Webbrowser-basier-
tes Tool gelöst werden – vor allem im
                                             Abb. 3 Screenshot des webbasierten Tools zur Bestimmung der bedingten Wahrscheinlichkeiten der
Hinblick auf eine erhebliche Zeiterspar-     ausgewählten Informationseinheit (in diesem Fall N-Stadium). Die Wahrscheinlichkeitstabellen werden
                                             aus den eingestellten Werten (durch Verschieben der grauen Kästchen mit dem Prozentwert auf dem
nis. Weiterhin wurden Workflows zur          Balken) für die gleichzeitige Berechnung in GeNIe 2.0 im Hintergrund berechnet. Quelle: Autoren.

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fehlerhaften daten- oder benutzerspezi-        Zu den entscheidenden Informationen            angelehnt. Details zu bestimmten Behand-
fischen Modellanpassung zu verringern.         gehören neben dem Tumorstadium nach            lungsverfahren (z. B. genaue Bestrahlungs-
Im Workflow werden insbesondere drei           TNM auch der Allgemeinzustand eines            planung, spezielle chirurgische Techniken
iterative Schritte berücksichtigt:             Patienten, Komorbiditäten, bestimmte           etc.) wurden im aktuellen Stadium der
    • die quantitative Validierung,            molekularpathologische Faktoren, poten-        Modellierung nicht berücksichtigt. Dies-
    • die qualitative Validierung und          tielle Risiken und Komplikationen von          bezügliche spezifische Prozesse sowie dia-
    • die Modellmodifikation.                  Therapien sowie Aspekte der Funktiona-         gnostische und therapeutische Aspekte
    Gegenwärtig sind diese Schritte der        lität und Lebensqualität. Schlussendlich       sollen in späteren Modellen abgebildet
Modellvalidierung nur in Zusammenar-           werden die Therapieempfehlungen aus            werden – mit der Option einer Anbindung
beit mit einem Wissensingenieur mög-           dem KH-TB mit dem Patienten be-                an bereits bestehende Modelle.
lich, da die Optimierung des Modells in        sprochen.
der Software GeNIe realisiert werden                                                             Als Teil des DPM „Larynxkarzinom"
muss [16]. In Zukunft soll ein halbauto-          Die Modellierung des Larynxkarzi-           wurde zuerst das TNM-Staging-Subnetz-
matischer Ansatz auf Grundlage standar-        nom-Modells in der Arbeitsgruppe nahm          werk modelliert und in der Folge validiert.
disierter Fragebögen ähnlich wie bei der       ca. drei Jahre in Anspruch. Neben der          Dieses Teilmodell besteht aus 303 Varia-
Primärmodellierung Anwendung finden.           klinischen Erfahrung wurden verschiede-        blen mit 334 Abhängigkeiten und knapp
                                               ne Quellen in den Modellierungsprozess         80.000 zu bewertenden Wahrscheinlich-
Das digitale Patientenmodell                   einbezogen, darunter medizinische Fach-        keits-Kombinationen [16]. Das TNM-Sub-
„Larynxkarzinom“                               literatur und einschlägige klinische Leitli-   modell erwies sich als ideal für die kon-
                                               nien sowie eine Analyse der Entscheidun-       trollierte probabilistische Modellierung
    Als Anwendungsbeispiel für die Kon-        gen des lokalen KH-TB. In der Arbeits-         und Validierung, da die meisten Parame-
struktion eines DPM auf der Basis von BN       gruppe wurde kontinuierlich am Modell          ter in der TNM-Klassifikation [27] klar
wurde das Larynxkarzinom als gut cha-          gearbeitet, dieses erweitert und neue Teil-    definiert sind, ausreichend Umfang und
rakterisierter und häufiger KHT ausge-         netzwerke erstellt und überprüft. Binnen       Komplexität bieten und zusätzlich einen
wählt. Ein Larynxkarzinom wird jährlich        drei Jahren wuchs die Graphik im ersten        großen Einfluss auf die Therapieentschei-
weltweit bei über 180.000 und hierzulande      Jahr auf knapp 600, im zweiten auf ca. 800     dungen haben.
bei ca. 3.600 Patienten diagnostiziert. Das    und schließlich auf über 1.000 Variablen.          Für die Modellvalidierung wurde ein
Fünf-Jahres-Überleben liegt in Deutsch-             Das DPM „Larynxkarzinom“ besteht          Validierungs- und Änderungsworkflow
land über alle Tumorstadien hinweg bei         nun aus 1.020 Variablen mit 1.362 Abhän-       etabliert [16]. Die initiale Modellgenauig-
knapp über 60 % [25, 26]. Das Staging wird     gigkeiten und über 1,38 Millionen Wahr-        keit der korrekten Berechnung des TNM-
primär durch die TNM-Klassifikation            scheinlichkeits-Kombinationen; es ist da-      Stadiums aus Primärdaten von 66 Larynx-
beschrieben, bei der die Größe des Primär-     mit das umfangreichste lesbare klinische       karzinompatienten betrug 76 % im Ver-
tumors (T), der Befall lokoregionärer          Entscheidungsmodell auf der Basis von          gleich zur klinischen Dokumentation des
Lymphknoten (N) und Fernmetastasen             BN. Trotz des Umfangs bleibt das Modell        TNM-Stadiums im KH-TB. Durch detail-
(M) beschrieben werden; Parameter, die         berechenbar.                                   lierte Analyse der Abweichungen konnten
mit der Prognose korrelieren [27]. Für die          Abb. 4 zeigt das graphische Modell mit    vier Probleme für falsche Vorhersagen
betroffenen Patienten hat das (Langzeit-)      hervorgehobenen Gruppen von Variablen,         identifiziert werden:
Überleben Priorität, aber Aspekte der Le-      die die primäre Tumorspezifikation,                • falsche Befunde,
bensqualität einschließlich funktioneller,     TNM-Staging, Komorbiditäten, moleku-               • unvollständige Befunde (d. h. fehlen-
sozialer und psychologischer Aspekte ge-       larpathologische Faktoren, Therapieopti-             de Informationen über unauffällige
winnen zunehmend an Bedeutung.                 onen sowie mögliche Komplikationen und               Befunde wie nicht infiltrierte Struk-
    Wie eingangs erwähnt, werden die           Aspekte der Lebensqualität charakterisie-            turen),
Therapieoptionen im KH-TB von Exper-           ren. Der Umfang des Modells ist an den             • ungenaue Befunde (d. h. fehlende
ten aller relevanten Disziplinen diskutiert.   Prozess der Entscheidungen im KH-TB                  Trennschärfe in den Daten) und

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Schwerpunkt

    • ein fehlerhaftes Modell (d. h. Fehler      Datenqualität und damit Transparenz               knüpfungen zwischen den Ebenen reali-
      in der Modellstruktur oder den             sorgen zu können. Durch die erfolgreiche          siert wird. Weiterhin können Ur-
      CPTs wie fehlende Variablen oder           Validierung des Submodells kann nun die           sache-Wirkungs-Beziehungen auch als
      falsche Parameter).                        Umsetzung in weiteren Teilen des Mo-              Zeitachse betrachtet werden. Die Umset-
    Die detektierten Probleme im Model-          dells erfolgen. Allerdings ist in diesem          zung dieses Konzepts ist gegenwärtig in
lierungsprozess wurden schrittweise mit          Prozess aufgrund der höheren Unsicher-            Arbeit und bedarf noch weiterer Schritte
jeweiliger Kontrolle behoben und auf             heit eine geringere Genauigkeit zu er-            der Optimierung sowie späterer Vali-
Plausibilität geprüft, um eine Verzerrung        warten.                                           dierung.
durch die Modifizierungen zu reduzieren.             Durch die vielschichtigen Einfluss-
Die Genauigkeit konnte so schrittweise           möglichkeiten diverser Parameter nicht            Fazit und Ausblick
von 76 % nach Korrektur aller o. g. Prob-        nur auf ein Krankheitsbild – wie in unse-
lemfelder bis auf 100 % erhöht werden.           rem Fall das Larynxkarzinom – ist für die            Verschiedene Anwendungen von KI
Damit zeigte sich auch, dass der größte          Weiterentwicklung der digitalen Patien-           sind bereits in der Medizin in Gebrauch.
Anteil für die Optimierung der Genauig-          tenmodelle neben einer standardisierten              Dies betrifft vor allem die Diagnostikbe-
keit durch Anpassung bzw. Korrektur der          Grundstruktur auch die ineinandergrei-               reiche mit Auswertung komplexer Daten
Datenqualität erreicht werden konnte             fende Verknüpfung verschiedener Model-               durch entsprechende Algorithmen. Das
und nur ein Anteil von 3 % auf Unzuläng-         le von Bedeutung. Diesem soll durch ein              wachsende Wissen führt auch im Thera-
lichkeiten des Modells zurückzuführen            modulares System der verschiedenen                   pieentscheidungs-Prozess zu steigenden
war [16].                                        krankheitsspezifischen Modelle in einem              Herausforderungen, sodass mit dem
    Diese Ergebnisse unterstützen die            sogenannten Multi-Entitäten-BN erfol-                Konzept der DPM auch diese wichtige
Ansicht, durch die Integration entspre-          gen [15], in dem eine geordnete Bezie-               klinische Arbeit zur Verbesserung von
chender CDSS für eine Kontrolle der              hung der einzelnen Ebenen durch Ver-                 Transparenz und Nachvollziehbarkeit
                                                                                                                        einer Unterstützung be-
                                                                                                                        darf. Beispielhaft konn-
                                                                                                                        ten wir zeigen, dass das
                                                                                                                        DPM „Larynxkarzi-
                                                                                                                        nom" die relevanten In-
                                                                                                                        formationen eines mul-
                                                                                                                        tidisziplinären Exper-
                                                                                                                        tenteams für die Evalua-
                                                                                                                        tion der Therapieoptio-
                                                                                                                        nen integriert und damit
                                                                                                                        die erfolgreiche Model-
                                                                                                                        lierung eines komplexen
                                                                                                                        klinischen Anwen-
                                                                                                                        dungsbeispiels bestätigt.
                                                                                                                        Zentraler Punkt des Mo-
                                                                                                                        dells ist die Unterstüt-
                                                                                                                        zung der Therapieent-
                                                                                                                        scheidung, wenngleich
                                                                                                                        auch weitere Aspekte,
                                                                                                                        z. B. die Lebensqualität,
                                                                                                                         integriert wurden. Teile
Abb. 4 Übersicht über das gesamte Modell Larynxkarzinom mit Markierung der Submodelle. Quelle: Autoren.
                                                                                                                         des Modells wurden er-

234                                                                                                                     Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Schwerpunkt

folgreich validiert. Nach vollständiger        Literatur                                                    land für 2015/2016. Gemeinsame Publikation des
                                                                                                            Zentrums für Krebsregisterdaten und der Gesellschaft
                                               1. Van der Velden DL et al. Molecular Tumor Boards:          der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland
Entwicklung und Validierung soll der           current practice and future needs. Ann Oncol 2017; 28:       e.V., 12. Ausgabe vom 17.08.2020: 57-60.
                                               3070-75.
                                                                                                            27. Wittekind C (Hrsg.).: TNM: Klassifikation maligner
Ansatz auf andere Krankheiten ausge-           2. Kohn LT et al. To err is human: building a safer health   Tumoren. 8. Auflage. Wiley-VCH, Weinheim 2017.
                                               system, volume 6, National Academies Press, 2000.
dehnt werden. Die entwickelten Metho-
                                               3. Berner ES. Clinical Decision Support Systems: State
den und Werkzeuge ermöglichen einen            of the Art. Agency for Healthcare Research and Quality,
                                               2016.
optimierten Modellierungsprozess. Ide-         4. Patkar V et al. Cancer multidisciplinary team
                                               meetings: Evidence, challenges, and the role of clinical
alerweise wird künftig durch eine All-in-      decision support technology. Int J Breast Cancer 2011;
                                               2011: 831605.
One-Präsentation der Webplattform für          5. Mintz Y, Brodie R. Introduction to artificial intelli-
                                               gence in medicine. Minim Invasive Ther Allied Technol.
den Kliniker eine geführte Modellierung        2019; 28: 73-81.
                                                                                                                               Dr. med. Matthäus Stöhr
und Validierung in Zusammenarbeit mit          6. Heuer RJ Jr. Psychology of Intelligence Analysis.
                                                                                                                           HNO-Universitätsklinik Leipzig
                                               Center for the study of intelligence, Central Intelligence
anderen Experten möglich sein – auch           Agency 1999: 51-63.                                                                    Liebigstraße 10-14
über Landesgrenzen hinweg.
                                               7. Stoehr M et al. A model of the decision-making
                                               process: therapy of laryngeal cancer. Int J CARS 2014;
                                                                                                                                           04103 Leipzig
                                               9: 217-8.                                                                          Tel.: 03 41-97-2 17 00
                                               8. Sackett DL et al. Evidence based medicine: what it is         Matthaeus.Stoehr@medizin.uni-leipzig.de
                                               and what it isn’t. BMJ 1996; 312: 71–2.

Summary
                                               9. Dietz A. Computerized clinical decision support for
                                               the tumour board. Proceedings Int J CARS 2017; 12.
                                               10. Smith AK, White DB, Arnold RM. Uncertainty: the
                                               other side of prognosis. NEJM 2013; 368: 2448.
    Advances in diagnostics and indivi-        11. Spooner SA. Mathematical foundations of decision
                                               support systems. In: Clinical Decision Support Systems.
dualized therapies contribute to an in-        Springer, 2016: 19-43.
                                               12. Koller D, Friedman N. Probabilistic graphical mo-
creasing complexity in the treatment of        dels: principles and techniques. MIT press 2009.                                          Alexander Oeser
oncological diseases that require new,         13. Ozaydin B et al. Data mining and clinical decision
                                               support systems. In: Clinical Decision Support Systems,
                                                                                                            Innovation Center Computer Assisted Surgery
comprehensive decision-making support.         Springer, 2016: 45–68.                                        Medizinische Fakultät der Universität Leipzig
                                               14. Müller MU. Dr. Watson versagt - Künstliche Intel-                                  Semmelweisstr. 14
In addition to molecular tumor boards,         ligenz: IBM will mit Großrechnern Krebs und seltene
                                                                                                                                            04103 Leipzig
                                               Krankheiten heilen. In: Der Spiegel 2018; 32.
which evaluate molecular pathological          15. Pearl J. Probabilistic reasoning in intelligent sys-                              Tel.: 0341-97-12034
signatures for various tumor entities,
                                               tems, 1998.                                                       alexander.oeser@medizin.uni-leipzig.de
                                               16. Cypko MA et al. Validation workflow for a clinical
supporting processes with artificial intel-    Bayesian network model in multidisciplinary decision
                                               making in head and neck oncology treatment. Int J
ligence are also finding their way into        CARS 2017; 12: 1959–70.
                                               17. Henrion M. Some practical issues in constructing
research and practice. This also includes      belief networks. In Proceedings of the Annual Confe-
                                               rence on Uncertainty in Artificial Intelligence (UAI-87).
digital patient models that optimize the       Elsevier Science, 1987.
                                               18. Oniśko A. Probabilistic causal models in medicine:
collection, structuring and evaluation of      Application to diagnosis of liver disorders. PhD thesis,
information and thus support decision-
                                               Institute of Biocybernetics and Biomedical Engineering,                                        Jan Gaebel
                                               Polish Academy of Science, Warsaw, Poland, 2003.
                                                                                                            Innovation Center Computer Assisted Surgery
making processes in tumor boards. For          19. Leibovicivi L et al. The TREAT project: decision
                                                                                                             Medizinische Fakultät der Universität Leipzig
                                               support and prediction using causal probabilistic
example, a clinical decision support           networks. Int J Antimicrob Agents 2007; 30: 93-102.                                    Semmelweisstr. 14
system based on Bayesian networks was
                                               20. Van der Gaag JC et al. Probabilities for a probabili-
                                               stic network: a case study in oesophageal cancer. Artif
                                                                                                                                            04103 Leipzig
                                               Intell Med. 2002; 25: 123-48.                                                         Tel.: 0341-97-12025
developed and partially validated for la-      21. Aussem A et al. Analysis of nasopharyngeal carcino-                jan.gaebel@medizin.uni-leipzig.de
                                               ma risk factors with Bayesian networks. Artif Intell Med.
ryngeal cancer. In the future, artificial      2012; 54: 53-62.
intelligence will support clinical decision-   22. Wang SJ et al. An oral cavity carcinoma nomogram
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models.                                        Experts in Probabilistic Modelling Using Large Bayesian
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    Keywords: Artificial intelligence, di-     24. Cypko MA et al. Visual verification of cancer staging
                                               for therapy decision support. Computer Graphics
                                                                                                                             Prof. Dr. med. Andreas Dietz
gital patient models, laryngeal cancer,        Forum 2017; 36: 109-20.                                                     HNO-Universitätsklinik Leipzig
                                               25. Sung H et al. Global cancer statistics 2020: GLOBO-                                  Liebigstraße 10-14
therapy decision support, tumor board          CAN estimates of incidence and mortality worldwide
                                                                                                                                             04103 Leipzig
                                               for 36 cancers in 185 countries. CA Cancer J Clin 2021
                                               Feb 4, Online-Publikation.                                                           Tel.: 03 41-97-2 17 00
                                               26. Robert Koch Institut. Kehlkopf. In: Krebs in Deutsch-             Andreas.dietz@medizin.uni-leipzig.de

Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)                                                                                                                             235
Kopf-Hals-Tumoren interdisziplinär behandeln, Patientenperspektive integrieren
Schwerpunkt

Molekulares Tumorboard –
auch für Kopf-Hals-Tumoren relevant?
Florian Lordick, Ulrich Hacker

      Molekulare Diagnostik verspricht effektivere Therapien für Patienten mit Krebs, basierend auf genetischer, epigenetischer
      und proteomischer Charakterisierung individueller Tumoren. Um molekular-basierte Therapiekonzepte zu entwickeln, wur-
      den an Krebszentren molekulare Tumorboards (MTBs) eingeführt, um auf Basis wissenschaftlich valider Analysen individu-
      elle Therapieempfehlungen zu erarbeiten. MTBs stellen ein sich rasant entwickelndes Konzept in der Krebsmedizin dar, doch
      vielfache konzeptionelle und strukturelle Herausforderungen sind zu lösen, um molekulare Diagnostik sinnvoll in die klinische
      Praxis zu implementieren. Eine besonders große Herausforderung ist die inter- und intratumorale Heterogenität von Krebs.
      Inzwischen ist bekannt, dass sich Tumoren der gleichen Lokalisation und mit vergleichbarem histologischen Erscheinungsbild
      signifikant in ihren molekularen Charakteristika unterscheiden können. Kopf-Hals-Tumoren sind ein gutes Beispiel für dieses
      Paradigma, betrachtet man die bedeutenden molekularen Unterschiede zwischen unterschiedlichen Plattenepithelkarzino-
      men (z. B. HPV-positiv versus -negativ), die enorme Heterogenität der Speicheldrüsenkarzinome und der Krebserkrankungen
      unklaren Primärursprungs, um die drei häufigsten Entitäten in der Kopf-Hals-Region zu benennen. Dieser Artikel gibt eine
      Übersicht über den Stand der molekularen Charakterisierung und des molekularen Tumorboards bei Tumoren der Kopf-
      Hals-Region. Es wird ersichtlich, dass eine wachsende Zahl teils sehr effektiver, molekular zielgerichteter Therapien für
      Krebserkrankungen dieser Region existieren; in selektionierten Fällen ist die Vorstellung in einem akademischen Krebszentrum
      für die molekulare Diagnostik und die nachfolgende Besprechung in einem qualifizierten molekularen Tumorboard indiziert.

      Schlüsselwörter: molekular, genetisch, Kopf-Hals-Tumoren, Plattenepithelkarzinom, Speicheldrüsenkarzinom, Krebs mit
      unbekanntem Primärtumor

Kasuistik                                     zellkarzinoms. 2016 erfolgte eine Tumor-    multilokuläres Lymphknotenrezidiv
                                              resektion mit Level I–V Neck Dissection     links submandibulär und supraklaviku-
   Der Fall eines 34-jährigen Patienten       links (pT3 pN1 (1/46), G1, L0, V0, Pn0,     lär beidseits, teils in-field gelegen, und
mit einem metastasierten sekretorischen       R0). Es schloss sich keine Nachbestrah-     anatomisch nicht R0-resektabel.
Karzinom der Glandula submandibularis         lung an. Nach Diagnose lokaler Rezidive         Die pathologische und referenzpatho-
wurde am 21.1.2021 im molekularen Tu-         2017 und 2019 erfolgten erneute Tumor-      logische Untersuchung der Gewebeproben
morboard des Universitären Krebszen-          resektionen, bei R1-Status in 2019 mit      führte zur Diagnose eines high-grade
trums Leipzig/Mitteldeutsches Krebszen-       nachfolgender Radiotherapie zervikal        transformierten sekretorischen (sog.
trum besprochen. Die Erstdiagnose war         links (60 Gy, konventionell fraktioniert    Mamma-analogen) Speicheldrüsenkarzi-
vor 5 Jahren extern gestellt worden, da-      mit Boost bis 66 Gy). Anfang 2021 zeigte    noms. Die daraufhin eingeleitete moleku-
mals unter der Annahme eines Azinus-          die Bildgebungs-gestützte Nachsorge ein     lare Diagnostik einschließlich FISH-Ana-

222                                                                                                          Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt

                                                                          NTRK-Inhibitoren       Eine zentrale Sichtung der Befunde kann
                                                                          Larotrectinib und      zur diagnostischen Neueinschätzung und
                                                                          Entrectinib [3, 4].    damit – in Zeiten der molekular strati-
                                                                              Somit kann dem     fizierten Therapie – zu neuen und effekti-
                                                                          Patienten mit einem    veren Therapieoptionen beitragen. Das
                                                                          konventionell nicht    Beispiel illustriert auch, welchen Beitrag
                                                                          mehr sinnvoll be-      molekulare Diagnostik und MTB-Vor-
                                                                          handelbaren rezidi-    stellungen heute leisten können. Dies soll
                                                                          vierten Tumor ein      im Folgenden, nach Erörterung der
                                                                          molekular        und   Systematik, für die wesentlichen Tumor-
                                                                          durch klinische Stu-   entitäten in der Kopf-Hals-Region weiter
Abb. 1 Das Ereignis einer Genfusion zwischen dem ETV6-Gen auf Chromo-      dien der Phase I      ausgeführt werden.
som 12 und dem NTRK3-Gen auf dem Chromosom 15 führt zur Translokation      und II begründetes
t(12;15)(p13;q25). Mod. nach [1].
                                                                          Behandlungsange-       Gewichtung molekularer
lyse und RNA-basierter Fusionsanalyse              bot gemacht werden, das entsprechend der      Alterationen nach ESCAT
erbrachte den Befund einer ETV6-NTRK3-             ESCAT-Empfehlungsstufe 1 (siehe unten)
Genfusion, welche funktionell zur onko-            gute Chancen auf ein Tumoransprechen              Um die Implementierung von Präzi-
genen Aktivierung der Tropomyosin-                 bietet (komplette und partielle Response-     sionsmedizin im klinischen Management
Rezeptor-Kinase (TRK) 3 führt (Abb. 1, 2)          rate nahe 60 %). Dies eröffnet Chancen auf    von Krebspatienten zu erleichtern, bedarf
[1, 2]. Wie neueste Studien zeigen, be-            eine längerfristige Tumor- und Symptom-       es der Standardisierung und Harmonisie-
dingt dieses molekulare Ereignis eine              kontrolle oder ggf. sogar sekundäre Lo-       rung der Berichte und Interpretationen
hohe Suszeptibilität der NTRK-Fusions-             kalbehandlungsmaßnahmen.                      genomischer Daten. Dafür initiierte die
tragenden Tumoren auf eine TRK-Blocka-                 Das Fallbeispiel unterstreicht, wie       European Society for Medical Oncology
de durch einen der mittlerweile in der             wichtig und sinnvoll eine Zentrumsbera-       (ESMO) Translational Research and Pre-
Europäischen Union Tumorentitäts-über-             tung bei seltenen Erkrankungen und            cision Medicine Working Group (TR and
greifend zugelassenen und verfügbaren              diffizilen Entscheidungssituationen ist.      PM WG) ein kollaboratives Projekt, um
                                                                                                 einen evidenzbasierten Vorschlag für die
                                                                                                 Klassifikation molekularer Alterationen
                                                                                                 und ihres Stellenwertes als therapeutische
                                                                                                 Zielstrukturen zu erarbeiten. Eine Gruppe
                                                                                                 von Experten unterschiedlicher Instituti-
                                                                                                 onen begutachtete die wissenschaftliche
                                                                                                 Literatur, erarbeitete einen Konsensus
                                                                                                 basierend auf vorformulierten Evidenz-
                                                                                                 Kriterien und präsentierte ein Klassifika-
                                                                                                 tionssystem. Dieses wurde unabhängig
                                                                                                 begutachtet, angepasst und schließlich
                                                                                                 durch die ESMO TR and PM WG publi-
                                                                                                 ziert [5].
                                                                                                     Die erste Version der ESMO Scale for
                                                                                                 Clinical Actionability of molecular Targets
                                                                                                 (ESCAT) definiert sechs klinische Evi-
                                                                                                 denzlevel (I–V und X) und für molekula-
Abb. 2 NTRK-Fusionen führen zur onkogenen Aktivierung der Tropomyosin-Rezeptor-Kinasen (TRK).
Mod. nach [2].                                                                                   re Targets, entsprechend ihrer potentiel-

Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)                                                                                                       223
Schwerpunkt

len Bedeutung für Therapieempfeh-                    Eine Einteilung der gefundenen Stu-       als das häufigste alterierte Gen unter den
lungen:                                          dien- und Forschungsergebnisse in unter-      drei RAS-Familienmitgliedern identifi-
  • Level I: Zielstrukturen sind reif für die    schiedliche Stufen (I–V und X) nach           ziert. HRAS-aktivierende Mutationen
    Implementierung in die Routinedia-           ESCAT wurde je nach der wissenschaft-         wurden infolge der Wirksamkeit von
    gnostik und therapeutische Entschei-         lichen Stärke der entsprechenden Daten        Tipifarnib bei Patienten mit HNSCC in
    dungsfindung,                                vorgenommen. Die Autoren identifizier-        Stufe IB gereiht. Die Mikrosatelliteninsta-
  • Level II: investigatorische Targets, sehr    ten therapeutisch adressierbare Alterati-     bilität (MSI) als Zeichen einer defizienten
    wahrscheinlicher Benefit durch zielge-       onen in 33 Genen. Sie klassifizierten die     Mismatch Repair (dMMR) hat eine Inzi-
    richtete Therapie, aber Bedarf an zu-        gefundenen Alterationen in aktivierende       denz von 1,2 % bei HNSCC. Eine hohe
    sätzlichen Daten,                            Mutationen, onkogene Fusionen und/            TMB ≥ 10 Mutationen per Megabase
  • Level III: klinischer Benefit, gezeigt bei   oder Amplifikationen von Onkogenen            kommt bei bereits 20 % der Patienten mit
    anderen Tumorarten oder vergleich-           oder inaktivierende Mutationen von            HNSCC vor. MSI-high-Tumoren weisen
    baren molekularen Alterationen,              Tumorsuppressor-Genen in unterschied-         eine sehr große Zahl von Mutations-
 • Level IV: präklinische Evidenz,               lichen Signalwegen.                           assoziierten Neoantigenen mit entspre-
 • Level V: Evidenz für kombinierte An-              Die vielversprechendsten therapeu-        chender Suszeptibilität für eine
   sätze und                                     tisch adressierbaren Alterationen bei         PD(programmed cell death protein)-1-
 • Level X: keine Evidenz für therapeuti-        HNSCC sind demnach HRAS-aktivieren-           Blockade auf. Onkogene NTRK-Fusionen
   sche Adressierbarkeit.                        de Mutationen, Mikrosatelliteninstabili-      zeigen insgesamt bei Patienten mit
                                                 tät (MSI), hohe Tumormutationslast            HNSCC eine sehr niedrige Inzidenz von
Plattenepithelkarzinome                          (TMB), NTRK-Fusionen, CDKN2A-inak-            0,2 %, sind aber, wie im beschriebenen
der Kopf-Hals-Region                             tivierende Alterationen und EGFR-Am-          Fall, in der Subgruppe der Mamma-
                                                 plifikationen. Insgesamt wurden nur           analogen sekretorischen Speicheldrüsen-
    Die ESCAT Autoren konnten mittler-           wenige molekulare Alterationen in Level       karzinome angereichert und damit in
weile eine Gewichtung der Evidenz von            I (HRAS – IB; MSI – IC; NTRK – IC) und        hoher Frequenz (bis > 90 %) zu finden.
therapeutisch adressierbaren molekula-           Level II (CDKN2A – IIA; EGFR – IIA)           Sowohl TMB als auch NTRK-Fusionen
ren Alterationen bei Plattenepithelkarzi-        nach ESCAT eingeordnet.                       wurden aufgrund der Zulassung von
nomen der Kopf-Hals-Region (HNSCC)                   HRAS wurde im MPAK-Signalweg              PD-1-Inhibitoren und der NTRK-gerich-
skizzieren, die die molekular stratifizier-      mit einer Mutationsfrequenz von 6,3 %         teten Inhibitoren in Level IC eingeordnet.
te Therapiekonzeptionierung unterstützt.
                                                 Tab. 1 Molekulare Alterationen bei unterschiedlichen Speicheldrüsentumoren und ihre
Gregoire Marret vom Hôpital Européen             potentiellen therapeutischen Implikationen. Quelle: Autoren.
Georges Pompidou in Paris und Co-Auto-
ren publizierten dies kürzlich im Journal         Entität                      Molekulare Alteration         Therapieoptionen
of Clinical Oncology Precision Medicine [6].      Sekretorische Tumoren        NTRK-Fusion                   NTRK-Inhibitoren Larotrecti-
                                                  Mamma-analoges sekretori-                                  nib oder Entrectinib [3, 4]
    Um die Effizienz von Medikamenten             sches Karzinom
auszuwerten, die spezifische molekulare           Nicht-sekretorische Tumo-    HER2-Amplifikation (bis zu    HER2-Rezeptorblocker
Alterationen adressieren, durchsuchten            ren                          40 % bei mucoepidermo-        analog Mammakarzinom
                                                  Mucoepidermoide Tumoren      iden Tumoren, selten bei      Trastuzumab + Taxan oder
sie die Datenbanken von ClinicalTrials.           Duktale Speicheldrüsen-      adenoid-zystischen Karzino-   Trastuzumab-Emtansin [9,
gov und PubMed sowie Abstracts der                karzinome (DSK), Adeno-      men [7, 8])                   10, 11]
                                                  karzinome „not otherwise
großen wissenschaftlichen Kongresse wie           specified" (NOS)
ASCO, ESMO und AACR nach Ergebnis-                                             Androgen-Rezeptoren, bis      Androgenblockade analog
sen klinischer Studien bei HNSCC; wenn                                         zu 90 % der DSK und selte-    Prostatakarzinom [13, 14]
                                                                               ner bei NOS [12]
dafür keine klinischen Studien auffindbar
                                                  Andere                       HRAS-Mutation                 Farnesyltransferase-Inhibi-
waren, suchten sie auch nach prä-                                                                            tor Tipifarnib [15]
klinischen und In-silico-Daten.

224                                                                                                                Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt

    Bezüglich der Zellzyklus-Regulation wurden CDKN2A-
inaktivierende Alterationen bei 53,8 % der Patienten mit
HNSCC gefunden. CDKN2A-inaktivierende Alterationen und
EGFR-Amplifikation wurden in Level IIA eingeord-
net – wegen der Aktivität von Palbociclib (CDK4/6-Inhibitor)
und Afatinib (TKI) in molekularen Subgruppen in retrospekti-
ven Analysen der entsprechenden klinischen Studien.
    In den Rezeptor-Tyrosinkinase-Signalwegen findet sich mit
10,7 % am häufigsten EGFR beim HNSCC amplifiziert. Afatinib

                                                                    Anzeige
zeigte Aktivität bei der Behandlung dieser Patienten. Die Un-
tersuchung des PI3K/AKT/mTOR-Signalwegs zeigte molekula-
re Alterationen in unterschiedlichen Genen, einschließlich des
PIK3CA-Gens (34,5% Inzidenz), welches wegen der klinischen
Aktivität von PIK3CA-Inhibitoren in anderen Tumorentitäten
als Level IIIA eingeordnet wurde. Hingegen wurden molekula-
re Alterationen in IGF1R- (1,0 %) und TP53-Genen (72 %; DNA-
Reparatur) lediglich in Level IVA und Stufe V gelistet.
    In der Zusammenschau konnten die Untersucher sechs
klinisch relevante therapeutisch adressierbare molekulare Si-
gnalwege bei Patienten mit HNSCC benennen, die mit entspre-
chend zielgerichteten Therapien wirksam behandelt werden
können. Es wird empfohlen, diese Klassifikation in genetischen
Sequenzierungsberichten und molekularen Tumorboard-Emp-
fehlungen zu nutzen. Einerseits soll damit Klarheit geschaffen
werden; andererseits soll vor Überinterpretation anderer, nicht
klassifizierbarer Alterationen geschützt werden, die zu ineffizi-
enten therapeutischen Folgerungen führen könnten.

Speicheldrüsentumoren
   Speicheldrüsentumoren sind eine seltene Gruppe von Krebs-
erkrankungen mit insgesamt mehr als 20 histologischen Unter-
gruppen. Während sie ursprünglich als eine Tumorgruppe be-
handelt wurden, rechtfertigen mittlerweile die zahlreichen
prognostischen, histopathologischen und molekularen Unter-
schiede eine sehr differenzierte Betrachtung. Die Veröffentli-
chung von S3-Leitlinien für die Diagnostik und Behandlung von
Speicheldrüsentumoren steht für 2021 in Aussicht (https://www.
awmf.org/leitlinien/detail/anmeldung/1/ll/007-102OL.html).
   Eine ESCAT-Klassifikation molekularer Alterationen der
Speicheldrüsentumoren existiert bisher nicht; dennoch soll
Tab. 1 wesentliche Alterationen und ihre potentiellen thera-
peutischen Konsequenzen aufzeigen.

Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)                                             225
Schwerpunkt

                Tumoren der Kopf-Hals-
                Region mit unbekanntem
                Primärtumor
                    Krebs der Kopf-Hals-Region mit un-

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                bekanntem Primärtumor (auch CUP-
                Syndrom genannt) stellt eine besondere
                Herausforderung dar. Die plattenepithe-
                lialen CUP haben eine schlechtere Ge-
                samtprognose als klassische HNSCC [16].
                Nicht-plattenepitheliale CUP können auf
                eine Vielzahl okkulter Primärtumoren
                zurückzuführen sein, u. a. auf Lungen-,
                Mammakarzinome, neuroendokrine Tu-
                moren etc. Hier empfiehlt sich abhängig
                vom klinischen Gesamtbild und Thera-
                piebedarf sehr häufig eine umfassende
                molekulare Charakterisierung. Zahlrei-
                che Fallbeschreibungen erfolgreicher mo-
                lekular zielgerichteter Behandlungen
                existieren, z. B. bei Vorliegen einer EML4-
                ALK-Translokation [17]. Eine molekulare
                Diagnostik und daraus abgeleitete zielge-
                richtete Therapieoptionen einschließlich
                Immuntherapie im Vergleich zu Platin-
                basierter Standardchemotherapie werden
                derzeit in Deutschland, u. a. am Mittel-
                deutschen Krebszentrum Leipzig-Jena
                (MIK, Ansprechpartner Prof. Thomas
                Ernst, Jena), im Rahmen der CUPISCO-
                Studie angeboten [18] (NCT03498521).

                Fazit für die Praxis
                    Therapeutisch adressierbare moleku-
                lare Alterationen bei Tumoren der Kopf-
                Hals-Region sind häufig; die molekulare
                Diagnostik ist zunehmend standardisiert.
                Effektive personalisierte Therapie-
                optionen für Patienten mit Kopf-Hals-
                Tumoren existieren. Molekulare Dia-
                gnostik und die Fallbesprechung in
                einem akademischen Zentrum sind in
                ausgesuchten Fällen indiziert.

226                                 Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)
Schwerpunkt

Summary                                          Keywords: molecular, genetic, head-
                                             and-neck cancer, squamous cell cancer,
    Molecular diagnostic holds promises      salivary gland cancer, cancer of unknown
to offer more effective therapies to pa-     primary
tients based on genetic, epigenetic and
                                             Literatur
proteomic profiling of individual tumors.    1. Euhus DM et al. ETV6-NTRK3--Trk-ing the primary                     Prof. Dr. med. Florian Lordick
In order to develop personalized treat-      event in human secretory breast cancer. Cancer Cell
                                             2002; 2: 347-8.                                            Medizinische Klinik II (Onkologie, Gastro-
ment concepts, multidisciplinary molec-      2. Amatu A et al. NTRK gene fusions as novel targets of     enterologie, Hepatologie, Pneumologie,
ular tumor boards (MTBs) are needed to
                                             cancer therapy across multiple tumour types. ESMO         Infektiologie), Universitäres Krebszentrum
                                             Open 2016; 1(2): e000023.
                                             3. Drilon A et al. Efficacy of Larotrectinib in TRK
                                                                                                                                    Leipzig (UCCL)
develop scientifically sound treatment       Fusion-Positive Cancers in Adults and Children. N Engl                    Universitätsmedizin Leipzig
recommendations. MTBs are an evolving        J Med 2018; 378: 731-9.                                                                  Liebigstr. 22
                                             4. Doebele RC et al. Entrectinib in patients with                                       04103 Leipzig
field in cancer medicine, and multiple       advanced or metastatic NTRK fusion-positive solid
                                                                                                            direktion.uccl@medizin.uni-leipzig.de
                                             tumours: integrated analysis of three phase 1-2 trials.
conceptional and structural challenges       Lancet Oncol 2020; 21: 271-82.
                                             5. Mateo J et al. A framework to rank genomic
interfere with the broad implementation      alterations as targets for cancer precision medicine:
                                             the ESMO Scale for Clinical Actionability of molecular
of molecular diagnostics into clinical       Targets (ESCAT). Ann Oncol 2018; 29(9): 1895-1902.
                                             6. Marret M et al. Genomic Alterations in Head and
practice. One of the challenges is the       Neck Squamous Cell Carcinoma: Level of Evidence
                                             According to ESMO Scale for Clinical Actionability of
inter- and intratumoral heterogeneity of     Molecular Targets (ESCAT). JCO Precis Oncol 2021; 5:
cancer. Since the implementation of          215-26.
                                                                                                                      Prof. Dr. med. Ulrich Hacker
                                             7. Glisson B et al. HER2 expression in salivary gland
molecular profiling in cancer research it    carcinomas: dependence on histological subtype. Clin       Medizinische Klinik II (Onkologie, Gastro-
                                             Cancer Res 2004; 10: 944-6.                                 enterologie, Hepatologie, Pneumologie,
became evident that tumors at the same       8. Dori S et al. HER2/neu expression in adenoid cystic    Infektiologie), Universitäres Krebszentrum
                                             carcinoma of salivary gland origin: an immunohisto-
location and even with comparable histo-     chemical study. J Oral Pathol Med 2002; 31: 463-7.                                     Leipzig (UCCL)
logies can differ significantly in their     9. Nabili V et al. Salivary duct carcinoma: a clinical                    Universitätsmedizin Leipzig
                                             and histologic review with implications for trastu-                                      Liebigstr. 22
molecular characteristics. Head and neck     zumab therapy. Head Neck 2007; 29: 907-12.
                                             10. Takahashi H et al. Phase II Trial of Trastuzumab
                                                                                                                                     04103 Leipzig
tumors are a good example for this para-     and Docetaxel in Patients With Human Epidermal                 Ulrich.Hacker@medizin.uni-leipzig.de
                                             Growth Factor Receptor 2-Positive Salivary Duct
digma, given the marked biological           Carcinoma. J Clin Oncol 2019; 37: 125-34.
                                             11. Jhaveri KL et al. Ado-trastuzumab emtansine
differences between different squamous       (T-DM1) in patients with HER2-amplified tumors ex-
                                             cluding breast and gastric/gastroesophageal junction
cell cancers (e.g. HPV positive and nega-    (GEJ) adenocarcinomas: results from the NCI-MATCH
                                             trial (EAY131) subprotocol Q. Ann Oncol 2019; 30:
tive), the enormous variety of salivary      1821-30.
gland tumors and also cancers of             12. Fan CY et al. Expression of androgen receptor,
                                             epidermal growth factor receptor, and transforming
unknown primary, naming the three            growth factor alpha in salivary duct carcinoma. Arch
                                             Otolaryngol Head Neck Surg 2001; 127: 1075-9.
most prevalent tumor entities occurring      13. Fushimi C et al. A prospective phase II study of
                                             combined androgen blockade in patients with andro-
in the head-and-neck region. This article    gen receptor-positive metastatic or locally advanced
                                             unresectable salivary gland carcinoma. Ann Oncol
gives an overview on the current state-of-   2018; 29: 979-84.
the art of molecular characterization and    14. Boon E et al. Androgen deprivation therapy for
                                             androgen receptor-positive advanced salivary duct
molecular tumor board options in head-       carcinoma: A nationwide case series of 35 patients in
                                             The Netherlands. Head Neck 2018; 40: 605-13.
and-neck cancers. It becomes evident that    15. Hanna GJ et al. Tipifarnib in recurrent, metastatic
                                             HRAS-mutant salivary gland cancer. Cancer 2020;
an increasing number of effective molec-     126: 3972-81.
                                             16. Lanzer M et al. Unknown primary of the head and
ular targeted treatment options exists and   neck: A long-term follow-up. J Craniomaxillofac Surg
                                             2015; 43: 574-9.
that selected patients should be presented
                                             17. Zhao P et al. Carcinoma of Unknown Primary
at academic centers to undergo molecular     with EML4-ALK Fusion Response to ALK Inhibitors.
                                             Oncologist 2019; 24:449-54.
profiling of their tumor and consecutive     18. Krämer A. Karzinome mit unklarer Primärlokalisa-
                                             tion – CUPISCO Studie. Forum 2018; 33: 376-77.
discussion in a qualified molecular tumor
board.

Trillium Krebsmedizin 2021; 30(3)                                                                                                             227
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